25. Kapitel
Insgesamt war es ein interessanter Heiligabend.
Wir wurden aufgehalten, als wir den Trailerpark verlassen wollten, weil sowohl Helene als auch Tadeo sich übergeben mussten, nachdem Jefim und Pawel vier Personen schneller erschossen hatten, als man eine Zigarette hätte anzünden können. Dann wurde Tadeo ohnmächtig. Das geschah, kurz nachdem ich mich mit Jefim über Blu-Rays und Kindles unterhalten hatte. Als wir uns auf russische Weise in die Arme nahmen, hörten wir ein dumpfes Geräusch und sahen Tadeo auf dem Boden liegen, er atmete wie ein Fisch auf dem Trockenen.
»Wenn du mich fragst«, sagte Jefim, »ich bin nicht sicher, ob dieser kleine Mann kann arbeiten in Versicherungsbranche.«
Eine Weile standen wir neben dem Suburban - Amanda mit dem Baby, Sophie und ich. Sophie zitterte und rauchte und sah mich entschuldigend an, ob für das Rauchen oder das Zittern, wusste ich nicht. Pawel hatte uns gesagt, wir sollten warten, dann war er noch mal in den Trailer gegangen. Als er wieder herauskam, hatte er zwei Blu-Ray-Player im Arm.
Drinnen warf jemand eine Kettensäge an.
Pawel gab mir die Geräte. »Viel Spaß damit. Do swidanja.«
»Do swidanja.«
Ich ging zum Heck des Suburban. Als Pawel nach der Tür des Trailers griff, rief ich ihm zu: »Wir haben keine Autoschlüssel!«
Er sah sich um.
»Kenny hatte die. Die müssen noch in seiner Tasche sein.«
»Eine Minute.«
»He, Pawel?«
Mit der Hand an der Tür sah er sich erneut um.
»Habt ihr da drinnen vielleicht auch Eis?« Ich hielt meine verbrannte Hand hoch.
»Ich guck mal.« Er verschwand im Trailer.
Als ich die Blu-Ray-Player in den Kofferraum des Suburban stellte, klingelte mein Telefon. Ich schaute auf das Display: ANGIE HANDY. Ich klappte es auf, so schnell ich konnte, und entfernte mich vom Auto in Richtung Fluss.
»Hi, Süße.«
»Hallo«, sagte sie. »Wie ist es in Boston?«
»Im Moment ist es echt schön. Das Wetter.« Ich erreichte das Flussufer und sah zu, wie der braune Charles vor sich hin schwappte und hin und wieder ein wenig Eis mit sich führte. »Drei oder vier Grad. Blauer Himmel. Man hat eher das Gefühl, es wäre Thanksgiving. Wie ist es bei dir?«
»Wir haben dreizehn Grad. Gabby findet es super. Die ganzen Plätze hier, die Pferdekarren, die Bäume. Sie kann nicht genug davon bekommen.«
»Das heißt, du bleibst noch?«
»Nee, auf keinen Fall! Es ist Heiligabend. Wir sind am Flughafen. In einer Stunde ist Boarding.«
»Ich hab doch noch gar keine Entwarnung gegeben.«
»Du nicht, aber Bubba.«
»Ach, ja?«
»Er meinte, es wäre genauso einfach, Russen in Boston zu erschießen.«
»Da hat er recht. Also gut: Komm zurück.«
»Bist du durch?«
»Ich bin durch. Warte mal.«
»Was ist?«
»Warte mal kurz.« Ich klemmte das Telefon zwischen Ohr und Schulter, was mit einem Handy nie so einfach war wie mit dem Apparat zu Hause. Dann zog ich meinen Colt Commander aus dem Holster auf dem Rücken. »Bist du noch da?«
»Ich bin dran.«
Ich nahm das Magazin heraus und entfernte die Patrone aus der Kammer. Dann zog ich den Verschluss zurück, löste ihn vom Griffstück und warf ihn ins Wasser.
»Was machst du da?«, fragte Angie.
»Ich werfe meine Pistole in den Charles.«
»Nein, das glaube ich nicht.«
»Doch.« Ich schleuderte das Magazin hinterher und sah zu, wie es in der trägen Strömung versank. Mit einer schnellen Handbewegung schmiss ich das Griffstück ebenfalls ins Wasser. Jetzt hatte ich nur noch eine Kugel und den Rahmen. Ich betrachtete beides.
»Du hast gerade deine Pistole weggeworfen, die 45er?«
»Jawohl, Ma’am.« Ich holte weit aus und katapultierte den Rahmen hoch in die Luft. Er beschrieb einen Bogen und ließ es beim Auftreffen enorm spritzen.
»Schatz, die brauchst du doch zum Arbeiten.«
»Nein«, sagte ich. »Diesen Scheiß werde ich nicht länger machen. Mike Colette hat mir eine Stelle in seiner Spedition angeboten, auf die werde ich ihn ansprechen.«
»Ist das dein Ernst?«
»Weißt du, wie das ist, Schatz?« Ich sah mich zum Trailer um. »Am Anfang denkt man, es wäre nur der wirklich ätzende Scheiß, der einen fertigmacht - der arme kleine Junge damals, 1998, in der Badewanne, oder das, was in Gerry Glynns Bar passierte, Herrgott, oder in diesem Bunker in Plymouth …« Ich holte Luft und stieß sie langsam wieder aus. »Aber es sind nicht diese Momente. Es sind all die kleinen Dinge. Was mich deprimiert, ist nicht, dass sich Leute wegen einer Million Dollar abmurksen, sondern dass sie es für zehn Dollar tun. Inzwischen ist es mir scheißegal, ob irgendeine Frau ihren Mann betrügt, denn er hat es wahrscheinlich verdient. Und die ganzen Versicherungen? Ich helfe ihnen zu beweisen, dass ein Versicherter eine Nackenverletzung nur vortäuscht, und wenn die Krise zuschlägt, kündigt die Versicherung der halben Straße. In den letzten drei Jahren wollte ich jeden Morgen, wenn ich auf der Bettkante saß und mir die Schuhe anzog, wieder zurück unter die Decke kriechen. Ich will nicht mehr nach draußen gehen und das tun, was ich hier mache.«
»Aber du hast so viel Gutes getan. Das weißt du doch, oder?«
Wusste ich nicht.
»Das hast du«, versicherte Angie. »Jeder, den ich kenne, bricht seine Versprechen, lügt und hat völlig einleuchtende Ausreden für seine Taten. Nur du nicht. Ist dir das noch nie aufgefallen? Zweimal in zwölf Jahren hast du gesagt, du würdest dieses Mädchen finden, koste es, was es wolle. Und das hast du getan. Warum? Weil du dein Wort gegeben hast, Süßer. Und dem Rest der Welt bedeutet das vielleicht einen Scheißdreck, aber für dich ist das alles. Was auch sonst heute passiert ist, Patrick, du hast sie zweimal gefunden. Als es sonst niemand auch nur versuchen wollte.«
Ich schaute auf den Fluss und hätte ihn am liebsten über mich gezogen.
»Ich verstehe gut, warum du es nicht mehr tun willst«, sagte meine Frau, »aber ich will nicht hören, dass du sagst, es wäre sinnlos gewesen.«
Ich betrachtete den Fluss. »Manches war nicht sinnlos.«
»Manches nicht«, pflichtete sie mir bei.
Ich schaute in die nackten Bäume und den schiefergrauen Himmel darüber. »Aber ich bin draußen. Ist das in Ordnung für dich?«
»Absolut«, sagte sie.
»Bei Mike Colette läuft es gerade richtig gut. Sein Auslieferungslager brummt. Nächsten Monat will er ein neues in Freeport aufmachen.«
»Und da du auf dem College schon in der Speditionsbranche gearbeitet hast …«, sagte Angie. »Und dort siehst du dich auch in zehn Jahren?«
»Hm? Nein, nein, nein. Siehst du mich da?«
»Ganz und gar nicht.«
»Ich dachte, ich mache meinen Master. Ich glaub schon, dass ich irgendeine finanzielle Hilfe bekommen kann, ein Stipendium oder so. Meine Noten waren damals ziemlich hervorragend.«
»Hervorragend?« Angie schmunzelte. »Du warst auf einem staatlichen College.«
»Gemein«, sagte ich. »Gilt trotzdem als hervorragend.«
»Und was will mein Gatte in seinem zweiten Leben werden?«
»Ich dachte an Lehrer. Geschichte vielleicht.«
Ich wartete auf eine sarkastische Bemerkung, einen ironischen Seitenhieb. Er kam nicht.
»Gefällt dir das?«, fragte ich.
»Ich glaube, darin wärst du super«, sagte sie sanft. »Und, was willst du Duhamel-Standiford jetzt sagen?«
»Das dies mein letzter hoffnungsloser Fall war.« Ein Habicht schwebte tief und lautlos über dem Wasser. »Ich warte am Flughafen auf dich.«
»Du hast mir gerade das Jahr gerettet«, sagte sie.
»Und du mir das Leben.«
Als ich aufgelegt hatte, schaute ich noch einmal über den Fluss. Das Licht hatte sich verändert, während ich telefoniert hatte, jetzt war das Wasser kupferfarben. Ich legte die letzte Kugel auf meine Daumenspitze, betrachtete sie eine Weile mit zusammengekniffenen Augen, bis sie wie ein hoher Turm am Flussufer wirkte. Dann schnippte ich sie mit dem Mittelfinger ins kupferfarbene Wasser.
»Frohe Weihnachten«, sagte Jeremy Dent, als ich von seiner Sekretärin durchgestellt wurde. »Sind Sie fertig mit Ihrem Wohltätigkeits-Fall?«
»Ja«, sagte ich.
»Dann sehen wir uns also übermorgen.«
»Nein.«
»Hm?«
»Ich möchte nicht für Sie arbeiten, Jeremy.«
»Aber Sie haben doch zugesagt!«
»Na, dann hab ich Ihnen wohl was vorgemacht«, sagte ich. »Fühlt sich nicht gut an, oder?«
Er beschimpfte mich mit einem sehr schlimmen Wort, und ich legte auf.
An der Südwestspitze des Trailerparks hatte jemand mehrere Bänke und Topfpflanzen zu einer Sitzecke gruppiert. Ich ging hinüber und nahm auf einer Bank Platz. Es war nicht gerade die Terrasse des Hilton oder so, aber es war auch nicht schlecht. Dort spürte Amanda mich auf. Sie reichte mir die Autoschlüssel und einen kleinen Plastikbeutel mit Eiswürfeln. »Pawel hat die DVD-Spieler in den Kofferraum gestellt.«
»Was für ein rücksichtsvoller mordwinischer Auftragskiller.« Ich drückte das Eis auf meine Handfläche.
Amanda setzte sich rechts neben mich und schaute auf den Fluss.
Ich legte die Schlüssel des Suburban neben sie auf die Bank. »Ich fahre nicht zurück in die Berkshires.«
»Nicht? Und was ist mit deinen Blu-Rays?«
»Behalt sie«, sagte ich. »Genieß das hochauflösende Paradies!«
Sie nickte. »Danke. Wie kommst du dann nach Hause?«
»Wenn ich mich richtig erinnere«, sagte ich, »ist auf der Spring Street eine Bushaltestelle, auf der anderen Seite der Route 1. Von da fahre ich bis Forest Hills, nehme den T nach Logan und hole dort meine Familie ab.«
»Klingt vernünftig.«
»Und du?«
»Ich?« Sie zuckte mit den Schultern und schaute wieder eine Weile auf den Fluss.
Als das Schweigen zu lange dauerte, fragte ich: »Wo ist Claire?«
Sie wies mit dem Kopf in Richtung des Wagens. »Bei Sophie.«
»Und Helene und Tadeo?«
»Als Letztes versuchte Jefim, Tadeo zu überreden, dass er ihm eine Mavi-Jeans abkauft. Tadeo ist immer noch am Zittern und sagt andauernd: »Gib mir einfach meine Scheißlevi’s zurück, Mann, aber Jefim lässt nicht locker, so nach dem Motto: »Warum trägst du Levis, Junge? Ich dachte, du hättest Stil.«
»Und Helene?«
»Hat ihr ein Paar hübsche Madewells gegeben. Nicht mal was dafür genommen.«
»Nein, ich meinte: Kotzt sie noch?«
»Seit ungefähr fünf Minuten nicht mehr. In zehn Minuten kann sie mit ins Auto.«
Ich schaute mich über die Schulter zum Trailer um. Er wirkte blass und harmlos vor dem braunen Wasser und dem blauen Himmel. Auf der anderen Seite des Flusses war ein irisches Restaurant. Ich sah die Gäste beim Essen, geistesabwesend starrten sie aus dem Fenster, hatten keine Ahnung, was in diesem Trailer lag und auf die Kettensäge wartete.
»Tja, das war …«, sagte ich.
Amanda folgte meinem Blick. Ihre Augen waren weit aufgerissen, der Restschock, nahm ich an. Sie mochte geglaubt haben zu wissen, was dort drin passieren würde, doch in Wirklichkeit hatte sie es nicht ahnen können. Ein seltsamer, gebrochener Ausdruck, halb Lächeln, halb Stirnrunzeln, zupfte an ihren Mundwinkeln. »Tja, hm?«
»Hast du schon mal jemanden sterben sehen?«
Sie nickte. »Timur und Zippo.«
»Gewaltsamer Tod ist dir also nicht unbekannt.«
»Auch nicht vertraut, aber ja, ich würde sagen, diese jungen Augen haben schon so einiges gesehen.«
Ich zog meine Jacke etwas enger zu und schlug den Kragen hoch gegen den späten Dezember, der vom Fluss herüberwehte und in den Trailerpark kroch. »Wie fühlten sich denn diese jungen Augen, als sie sahen, wie Dre vor ihnen in die Luft flog?«
Amanda verharrte reglos, ein wenig vornübergebeugt, die Ellenbogen auf den Knien. »Es war die Schlüsselkette, nicht?«
»Ja, es war die Schlüsselkette.«
»Die Vorstellung, dass er, tot oder lebendig, ein Bild von meiner Tochter in der Tasche hatte, die kam mir einfach nicht richtig vor.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ups.«
»Und du kanntest mit Sicherheit den Fahrplan des Acela, als du das Kreuz über die Schienen warfst.«
Sie lachte. »Meinst du das ernst? Was auch immer du glaubst, das in diesem Wald passiert ist - denkst du wirklich, dass Menschen durch die Gegend laufen und sich ihrer Motive immer voll bewusst sind? Das Leben ist deutlich bunter. Es war ein Impuls. Ich warf das Kreuz zurück. Der Hohlkopf lief hinterher. Er starb.«
»Aber warum hast du das Kreuz geworfen?«
»Er redete immer davon, er würde aufhören zu trinken, dann wäre er der Mann, den ich brauchte. Es war abartig.
Ich hatte nicht den Mut, ihm zu sagen, dass ich keinen Mann brauche, deshalb hab ich das verdammte Kreuz einfach zurückgeworfen.«
»Keine schlechte Geschichte«, sagte ich, »aber sie beantwortet nicht die eigentliche Frage: Warum waren wir überhaupt da? Wir hatten nichts, das wir gegen Sophie tauschen konnten. Sophie war an dem Abend nicht mal im Wald.«
Amanda blieb unnatürlich reglos. Schließlich sagte sie: »Dre musste fort. So oder so hatte er seinen Zweck erfüllt. Wenn er einfach abgehauen wäre, würde er noch leben.«
»Du meinst, wenn er einfach gegangen wäre, statt einem Acela über den Weg zu laufen.«
»Ja. So.«
»Was ist, wenn ich bei Dre gewesen wäre?«
»Warst du aber nicht. Das war kein Zufall. Seit Timur und Zippo starben und ich mit Claire und dem Kreuz dastand« - sie schüttelte langsam den Kopf-, »ist nichts Zufall gewesen.«
»Aber wenn nicht alles nach Plan gelaufen wäre?«
Sie drehte die Handflächen auf ihren Knien nach oben. »Tat es aber. Kirill hätte sich niemals darauf eingelassen, an so einen Ort wie diesen zu kommen, wenn nicht alles auf sehr kaputte logische Weise total logisch gewirkt hätte. Alle mussten ihre Rollen bis ins kleinste Detail spielen. Meiner Erfahrung nach funktioniert das nur, wenn die Leute nicht wissen, dass sie eine Rolle spielen.«
»So wie ich.«
»Na, komm!« Sie schmunzelte. »Du hattest einen Verdacht. Wie oft hast du mich gefragt, warum ich so einfach zu finden war? Wir mussten es einfach durchziehen – der vereinte Grips von Kenny, Helene und Tadeo reicht nicht mal für ein Kreuzworträtsel in der Fernsehzeitung. Ich musste keine Brotkrumen ausstreuen, sondern ganze Baguettes.«
»Wie lange dauerte es denn nach Timurs Tod, bis Jefim dich fand?«
»Ungefähr sechs Stunden.«
»Und?«
»Und ich fragte ihn, was er davon hielt, einen Chef zu haben, der so schlampig ist, dass er einen Spinner wie Timur losschickt, um etwas so Wertvolles wie das weißrussische Kreuz abzuholen. Das setzte das Räderwerk ziemlich schnell in Gang.«
»Der Plan war also die ganze Zeit, Kirill nach außen hin so peinlich und machtlos wirken zu lassen, dass eine Palastrevolte unvermeidlich wurde.«
»Mit der Zeit verfeinerten wir den Plan, aber das war das eigentliche Ziel. Ich wollte das Baby und Sophie, Jefim alles andere.«
»Und was ist mit Sophie? Wie geht es mit ihr weiter?«
»Na, zuerst mal eine Entziehungskur. Und dann fahren wir vielleicht ihre Moni besuchen.«
»Du meinst Elaine?«
Amanda nickte. »Das ist ihre Mom. Entscheidend ist das Aufziehen, Patrick, nicht das Ausbrüten.«
»Und was ist mit deiner Aufzieherin?«
»Beatrice?« Sie lächelte. »Bea werde ich natürlich auch besuchen. Nicht morgen, aber bald. Sie muss ihre Großnichte kennenlernen. Mach dir keine Sorgen um Bea. Sie braucht sich den Rest ihres Lebens um nichts mehr zu kümmern. Ich habe bereits einen Anwalt beauftragt, der an Onkel Lionels vorzeitiger Entlassung arbeitet.« Sie lehnte sich zurück. »Denen wird’s gutgehen.«
Ich sah sie eine Weile an, diese fast Siebzehnjährige, die beinahe, wie alt?, achtzig zu sein schien.
»Hast du irgendwelche Gewissensbisse?«
»Könntest du dann besser schlafen? Wenn du wüsstest, dass ich etwas bereue?«
Amanda stellte ein Bein auf die Bank, legte ihr Kinn auf das Knie und schielte zu mir herüber. »Nur fürs Protokoll: Ich bin nicht hartherzig. Ich bin nur hartherzig zu Arschlöchern. Wenn du Krokodilstränen sehen willst, die gibt’s bei mir nicht. Für wen? Für Kenny mit seinen Vergewaltigungen? Für Dre und seine Babyfabrik? Für Kirill und seine kranke Alte? Für Timur und …?«
»Was ist mit dir?«, fragte ich.
»Hm?«
»Mit dir selbst«, wiederholte ich.
Sie starrte mich an, ihr Unterkiefer arbeitete, doch sie gab keinen Laut von sich. Nach einer Weile wurde ihr Gesicht ruhig. »Weißt du, was Helenes Mutter war?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Eine nach Gin stinkende Katastrophe«, sagte sie. »Sie ging zwanzig Jahre lang in dieselbe Kneipe, um sich frühzeitig ins Grab zu saufen und zu qualmen. Als sie starb, kam keiner aus der Kneipe zu ihrer Beerdigung. Nicht weil sie sie nicht gemocht hätten, sondern weil niemand ihren Nachnamen kannte.« Kurz war Amandas Blick umwölkt, es konnte aber auch eine Spiegelung des Flusses sein. »Und deren Mutter? Ungefähr dasselbe. Keine McCready-Frau, von der ich je gehört habe, hat die Highschool geschafft. Alle waren ihr Leben lang abhängig von Männern und Alkohol. Wenn Claire in zweiundzwanzig Jahren zur Uni geht und wir in einem Haus wohnen, wo Kakerlakenrennen nicht unsere liebste Freizeitbeschäftigung sind und der Strom kein einziges Mal abgestellt wurde und wo nicht jeden Abend um sechs jemand anruft, um seine Schulden einzutreiben - wenn das mein Leben ist, dann kannst du mich fragen, wie sehr ich meine verlorene Jugend bereue.« Amanda drückte die Hände über den Knien zusammen. Aus der Ferne mochte es aussehen, als würde sie beten. »Aber bis dahin, wenn das für dich in Ordnung ist, werde ich schlafen wie ein Baby.«
»Babys wachen alle paar Stunden auf und weinen.« Amanda lächelte mich sanft an. »Dann wache ich halt alle paar Stunden auf und weine.«
Wir saßen noch etwas länger dort, auch wenn wir nichts mehr zu sagen hatten. Wir schauten auf den Fluss. Drückten uns in unsere Jacken. Dann standen wir beide auf und gingen zurück zu den anderen.
Helene und Tadeo warteten neben dem Geländewagen, traten von einem Bein aufs andere, apathisch, im Schock. Sophie hatte Claire auf dem Arm und schaute Amanda unverwandt an, so als würde sie als Nächstes eine Religion in ihrem Namen gründen.
Amanda nahm ihr Claire ab und musterte die bunte Truppe. »Patrick nimmt die öffentlichen Verkehrsmittel. Verabschiedet euch von ihm.«
Drei winkten mir zu, Sophie schenkte mir wieder ein entschuldigendes Lächeln.
Amanda sagte: »Tadeo, du hast gesagt, du musst drüben nach Bromley-Heath, richtig?«
»Ja«, sagte Tadeo.
»Dann setzen wir dich als Erstes ab, danach Helene. Sophie, du fährst. Du bist doch nüchtern, oder?«, vergewisserte sie sich.
»Ich bin nüchtern.«
»Gut. Wir müssen einen Zwischenstopp einlegen. Ein paar Meilen weiter ist ein Supermarkt an der Route 1. Da gibt es Kindersachen.«
»Wir haben keine Zeit, um Spielsachen zu kaufen«, sagte Tadeo. »Mann, es ist Heiligabend.«
Amanda zog ein Gesicht. »Wir kaufen keine Spielsachen. Wir kaufen einen Autositz für sie. Wollen wir vielleicht die ganze Strecke zurück in die Berkshires ohne Kindersitz fahren? Mensch noch mal!« Sie fuhr mit der Hand über Claires feines braunes Haar. »Für was für eine Mutter hältst du mich eigentlich?«
Ich ging zu Fuß zur Bushaltestelle und nahm den Bus zur U-Bahn. Fuhr mit der U-Bahn zum Flughafen Logan. Amanda sah ich niemals wieder.
Meine Frau und meine Tochter traf ich im Terminal C von Logan. Meine Tochter lief nicht, wie ich mir einen solchen Moment immer ausgemalt hatte, in Zeitlupe in meine Arme. Sie versteckte sich in einem sehr seltenen Anflug von Schüchternheit hinter den Beinen ihrer Mutter und beobachtete mich von dort. Ich trat auf Angie zu und küsste sie, bis mich jemand an der Jeans zupfte und ich nach unten schaute. Gabby spähte zu mir hoch, die Augen immer noch verquollen, weil sie im Flugzeug geschlafen hatte. Sie streckte die Arme aus.
»Arm, Daddy!«
Ich hob sie hoch. Küsste sie auf die Wange. Sie gab mir einen Kuss auf meine Wange. Ich küsste sie auf die andere Wange, und sie küsste auch meine andere Wange. Wir drückten unsere Stirn aneinander.
»Hast du mich vermisst?«, fragte ich.
»Ich habe dich vermisst, Daddy.«
»Das hast du jetzt aber sehr förmlich gesagt: Ich habe dich vermisst, Daddy. Hat dir deine Oma beigebracht, wie man eine richtige Dame ist?«
»Ich musste aufrecht sitzen.«
»Furchtbar!«
»Die ganze Zeit.«
»Auch im Bett?«
»Nein, im Bett nicht. Weißt du, warum?«
»Warum denn?«
»Weil das dumm wäre.«
»Das stimmt«, pflichtete ich ihr bei.
»Wie lange ziehen sich diese Aufmerksamkeiten noch hin?« Aus dem Nichts tauchte Bubba auf. Er ist so groß wie ein junges Nashorn, das auf den Hinterbeinen steht, deshalb erstaunt mich seine Fähigkeit, sich geräuschlos anzuschleichen, immer wieder.
»Wo kommst du denn her?«
»Ich habe auf dem Hinweg was versteckt, das musste ich jetzt auf dem Rückweg abholen.«
»Mich wundert, dass du nichts durch die Flughafenkontrolle geschmuggelt hast.«
»Wer sagt, dass ich das nicht getan habe?« Er zeigte mit dem Daumen auf Angie. »Die hier hat Probleme mit dem Gepäck.«
»Eine kleine Tasche«, sagte Angie und hielt die Hände soweit auseinander wie einen Brotlaib. »Und noch eine kleine Tasche. Ich war gestern shoppen.« »Auf zur Gepäckrückgabe«, sagte ich.
Wie für Logan typisch wurde zweimal die Angabe geändert, auf welchem Band wir unser Gepäck abholen konnten, und wir zogen kreuz und quer durch die Halle. Dann standen wir mit einer Traube weiterer Passagiere da, und alle versuchten, so nah wie möglich ans Band zu gelangen, aber nichts geschah. Nichts bewegte sich. Die kleinen Blinklichter blieben starr. Das Trompetensignal, das ankommendes Gepäck ankündigte, ertönte nicht.
Gabby saß auf meinen Schultern, zog an meinem Haar und hin und wieder an meinen Ohren. Angie hatte mich etwas fester als sonst untergehakt. Bubba ging hinüber zum Zeitungskiosk, und ehe wir uns versahen, flirtete er mit der Bedienung, lehnte sich gegen die Theke und lächelte tatsächlich. Die Kassiererin hatte karamellbraune Haut und war etwa Mitte dreißig. Sie war klein und dünn, doch selbst aus der Entfernung sah sie aus, als könnte sie kräftig austeilen, wenn sie angepisst war. Durch Bubbas Aufmerksamkeiten wirkte sie fünf Jahre jünger und passte mit jedem Lächeln besser zu ihm.
»Was glaubst du, worüber sie reden?«, fragte Angie.
»Handfeuerwaffen.«
»Apropos: Hast du deine wirklich in den Charles geworfen?«
»Ja.«
»Das ist Umweltverschmutzung.«
Ich nickte. »Aber normalerweise recycle ich alles, deshalb darf ich mir hin und wieder eine Ökosünde erlauben.«
Sie drückte meinen Arm und legte kurz den Kopf an meine Brust. Ich hielt sie mit einem Arm fest. Der andere war damit beschäftigt, meine Tochter sicher auf den Schultern zu halten.
»Du darfst die Umwelt nicht verschmutzen«, sagte Gabby, und ihr Gesicht hing plötzlich verkehrt herum zwei Zentimeter vor meinem.
»Nein, darf ich nicht.«
»Warum hast du es dann getan?«
»Manchmal«, sagte ich, »machen Menschen Fehler.«
Das schien ihr zu genügen, denn ihr Gesicht verschwand, und sie spielte wieder mit meinem Haar.
»Und, was ist noch passiert?«, fragte Angie.
»Nachdem ich mit dir gesprochen habe? Nicht sehr viel.«
»Wo ist Amanda?«
»Keine Ahnung.«
»Junge, Junge«, sagte sie, »zuerst setzt du dein Leben aufs Spiel, um sie zu finden, und dann lässt du sie einfach laufen?«
»So ähnlich.«
»Toller Detektiv.«
»Exdetektiv«, sagte ich. »Ex.«
Auf der Fahrt vom Flughafen nach Hause zogen die Mädchen Bubba wegen seines Flirts mit der Kassiererin auf. Ihr Name, so erfuhren wir, war Anita, sie kam aus Ecuador. Sie lebte mit zwei Kindern, einem Hund und ohne Mann in East Boston. Ihre Mutter wohnte auch bei ihr.
»Das ist unheimlich«, sagte ich.
»Warum?«, gab Bubba zurück. »Diese alten Ecuadorianer können echt kochen, Mann.«
»Du denkst jetzt schon über ein Essen mit den Eltern nach?«, fragte Angie. »Wow! Schon einen Namen für das erste Kind überlegt?«
Gabby quietschte vor Vergnügen. »Onkel Bubba will heiraten!«
»Onkel Bubba will nicht heiraten. Onkel Bubba hat nur eine Nummer bekommen. Mehr nicht.«
Angie sagte: »Dann bekommst du jemanden zum Spielen, Gabby.«
»Ich will kein Kind«, sagte Bubba.
»Und er zieht sich schick an.«
»Wie oft muss ich noch sagen … ?«
»Kann ich dann mal auf das Kind aufpassen?«, fragte Gabby.
»Darf Gabby dann mal auf das Kind aufpassen?«, gab Angie die Frage an Bubba weiter. »Natürlich erst, wenn es alt genug ist.«
Bubba suchte meinen Blick im Rückspiegel. »Sag ihnen, sie sollen aufhören.«.
»Das kann man ihnen nicht befehlen«, sagte ich. »Mann, kennst du die nicht?«
Wir fuhren aus dem Ted-Williams-Tunnel auf die 93 South.
Angie sang: »Bub-ba und A-ni-ta sitzen auf dem Sofa«, und meine Tochter fiel ein: »Knutschen auf dem Sofa …«
»Wenn ich dir mein Eisen gebe«, sagte Bubba, »erschießt du mich dann?«
»Klar«, sagte ich. »Her damit!«
Wir kamen aus der Dunkelheit des Tunnels in den Spätnachmittagsverkehr, und hinten sangen die Mädels und klatschten im Rhythmus. Es war nicht viel los auf der Straße, weil Heiligabend war und die meisten Menschen entweder nicht zur Arbeit gegangen oder früh nach Hause zurückgekehrt waren. Der Himmel war aus purpurnem Blech. Einige Schneeflocken fielen, blieben aber nicht liegen. Meine Tochter kreischte wieder, und Bubba und ich zuckten zusammen. Es ist einfach kein angenehmes Geräusch. Es ist schrill und erfüllt den Gehörgang wie flüssiges Glas. Wie sehr ich meine Tochter auch liebe, ihr Kreischen werde ich niemals mögen.
Vielleicht doch.
Vielleicht mag ich es doch.
Als ich auf der 93 gen Süden fuhr, wurde mir auf einmal ganz klar, dass ich all das liebe, was reizt. All die Dinge, die mir so großen Stress bereiten, dass ich mich nicht erinnern kann, wann mein Herz einmal unbelastet war. Ich liebe, was nicht repariert werden kann, wenn es kaputt ist. Was nicht ersetzt werden kann, wenn es verloren ist.
Ich liebe meine Bürde.
Zum ersten Mal in meinem Leben tat mir mein Vater leid. Es war ein so sonderbares Gefühl, dass ich mit dem Wagen kurz über die weiße Linie fuhr, ehe ich ihn wieder in die Spur brachte. Mein Vater war nie glücklich gewesen; sein Zorn und sein Hass und sein alles zerfressender Egoismus - alles unergründlich, auch jetzt noch, fünfundzwanzig Jahre nach seinem Tod - hatten ihn seiner Familie entfremdet. Wenn ich wie Gabriella hinten im Auto gekreischt hätte, hätte ich von meinem Vater eine Ohrfeige kassiert. Oder zwei. Oder er hätte am Straßenrand angehalten und wäre nach hinten gekommen, um mich zu verprügeln. Dasselbe mit meiner Schwester. Und wenn wir nicht da waren, musste meine Mutter büßen. Deswegen starb er einsam. Er hatte meine Mutter früh ins Grab geschickt; meine Schwester weigerte sich, nach Boston zu kommen, als er im Sterben lag, und als er in seiner Todesstunde im Krankenhausbett die Hand nach mir ausstreckte, hatte ich sie nicht ergriffen. Irgendwann sackte sie aufs Laken, und seine Augen wurden glasig.
Mein Vater liebte seine Bürde nicht, weil er niemals etwas geliebt hatte.
Ich bin ein total verkorkster Mann, der eine total verkorkste Frau liebt, und wir haben ein wunderbares Kind in die Welt gesetzt, das, wie ich manchmal befürchte, niemals aufhören wird zu reden. Oder zu kreischen. Mein bester Freund hat eine Borderline-Psychose und mehr Sünden auf dem Kerbholz als ganze Straßenbanden und Regierungen. Und trotzdem …
Wir verließen die Schnellstraße bei der Columbia Road, und der Tag verabschiedete sich mit einem Himmel, der jetzt die Farbe von Pflaumen hatte. Es schneite leicht weiter, als könnte es sich nicht richtig entscheiden. Wir bogen links in die Dot Ave ein, und in den Wohnhäusern und Kneipen, im Altenheim und im Eckladen gingen die Lichter an. Ich hätte gern gesagt, ich sah eine erhabene Schönheit in den Dingen, doch das stimmte nicht.
Und trotzdem.
Und trotzdem war der Wagen erfüllt von dem Leben, das wir geschaffen hatten.
In der Ferne sah ich unsere Straße, und ich wollte nicht anhalten, wollte diesen Augenblick nicht unterbrechen. Ich wollte weiterfahren. Ich wollte, dass alles so blieb, wie es in diesem Moment war.
Doch ich bog ab.
Als wir aus dem Auto stiegen, nahm Gabby Bubbas Hand und führte ihn zum Haus, um mit ihm hinunter in den Keller zu gehen. Letztes Jahr hatten wir auf ihre unablässigen Fragen, wie der Weihnachtsmann denn in ein Haus ohne Kamin käme, mit der Erklärung aufgewartet, in Dorchester käme er durch den Keller. Deshalb hatte sie Bubba eingespannt, um zusammen mit ihm Milch und Plätzchen bereitzulegen.
»Und Bier«, sagte Bubba, als sie das Haus erreichten. »Er trinkt gerne Bier. Und gegen Wodka hat er auch nichts.«
»Pass bloß auf!«, rief Angie, als wir unser Gepäck hinten aus dem Jeep holten. »Das ist mein Kind, das du da gerade verdirbst!«
Eine Schneeflocke fiel auf meine Wange, schmolz sofort, und Angie wischte sie mit dem Finger fort. Sie küsste meine Nase. »Schön, dich zu sehen.«
»Dich auch.«
Sie nahm meine verbrannte Hand in ihre und betrachtete den dicken Verband, den ich angelegt hatte. »Alles in Ordnung?«
»Klar«, sagte ich. »Sehe ich nicht in Ordnung aus?«
Sie blickte mir in die Augen, diese wunderschöne, launische, unglaublich leidenschaftliche Frau, die ich seit der zweiten Klasse liebte. »Du siehst super aus. Nur irgendwie, weiß nicht, nachdenklich.«
»Nachdenklich?«
»Ja.«
Ich holte Angies Tasche aus dem Kofferraum. »Mir ist heute etwas aufgefallen, als ich am Fluss saß und eine fünfhundert Dollar teure Waffe wegwarf.«
»Und was?«
Ich klappte den Kofferraum zu. »Meine guten Taten überwiegen meine Reue.«
Sie legte den Kopf schräg und grinste schief. Schnee fiel auf ihr Haar. »Echt?«
»Echt.«
»Dann hast du gewonnen, Schatz.«
Ich sog den Schnee und die kalte Luft ein. »Fürs Erste.«
»Ja.« Sie hielt meinen Blick. »Fürs Erste.«
Ich warf mir eine Tasche über die Schulter und nahm die andere in die rechte Hand. Die verletzte linke schloss sich um die Finger meiner Frau, und zusammen gingen wir über den kleinen Backsteinweg zu unserem Haus.