9. Kapitel
Kenneth James Hendricks hatte diverse Decknamen. Je nach Umständen kannte man ihn als KJ, K Boy, Richard James Stark, Edward Toshen oder Kenny B. Geboren war er 1969 in Warrensburg, Missouri, als Sohn eines Flugzeugmechanikers, der beim 340. Bombergeschwader am Luftwaffenstützpunkt Whiteman stationiert war. Von dort war Kenneth Hendricks quer durch die Vereinigten Staaten gezogen: Biloxi, Tampa, Montgomery, Great Falls. Erster Jugendarrest in King Salmon, Alaska; der zweite in Lompoc, Kalifornien. Mit achtzehn wurde er wiederum in Lompoc als Erwachsener wegen Körperverletzung vor Gericht gestellt. Das Opfer war sein Vater. Er ließ die Anschuldigungen fallen. Zweite Festnahme als Erwachsener zwei Tage später. Wieder Körperverletzung, dasselbe Opfer. Diesmal erstattete der Vater Anzeige, vielleicht weil sein Sohn versucht hatte, ihm ein Ohr abzuschneiden. Kenny hatte es schon halb geschafft, als die Schreie des Vaters einen Nachbarn alarmierten. Hendricks saß achtzehn Monate wegen Körperverletzung, anschließend drei Jahre auf Bewährung. Sein Vater starb, während Kenny im Gefängnis saß. Später wurde er in Sacramento verhaftet, weil er sich in einer Gegend herumtrieb, die bei Strichern beliebt und bekannt war. Sechs Wochen später, immer noch in Sacramento, seine dritte Verhaftung wegen Körperverletzung. Diesmal hatte er im Come On Inn an der Interstate 80 einen Mann verprügelt. Das Opfer, ein Diakon der Pfingstbewegung und prominenter politischer Spendensammler, hatte Schwierigkeiten zu erklären, was er mit einem Stricher nackt in einem Motelzimmer zu suchen hatte, weshalb er auf eine Anzeige verzichtete. Der Staat Kalifornien widerrief Kennys Bewährung sowieso, da er während des Strafvollzugs unter dem Einfluss von Alkohol und Kokain gestanden hatte.
Als er 1994 entlassen wurde, hatte er »WaffenSS« in den Nacken tätowiert, mit freundlichen Grüßen von seinen neuen Kumpeln bei der Arischen Bruderschaft. Außerdem engagierte sich Kenny nun in einem neuen Geschäftszweig: Alle Verhaftungen in den folgenden Jahren erfolgten wegen Identitätsbetrugs. Je komplizierter Computer wurden, desto geschickter ging Kenny mit ihnen um. Seine alten Schwächen wurde er jedoch nie so ganz los; ‘99 wurde er wegen Vergewaltigung und Körperverletzung einer Minderjährigen in Peabody, Massachusetts, aufgegriffen. Sie war siebzehn oder sechzehn, je nachdem, zu welchem Zeitpunkt in der Nacht die Vergewaltigung tatsächlich stattgefunden hatte. Kennys Anwalt kämpfte erbittert um diesen Punkt. Der Staatsanwalt wusste, dass das, was von dem Mädchen noch übrig war, durch den Wolf gedreht würde, wenn er das Opfer in den Zeugenstand riefe. Schließlich plädierte Kenny auf die minder schwere Anklage wegen sexuellen Missbrauchs eines Erwachsenen. Da der Staat bei Vergewaltigung nicht mit sich spaßen ließ, bekam Kenny zwei Jahre weniger als 1991, als er sich vorher ein paar Lines Koks reingezogen und sechs Flaschen Budweiser auf ex getrunken hatte. Die letzte Verhaftung dann 2007. Er wurde festgenommen, als er Fernseher im Wert von fünfzig Riesen in Empfang nahm, die er mit Hilfe von Identitätsbetrug gekauft hatte. Er hatte vorgehabt, sie an der Hintertür fünfhundert Dollar günstiger zu verkaufen, als er mit der Firmenkreditkarte eines gewissen Oliver Orin dafür bezahlt hatte, Besitzer der Sportkneipenkette Ollie O’s, von denen gerade mehrere Läden renoviert wurden. Eines musste ich Kenny lassen: Wenn irgendjemand Plasmafernseher im Wert von fünfzig Riesen bestellen konnte, ohne fragende Blicke zu ernten, dann war es ein Typ wie Oliver Orin. Aufgrund seiner Vorstrafen wurde Kenny zu fünf Jahren Haft verurteilt. Er saß knapp drei davon ab. Seitdem: keine Verurteilungen mehr.
»Tja, ein netter Kerl«, sagte Angie.
»Ein richtiger Charmeur.«
»Der muss nur mal in den Arm genommen werden, braucht ein bisschen Liebe.«
»Und ein paar Hanteln.«
»Ja, klar«, sagte Angie. »Wir sind ja keine Unmenschen.«
Wir saßen in unserem kleinen Kämmerchen am Schreibtisch. Es war kurz nach neun, Gabby war gegen acht eingeschlafen. Seitdem gruben wir immer tiefer in der Vergangenheit von Kenny Hendricks.
»Das ist also Helenes Freund.«
»Allerdings.«
»Na, dann ist es ja gut.«
Angie lehnte sich zurück und pustete sich das Haar aus der Stirn, ein deutlicher Hinweis, dass sie jeden Augenblick explodieren würde.
»Ich habe beileibe nie erwartet, dass Helene eine gute Mutter würde«, sagte sie, »aber ich hätte nicht gedacht, dass diese Crack-Nutte sich so idiotisch mit ihrem Kind anstellen würde.«
»Na, na, na«, sagte ich, »auf mich macht sie eher den Eindruck, als würde sie Meth nehmen, kein Crack. Genau genommen wäre sie demnach eine Crystal-Nutte.«
Angie warf mir den seit Monaten düstersten Blick zu. Jetzt war Schluss mit lustig. Mitten in unserer Beziehung stand ein dicker Elefant, über den wir nie sprachen: unser Vorgehen damals, als Amanda McCready zum ersten Mal verschwunden war. Als Angie sich zwischen dem Gesetz und dem Wohlergehen einer Vierjährigen entscheiden musste, konnte man ihre damalige Entscheidung wie folgt zusammenfassen: Scheiß auf das Gesetz.
Ich hingegen war den rechten Weg gegangen und hatte dem Staat geholfen, ein vernachlässigtes Kind seiner vernachlässigenden Mutter zurückzugeben. Wir zerstritten uns darüber. Sprachen fast ein ganzes Jahr nicht miteinander. Manche Jahre sind länger als andere; jenes Jahr damals dauerte ungefähr ein Jahrzehnt. Seit unserer Versöhnung hatten wir die Namen Amanda oder Helene McCready in unserem Haus nicht mehr ausgesprochen, bis vor drei Tagen. Seitdem hatte ich jedes Mal, wenn einer von uns diese Namen erwähnte, das Gefühl gehabt, als würde jemand den Sicherungsring von einer Granate ziehen.
Vor zwölf Jahren hatte ich mich geirrt. An jedem seitdem vergangenen Tag, es waren rund 4400, war ich davon überzeugt gewesen.
Aber gleichzeitig hatte ich vor zwölf Jahren auch recht gehabt. Wenn man Amanda bei Entführern ließ, egal, wie sehr sie um ihr Wohlergehen bemüht waren, dann ließ man sie bei Entführern. In den 4400 Tagen, seit ich sie zurückgebracht hatte, war ich auch davon überzeugt gewesen. Wie also stand ich da?
Mit einer Frau, die immer noch sicher war, dass ich es verbockt hatte.
»Dieser Kenny«, sagte sie und tippte in meinen Laptop, »wissen wir, wo er wohnt?«
»Wir kennen seine letzte offizielle Adresse.«
Sie fuhr sich mit den Händen durch das lange dunkle Haar. »Ich gehe mal nach draußen auf die Veranda.«
»Ich komme mit.«
Wir zogen unsere Mäntel über. Auf der Veranda schlossen wir vorsichtig die Tür hinter uns, und Angie klappte den Grill auf, in dem sie ihre Zigaretten und das Feuerzeug versteckte. Sie schwor, dass sie nur ein paar am Tag rauchte, doch manchmal war die Packung viel leichter, als sie hätte sein dürfen. Bisher verbarg sie ihre Schwäche vor Gabby, aber die Uhr tickte, das wussten wir beide. So gern ich eine perfekte Frau gehabt hätte - ich kann perfekte Menschen normalerweise nicht ausstehen. Sie vereinen narzisstischen Überlebensinstinkt mit einem Gefühl moralischer Überlegenheit. Außerdem sind sie der Tod jeder Party. Angie weiß, dass es mir lieber wäre, sie würde nicht rauchen; ihr selbst wäre es auch lieber. Aber sie raucht nun mal. Ich für meinen Teil finde mich damit ab und lasse sie in Ruhe.
»Wenn Beatrice nicht verrückt ist«, sagte sie, »und Amanda wirklich verschwunden ist, dann haben wir eine zweite Chance.«
»Nein«, sagte ich. »Haben wir nicht.«
»Du weißt doch gar nicht, was ich sagen will.«
»Doch. Du willst sagen, wenn es uns irgendwie gelingt, Amanda McCready ausfindig zu machen, können wir dieses Mal die Sünden der Vergangenheit wiedergutmachen.«
Sie warf mir ein wehmütiges Lächeln zu und blies den Rauch über das Geländer. »Du wusstest also wirklich, was ich sagen wollte.«
Ich atmete den Rauch ein und küsste meine Frau auf die Schulter. »Ich glaube nicht an Wiedergutmachung.«
»Ich dachte, du glaubst nicht daran, dass etwas irgendwann vorbei ist.«
»Das auch nicht.«
»An was glaubst du noch mal?«
»An dich. An die Kleine. An das hier.«
»Schätzchen, du musst zu einem inneren Gleichgewicht kommen.«
»Wer bist du, mein Sensei?«
»Hai.« Sie verneigte sich leicht. »Ich meine es ernst. Du kannst zu Hause rumhocken und nachgrübeln, was mit Peri Pyper passiert ist und warum du einem klassischen Wichser wie Brandon Trescott geholfen hast, nicht die Verantwortung für seine Taten zu übernehmen, oder du kannst etwas Gutes tun.«
»Und das hier ist etwas Gutes, ja?«
»Da kannst du einen drauf lassen. Bist du der Meinung, ein Typ wie Kenny Hendricks sollte in der Nähe von Amanda McCready sein?«
»Nein, aber das reicht nicht, um in anderer Leute Leben herumzupfuschen.«
»Was denn?«
Ich schmunzelte.
Angie nicht. »Sie ist verschwunden.«
»Du willst, dass ich mir Kenny und Helene vornehme.«
Angie schüttelte den Kopf. »Ich will, dass wir uns Kenny und Helene vornehmen. Und ich möchte, dass wir Amanda ein zweites Mal finden. Auch wenn ich vielleicht nicht so viel Zeit dafür habe.«
»Du hast gar keine.«
»Okay, ich hab keine«, gab sie zu, »aber ich bin immer noch der Wahnsinn am Computer, Sportsfreund.«
»Der Wahnsinn, sagst du?«
»Ich erlebe noch mal die frühen Nullerjahre.«
»Ich kann mich gut an die frühen Nullerjahre erinnern -damals haben wir noch Geld verdient.«
»Wir sahen besser aus, und dein Haar war deutlich dichter.« Sie legte die Hände auf meine Brust und stellte sich auf die Zehenspitzen, um mir einen Kuss zu geben. »Nimm’s mir nicht übel, Schatz, aber was machst du momentan sonst noch so?«
»Du bist ein eiskaltes Aas. Ich liebe dich, aber du bist ein eiskaltes Aas.«
Sie lachte ihr kehliges Lachen, das mir immer durch Mark und Bein ging.
»Das findest du doch toll.«
Eine halbe Stunde später saß Beatrice McCready an unserem Esszimmertisch und trank eine Tasse Kaffee. Sie machte nicht mehr einen ganz so gebrochenen und verlorenen Eindruck wie am Tag zuvor, aber das sagte noch nichts über ihr Innenleben aus.
»Ich hätte wegen Matt nicht lügen sollen«, sagte sie. »Es tut mir leid.«
Ich hob die Hand. »Beatrice, Mensch. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.«
»Er ist einfach … Das ist so eine Sache, da weiß man, dass man wahrscheinlich nie drüber wegkommt, aber man muss ja trotzdem funktionieren, irgendwie den Tag hinter sich bringen. Oder?«
»Mein erster Mann wurde ermordet«, sagte Angie. »Das heißt nicht, dass ich deinen Kummer nachempfinden kann, Bea, aber ich habe gelernt, wenn man an irgendeinem Tag einen kurzen Moment lang, wenn man nur eine Sekunde lang mal nicht trauert, dann ist das keine Sünde.«
Beatrice nickte leicht. »Ich … Danke.« Sie sah sich in unserem kleinen Wohnzimmer um. »Ihr habt ein Mädchen?«
»Ja, Gabriella.«
»Oh, das ist ein schöner Name. Hat sie Ähnlichkeit mit dir?«
Angie sah mich nach Bestätigung heischend an, und ich nickte.
»Mehr mit mir als mit ihm, doch«, sagte sie und wies auf ein Bild von Gabby auf einer Kredenz. »Das ist sie.«
Beatrice betrachtete das Foto und lächelte schließlich. »Sie sieht lebhaft aus.«
»Das ist sie auf jeden Fall«, sagte Angie. »Spricht man nicht von der Trotzphase?«
Beatrice beugte sich vor. »O ja, ich kann mich noch gut daran erinnern. Das fängt mit rund achtzehn Monaten an und hört erst auf, wenn sie ungefähr dreieinhalb sind.«
Angie nickte nachdrücklich. »Sie war ein Ungeheuer. Ich meine, Herrgott, es war …«
»Grässlich, oder?«, sagte Beatrice. Es sah aus, als wollte sie eine Anekdote über ihren Sohn erzählen, überlegte es sich dann aber anders. Sie sah mit einem sonderbaren Lächeln auf den Tisch und schaukelte im Stuhl vor und zurück. »Aber das ist irgendwann vorbei.«
Angie schaute mich an. Ich erwiderte ihren Blick, wusste aber nicht, was ich sagen sollte.
»Bea«, sagte Angie, »die Polizei meint, sie hätte deine Aussage überprüft und Amanda zu Hause vorgefunden.«
Beatrice schüttelte den Kopf. »Seit dem Umzug ruft Amanda mich täglich an. Bis vor zwei Wochen. Direkt nach Thanksgiving. Seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört.«
»Die sind umgezogen? Weg von hier?«
Bea nickte. »Vor ungefähr vier Monaten. Helene hat jetzt ein Haus in Foxboro. Fünf Zimmer.«
Foxboro war ein Vorort von Boston, ungefähr zwanzig Meilen südlich. Er war nicht annähernd so schick wie Belmont Hills, aber von der Gemeinde St. Bart in Dorchester war es ein großer Schritt nach vorn.
»Was macht Helene heutzutage beruflich?«
Beatrice lachte. »Beruflich? Das Letzte, was ich gehört habe, da arbeitete sie angeblich im New Store On The Block am Lottoapparat, aber das ist schon wieder länger her. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie es geschafft hat, gefeuert zu werden, so wie überall sonst. Diese Frau hat es doch sogar fertiggebracht, damals bei Boston Gas rauszufliegen. Ich meine, wer wird bei den Stadtwerken rausgeworfen?«
»Aber wenn sie nicht groß arbeitet …«
»Wie sie sich dann ein Haus leisten kann?« Beatrice zuckte mit den Schultern. »Wer weiß?«
»Sie hat bei den Prozessen doch nichts von der Stadt bekommen, oder?«
Beatrice schüttelte den Kopf. »Das ging alles in einen Fonds für Amanda. Helene kann da nicht dran.«
»Okay«, sagte Angie. »Ich suche mal den Steuerbescheid für die Immobilie.«
»Was ist mit der einstweiligen Verfügung gegen dich?«, fragte ich so dezent wie möglich.
Beatrice sah mir in die Augen. »Helene nutzt alle Möglichkeiten. Das macht sie schon seit ihrer Jugend. Vor ein paar Jahren war Amanda krank. Grippe. Helene hatte einen neuen Lover, einen Barkeeper, bei dem sie umsonst trinken konnte, daher vergaß sie ständig, nach Amanda zu gucken. Damals wohnten sie noch auf der Columbia Road. Ich hatte einen Schlüssel und ging heimlich rüber, um mich um Amanda zu kümmern. Wenn ich das nicht getan hätte, hätte sie eine Lungenentzündung bekommen.«
Angie warf einen Blick auf das Foto von Gabby und sah dann zu Bea zurück. »Dabei hat Helene dich erwischt und die einstweilige Verfügung erwirkt.«
»Genau.« Bea fuhr mit dem Finger über den Rand ihrer Kaffeetasse. »Ich trinke mehr als früher. Manchmal mache ich dann dumme Sachen und rufe irgendwo an.« Sie schaute mich an. »So wie letztens bei euch. Mit Helene hab ich das auch ein paar Mal gemacht. Es dauerte nicht lange, da beantragte sie eine neue Verfügung. Das ist jetzt drei Wochen her.«
»Aus welchem Grund hast du, ich will nicht sagen, sie »belästige, aber …?«
»Belästigt ist schon in Ordnung. Manchmal belästige ich Helene gerne.« Beatrice grinste. »Ich wollte mit Amanda sprechen. Sie ist ein liebes Mädchen. Hart, das schon. Sehr reif für ihr Alter, aber trotzdem lieb.«
Ich dachte an die Vierjährige, die ich damals zurückgebracht hatte. Jetzt war sie »hart«. Jetzt war sie »sehr reif für ihr Alter«.
»Amanda bat mich, in der alten Wohnung nach der Post zu gucken, nach den Briefen, die die Post aus irgendwelchen Gründen nicht nachsendet. Das passiert ständig. Ich ging also dort vorbei, aber es war fast nur Werbung.« Sie griff in ihre Handtasche. »Abgesehen von dem hier.«
Sie reichte mir ein elfenbeinfarbenes Blatt Papier: eine Geburtsurkunde des Staats Massachusetts, Suffolk County, für Christina Andrea English, geb. 04.08.‘93.
Ich reichte sie Angie.
»Alter passt ungefähr«, sagte sie.
Ich nickte. »Christina English wäre ein Jahr älter.«
Uns beiden ging dasselbe durch den Kopf. Angie legte die Geburtsurkunde neben ihren Laptop und ließ die Finger über die Tastatur huschen.
»Wie hat Amanda reagiert, als du ihr sagtest, was du gefunden hast?«, fragte ich Bea.
»Sie meldete sich nicht mehr. Dann verschwand sie.«
»Und du fingst an, Helene anzurufen.«
»Ich wollte Antworten. Darauf kannst du Gift nehmen.«
»Richtig so«, sagte Angie. »Ich wäre gern dabei gewesen.«
»Du hast also Helene angerufen?«, wiederholte ich.
Beatrice nickte. »Ein paar Mal. Und hab ein paar giftige Nachrichten hinterlassen.«
»Die Helene nicht löschte«, riet Angie, »sondern dem Richter vorspielte.«
Beatrice nickte. »Ganz genau.«
»Und du bist sicher, dass Amanda nicht in Foxboro ist.«
»Ja.«
»Warum?«
»Weil ich das Haus drei Tage lang überwacht habe.«
»Überwacht.« Ich grinste. »Trotz einstweiliger Verfügung. Scheiße. Du bist hart drauf, Bea.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Mit wem auch immer die Polizei gesprochen hat, es war nicht Amanda.«
Angie schaute kurz vom Bildschirm auf, ihre Finger tippten immer noch in die Tastatur. »Keine Schuleinträge unter dem Namen Christina English. Keine Sozialversicherung. Keine Krankenhausunterlagen.«
»Was bedeutet das?«, fragte Bea.
»Es könnte bedeuten, dass Christina English den Bundesstaat verlassen hat. Oder …«
»Ich hab’s«, sagte Angie. »Todestag 16.09.‘93.«
»… dass sie tot ist«, beendete ich meinen Satz.
»Autounfall«, las Angie vor. »Wallingford, Connecticut. Beide Elternteile am selben Tag verstorben.«
Verwirrt sah Bea uns an.
»Amanda hat versucht, die Identität von Christina English anzunehmen, Bea«, erklärte Angie. »Du hast sie dabei gestört. In Massachusetts gibt es keine Sterbeurkunde. Vielleicht gibt es eine in Connecticut - da muss ich tiefer graben -, aber die Chancen stehen gut, dass jemand sich für Christina English ausgeben kann, und der Bundesstaat würde nichts mitkriegen. Man könnte einen Sozialversicherungsausweis bekommen, eine Berufslaufbahn fälschen und, wenn man Lust hat, am nicht existierenden Arbeitsplatz irgendwann einen Unfall vortäuschen und vom Staat Arbeitsunfähigkeitsgeld kassieren.«
»Oder«, sagte ich, »man könnte innerhalb von dreißig Tagen verschiedene Kreditkarten im sechsstelligen Bereich belasten, aber nie bezahlen, weil es einen ja gar nicht gibt.«
»Entweder unterstützt Amanda Helene und Kenny also bei irgendeinem Betrug …«, schlug Angie vor.
»Oder sie versucht, eine andere Identität anzunehmen.«
»Aber dann würde sie nächstes Jahr nicht die zwei Millionen von der Stadt bekommen.«
»Guter Hinweis«, sagte ich.
»Obwohl«, warf Angie ein, »nur weil sie eine neue Identität annimmt, muss sie ihre alte ja nicht aufgeben.«
»Aber ich habe die Geburtsurkunde doch abgefangen«, sagte Bea, »demnach muss sie doch noch sie selbst sein, oder?«
»Na ja, mit Christina English ist es wahrscheinlich vorbei«, sagte ich.
»Aber?«
»Aber«, sagte Angie, »das ist wie mit den Avataren in Computerspielen. Wenn Amanda richtig schlau ist, könnte sie mehrere haben. Ist Amanda sehr schlau?«
»Ein Überflieger«, sagte Bea.
Eine Weile saßen wir schweigend da. Ich merkte, wie Bea auf das Bild von Gabriella starrte. Wir hatten es im vergangenen Herbst aufgenommen. Gabby saß in einem Laubhaufen, die Arme weit ausgestreckt, so als posierte sie für einen Siegerpokal, ihr strahlendes Grinsen so breit wie das Foto. Eine Million ähnlicher Bilder schmückten die Kaminsimse und Kredenzen, Büffets und Fernseher in den Heimen dieser Welt. Bea konnte den Blick nicht abwenden, schien in dem Foto zu versinken.
»So ein tolles Alter«, sagte sie. »Vier, fünf Jahre. Das Leben besteht aus Staunen und Veränderung.«
Ich konnte meine Frau nicht ansehen.
»Ich seh mich mal nach ihr um«, sagte ich.
Angie schenkte mir ein Lächeln so groß wie Suffolk County.
Bea streckte die Hände über den Tisch aus. Ich nahm sie. Sie waren warm von der Kaffeetasse.
»Du findest sie.«
»Ich hab gesagt, ich seh mich um, Bea.«
Der Blick, mit dem sie mich fixierte, war fast fanatisch. »Du findest sie.«
Ich schwieg. Doch Angie sprach.
»Wir finden sie, Bea. Egal, was.«
Als sie fort war, saßen wir im Wohnzimmer, und ich betrachtete das Bild von Bea und Amanda auf meinem Schoß. Es war vor einem Jahr in einer Mehrzweckhalle aufgenommen worden. Die beiden standen vor einer holzvertäfelten Wand. Bea schaute Amanda an, und Liebe leuchtete in ihrem Gesicht wie eine Taschenlampe. Amanda sah geradewegs in die Kamera. Ihr Lächeln war hart, ihr Blick war hart, ihr Kinn leicht nach rechts verschoben. Ihr früher blondes Haar war jetzt kastanienbraun. Sie trug es lang und glatt. Amanda war klein und schlank und hatte ein graues T-Shirt von Newbury Comics an, eine marineblaue Trainingsjacke der Red Sox und eine dunkelblaue Jeans. Ihre leicht schiefe Nase war mit einer Prise blasser Sommersprossen besprenkelt, ihre grünen Augen waren sehr klein. Sie hatte schmale Lippen, spitze Wangenknochen, ein kantiges Kinn. In ihren Augen spielte sich so viel ab, dass ihr das Bild nicht gerecht werden konnte. Wahrscheinlich änderte sich ihr Gesichtsausdruck dreißig Mal in einer Viertelstunde. Sie war nie wirklich schön, aber dennoch fesselnd.
»Hu«, machte Angie. »Dieses Kind ist kein Kind mehr.«
»Ich weiß.« Kurz schloss ich die Augen.
»Was hast du erwartet?«, fragte sie. »Bei einer Mutter wie Helene? Wenn Amanda bis zu ihrem zwanzigsten Geburtstag keine Entziehungskur machen muss, ist das schon eine wahre Erfolgsgeschichte.«
»Warum noch mal mache ich das hier?«, fragte ich.
»Weil du gut darin bist.«
»So gut auch wieder nicht«, sagte ich.
Angie küsste mein Ohrläppchen. »Wenn deine Tochter dich fragt, wofür du stehst, möchtest du ihr dann nicht etwas antworten können?«
»Schön wäre es«, sagte ich. »Wirklich. Aber diese Wirtschaftskrise, diese Rezession, dieser ganze Scheiß - den gibt es wirklich, Schatz. Und der geht nicht von selbst weg.«
»Doch«, sagte sie. »Der geht weg. Irgendwann. Aber da, wo du jetzt stehst, genau jetzt? Das bleibt für immer.« Sie drehte sich auf der Couch, zog die Beine an und umfasste ihre Knöchel. »Ich helfe dir zwei, drei Tage lang. Das macht bestimmt Spaß.«
»Spaß? Wie willst du denn … ?«
»PR schuldet mir noch was für letzten Sommer, als ich auf das Monster aufgepasst habe. Sie kümmert sich um Gabby, während ich mich ein paar Tage mit dir herumtreibe.«
»Das Monster« war der Sohn von Angies Freundin Peggy Rose, kurz PR. Gavin Rose war fünf Jahre alt, schlief meines Wissens nie und baute unablässig Scheiße. Außerdem kreischte er gern ohne jeglichen Anlass. Seine Eltern fanden das süß. Als PR letztes Jahr das zweite Kind bekam, starb zur gleichen Zeit ihre Schwiegermutter, und so verbrachten Angie und ich fünf der längsten Tage der Menschheit mit dem Monster.
»Sie ist uns wirklich was schuldig«, sagte ich.
»Allerdings.« Angie sah auf ihre Uhr. »Jetzt ist es zu spät, um anzurufen, aber ich versuch’s direkt morgen früh. Du kannst am Nachmittag mal nachfragen, ob du eine Kollegin hast.«
»Wie lieb von dir«, sagte ich. »Aber mehr Geld bringt das auch nicht rein. Und das brauchen wir. Ich könnte mir einen Job für tagsüber suchen. Es gibt immer eine Möglichkeit, irgendwas aufzutreiben, keine Ahnung. In den Docks zum Beispiel. Ich könnte drüben in Southie Autos von den Schiffen fahren. Ich könnte …« Ich hielt inne, ertrug die Verzweiflung in meiner eigenen Stimme nicht. Ich lehnte mich auf der Couch zurück und sah zum Fenster hinüber, gegen das feuchter Schnee klatschte. Er wirbelte im Licht der Straßenlaternen und fegte an den Telefonleitungen entlang. Ich sah meine Frau an. »Wir könnten bald pleite sein.«
»Du brauchst doch nur ein paar Tage für Amanda, höchstens eine Woche. Und wenn Duhamel-Standiford in der Zeit anruft und dir einen neuen Fall anbietet, brichst du halt ab. Aber jetzt versuchst du erst mal, das Mädchen zu finden.«
»Kirchenmauspleite.«
»Dann leben wir halt wie Kirchenmäuse«, gab Angie zurück.