15

Mr. A. ist vierundfünfzig. Er wohnt in dem Wohnwagencamp oben auf der Steilküste, um das es hier im Ort so ein Hickhack gab. Das weiß ich dank meiner Kontakte zum Upton Centre. Das Upton Centre liegt auf der anderen Seite Eastleys, unweit vom Gewerbegebiet. Früher war es eines dieser Jugendzentren, von denen man annahm, ein Pingpongturnier jeden Donnerstagabend würde die einheimischen Jugendlichen davon abhalten, an Lappen zu schnüffeln, getränkt mit Benzin, das aus der Reifenfabrik nebenan geklaut war. Das Gewerbegebiet lag ein paar Meilen landeinwärts – ohne die Heerscharen kreischender Möwen, die am harschen Himmel kreisen, könnte man meinen, man sei im Flachland der Midlands. In der Gegend roch es nach verbrannten Reifen, das vergesse ich nie, ein Geruch, der zum Greifen nah in der Luft hing und dem ganzen Gebiet etwas von einer Nach-Katastrophen-Aura verlieh, als wäre es eine radioaktiv verseuchte Zone, in der Männer mit weißen Schutzanzügen und Atemgeräten patrouillieren müssten – eine Atmosphäre eklatanten Verfalls, genau das Richtige für desillusionierte Jugendliche.

Einmal ging ich zu einem Discoabend ins Jugendzentrum, mit Jenny Ozu. Wir trugen lange Schals, Röhrenjeans und Haarspangen. Dort angekommen, verbrachten wir den Abend damit, an die Wand gedrückt schale Cola aus Pappbechern zu trinken, während Jungenhorden arhythmisch und die Arme wie Dreschflegel schwingend über den Tanzboden hüpften. Immer mal wieder kam so ein Knabe auf uns zugeprescht und zeigte uns einen Flachmann mit Wodka, den er aus der Tasche seiner Schlabberhose gezogen hatte – weniger, um uns etwas davon anzubieten, als vielmehr, um uns mit den unaussprechlichen Folgen der Tatsache zu bedrohen, dass er das Zeug trank. Irgendwann brach die unvermeidliche Schlägerei aus, und Jenny und ich gingen nach draußen, wo ihre Mutter im Auto bei laufendem Radio mit Bleistift im Mund auf uns wartete, während sie sich durch ein dickes Kreuzworträtselheft arbeitete.

Häuser wie das Upton Centre gehen mit der Zeit. Heute ist es ein städtisches Beratungszentrum für Asylanten und Migranten. Es hat sich selbst die Bezeichnung »One-Stop-Shop« verliehen. Die meisten Mitarbeiter hier haben sich gerade mal eine Woche lang zum Thema Flüchtlingsproblematik ausbilden lassen, was sie aber nicht davon abhält, uns anzurufen und eine bessere Behandlung für ihre »Mandanten« zu verlangen, auch wenn die schon jahrelang bei uns in Behandlung sind – auf unserer Station betrachten wir Überweisungen des Upton Centre mit Misstrauen. Einmal hatte ich mit einer zu tun, bei der uns die Beraterin einen Bericht des Inhalts geschickt hatte, ihre »Mandantin« leide aufgrund der »psychologischen Folgen ihrer Vertreibung« unter chronischen Rückenschmerzen. Als ich die Patientin befragte und untersuchte – Marina, eine schüchterne Frau um die fünfzig aus dem Kosovo –, dachte ich mir, sie könnte einen Bandscheibenvorfall haben, und setzte sie auf Diclofenac, bis ich ihre Überweisung überprüfen konnte. Marina litt wirklich unter den psychischen Folgen ihrer Vertreibung. Außerdem litt sie unter Schlaflosigkeit, weil sie sich verzweifelt um ihre großen Kinder sorgte, die sie in Priština zurückgelassen hatte; aber sie hatte auch einen Bandscheibenvorfall.

Mr. A. kommt aus derselben Gruppe, ethnisch überwiegend Albaner aus dem Kosovo, aber auch einige Bosnier darunter, soweit ich weiß. Diese Gruppe hatte sehr viel mit dem Upton Centre zu tun, wenn auch hauptsächlich in rechtlichen, nicht in medizinischen Belangen, weil zwar die meisten, aber nicht alle, aus ihrem erweiterten Familienverband legale Einwanderer sind. Wie immer in sozial unterprivilegierten Schichten gab es außerdem Gesundheitsprobleme. Eine der anderen Frauen hat regelmäßig unsere Station aufgesucht, und so kam Mr. A.s Name überhaupt in unser System. Damals erfolgte die Überweisung, auch wegen chronischer Rückenschmerzen, durch den praktischen Arzt. Mr. A. war als nächster Angehöriger angegeben, auch wenn unklar war, in welchem Verwandtschaftsverhältnis er – wenn überhaupt – zu der Frau stand. Offenbar ist er der Wortführer der Gruppe, es könnte also einfach nur das sein.

Das Gewerbegebiet in Eastley ist meine erste Anlaufstelle. Ich muss vorsichtig sein, weil es nicht weit von Hennett’s liegt, wo David und Chloe arbeiten, obschon er zurzeit kaum hingeht und Chloe noch offiziell in Elternzeit ist. Vorbei am Upton Centre, das von der Hauptstraße zurückgesetzt liegt, dann an Hennett’s vorbei, erreiche ich das Industriegelände, dessen Belegschaft hauptsächlich aus Migranten besteht. Die grauen Metalltore stehen offen, und es gibt kein Pförtner- oder Wächterhäuschen. Ich fahre ganz bis ans andere Ende, vorbei an den lang gestreckten, dunklen Lagerhallen mit riesigen Türen, wie offene Mäuler, und gedrungenen, fensterlosen Backsteinbauten mit Flachdach. In diesen Bauchhöhlen unser aller Leben sind die Plätze versteckt, an denen Waren montiert, gelagert und versendet werden. Hier gibt es weder Ladennamen noch Plakatwände; keine bunten Schilder, keine wie auch immer gearteten Anpreisungen. Keine Passanten, die reinzulocken wären. Hierher kommt man nicht ohne guten Grund.

Ich stelle meinen Wagen auf dem verlassenen, überdimensionierten Parkplatz ab und bemerke beim Aussteigen als Allererstes den Gestank nach Fischabfällen von der Katzenfutterfabrik nebenan, dann, als ich gegen den Wind daran vorbeigehe, diesen seltsamen Geruch aus meiner Jugendzeit nach verbrannten Reifen, der schwelende Geruch unerwünschter Dinge. Mitten im Gewerbegebiet liegt ein kleines Rondell, bepflanzt mit schlaffen Tulpen. Es gibt sogar zwei Bänke in der Mitte, mit den Rückenlehnen zueinander aufgestellt. Ich frage mich, ob im Sommer Arbeiter rauskommen, um sich hierhinzusetzen und einander den Rücken kehrend auf die Lagerhallen zu schauen. Sonst gibt es keine Stelle, wo man seine Brote essen könnte, so viel steht fest. Beim Gehen ziehe ich den Mantel fester zu und schnalle den Gürtel enger. In so einer Umgebung haben meine Eltern gearbeitet, bevor ich auf die Welt kam – die alte Fabrik meines Vaters lag auf einem ähnlichen Gelände am Stadtrand, meine Mutter war dort Sekretärin, so haben sie sich kennengelernt. Damals waren sie beide schon Mitte dreißig und wohnten noch bei ihren betagten Eltern. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie umeinander warben, weil ich sie mir immer als den Typ Mensch vorgestellt habe, der nie irgendwen erwartet, schon gar nicht einander. Das wenige, das ich mir aus ihrem früheren Leben zusammenreimen konnte, ließ mich das gleiche Schicksal für mich befürchten, auf die vorgegebene, bestimmte Art, wie wir immer unser Schicksal fürchten. Der frühe Tod meines Vaters und die Krankheit meiner Mutter erlaubten es mir, mich diesem Schicksal zu widersetzen, ein Gedanke, der mich dankbar, schuldbewusst und einsam machte. Schließlich erfüllt es einen mit Mannschaftsgeist, seiner Bestimmung zu folgen, ob es einem gefällt oder nicht. Einmal, als ich spätabends mit Maurice in einem Pub saß, war er für seine Verhältnisse ungewöhnlich grummelig. »Ich weiß nicht, warum immer ich vorschlage, in den Pub zu gehen«, sagte er höhnisch, mit einem großen Glas trockenen Cider zu viel intus. »Als ob ich auch nur irgendwas mit euch allen gemeinsam hätte, so zielorientiert, wie ihr seid. Ich wollte überhaupt nie im Gesundheitswesen arbeiten …« Und, nach einem weiteren tiefen Schluck aus seinem Glas: »Ich wollte immer meinen eigenen Hotdog-Wagen, das hab ich gewollt.«

»Warum ist nichts daraus geworden?«, fragte ich.

»Es hätte nicht zu mir gepasst«, antwortete er.

Nicht weit hinter dem Rondell mit seinen schlaffen, verblassten Tulpen und leeren Bänken finde ich, wonach ich suche. Ich kann nicht stehen bleiben und hinstarren, sondern muss weitergehen, wenn auch langsam, als wäre ich woandershin unterwegs. Die Rolltür steht offen, und die Arbeiterinnen drinnen sind deutlich zu sehen. Alle tragen Mäntel und Mützen oder Kopftücher – sie sind dem Wind ausgesetzt. In der Mitte des Lagerhauses stehen reihenweise mit offenen Kartons vollgestapelte, aufgebockte Tischplatten. Der Tür am nächsten sehe ich einen Tisch, der mit einem Haufen Reißverschlüsse bedeckt ist. Eine junge Frau sortiert sie nach Größe und Farbe – einen Stapel kurze grüne, einen Stapel lange schwarze, einige braune in verschiedenen Längen. Unter dem Tisch steht ein großer Abfalleimer, und während ich vorübergehe, nestelt die junge Frau an einem kaputten Reißverschluss herum. Nach drei Versuchen, ihn auf- und zuzuziehen, bückt sie sich kurz und schmeißt ihn in den Abfall. Währenddessen plaudert sie lächelnd mit der jungen Frau neben ihr, auf deren Tisch sich braune Lederstücke stapeln. Jemand ruft etwas, und eine ältere Frau nähert sich der jungen mit den Reißverschlüssen und weist sie zurecht. Die junge Frau wirft ihr einen beleidigten Blick zu, während die ältere den kaputten Reißverschluss hervorzieht und hochhält.

Ich gehe weiter, begehe aber leichtsinnigerweise einen Fehler: Ich beobachte sie zu auffällig. Sie bemerken mich, so wie das oft passiert, wenn man Leute anstarrt, die wegsehen. Beide drehen sich zu mir um, und im selben Moment erkennen die ältere Frau und ich einander. Ich schaue sofort weg und beschleunige meinen Schritt, spüre aber ihren Blick im Rücken, während ich mit großen Schritten auf das Haupttor des Industriegeländes zueile. Obwohl ich sie nur kurz gesehen habe, bin ich mir sicher, dass sie eine der Frauen war, die am Tag von Bettys Beerdigung zum Krematorium kamen, und ziemlich sicher, dass sie auch weiß, wer ich bin.

Am Haupttor angekommen, habe ich ein Problem. Die Straße mündet direkt in die verlassene Schnellstraße, die vorbei an Hennett’s, dem Upton Centre und zwei anderen Fabriken nach Eastley zurückführt. Das Industriegelände ist eingezäunt, und es gibt keinen anderen Weg zurück zu meinem Auto als den über die Lagerhalle und das Rondell. Schließlich wandere ich ziellos etwa eine Viertelstunde lang über die Grasböschung neben der Schnellstraße, während Laster mit Abgaswolken so dröhnend an mir vorbeibrausen, dass ich in deren Abwind ins Schwanken gerate. Ich erreiche einen kleinen Rastplatz mit einer Bank aus Waschbeton, auf die ich mich ein paar Minuten setze. Es ist eiskalt, meine Nase läuft, und ich habe kein Taschentuch. Ich wische meine Nase mit den Fingern ab. Links von mir wächst ein Gebüsch aus Dornensträuchern, Fetzen von Papiertaschentüchern stecken an den unteren Zweigen. In der allergrößten Not könnte ich einen Fetzen abzupfen, der groß genug wäre, um mir die Nase damit zu putzen, aber ich stelle mir lieber nicht vor, was diese Tücher zuvor abgewischt haben. Als ich das Gefühl habe, dass genügend Zeit verstrichen ist, stehe ich auf und gehe langsam zum Haupttor des Industriegeländes zurück; vorsorglich auf der anderen Straßenseite, während ich mich dem Rondell nähere, doch wie sich herausstellt, war diese Vorsicht übertrieben. Die Rolltür wurde heruntergelassen und mit einem Vorhängeschloss versperrt. Niemand ist zu sehen. Dennoch bin ich mir einer Sache sicher: Hier arbeiten die Frauen, nicht die Männer. Ich werde ihn hier nicht finden.

Auf meinem Rückweg über die Schnellstraße gehe ich vom Gas, als ich an Hennett’s vorbeifahre. Ich frage mich, ob David heute hier ist oder zu Hause mit Chloe und den Jungs. »Die Jungs« … wie nett und gemütlich sich das anhört: zwei Jungen. Hennett’s hat eine gepflegte Kiesauffahrt und einen offenen Eingangsbereich mit lächelnder Empfangssekretärin. Ganz gleich, welche Kollegin Dienst hatte, wenn ich David in der Firma besuchte, sie schienen immer einen Verlobungsring zu tragen, so als steckten sich alle ein und denselben an den Finger, wenn sie auf dem Bürostuhl Platz nahmen, statt Uniform. Im Vorbeifahren stelle ich mir vor, wie Chloe an ihrem ersten Arbeitstag hier in die gepflegte Kiesauffahrt einbiegt – bestimmt hatte sie ein kleines Auto mit Heckklappe, riet ich, tadellos sauber, vielleicht lila. Ich stelle mir vor, wie sie hinter dem Gebäude parkt und dann mit abgezirkelten, flotten Schritten schwungvoll zum Empfang eilt. Ich sehe vor mir, wie sie die junge Empfangsdame anstrahlt und sagt: »Guten Tag, ich bin Chloe. Ich fange heute hier an. Ich möchte zu David Needham.« Vielleicht mit ausgestreckter Hand. Vielleicht mit einem Ausruf des Entzückens über den Verlobungsring der jungen Dame.

Während ich durch die Stadt zurückfahre, höre ich das Handy in meiner Handtasche auf dem Beifahrersitz klingeln. Nach zwei Tönen hört es auf. Dann setzt es ein zweites und ein drittes Mal an, immer das Gleiche: zweimal Klingeln und Schluss. Beim vierten Versuch klingelt es sechsmal, bevor es auf die Mailbox umschaltet; kurz darauf der nervige Piepston, der mir verrät, dass jemand eine Nachricht hinterlassen hat. Ich fahre seitlich ran, parke kurz vor dem Verkehrsleitsystem auf der Grasböschung, fische das Handy aus der Tasche und schalte die Warnblinkanlage an. Ich erfahre, dass ich vier Anrufe in Abwesenheit von einer unterdrückten Nummer hatte, und frage mich, ob es Toni sein könnte – die Nummer ihres Polizeitelefons wird immer unterdrückt –, doch als ich mir die Mailboxnachricht anhöre, sagt niemand etwas. Es ist eine lange, stumme Aufnahme, die länger dauert, als ich mir das – und zwar minutenlang – anhöre. Irgendwann beende ich meinen Mailboxanruf und werfe das Handy oben auf meine Tasche, hebe es dann wieder auf und höre es mir noch mal an, die Hand über das andere Ohr gelegt, um das Gedröhn des vorbeifahrenden Verkehrs auszublenden. Es hört sich so an, als habe jemand versehentlich meine Nummer gewählt, während er eine Straße entlangging, das Handy in der Tasche. Ich höre gedämpfte Schritte und Hintergrundgeräusche, vorbeihuschende Autos und Stimmen, die verschwommene akustische Kulisse des öffentlichen Raums. Dann, gerade als ich mich selbst davon überzeugt habe, dass jemand mich versehentlich viermal angerufen hat, höre ich etwas, das mir beim ersten Mal entgangen ist – einen langen Seufzer, bei dem mir ein Schauer über den Rücken läuft. Es ist kein trauriges Seufzen, sondern ein boshaftes, Genugtuung verströmendes Seufzen. Und zwar so nahe an der Sprechmuschel, dass ich mich erschrecke, als hätte mir jemand in meinem Auto plötzlich an die Schulter gefasst. Das Handy befindet sich nicht in jemandes Tasche oder Handtasche, sondern in ihrer, oder seiner, Hand, dicht am Mund – diese Nähe –, ein Mund an meinem Gesicht.

Nach dem Seufzen geht es mit den Hintergrundgeräuschen weiter, aber ich höre mir das nicht länger an. Heftig tippe ich mit dem Daumen auf den »Ende«-Knopf, ehe ich zu meiner Anrufaufzeichnung klicke und alle Einträge lösche. Ich pfeffere das Handy in meine Handtasche zurück und lasse den Motor wieder an. Als ich auf die Straße einbiege, kommt ein Auto hinter mir um die Ecke, zu schnell, und hupt wütend, während es mir ausweicht; das lang gezogene Geheul verklingt allmählich.

Meine Gratis-Lokalzeitung, die wöchentliche, erwartet mich auf der Fußmatte, als ich nach Hause komme. Direkt nach dem Unfall, als andere Leute in meinem Haus waren, verschwand diese Zeitung immer sofort nach der Auslieferung – mir wird jetzt klar, dass man mich vor Artikeln über Betty und Willow beschützt hat. Eine Gemeinderatssitzung zur Parkraumbewirtschaftung hat stattgefunden; in der Schrankfabrik Witchard’s gab es einen Ausverkauf; das Zulassungsverfahren der weiterführenden Schulen wird überprüft. Erstaunlich, wovon man sich angegriffen fühlen, wie unglaublich viel man persönlich nehmen kann.

Ich schlage sie auf und blättere rasch die Seiten um, während ich mich auf einen Stuhl am Küchentisch fallen lasse. Die Spannungen in der Stadt sind offenbar nicht abgeklungen. Vergangenen Mittwoch wurde eine junge Frau aus dem Chinaimbiss am Clifton Rise von drei oder vier Jugendlichen verfolgt, die sie wegen ihres Akzents verhöhnten. Als sie sie verscheuchen wollte, riss ihr ein Jugendlicher die Schachtel mit Essen zum Mitnehmen aus der Hand, klappte sie auf und kippte ihr den heißen Inhalt in Gesicht und Haar. Ein Stadtrat wird mit den Worten zitiert, Neuankömmlinge müssten verstehen, dass die Einheimischen wegen der hohen Arbeitslosigkeit enorm aufgebracht seien. Ich frage mich, ob diese junge Frau zu denen gehört, die ich früher am Tag in der Lagerhalle gesehen habe, wie sie lächelnd die Reißverschlüsse oder Lederstücke sortierten, im Gefühl der Geborgenheit unter ihren Freundinnen und Kolleginnen, bis eine fremde Frau vorbeiging, sie anstarrte und daran erinnerte, dass es immer tausenderlei Gründe gibt, sich unbehaglich zu fühlen, zu wissen, dass man nicht sicher ist. Ich schüttele den Kopf. Ich darf nicht anfangen zu denken, alles hinge miteinander zusammen. Sonst werde ich noch verrückt.

Draußen ist es dunkel. Ich beschließe, mir den Abend freizunehmen. Ich öffne eine Flasche Wein, gehe zu dem Geschirrschrank, in dem die vornehmen Gläser stehen, die wir nie benutzt haben, und suche mir das teuerste davon aus, einen bauchigen Ballon mit hauchdünnem geriffeltem Stiel – die Sorte Glas, die Leute in Restaurants hochhalten und im Licht hin- und herdrehen, um die wahre Farbe des Weins zu betrachten. Ich stelle beides auf ein Tablett, und dann fällt mir ein – als ginge eine Glühbirne an –, dass ich eine rauchen könnte – in meinem eigenen Haus, noch so ein anstößiger Gedanke. Offenbar unterlaufen die mir in letzter Zeit häufiger. Rees ist weg. Niemand braucht je davon zu erfahren. Ich habe zwei Zigaretten in einem Zehnerpack ganz hinten in der Schublade, wo ich die alten Gebrauchsanweisungen längst entsorgter Elektrogeräte aufbewahre. Endlich finde ich das Päckchen, etwas zerknittert, hinter der Garantie eines elektrischen Sandwichtoasters. Die Glimmstängel darin sind uralt und vertrocknet. Auch wenn ich es David gegenüber vortäuschte, war ich nie eine richtige Raucherin, genauso wenig wie ich je eine richtige Trinkerin war. Es war bloß eine rebellische Geste.

Ich stelle die Weinflasche, das teure Glas, die Zigaretten und einen Gasanzünder auf ein Tablett, mit dem ich ins Wohnzimmer gehe. Ich drehe das Gasfeuer voll auf, mache den Fernseher an, stelle den Ton laut, trinke meinen Wein und rauche meine Kippen, zu schnell, eine nach der anderen, klopfe die Asche auf das Tablett ab, meine Füße, obwohl noch in Schuhen, auf dem Sofa hochgelegt.

Irgendwann später werde ich ruckartig wach und bekleckere mich dabei mit Wein. Ich bin bei plärrendem Fernseher eingeschlafen, mit zwei Zigarettenkippen auf dem Tablett, das teure Weinglas zwischen den Fingern auf meiner Brust abgestellt. Geweckt hat mich, dass es umgekippt ist – zum Glück war nicht mehr viel drin. Desorientiert setze ich mich auf. Die Weinflasche ist zu zwei Dritteln geleert. Im Zimmer riecht es nach den Zigaretten – scheußlich, denke ich. Im Fernsehen sitzt eine Menschengruppe auf einem knallgelben Sofa und kreischt hyänenhaft. Ich taste nach der Fernbedienung und schalte das Gerät aus. Mit einem Mal bin ich wieder in meinem Haus, im Halbdunkel, allein, inmitten von allem, was passiert ist. Ich möchte erneut abtauchen, zwinge mich jedoch aufzustehen, schwankend, stelle mein Weinglas auf das Tablett zurück, nehme es hoch und wende mich zur Küche. Dort erwartet mich der Anfang des Rituals, der langsame, aber zwangsläufige Prozess, das Haus für die Nacht fertig zu machen, Türen zu überprüfen, Lampen auszuknipsen, mir selbst einzugestehen, dass ich allein bin. Ich führe es aus. Ich befehle es mir, obwohl ich nichts weiter will als Bettys Bett, das Flüstern ihrer Daunendecke, wenn ich sie mir über die Schultern ziehe, den hypnotisch wandernden Lichtschein der orangefarbenen Seesternlampe, meine Gedanken an sie. Ich will nur noch an sie denken.

Entgegen meiner Gewohnheit schlafe ich ein und bin am Morgen schlaftrunken und träge. Langsam gehe ich im Morgenmantel nach unten. Kaffee und zwei Bissen Toast machen mich nicht munter. Mein Festnetztelefon klingelt, als ich auf halbem Weg die Treppe hinauf bin, um mich anzuziehen. Es hört auf, als ich unten angekommen bin, setzt aber kurz darauf wieder an.

»Laura, hallo, hier ist Toni.«

Ich bin so erledigt, so geistesabwesend, dass ich ein Weilchen brauche, bis es bei mir einsickert. »Toni«, sage ich.

»Geht es Ihnen gut? Sie hören sich verschlafen an. Hab ich Sie geweckt?«

»Nein, nein, mir geht’s gut, bin nur noch nicht lange wach. Hab ausnahmsweise mal ausgeschlafen.«

»Sehr schön.«

Ich lächle vor mich hin. Toni, meine Glucke.

»Sind Sie die nächste halbe Stunde zu Hause?«, fragt sie.

»Ja, klar, ich bin noch nicht mal angezogen.«

»Super, dann komm ich vorbei. Geht es in Ordnung, wenn ich eine Kollegin mitbringe?«

»Ja, sicher, ich zieh mich nur eben an.«

»Aber nicht extra wegen uns.«

Ich schaue auf die Uhr. Es ist schon mitten am Vormittag. »Haben Sie mich gestern angerufen?«, frage ich. »Auf dem Handy, mehrmals nacheinander, lauter Anrufe in Abwesenheit?«

»Nein, ich würde es immer zuerst mit Ihrer Festnetznummer probieren oder eine Nachricht hinterlassen.«

»Ach so.«

Toni schaut sich um, als sie zur Tür hereinkommt.

»Rees bleibt eine Zeit lang bei David«, sage ich.

»Ja, ich weiß«, antwortet Toni.

Ich sehe die Kollegin an, die Toni mitgebracht hat, Toni in klein, jünger, aber genau wie sie mit offenem Blick und strubbeliger Kurzhaarfrisur. Ihre funkelnden Augen sind sehr rund. Sie sieht aus wie eine dieser munteren, tüchtigen jungen Frauen, denen nie etwas richtig Schlimmes zugestoßen ist, auch wenn ich mich bemühe, nicht vorschnell zu urteilen. Wenn eine wissen sollte, wie stark der Schein trügen kann, dann ich. »Rees ist mein Sohn«, sage ich.

»Tag, ich bin Jane«, gibt sie zur Antwort. »Wie alt ist er?«

»Vier«, erwidere ich.

Jane bleibt im Flur stehen und sagt: »Dieser Spiegel gefällt mir.«

»Danke«, sage ich schmunzelnd, während ich in die Küche vorausgehe. Es ist ein ganz gewöhnlicher Spiegel. Seit Toni habe ich mich an bestimmte Verhaltensweisen von Polizisten gewöhnt, deren hervorstechendste ständige laut ausgesprochene Beobachtungen sind, wie um ihre Aufmerksamkeit unter Beweis zu stellen. Vielleicht ist es eine erlernte Methode, um Angehörige oder Opfer zu beruhigen und Verdächtige zu verunsichern, und die wird ihnen dann so zur Gewohnheit, dass sie gar nicht mehr merken, wenn sie sie anwenden. Letzten Endes sind wir für sie alle gleich, diejenigen, mit denen sie es zu tun haben – die Zivilpersonen, die Nicht-Wir. Mir fällt wieder ein, wie die Kindersicherung an dem Abend, als sie mich zum Krankenhaus fuhren, verriegelt war, wie sie mich auf dem Krankenhausparkplatz zwischen sich nahmen, so als könnte ich mich jeden Moment in eine Tatverdächtige verwandeln.

Toni trägt einen mattblauen Pappaktenordner, woran ich sofort erkenne, dass dieser Besuch förmlicher sein wird als ihre bisherigen. Ich beschließe, mir die Mühe zu sparen, ihnen Kaffee oder Tee anzubieten, und befürchte deshalb, wenn auch nur flüchtig, dass die Jüngere, Jane, mich unhöflich finden könnte. Während wir alle drei Platz nehmen, legt Toni den Aktenordner auf den Tisch und setzt zu einer einstudierten Rede an. »Laura, Sie wissen, dass Mr. Ahmetaj ursprünglich unter Verdacht auf vorsätzliche Körperverletzung mit Todesfolge verhaftet wurde.« Mir kommt der Gedanke, Toni meint, mir ginge es besser, ich wäre jetzt vielleicht allmählich stark genug für das, was sie mir sagen will. Draußen im Garten, irgendwo in der Nähe meiner Hintertür, ertönt das Miauen einer Nachbarkatze.

Toni wendet sich Jane zu. »Wir haben Laura so weit wie möglich auf dem Laufenden gehalten. In der Regel habe ich einmal die Woche bei ihr vorbeigeschaut.« Sie lächelt mir zu. »In den letzten paar Wochen haben wir die eine oder andere Tasse Tee miteinander getrunken, was?« Mit einer bangen Vorahnung lächele ich zurück. »Laura weiß, dass vorsätzliche Körperverletzung mit Todesfolge ein Schwerverbrechen ist, und sie weiß auch, dass wir aus diesem Grund Beweise für eine so gravierende Anklageerhebung erbringen müssen. Wir haben uns auch schon ein wenig über die Schwierigkeiten unterhalten, solche Anklagen zu erheben, die Beweislast und all so was.« Diese Toni gefällt mir nicht. Mir gefällt die, die heimlich mit mir im Garten eine geraucht hat.

»Das Auto wurde beschlagnahmt, nicht?«, fragt Jane. Die beiden sind jetzt mitten in einem Polizistinnendialog, als nähmen sie an einer Trainingseinheit teil, was ich für gar nicht so unwahrscheinlich halte. Die Hierarchie zwischen ihnen liegt auf der Hand, man spürt, dass Jane die zweite Geige spielt und Toni das Sagen hat. Das ärgert mich. Es erinnert mich daran, dass auch meine Rolle in dem Stück festgelegt ist. Hallo, möchte ich sagen, wissen Sie noch, wer ich bin? Laura mein Name.

»Ja, die Kleidung auch, und die Testergebnisse auf Alkohol und Drogen waren negativ.« Toni spricht zu mir: »Wissen Sie noch, wie ich erläutert habe, dass der Fahrer unter Auflagen entlassen wurde, während wir gegen ihn ermittelt haben?«

Ich nicke.

»Nun, das haben wir getan. Wir haben die Aussagen von Ranmali und ihrem Mann aufgenommen, was natürlich schon eine Weile her ist, und es gab Bremsspuren auf der Fahrbahn. Wir ließen das Fahrzeug untersuchen. Aber unser Problem ist, dass es keine anderen Zeugenaussagen gab. Außer Willow natürlich, aber sie war lange krank, und dann haben wir sie verloren. Das ist jetzt schwierig, doch wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es keine unanfechtbaren Beweise für vorsätzliche Körperverletzung mit Todesfolge gibt.« Das schockiert mich nicht. Toni hat mich schon vor Wochen darauf hingewiesen, dass die Anklage auf fahrlässige Tötung herabgestuft werden könnte, mit milderem Strafmaß. »Er hat eine Aussage gemacht, und unter unserer neuen Familiencharta haben Sie das Recht auf Einsicht. Hier ist sie.« Ich schaue auf den Aktenordner auf dem Tisch. »Ich lasse sie Ihnen hier, wenn Sie möchten. Wenn Sie wollen, kann ich sie Ihnen jetzt vorlesen, oder ich überlasse sie Ihnen, und Sie können mich dann später anrufen, wenn Sie über alles reden wollen.«

Beide sehen mich an. Jetzt verstehe ich die Förmlichkeit, warum sie in Begleitung gekommen ist. Ich habe Rechte. Ich könnte Widerspruch einlegen oder sie irgendwie verklagen. Vielleicht werde ich einen Anwalt einschalten. Ich bin allein, denke ich. Dies ist der Anfang vom Ende ihres Interesses an mir. Sie nabeln mich ab.

Toni beobachtet mich. »Als Ergebnis unserer Ermittlungen wird die Anklage gegen ihn herabgestuft. Laura, ich hoffe, Sie verstehen das, es tut uns leid, aber diese Möglichkeit hat immer bestanden, und dazu kommt es in ähnlich gelagerten Fällen häufig. Viele Betroffene regen sich darüber auf, und ich weiß, dass es schwer nachzuvollziehen ist, wenn man einen geliebten Menschen verloren hat, aber es gibt wirklich …«

Ich unterbreche sie. »Was wird ihm zur Last gelegt werden?«

»Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort.«

»Und das heißt was?« Plötzlich hyperventiliere ich in großen, tiefen, hicksenden Atemzügen. »Was? Was passiert mit ihm? Was?«

»Wahrscheinlich eine Geldstrafe von zweihundert Pfund und Punkte im Verkehrszentralregister.«

Vorübergehend werde ich in den Abend zurückkatapultiert, als sie vorbeikam und mich zur Identifizierung von Bettys Leichnam ins Krankenhaus abholte, das unwirkliche Gefühl, das mich überkam, als ich die endlos fremden und zwangsweise vertrauten Gänge durchschritt – meine leise, aber hartnäckige Überzeugung, alles sei ein Traum.

Beide sehen mich an. Langes Schweigen entsteht. Sie sind ihr Anliegen losgeworden. Es sind nette, um mich besorgte Menschen, die mir den Eindruck vermitteln wollen, dass sie zu meiner Hilfe und Beratung da sind, und zwar, wie sie mir mit ihrem Schweigen zu verstehen geben wollen, jederzeit, aber ihren Wunsch, hier wegzukommen, spüre ich so lang und breit wie den Tisch, an dem wir sitzen. Weil ich weiß, dass sie nicht aufstehen werden, bevor ich sie verabschiede, sage ich nach einer Weile ruhig: »Ich möchte, dass Sie beide jetzt gehen. Danke.«

Sie erheben sich von ihren Stühlen und lassen den Aktenordner auf dem Tisch liegen. Ich bleibe sitzen. Toni hebt die Hand, genau wie an jenem Abend, eine Geste, um mir zu bedeuten, dass sie gern meine Schulter berühren würde, sich aber nicht aufdrängen will. Ich glaube, sie hatte Tränen, Wut, vielleicht sogar Hysterie erwartet – all das hätte sie wahrscheinlich meiner unnatürlichen Ruhe vorgezogen. Ich spüre die Anspannung in ihren stummen Gesten, ihre Entschlossenheit, sich der Situation angemessen zu verhalten. An der Küchentür angelangt, dreht sie sich um und sagt sanft: »Ich melde mich später, wenn Sie dazu gekommen sind, die Zeugenaussagen durchzugehen.«

Ich sehe sie zwar immer noch nicht an, nicke aber kaum merklich. Sie lassen mich dort sitzen und finden alleine raus, um schweigend zu ihrem Auto zu gehen, seufzend einzusteigen und über mich zu reden, während sie aufs Revier zurückfahren, um mit dem Rest ihrer Arbeit, ihres Lebens fortzufahren.

Mr. A.s Aussage ist in leserlicher, wenn auch krakeliger Handschrift des Polizisten, der sie aufgenommen hat, verfasst, aber in der ersten Person, aus Mr. A.s Perspektive. Er ist die Fulton Road entlanggefahren, weil er in der Schule war, Bettys Schule, die Schule meiner Tochter. Er hatte einen Termin bei dem Direktor.

Die Schule, auf die mein Neffe geht, ist sehr schlecht. Wir haben gehört, dass die andere Schule eine gute Schule ist, aber sie wollten meinen Neffen nicht nehmen. Sie sagen, er muss warten. Ich weiß, welche Schule er meint, St. Michael’s, eine kleine Grundschule mit freizügigem Aufnahmesystem an der Seite der Stadt, die der Steilküste am nächsten liegt. Ich hatte dort manchmal beruflich zu tun, war in Kontakt mit der Integrationskoordinatorin. Sie oder auch praktische Ärzte mussten öfter Kinder an uns überweisen. Diese Gegend ist ökonomisch stark unterprivilegiert, und über ein Drittel der Kinder, die die Schule besuchen, sind als Förderkinder registriert, obwohl es eigentlich keine Sonderschule ist. Sie müssen Schüler der sechsten Klasse, Elfjährige, wegen Rauchens auf dem Pausenhof vom Unterricht suspendieren. Zwischen den Kindern mit Migrationshintergrund und den Kindern aus den alteingesessenen Wohnsiedlungen hat es viele Reibereien gegeben. Mein Neffe hatte dort Probleme, fährt die Aussage fort, ein paar sehr schlimme Jungen. Wir sind zu der anderen Schule gefahren, um zu sehen. Weiter geht es darum, wie schlimm St. Michael’s ist. Dieses Thema scheint Mr. A. sehr beschäftigt zu haben. Die Stadt, in der wir wohnen, ist sehr gut, aber die Schule für meinen Neffen ist unser großes Problem. Wir gehen oft zu den Lehrern, um mit ihnen zu reden, meine Kusine geht und erzählt der Frau Direktor, wie unglücklich mein Neffe in der schlechten Schule ist. Die Frau Direktor dort hört nicht, was wir sagen. Wir wollen die Stadt nicht verlassen. Wir sind jetzt hier im Geschäft, und bis auf die Schule läuft bis jetzt alles sehr gut. Wir verstehen nicht, warum mein Neffe nicht auf eine andere Schule gehen kann, wo es doch unser einziges Problem ist, unser Kummer. Deshalb haben wir einen Termin mit dem Direktor der anderen Schule gemacht, um zu sehen. Mr. A. ist nicht der Einzige, den die Willkür des schulischen Aufnahmesystems verwirrt. Bettys Schule liegt in einer Wohngegend mit herrschaftlichen Altbau-Zweifamilienhäusern. Obwohl die Kapazität verdoppelt wurde, ist die Warteliste lang. Wir wohnen zwanzig Minuten Fußweg entfernt und konnten Betty nur deshalb dort unterbringen, weil ihr Jahrgang unverhältnismäßig wenige Geschwisterkinder aufzuweisen hatte. Wir haben mit dem Direktor dort geredet. Wir mussten im Büro warten. Der Direktor von Bettys Schule, Mr. Coe, ist ein kleiner schroffer Mann, den die Kinder sehr lieben, die meisten Eltern, mich eingeschlossen, jedoch nicht. Er ist rotgesichtig und jähzornig, und mir ist schleierhaft, warum er bei den Kindern so gut ankommt – Betty hat ihn regelrecht vergöttert. Normal wäre meine Kusine hingegangen, aber an dem Tag hat sie sich verspätet, deshalb bin ich mit meinem Neffen im Auto gefahren. Ich will ihm zeigen, dass mein Neffe ein guter Junge ist, fleißig, immer höflich. Wir reden mit dem Mann. Er ist ein netter Mann, vernünftig, aber er sagt, er kann nicht helfen. Als wir aus der Schule kommen, rennt mein Neffe. Er tritt gegen so ein Ding, wissen Sie, ein Dreieck. Er ist hingefallen.

Als sie die Schule verließen, spielte der Neffe mit einem Plastik- Verkehrsleitkegel, den jemand mitten auf dem Bürgersteig stehen gelassen hatte, stolperte darüber und prallte mit der Stirn gegen eine niedrige Backsteinmauer. Er blutete stark am Kopf, als Mr. A. in Eile die Fulton Road entlangfuhr und um die Ecke bog. Genau da liefen zwei Mädchen auf die Straße. Es war keine Zeit, ihnen auszuweichen. Weder er noch sein Neffe waren angeschnallt. Mr. A. bremste und hielt an, sowie ihm das gefahrlos möglich war. Er wusste nicht, was er machen sollte. In seinem Rückspiegel sah er die Frau aus dem Laden laufen. Sein Neffe schrie, Blut lief ihm über das Gesicht. Mr. A. fuhr weiter. Weil er nicht wusste, was er machen sollte, fuhr er den Neffen ins Lager zurück, zu seiner Mutter, und die Frauen brachten ihn ins Krankenhaus; dann berief Mr. A. eine Unterredung mit den anderen Männern ein. So machten sie es immer. Wenn es ein Problem gab, versammelten sie sich, um zu besprechen, wie sich jeder am besten zu verhalten hatte. Später kam er zum Revier. An dieser Stelle geht der Polizist zum offiziellen Sprachgebrauch über: Später habe ich mich auf dem Polizeirevier gestellt, wo ich verhaftet wurde. Dieser Ausdruck kam mir immer merkwürdig vor, wenn in der Zeitung stand, dass Leute sich der Polizei stellen und sich demütig verhaften lassen, sich selbst auf einem Silbertablett präsentieren. Eine Verhaftung war in meiner Vorstellung immer mit physischer Gewalt verbunden – eine Autojagd oder eine eingetretene Tür, vielleicht ein Handgemenge.

Jetzt, zu diesem Gedanken zwinge ich mich, jetzt ist der Moment gekommen. In diesem Augenblick weiß ich es: Den Neffen liebt er. Für einen Mann wie ihn muss es ungewöhnlich sein, an Erziehungsfragen beteiligt zu werden – die werden schließlich in so gut wie jeder Kultur als Frauenarbeit betrachtet. Vielleicht hat er mitgemacht, weil der Direktor von Bettys Schule ein Mann ist und er sich vorgestellt hat, er würde mit ihm von Mann zu Mann verhandeln, ohne zu wissen, dass die Aufnahmeprozedur nicht in den Zuständigkeitsbereich des Schuldirektors fällt. Aber ich glaube, es war mehr als das. Selbst auf dem Umweg über die Hilfe eines Dolmetschers und die Niederschrift durch einen Polizisten scheint Mr. A.s Zuneigung zu seinem Neffen durch. Der Neffe, dieser geliebte Neffe, ihrer aller Lebensmittelpunkt, war der Junge, den ich an jenem Abend in der Notaufnahme gesehen habe, als Toni und ihr Kollege mich auf den langen Marsch zur Identifizierung des Leichnams meiner Tochter brachten. Als ich an diesem Kind vorbeiging und mich beiläufig fragte, warum er wohl da war, hatte ich keine Ahnung, dass sein Tritt gegen einen Verkehrskegel direkt dazu geführt hatte, dass mir meine Tochter entrissen wurde. Ich frage mich, an welcher Stelle der Fulton Road die Mädchen waren, als der Junge gegen diesen Kegel trat – vielleicht auf halbem Wege? Ich frage mich, an welcher Stelle eine von beiden sagte: »Schnell, hier, ich hab ein bisschen Geld, komm, wir gehen noch eben in den Laden.« Vielleicht hat die andere gesagt: »Dann kommen wir zu spät.«

Er, der Neffe, ist das, was er liebt. Zweihundert Pfund und Punkte im Verkehrsregister. Willow wurde von der Fahrbahn geschleudert. Meine Tochter flog senkrecht in die Luft. Wie ich höre, bist du ganz schön verrückt geworden.

Mir bleibt nicht viel Zeit, das spüre ich zutiefst im Innern. Wenn in der Lokalzeitung steht, dass Mr. A. nur wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort belangt wird, tauchen diese weißen, pickligen Jugendlichen oben bei den Wohnwagen auf, kaum dass sie ein paar große Gläser starken Cider intus haben. Ich stehe vom Tisch auf.

Später, viel später, nach meiner Verhaftung und allem, was danach kam, werde ich an diesen Augenblick denken. Ich werde mich immer wieder daran zurückerinnern. Wusste ich, was ich als Nächstes tun würde? Habe ich einen Vorsatz gefasst? Lief überhaupt irgendein bewusster gedanklicher Prozess ab, während ich von meinem Küchenstuhl aufstand? Mir fällt keiner ein. Nur eine eigentümliche Leere, während ich zu dem Messerblock ging, der neben der Küchenspüle steht. Tante Lorraine hatte uns das neue Messerset zur Hochzeit geschenkt, und in den Reden wurden witzige Anspielungen darauf gemacht. Alle schenkten uns Haushaltsgegenstände – wir hatten die am besten bestückte Küche der Südküste. Zwei Wochen nachdem ich erfahren hatte, dass ich mit Betty schwanger war, als ich nach dem Sechs-Wochen-Ultraschall nach Hause kam, stellte ich den Block mit den teuren Stahlmessern, alle mit genoppten Griffen, in einen Hochschrank. Auch wenn mein Embryo schlecht aus dem Schoß krabbeln konnte, um mit den Messern zu spielen, verschaffte mir mein hormonell gepushter Beschützerinstinkt bei deren Anblick schon ein mulmiges Gefühl. Ich weiß nicht mehr, wann der Messerblock samt Inhalt an seinen alten Platz auf der Arbeitsfläche zurückfand, aber es muss einen Zeitpunkt gegeben haben, an dem ich überheblich wurde und nicht mehr an Gefahren glaubte – an dem ich mir einbildete, meiner Aufgabe ziemlich gut gerecht zu werden.

Überheblich, denke ich, während ich langsam zur Spüle gehe. Das ist passiert. Du bist überheblich geworden.

Es gibt ein sehr langes, sehr scharfes Messer, wohl zum Schneiden von Fleisch gedacht, doch es ist zu lang, um in meine Handtasche zu passen, und wäre ohnehin unhandlich. Das kleinste, mit dem man Gemüse schneidet, lässt sich am besten halten, aber die Klinge misst nur zehn oder zwölf Zentimeter in der Länge. Das dürfte kaum ausreichen. Es gibt eins mit Wellenschliff, das, wie David mir einmal sehr bestimmt erklärt hat, ein Tomatenmesser ist. Ich nehme das nächstgrößere, mit glatter Klinge, das noch gut in der Hand liegt, und es passt in meine Handtasche, wenn ich es schräg hineinstecke. Früher, als ich noch kochte, habe ich damit gefrorene Hähnchenfilets zerschnitten, damit sie schneller auftauten.

Daran dachte ich, als ich es in ein Geschirrtuch einschlug: gefrorene Hähnchenfilets. Vielleicht weigerte sich ein Teil meines Hirns immer noch zu glauben, dass Betty endgültig fort war. Vielleicht sollte das Messer sie retten. Vielleicht war es dazu gedacht, mich zu beschützen, das, was von mir übrig war, weil ich mich ihm nähern würde, Mr. A., seinen Dunstkreis betreten würde. Mir will nicht in den Kopf, dass ich mich bewusst dazu imstande fühlte, jemanden umzubringen.