Prolog
Muskeln erinnern sich; der Körper weiß Dinge, die das Bewusstsein nicht wahrhaben will. Zwei Polizisten standen vor meiner Tür – uniformiert, steif –, doch selbst als die aufschwingende Tür den Blick auf sie freigab, und das war eindeutig der Moment, in dem ich Bescheid wusste, selbst da suchte mein Denken nach anderen Erklärungen, drehte sich immerzu im Kreis wie eine Ratte im Käfig. Muskelerinnerung – natürlich nicht dasselbe wie Instinkt, aber verwandt: Pianisten kennen das Phänomen, und Stepptänzer, und jede Frau, die je ein Kind geboren hat. Selbst wer sich körperlich noch nie stärker betätigt hat als beim Schuhezubinden, kennt es. Der Körper begreift schneller als das Bewusstsein. Auf den Körper ist Verlass.
Sie haben länger gebraucht als üblich, um mit der Nachricht an meine Tür zu kommen. Betty hatte nichts zur Identifizierung bei sich. Die Polizistin erklärt das mit sanfter, neutraler Stimme, aber ich will Kritik heraushören. Ich sitze auf meinem Sofa, hocke auf der Kante. Im Kamin brennt das Gasfeuer. Auf dem Teppich vor mir liegt das Magazin aus der letzten Wochenendzeitung aufgeschlagen, wo ich es liegen gelassen habe – ich habe heute Morgen darin gelesen, vor das Feuer gekauert. Der jüngere der beiden Polizisten, ein Mann, blass und schmal, bleibt an der Tür stehen. Die ranghöhere Frau – älter, blond – hat sich neben mich gesetzt, halb zu mir gewandt. Ich habe sie hereingebeten. Ich habe diese Nachricht über meine Schwelle gelassen.
Ich versuche zu begreifen, was sie mir sagen, das große Ganze, bleibe aber an einem Detail hängen: Beide hatten nichts zur Identifizierung bei sich.
Beide. Sie war mit ihrer Freundin Willow unterwegs. Willow und Betty.
»Sie ist neun«, sage ich.
Die Polizistin hält meinem Blick stand, saugt ihn auf wie Wasser – das erkenne ich daran, wie sie ihn erwidert, abschätzend. Sie wurde dazu ausgebildet, meinem Blick standzuhalten, wenn die Umstände es erfordern. Sie gerät nicht ins Wanken. Ihr Kollege ist der Taktvolle, der zu Boden schaut. Sie sind ein Team, aber ich kann frei wählen, an wen ich mich halte. Ich habe mir sie ausgesucht.
»Sie ist erst neun«, wiederhole ich. Neunjährige führen weder Kreditkarten noch Führerscheine mit sich. Meine Neunjährige hat nicht einmal ein Handy.
Die Polizistin versteht nicht, worauf ich hinauswill. »Es tut mir sehr leid«, sagt sie.
In dem Moment stürmt Bettys jüngerer Bruder Rees ins Zimmer. Mit der Rechten hält er einen Tacker umklammert. Er schmeißt sich gegen meine Knie und rammt seine Stirn auf meinen Schoß, eine Geste der Wut wie auch der Zuneigung und eine stumme Erinnerung daran, dass ich ihm eine nicht näher bestimmte Belohnung versprochen habe, wenn er sich in der Küche mit Malen beschäftigt, während ich mit den beiden Leuten im Wohnzimmer rede. Die Liebe zu meinem Sohn schwappt wie eine Woge über mich. Ich umklammere seine Schultern und ziehe ihn fest an mich, wenn auch unbeholfen. Als er spürt, dass mein Bedürfnis seines übersteigt, windet er sich los, steht dann da und sieht mich abwartend an. Die Polizistin beugt sich zu mir vor, schiebt sich zwischen mich und Rees und streckt ihre Hand so aus, dass sie ein, zwei Zentimeter über meiner Schulter in der Luft schwebt. Obwohl sie mich nicht berührt, empfinde ich das als aufdringlich.
»Mrs. Needham, Laura, es tut mir leid, aber wissen Sie vielleicht, wie wir Bettys Vater erreichen können?«
Unsere Körper machen sich häufig selbstständig. Das passiert andauernd. Zum Beispiel hätte ich bei meiner Fahrprüfung eigentlich durchfallen müssen – gleich beim Anlassen ließ ich den Motor zweimal absaufen –, doch als wir die Clarence Road entlangfuhren und meine Hände das Lenkrad umklammert hielten, sagte der Prüfer zu mir: »Wenn ich mit dieser Zeitung auf das Armaturenbrett klopfe, möchte ich, dass Sie eine Notbremsung vollführen. Und zwar möchte ich, dass Sie genauso scharf bremsen, wie Sie es tun würden, wenn Ihnen ein Kind vors Auto läuft.«
Nachdem er sich die Haare aus dem Gesicht gestrichen hatte, sagte er: »Danke, Miss Dodgson. Ich werde Sie bestimmt nicht bitten, dieses Manöver zu wiederholen.«
Bettys Vater und ich haben uns vor drei Jahren scheiden lassen, als Betty sechs und Rees noch ein Säugling war. Er wohnt mit seiner Freundin Chloe und ihrem Baby in der neuen Siedlung Richtung West Runton, für die das Gebiet um die Flussmündung trockengelegt wurde. So umstritten dieser Wohnpark auch ist, die Bungalows sind hell und großzügig, genau das Richtige für Leute, die einen Neuanfang wagen. Als ihr Baby da war, habe ich ihnen eine Glückwunschkarte gekauft. Viel Spaß mit eurem Neuankömmling, stand in verschnörkelten Lettern darauf. Alles Liebe von Laura, Betty und Rees, schrieb ich mit Kuli darunter. Betty und Rees schlug ich vor, Bilder von ihrem neuen Brüderchen zu malen, die ich der Karte beilegte. Als ihr Vater kam, um sie zum Babygucken abzuholen, gab ich ihm ein Körbchen mit Pflegeprodukten, die ich für Chloe im Angel Shop an der Strandpromenade gekauft hatte. Die Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er es entgegennahm. Alle Sachen im Korb waren weiß – weiße Seife, weiße Körperlotion, ein flauschiger weißer Waschlappen –, alles in Klarsichtfolie verpackt, mit einer breiten weißen Schleife drumherum. Nach einem kurzen Blick auf den Korbinhalt breitete sich allmählich ein anerkennender Ausdruck über sein Gesicht.
Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen. »Du kümmerst dich doch jetzt gut um sie, nicht?«, sagte ich.
Nachdem er mit Betty und Rees weggefahren war, machte ich mir eine Tasse Kaffee, setzte mich damit und mit einer angebrochenen Kekspackung an den Küchentisch und schaute aus dem Fenster. Der salzige Küstenwind fegte kreuz und quer durch alle Ecken meines Gartens. Hier in der Gegend ist der Wind wie Schmirgelpapier. Ich schaute einfach immer weiter ins Nichts, auf das Geheul des Tages. Zweige vom Kirschbaum kratzten und schabten an unserer Hintertür, wie ein vernachlässigtes Haustier, das Einlass begehrt. Diesen Baum hätte man nie und nimmer so nah ans Haus pflanzen dürfen. Knapp drei Kilo, zweiunddreißig Stunden Wehen, gefolgt von einer Saugglockengeburt. Ich fragte mich, ob sie einen Dammschnitt gesetzt hatten oder ob sie es auf Risse ankommen ließen. Bei Saugglocken war Dammschnitt früher reine Routine, aber heute herrschen andere Sitten. Bei Betty bin ich schlimm gerissen, so schlimm, dass ich bei Rees wieder riss, am Narbengewebe entlang. Im Unterschied zu Muskeln kann sich Narbengewebe nicht erinnern, was früher mit ihm war. Es ist hart und dumm.
Weder mein Exmann noch seine Freundin gehen ans Telefon. Ich stelle mir Chloe vor, wie sie sich mit dem Baby auf dem Arm über den Apparat beugt, meine Nummer im Display sieht und beschließt, nicht ranzugehen. Das kommt vor. Ich lege auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, und rufe David auf seinem Handy an, doch da meldet sich sofort die Mailbox.
Der Kollege der Polizistin holt meine Nachbarin Julie, damit sie sich um Rees kümmert. Rees geht mit Julies kleinem Sohn Alfie in den Kindergarten und kennt sie gut, doch sobald sie zur Haustür hereinkommt, sieht er erst mich, dann die Polizisten an und bricht in Tränen aus, so als fielen ihm erst jetzt deren Uniformen auf. Julie muss ihn unter Geschrei und Getrete aus unserem Haus tragen. Sie sieht mich nicht an, aber während sie geht, sehe ich, dass auch ihr die Tränen über die Wangen laufen. Ich überlege, ob sie irgendetwas bedrückt und ob es eine zu große Zumutung ist, ihr ausgerechnet jetzt Rees aufzubürden. Dann begreife ich, warum sie weint. Ich begreife es zwar, weiß es aber immer noch nicht. Offenbar hängt mein Bewusstsein in einer Art Warteschleife. Ich bin sehr, sehr ruhig.
Ich gehe in die Küche, nehme meine Handtasche vom Tisch, der noch übersät ist von Plastiktellern mit Reis und Erbsen – zurzeit das Einzige, was Rees mag – plus einem traurigen Haufen verknitterten Papiers und Gelstiften, Bettys Gelstiften, ihr neues Set in Neonfarben. Rees hat die Abwesenheit seiner großen Schwester genutzt, in der Hoffnung, bei ihrer Rückkehr einen diplomatischen Zwischenfall auszulösen. Ich mache das Licht aus, bevor ich in den Flur zurückkehre, wo ich meine Jacke vom Garderobenständer am Fuß der Treppe nehme. Ich möchte unbedingt alles richtig machen, wenn ich das Haus verlasse. Ich möchte möglichst rasch in ihr Fahrzeug gelangen. Ich will zu Betty.
Ich steige hinten in das Polizeiauto ein und schnalle mich gewissenhaft an. Mir fällt auf, wie sauber der Innenraum ist – kein Wagen, in dem regelmäßig Kinder transportiert werden –, und ein Teil meines Hirns bemerkt das nicht nur, sondern weiß es sogar zu schätzen. Erst als wir aus unserer Straße biegen, fällt mir ein, mich vorzubeugen und zu fragen: »Was ist mit Willow? Wie geht es Willow?«
»Willow ist auf der Intermediate Care Station«, sagt die Polizistin. »Sie wurde von der Fahrbahn geschleudert.«
»Ich muss mich übergeben«, sage ich, und die Polizistin wirft einen Blick in den Rückspiegel, um sich zu vergewissern, dass niemand hinter uns ist, während sie auf die Bremse tritt und das Auto rasch und sicher zum Stehen bringt. Ich betätige den Türgriff, werde aber von der Kindersicherung aufgehalten; natürlich, damit niemand flüchtet. Mir wird schon schwindlig vor Panik, doch der junge Polizist schnallt sich mit einer raschen Bewegung ab und springt, als die Bahn frei ist, aus dem Wagen, um mir die Tür zu öffnen. Ich schaffe es bis zum Rinnstein.
Denn ich fürchtete einen Schrecken, und er traf … mein Mund würde mich schuldig sprechen. Ich bin rechtschaffen. Das Buch Hiob – da fiel es mir ein, während ich würgte und spuckte. Der Aufenthaltsraum in der Schule: grau und weiß. Jenny Ozu.
Zwanzig Minuten dauert die Fahrt zum Krankenhaus, einem flachen roten Backsteinbau. Hier in der Gegend sind alle Bauten flach, als bestünde die Gefahr, dass die Unwetterwolken, die schwer über diesem Küstenstreifen hängen, Hochhäuser erdrücken könnten. In Wahrheit ist mehr als genug Baugrund vorhanden, allerdings muss er vor der Bebauung meist trockengelegt werden. Nur wenige Leute wollen hier wohnen. Wir sind fünfzig Kilometer von der nächsten richtigen Stadt entfernt, und die Fahrt führt durch sumpfiges Flachland, nur gelegentlich aufgelockert von einem Zwiebelfeld.
Während wir im Dunkeln durch den Ort fahren, beginnt Regen schräg auf das Auto niederzuprasseln – hier fällt der Regen selten senkrecht vom Himmel. Die Polizistin muss neu in der Gegend sein, weil sie die Strandpromenade nimmt, obwohl es mit dem Verkehrsleitsystem schneller voranginge. Die Läden links von uns sind verrammelt und dunkel. Das einzige Licht strömt aus Mr. Yeung’s, der Imbissbude, wo hinter dem Fenster Jungs auf Barhockern lümmeln, die Köpfe in die Dreiecke ihrer Arme gebettet. Rechts von uns, hinter dem Geländer, verschwindet der Strand in einer Mauer der Schwärze mit den tosenden Wellen als Geräuschkulisse. Am Ende der Strandpromenade kommt uns auf dem Bürgersteig ein einsamer Hundehalter entgegen, der sich in den Wind stemmt. Er sieht aus wie John Warren, ein Patient von mir, der Ende siebzig und sehbehindert ist und beidseitig Kalkschultern hat. Ich mache mir kurz Sorgen, weil er draußen allein im Dunkeln unterwegs ist.
Das Polizeiauto bremst, um auf die Hauptstraße einzubiegen. Dabei sehe ich eine zusammengescharte Gruppe dunkler Gestalten am oberen Ende der Betontreppe, die zum Strand hinunterführt. Ein paar von ihnen drehen sich zu uns um, als wir vorbeifahren, und unsere Scheinwerfer beleuchten ihre Gesichter, blass und starräugig – Wanderarbeiter aus Osteuropa. Die Polizistin und ihr Kollege wechseln einen Blick, während sie das Lenkrad einschlägt. In dieser Gegend werden keine Muscheln geerntet, nur manchmal Arbeitskolonnen zum Aufsammeln von Müll angeheuert. Zwar ist Ebbe, und es droht keine unmittelbare Gefahr, aber es ist eine ungemütliche Nacht, und im Dunkeln ist jeder Strand gefährlich. Die Polizistin schüttelt den Kopf.
Wir schwenken auf den Krankenhausparkplatz ein, wie ich es immer mache, wenn ich zur Arbeit fahre. Normalerweise fahre ich bis zu dem kleinen Hof an der Rückseite, wo die Station für Rehabilitation und Physiotherapie liegt. Die Polizistin parkt nahe beim Haupteingang, und ihr Kollege springt sofort heraus und hält mir die Tür auf. Als ich schon erwarte, dass er mir die Hand reicht, um beim Aussteigen behilflich zu sein, tritt er respektvoll zurück und blickt mit starrer Miene hinunter auf den nassen Asphalt. Während ich mich aus dem Auto stemme, peitscht mir der Wind die Haare schräg ins Gesicht. Ich streiche sie mit der Hand zurück und gehe mit festen Schritten zum Eingang; meine Begleiter schließen sich an, einer vor, einer hinter mir, als könnte ich ihnen sonst womöglich entwischen und mich ins Meer stürzen. Innerlich flehe ich, dass niemand, den ich kenne, Dienst hat, denn dann wird mein Pakt mit mir selbst nichtig. Bis ich sie sehe, ist Hoffnung. Nur so kann ich einen Fuß vor den anderen setzen.
Wir betreten den weißen, niedrigen Empfangsbereich der Notaufnahme. Instinktiv werfe ich einen Blick in die Runde, um zu sehen, was für Verletzungen warten. Auf den Plastikstühlen sitzt nur eine Gruppe, eine Großfamilie: fünf oder sechs Frauen, drei Kinder. Alle haben dichtes schwarzes Haar und sind blass, wie die Wanderarbeiter, die wir an der Strandpromenade gesehen haben. Wahrscheinlich kommen sie aus dem Wohnwagencamp oben auf der Steilküste – noch ein Konfliktherd der Gemeinde. In ihrer Mitte hält sich ein etwa siebenjähriger Junge ein Verbandsknäuel gegen die Stirn. Es ist blutgetränkt, und über seine Wange sickert Blut hinab. Während wir rasch vorbeigehen, wirft uns das Grüppchen vorwurfsvolle Blicke zu, als drängelten wir uns vor. Am Empfangstresen redet die diensthabende Krankenschwester leise mit einem Arzt und zeigt mit nach oben gekehrter Handfläche auf die Gruppe.
Wir gehen durch die Flügeltür links einen elfenbeinweiß gestrichenen Flur entlang, in dem Gemälde einheimischer Künstler hängen, sehr schlechte, blaue Meerlandschaften mit fröhlich auf den Wellen hüpfenden Booten und am Himmel kreisenden Möwen. So wie auf diesen Bildern hat das Meer hier noch nie ausgesehen. Nach der nächsten Flügeltür blättert die falsche Fröhlichkeit ab, und düstere braune Wände kommen zum Vorschein, die uns zum Verwaltungstrakt führen. Wir gehen auf Umwegen zu dem unbekannten Ort, an dem Betty ist.
Ich hatte ja keine Ahnung, wie lang dieser Flur ist. Mir kommt es vor, als ginge ich ihn seit Tagen entlang, wobei mir Dinge auffallen, die ich normalerweise nie bemerken würde. Wir passieren Bürotüren, allesamt geschlossen, nummeriert, mit Namensschildern von Leuten, die ich kenne, aber die Leute sind nicht hier, während Betty, die zu Hause sein sollte, hier ist, irgendwo in diesem endlosen Labyrinth, das verwirrend und vertraut ist wie die Landschaft in einem Traum. Das muss es sein. Das würde alles erklären: die Möwen auf den Bildern, die Gesichter an der Strandpromenade, das Buch Hiob. Ich bin nicht hier. Ich schlafe, eine feuchte Decke wickelt sich um meine Beine, während ich mich unruhig hin- und herwälze. Schließlich gelangen wir an ein Sprechzimmer. Die Polizistin klopft leise an und geht hinein, ohne die Antwort abzuwarten. Der Polizist bedeutet mir, ihnen zu folgen.
Hinter dem Tisch sitzt ein Arzt, den ich nicht kenne. Dafür bin ich dankbar. Er ist ein älterer Mann, kurz vor dem Ruhestand, nehme ich an, mit schmal eingefassten Brillengläsern. Er schreibt einen Bericht. Als wir hereinkommen, schließt er die Akte und steht auf. »Mrs. Needham, bitte …« Er weist auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Es tut mir sehr leid«, sagt er und schaut zu Boden; ihm ist augenscheinlich nicht wohl in seiner Haut bei dieser Aufgabe, die ihm regelrecht peinlich ist. Dann setzt er sich wieder, schlägt die Akte auf, wirft einen Blick darauf, räuspert sich. »Na dann«, beginnt er in einem Tonfall, aus dem hervorgeht, dass er eine Liste abarbeitet, »ähm, multiple innere Verletzungen …«
Das Zimmer dreht sich wie wild. »Oh!«, rufe ich aus und beuge mich auf meinem Stuhl vor. Während ich zusammensacke, schließe ich die Augen, sehe also seine Reaktion nicht. Nach einmal tief Luftholen zwinge ich mich aufzuschauen.
Der Arzt starrt mich an. Die Polizistin tritt vor und legt mir beschützend die Hand auf die Schulter, versucht mich zu stützen. Ich überwinde mich und setze mich aufrecht hin. »Ich will …«, sage ich und schnappe nach Luft, damit meine Stimme klar und deutlich klingt, »… ich will sie sehen.«
Nach einem Blick auf die Polizistin steht der Arzt von seinem Schreibtisch auf. »Natürlich. Entschuldigen Sie. Ich muss nur – ich gehe eben nachsehen.«
Er schließt die Tür hinter sich. Ein langes Schweigen kommt auf. Von draußen sind Wind und Regen zu hören. Die Polizistin fragt sanft: »Kann ich Ihnen etwas bringen, Laura?« Das ist ihre Art, sich für die Schroffheit des Arztes zu entschuldigen. Ich schüttele den Kopf.
Der Arzt kommt ins Sprechzimmer zurück und schließt die Tür hinter sich. Seine Verlegenheit ist mit Händen zu greifen; es hat ihm die Sprache verschlagen. Er sieht die Polizistin an und nickt. Sie beugt sich zu mir vor. »Wir können jetzt zu ihr.«
Ich stehe vom Stuhl auf und habe das Gefühl, mich immer weiter zu erheben, hoch über das hinaus, was mir zustößt, durch die Lüfte aufzusteigen, weit über das Krankenhaus hinauf. Selbst als wir kehrtmachen, um das Zimmer zu verlassen, als ich vorangehe, ist mir jegliches Körpergefühl abhandengekommen, und mir ist, als schwebte ich hoch über mir. Ich spüre das Linoleum unter meinen Füßen nicht, habe aber das Gefühl, dass es schwammig ist. Die Metalltürklinke ist nicht kalt und fest, wie sie sein sollte, sondern weich, porös. Während wir durch den Flur gehen, habe ich den deutlichen Eindruck, dass sich meine neue Schwerelosigkeit bis in mein Haar fortsetzt, das deshalb meinen Kopf umschweben muss – wie sonst ließe sich die Blöße meiner Kopfhaut erklären?
Trotz alledem muss ich doch noch etwas Körperliches an mir haben – ich setze einen Fuß vor den anderen und finde mich, nachdem ich erst um zwei Ecken gebogen bin, vor einem Zimmer wieder. Die Polizeibeamten stehen zu beiden Seiten von mir, und die Polizistin erklärt mir etwas. Ganz am Rande meines Gesichtsfelds sehe ich, wie sich ihre Lippen bewegen. Sie sagt mir, dass ich das Laken nicht anheben darf. Ich werde Bettys Gesicht sehen können, darf aber das Laken nicht hochheben. Die Lautstärke ihrer Stimme wird auf- und abgedreht. Ich schnappe einen ganzen Satz auf: »Sie können warten, bis ein weiterer Angehöriger eintrifft.« Heftig schüttele ich den Kopf. Sie öffnet die Tür.
Betty, meine Betty, liegt auf dem Rücken auf dem hohen Bett. Ihre Arme stecken unter dem Laken, das ordentlich über ihrer Brust umgeschlagen und hochgezogen wurde. Ihre Augen sind geschlossen. Jemand hat ihr Haar gekämmt. Es liegt sorgfältig auf dem Kissen ausgebreitet, ihr langes, feines Haar. Ihr Gesicht ist friedlich, nur gezeichnet von einer langen Schürfwunde auf der Stirn, die von Steinchen und Erde gesäubert wurde. Allerdings sieht sie nicht so aus, als schliefe sie; nein, das nicht. Vom Schlaf wird ihr Gesicht weich und sanft – wenn sie zu Hause verschläft und ich sie wecken muss, denke ich immer, mein Baby; aber jetzt fehlt dieses Weiche, Sanfte. Die Ewigkeit dieser Ruhe steht ihr unverkennbar ins Gesicht geschrieben. Ihre Züge bergen jeden einzelnen Tag ihres neunjährigen Lebens, jede Erfahrung, jede Hoffnung oder Verärgerung. Sie ist ganz und gar sie selbst.
Ich nähere mich dem Bett. Mein Atem geht stoßweise. Ich merke, dass die Polizistin mich festhält, auf meinen Zusammenbruch gefasst. »Laura … ist das Ihre Tochter, Betty Needham?«
Ich nicke, und das Nicken setzt frei, was seit Stunden hinter dem Damm meines Gesichts aufgestaut war – eine Tränenflut. Der Wendepunkt ist gekommen. Endlich sind mein Bewusstsein und mein Körper im Einklang miteinander. Ich strecke die Hand aus, um Betty zu berühren. Die Polizistin hält mich nicht zurück. Ich halte meine Hand so gewölbt, dass ich ihr mit den Fingerrücken über die Schläfe streichen kann, wie immer, wenn sie sich sehr wehgetan hat oder sich sehr aufregt. »Betty … Betty …«, sage ich, und ich schluchze und schluchze, während ich ihre Schläfe streichle, ganz, ganz sanft, und meine Knie sacken ein, und die Polizistin stützt mich, und mein lautes Weinen erfüllt den Raum, die Luft, die ganze Welt dahinter.
Sie lassen mich dableiben. Dafür bin ich dankbar. Sie bringen einen Stuhl – die anderen Leute, die hereingekommen sind, ohne dass ich es bemerkt habe –, einen von den grauen Plastikstühlen aus dem Wartezimmer, und stellen ihn neben Bettys Bett, damit ich bei ihr sitzen und meine Hand behutsam auf die Decke legen kann, während ich auf die Ankunft ihres Vaters warte. Einige Minuten lassen sie mich sogar allein. Eine Schwesternhelferin kommt mit einer Tasse Tee, die sie, meinen Blick meidend, geräuschlos auf das Schränkchen neben mir stellt.
Ich bin so dankbar für diese wenigen Augenblicke. Davids Ankunft wird der Anfang von allem sein, was danach noch kommt: Rees, unsere Freunde und Verwandten, die Schule. Dann wird der Rest meines Lebens beginnen müssen. Ganz kurz versuche ich, über den Felsrand in jenes Leben zu spähen, das Leben, das kommen wird, doch davon wird mir schwindlig – buchstäblich, kleine Pünktchen tanzen vor meinen Augen. Um das auszubalancieren und mich zu fangen, spule ich im Kopf kurz eine alternative Version dessen ab, was mir in der letzten Stunde zugestoßen ist. Die Polizisten sind zu mir nach Hause gekommen, um mich ins Krankenhaus zu bringen. Als ich hier ankam, lag Betty mit blassem Gesicht auf den frischen Laken, an einen Tropf angeschlossen. Der Arzt hat mir ohne Beschönigungen erklärt, wie schwer ihre Verletzungen sind. Er hat es mir überlassen, ihr das in Begriffe zu übersetzen, die sie verstehen kann, deshalb habe ich ihr gesagt, sie werde ihre Stepptanzprüfung in diesem Herbst wahrscheinlich nicht ablegen können. »Tut mir leid, Schätzchen«, habe ich gesagt, »aber das wird bis zum nächsten Jahr warten müssen.« Wenn sie empört ist, zieht sie eine Schnute, runzelt die Stirn, bis ihre schönen braunen Augen ganz grässlich aussehen. »Ein ganzes Jahr!« Jetzt schläft sie. Der Arzt hat mir gesagt, ich solle nach Hause gehen und mich ausruhen, aber ich bleibe hier, für alle Fälle.
Ich frage mich, wie lange ich damit weitermachen kann, ob es wohl möglich ist, den Rest meines Lebens mit dieser alternativen Version zu leben. Ich weiß – o Gott, ich weiß es bereits –, dass die Version nur so lange mir gehört, wie ich allein bin. Und schon liebäugele ich mit dem Alleinsein.
Ich werde ruhiger, atme die simple Tatsache ein, dass nur Betty und ich da sind, hier in diesem Zimmer. Meine Gedanken sind voll von ihr, aber weil mir nichts zu sagen einfällt, was ich nicht schon eine Million Mal gesagt habe, lasse ich meine Hand auf ihr ruhen und sage ein paarmal: »Schätzchen … Schätzchen …« Ich betrachte ihr Gesicht und versuche, mir dieses Bild ganz fest ins Gedächtnis einzuprägen, damit es ewig darin bleibt, genauso scharf umrissen wie jetzt; wie die Sommersprossen über ihre lange Nase verteilt sind – ihre dichten Augenbrauen und die breite Stirn. Für eine Neunjährige hat sie ein reifes Gesicht. Man ahnt schon die Erwachsene in ihr. Die Windpockennarbe genau unter meinen Fingern, wo sie ihre Schläfe streicheln – die Wölbung ihrer Lippen. Sie hat sehr viel natürliche Farbe in den Lippen. Das schmeichelt ihrer blassen, sommersprossigen Haut. Sie ist sehr sonnenempfindlich, ganz wie eine Rothaarige. Vor Sonne müssen wir sie schützen.
Ich will nicht, dass diese kurze Zeitspanne je endet. Ich denke an all die Momentaufnahmen von ihr, die in meinem Kopf entstanden sind – das letzte Mal, als ich sie in die Schule laufen sah, wie sie mit ihren Freundinnen geplaudert hat; und früher an diesem Morgen, bevor wir aus dem Haus gingen, wie sie vor dem Spiegel im Flur ihr langes Haar gebürstet hat, bis es sich in dem durch die Milchglasscheibe in unserer Haustür einfallenden Dämmerlicht kräuselte. Natürlich waren wir spät dran, aber sie ging nie aus dem Haus, ohne sich vorher das Haar zu bürsten. Pubertäre Eitelkeit war bei Betty früh ausgeprägt; die Stimmungsschwankungen setzten auch schon ein. Als sie mit Bürsten fertig war, blieb sie vor dem Spiegel stehen, um ihre neue Cordjacke zuzuknöpfen. Wir hatten sie an dem Wochenende in einem Ausverkauf gefunden, und sie wollte sie unbedingt tragen, obwohl sie ungefüttert war und sie in der Pause frieren würde.
»Mum, findest du, dass die Ärmel ein bisschen lang sind?«
Mein Liebling. Wenn mich jetzt irgendeine Form der Bewusstlosigkeit ereilen könnte, ich wäre vollendet, vollkommen.
Nach einer kleinen Ewigkeit geht die Tür auf; David steht auf der Schwelle, groß und aufrecht, noch in seinem Anzug für die Arbeit, das graue Haar sorgfältig zurückgekämmt. Er sieht mich an, und das blanke Entsetzen spiegelt sich auf seinem Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen. Unsere Blicke verhaken sich ineinander, bis wir miteinander verbunden sind, vereint in diesem Paradox aus Schock und Ungläubigkeit. Dann wandert sein Blick zum Bett. Er schlägt sich die Hand vor den Mund, doch es ist zu spät. Er kann den hervorbrechenden Laut nicht aufhalten.