8. Kapitel
In meinem Traum war Amanda McCready zehn, vielleicht elf Jahre alt. Sie saß auf der Veranda eines gelben Bungalows mit Steintreppe, eine weiße Bulldogge schnarchte zu ihren Füßen. Große alte Bäume standen auf einem Grasstreifen zwischen Bürgersteig und Straße. Wir waren irgendwo im Süden, vielleicht in Charleston. Louisianamoos hing in den Bäumen, das Haus hatte ein Blechdach.
Jack und Tricia Doyle saßen hinter Amanda in Korbsesseln, zwischen ihnen ein Schachtisch. Sie waren nicht älter geworden.
Ich kam in meiner Briefträgeruniform den Weg hoch, und der Hund hob den Kopf und sah mich mit traurigen schwarzen Augen an. Auf seinem linken Ohr war ein Fleck, so schwarz wie seine Nase. Er leckte sich über die Nase und drehte sich dann auf den Rücken.
Jack und Tricia Doyle schauten von ihrem Schachbrett auf und sahen mir entgegen.
»Ich bringe nur die Post«, sagte ich. »Ich bin der Postbote.«
Sie blickten ausdruckslos. Sagten keinen Ton.
Ich reichte Amanda die Post und wartete auf mein Trinkgeld. Sie ging die Umschläge durch, warf einen nach dem anderen zur Seite. Sie landeten in den Büschen und wurden gelb und nass.
Mit leeren Händen sah sie zu mir hoch. »Du hast nichts gebracht, was uns nutzen könnte.«
Am nächsten Morgen konnte ich den Kopf kaum vom Kissen heben. Tat ich es doch, knirschten die Knochen an meiner linken Schläfe. Die Wangenknochen schmerzten, mein Schädel pochte. Während ich schlief, hatte jemand Chilischoten und Glasscherben in die Windungen meines Hirns gestreut.
Und das war noch nicht alles - keine meiner Gliedmaßen war erfreut, als ich mich umdrehte, aufsetzte und atmete. In der Dusche tat mir das Wasser weh. Die Seife schmerzte. Als ich die Haare einschäumen wollte, drückte ich versehentlich mit den Fingerspitzen auf die linke Seite meines Kopfes. Mich durchfuhr ein Schmerz, der mich beinahe auf die Knie sinken ließ.
Beim Abtrocknen schaute ich in den Spiegel. Die obere linke Gesichtshälfte war violett marmoriert, das halbe Auge inbegriffen. Die einzige Stelle, die nicht violett war, war mit schwarzem Faden genäht. Mein Haar war graumeliert; selbst auf der Brust hatte ich schon graue Haare entdeckt, als ich das letzte Mal nachgesehen hatte. Vorsichtig fuhr ich mir mit dem Kamm über den Kopf, drehte mich, um nach dem Rasierer zu greifen, und mein geschwollenes Knie schrie auf. Ich hatte mich kaum bewegt — eine winzige Gewichtsverlagerung, mehr nicht -, doch meine Kniescheibe fühlte sich an, als hätte ich mit einem Hammer dagegen-geschlagen.
Älterwerden macht verdammt viel Spaß.
Als ich in die Küche kam, legten meine Frau und meine Tochter die Hand vor den Mund und kreischten mit weitaufgerissenen Augen. Es war so perfektes Timing, dass es abgesprochen sein musste. Ich hielt ihnen den emporgereckten Daumen entgegen und schenkte mir eine Tasse Kaffee ein. Sie klatschten sich gegenseitig ab, dann klappte Angie wieder die Frühstückszeitung auf und sagte: »Das sieht verdächtig nach der Laptoptasche aus, die ich dir letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt habe.«
Ich hängte sie über meine Rückenlehne und setzte mich an den Tisch. »Ein und dieselbe.«
»Und ihr Inhalt?« Sie schlug eine Seite des Herald um.
»Heil zurück«, sagte ich.
Anerkennend hob sie die Augenbrauen. Anerkennend und vielleicht ein wenig neidisch. Sie blickte auf unsere Tochter, die kurzzeitig vom Muster ihres Plastiksets fasziniert war. »Gab es … ähm … Kollateralschaden?«
»Ein Herr könnte in nächster Zeit Probleme haben, am Sackhüpfen teilzunehmen. Oder beim, keine Ahnung«, ich trank einen Schluck Kaffee, »beim Gehen.«
»Und der Grund dafür ist?«
»Bubba beschloss, den Vorgang etwas abzukürzen.«
Als Gabriella den Namen hörte, hob sie den Kopf. Das Grinsen in ihrem Gesicht war das ihrer Mutter - so breit und warm, dass man sich davon umarmt fühlte. »Onkel Bubba?«, fragte sie. »Hast du Onkel Bubba gesehen?«
»Ja. Ich soll dir und Mr. Lubble viele Grüße ausrichten.«
»Ich hole ihn.« Sie sprang von ihrem Stuhl und flitzte aus dem Zimmer, dann hörten wir sie in ihrem Spielzeug wühlen.
Mr. Lubble war ein Stofftier, das größer als Gabby war. Bubba hatte es ihr zum zweiten Geburtstag geschenkt.
Soweit wir feststellen konnten, war Mr. Lubble eine Mischung aus einem Schimpansen und einem Orang-Utan, doch er mochte ebenso einen uns völlig unbekannten Primaten darstellen. Aus irgendeinem Grund trug er einen limettengrünen Smoking mit gelber Krawatte und passende gelbe Tennisschuhe. Gabby hatte ihn Mr. Lubble genannt, doch keiner von uns beiden konnte sich an den Grund erinnern; wir nahmen an, sie hatte »Bubba« sagen wollen, doch mit zwei Jahren war nicht mehr als »Lubble« dabei herausgekommen.
»Mr. Lubble«, rief sie in ihrem Zimmer, »komm her! Komm mit!«
Angie ließ die Zeitung sinken und strich mir über die Hand. Sie war etwas schockiert über mein Aussehen am Tag danach, denn es war schlimmer als nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus. »Müssen wir uns Sorgen machen wegen Vergeltungsmaßnahmen?«
Die Frage war berechtigt. Bei jeder Gewalttat musste man mit Vergeltung rechnen. Wenn man jemanden verletzte, versuchte der Betroffene in der Regel, sich zu rächen.
»Glaube ich nicht«, sagte ich und spürte, dass es stimmte. »Mit mir würden sie sich schon anlegen, aber nicht mit Bubba. Außerdem habe ich nur genommen, was mir gehört.«
»Deren Meinung nach war es aber nicht mehr deins.«
»Stimmt.«
Wir tauschten einen wachsamen Blick.
»Ich hab so eine süße kleine Beretta«, sagte Angie. »Passt genau in meine Tasche.«
»Schon länger her, dass du damit geschossen hast.«
Sie schüttelte den Kopf. »Weißt du, wenn ich mir hin und wieder eine Auszeit nehme und rumfahre, was ich dann mache?«
»Was denn?«
»Ich fahre zur Schießanlage nach Freeport.«
Ich lächelte. »Echt?«
»Ja, klar.« Sie lächelte zurück. »Manche Mädels machen Yoga gegen den Stress. Ich baller lieber das eine oder andere Magazin durch.«
»Na, du warst immer der bessere Schütze.«
»Der bessere?« Angie schlug die Zeitung wieder auf.
Tatsächlich traf ich aus fünf Meter Entfernung keinen Elefanten. »Na gut. Der einzige.«
Gabby kam zurück ins Zimmer, zog Mr. Lubble an seinem limettengrünen Arm hinter sich her. Sie setzte ihn neben sich und kletterte wieder auf ihren Stuhl.
»Hat Onkel Bubba Mr. Lubble einen Gutenachtkuss gegeben?«, wollte sie wissen.
»Ja.« Ich hätte ein schlechteres Gewissen gehabt, mein Kind zu belügen, wenn ich nicht schon mit dem Nikolaus, dem Osterhasen und der Zahnfee Präzedenzfälle geschaffen hätte.
»Hat er mir auch einen Gutenachtkuss gegeben?«
»Ja.«
»Das weiß ich noch.« Anscheinend fängt das Lügen früh an, und wir halten es für Kreativität. »Und er hat mir eine Geschichte erzählt.«
»Worüber?«
»Über Bäume.«
»Na klar.«
»Und er hat gesagt, Mr. Lubble muss mehr Eis essen.«
»Schokolade auch?«, fragte Angie.
»Schokolade auch?«, wiederholte Gabby und wog das Für und Wider ab. »Ja, ich glaub schon.«
»Du glaubst schon, hm?« Ich schmunzelte und sah Angie an. »Sie redet genau wie du.«
Angie ließ die Zeitung sinken. Sie war plötzlich blass, ihre Lippen waren leicht geöffnet.
»Mommy?« Selbst Gabby hatte es gemerkt. »Was ist?«
Angie lächelte sie schwach an und reichte mir die Zeitung. »Nichts, mein Schatz. Mommy ist nur müde.«
»Zu viel gelesen«, sagte unsere Tochter.
»Zu viel lesen, das geht gar nicht«, sagte ich. Ich warf einen Blick auf die Zeitung und sah Angie fragend an.
»Unten rechts auf der Seite«, sagte sie.
Sie meinte eine Rubrik auf der letzten Seite der Lokalnachrichten, deren blutrünstige Meldungen die Leser fesseln sollten. Die letzte lautete: »Frau aus Maine stirbt bei Autodiebstahl«. Ich las die Überschrift und ließ die Zeitung kurz sinken. Angie beugte sich vor und strich mir mit ihrer warmen Hand über den Unterarm.
Eine zweifache Mutter wurde am frühen Dienstagmorgen bei einem vermeintlichen Autodiebstahl niedergeschossen, als sie ihren Arbeitsplatz bei BJ Wholesaler in Auburn verließ. Der Verdächtige näherte sich Peri Pyper, 34 Jahre, aus Lewiston, als sie mit ihrem Honda Accord losfahren wollte. Zeugen sagten aus, sie hätten Kampfgeräusche gehört, gefolgt von einem Schuss. Der zweiundzwanzigjährige Verdächtige Taylor Biggins aus Auburn wurde nach Verfolgung durch die Polizei eine Meile weiter festgenommen und ließ sich ohne Gegenwehr abführen. Peri Pyper wurde per Hubschrauber ins Maine Medical Center geflogen, laut der Sprecherin des MMC, Pamela Dunn, jedoch um 6:34 Uhr für tot erklärt. Peri Pyper hinterlässt einen Sohn und eine Tochter.
Angie sagte: »Das ist nicht deine Schuld.« »Das weiß ich nicht. Ich weiß gar nichts.« »Patrick …« »Ich weiß gar nichts«, wiederholte ich.
Bis nach Auburn in Maine waren es drei Stunden Fahrt, in denen mein Anwalt, Cheswick Hartman, alles in die Wege leitete. Ich erreichte die Anwaltskanzlei von Dufresne, Barrett und McGrath und wurde in das Büro von James Mayfield geführt, einem Juniorteilhaber der Kanzlei, der hauptsächlich als Prozessanwalt für Strafrecht arbeitete.
James Mayfield war ein Schwarzer von eindrucksvoller Größe und Körperfülle, er hatte graumeliertes Haar und einen ebensolchen Schnauzer. Sein Händedruck war kräftig, er machte einen lockeren Eindruck, authentisch und ungezwungen.
»Danke, dass Sie Zeit für mich haben, Mr. Mayfield.«
»Sie können mich Trainer nennen, Mr. Kenzie.«
»Trainer?«
»Ich bin in dieser Stadt Trainer für Baseball, Basketball, Golf, Football und Fußball. Alle nennen mich Trainer.«
»Warum auch nicht?«, sagte ich. »Also Trainer.«
»Wenn ein Anwalt vom Format eines Cheswick Hartman mich anruft und sagt, er will mich in einem Fall bei der Prozessführung unterstützen, unentgeltlich, dann horche ich auf.«
»Tja.«
»Er sagte, Sie sind ein Mann, der sein Wort niemals bricht.«
»Das ist nett von ihm.«
»Nett oder nicht, ich bräuchte Ihr Wort schriftlich.«
»Verständlich«, sagte ich. »Ich habe meinen eigenen Stift dabei.«
Trainer Mayfield schob einen Papierstapel über den Tisch, und ich begann zu unterschreiben. Er griff zum Telefon. »Sie können jetzt hereinkommen, Janice, und bringen Sie den Stempel mit.«
Wenn ich eine Seite unterschrieben hatte, beglaubigte Janice sie notariell. Als ich fertig war, lagen vierzehn Blätter vor mir. Im Grunde genommen war der Vertrag ziemlich einfach: Ich erklärte mich einverstanden, dass ich für die Kanzlei Dufresne, Barrett und McGrath als Ermittler im Namen von Taylor Biggins arbeitete. In dieser Funktion fiel alles, was Mr. Biggins mir anvertraute, unter das Anwaltsgeheimnis. Wenn ich unser Gespräch jemals gegenüber einem Dritten erwähnte, konnte ich angeklagt, vor Gericht gestellt und verurteilt werden.
Zusammen mit Trainer Mayfield fuhr ich zum Gerichtsgebäude. Der Himmel hatte diese milchigblaue Färbung, die manchmal einem Nor’easter vorausging, doch die Luft war mild. In der Stadt roch es nach qualmenden Schornsteinen und nassem Asphalt.
Die Hafträume befanden sich in den Tiefen des Gerichtsgebäudes. Trainer Mayfield und ich warteten auf Taylor Biggins jenseits der Gitterstäbe, wo die Aufseher eine Holzbank für uns hingestellt hatten.
»Yo, Trainer«, sagte Taylor Biggins. Er sah jünger aus als zweiundzwanzig, ein sehniger Schwarzer in einem riesengroßen weißen T-Shirt, das seinen Körper umhüllte wie eine Servierglocke einen Zahnstocher. Seine tiefhängende Jeans zog er immer wieder über die Boxershorts hoch, weil man ihm den Gürtel abgenommen hatte.
»Bigs«, sagte Trainer Mayfield, und dann zu mir: »Bigs hat für mich bei Pop Warner gespielt. Baseball und Football.«
»Wer ist das?«, fragte Taylor Biggins.
Mayfield erklärte es ihm.
»Und er darf keinem was sagen?«
»Kein Wort.«
»Wenn doch, landet er im Loch?«
»Ohne Taschenlampe, Bigs.«
»‘kay, ‘kay.« Eine Weile tigerte Bigs durch seine Zelle, die Daumen in die Gürtelschlaufen gehakt. »Was willst du wissen?«
»Hat dir einer Geld gegeben, damit du die Frau umbringst?«, fragte ich.
»Nigger, wa?«
»Du hast mich verstanden.«
Bigs legte den Kopf schräg. »Du willst wissen, ob ich zu dem Scheiß angestiftet wurde?«
»Ja.«
»Wer würde das tun, was ich getan hab, wenn er auch nur ein bisschen geradeaus denken kann? Ich war total fertig, Mann. Ich war seit drei Tagen voll auf Crank.«
»Crank?«
»Crank«, wiederholte Bigs. »Meth, Crystal, Yaba oder wie du das nennen willst.«
»Ah«, machte ich. »Aber warum hast du sie erschossen?«
»Ich wollte ja gar nicht schießen. Hörst du nicht zu? Sie wollte die Schlüssel einfach nicht rausrücken. Dann packte sie mich am Arm - und wumm. Hat wieder losgelassen. Ich wollte echt nur das Auto. Hab einen Kumpel, Edward, der kauft Autos. Mehr war nicht dabei.«
Er sah mich durch die Stäbe an, bereits auf dem Weg in den dunklen Tunnel des Delirium tremens, die Haut glänzend vor Schweiß, die Augen groß wie Untertassen, der Mund verzweifelt nach Luft schnappend.
»Erzähl noch mal Schritt für Schritt«, forderte ich ihn auf.
Er warf mir einen verletzten, ungläubigen Blick zu, als hätte ich ihn aus der Fassung gebracht.
»He, Bigs«, sagte ich, »zusätzlich zum Trainer hier hast du einen der besten Strafverteidiger des Landes, der sich mit deinem Fall beschäftigt, weil ich ihn darum gebeten habe. Er ist durchaus in der Lage zu erreichen, dass dein Strafmaß halbiert wird. Verstehst du das?«
Es dauerte etwas, dann nickte Bigs.
»Also beantworte jetzt meine Fragen, du Idiot, oder ich sorge dafür, dass er verschwindet.«
Er schlang die Arme um den Bauch und stieß mehrmals zischend Luft aus. Als die Krämpfe nachließen, richtete er sich wieder auf und sah mich durch die Stäbe an. »Ist nix mit Schritt für Schritt. Ich brauchte ‘nen Wagen, der gut zu zerlegen ist. Einen Honda oder Toyota, Mann. Die Ersatzteile kannste jahrelang gebrauchen - passen auf ein Modell von ‘98 wie von ‘03, ganz egal. Der Scheiß ist total austauschbar. Ich bin da auf dem Parkplatz, hab ‘n schwarzes Kapuzenshirt und diese Jeans an, damit mich keiner sieht. Die Alte kommt raus, geht zum Accord. Ich lauf hin, zeig ihr mein schwarzes Gesicht und meine schwarze Knarre. Das reicht normalerweise. Aber die quatscht mich dumm an und will die Schlüssel einfach nicht loslassen. Klammert sich dran fest, bis ihre Hand abrutscht und mir auf den Arm schlägt. Und wie gesagt, da machte es wumm. Die Alte fiel hin. Ich nur noch: Ey, Scheiße! Aber ich brauchte mein Meth, also hab ich mir die Schlüssel geschnappt. Bin ins Auto gestiegen und wollte losfahren, aber auf einmal sind überall Bullenwagen auf dem Gelände, und die roten Lichter blitzten. Ich war noch keine Meile weit gekommen, da hatten sie mich schon am Arsch.« Er zuckte mit den Schultern. »Das war’s. Abgebrüht? Kann sein. Aber wenn sie die Schlüssel einfach losgelassen hätte …« Er schluckte und sah zu Boden. Als er den Kopf wieder hob, rannen ihm Tränen übers Gesicht.
Ich ignorierte sie. »Du sagst, sie hätte dich dumm angequatscht. Was hat sie denn gesagt?«
»Nichts, Mann.«
Ich stellte mich nah an die Stäbe und sah ihm ins Gesicht. »Was hat sie gesagt?«
»Sie meinte, sie bräuchte den Wagen selbst.« Er senkte wieder den Blick und nickte mehrmals vor sich hin. »Sie meinte, sie bräuchte den Wagen. Wie kann man ein Auto so dringend brauchen?«
»Kennst du eine Buslinie, die um drei Uhr morgens fährt, Bigs?«
Er schüttelte den Kopf.
»Die Frau, die du umgebracht hast, hatte zwei Jobs. Einen in Lewiston und einen in Auburn. Ihre Schicht in Lewiston ging eine halbe Stunde vor Beginn der Schicht in Auburn zu Ende. Verstehst du jetzt?«
Er nickte, die Tränen strömten nun regelrecht, seine Schultern bebten.
»Peri Pyper«, sagte ich. »So hieß die Frau.«
Er hielt den Kopf gesenkt.
»Ich bin fertig«, sagte ich zu Trainer Mayfield
Ich wartete an der Tür, während Trainer Mayfield sich einige Minuten im Flüsterton mit seinem Klienten besprach. Dann nahm er seine Aktentasche von der Bank und kam auf mich und den Aufseher zu.
Als die Tür geöffnet wurde, rief Bigs: »War doch nur ein Scheißauto!«
»Nicht für sie.«
»Ich will Ihnen keinen Schwachsinn erzählen, dass Bigs eigentlich ein Superkerl ist und so«, sagte Trainer Mayfield. »Er war schon immer hektisch und kurzsichtig, wenn es ums große Ganze ging. Außerdem war er schon immer extrem reizbar, und wenn er etwas wollte, dann sofort. Aber er war nicht so wie jetzt.« Wir fuhren durch Straßen mit weißen Kirchtürmen, breiten Grünanlagen und malerischen B&Bs. Der Trainer zeigte aus dem Fenster seines Chrysler 300. »Wenn man hinter die Fassade dieser Stadt sieht, entdeckt man viele Risse. Die Arbeitslosenquote ist zweistellig, und wer doch Arbeit findet, wird mies bezahlt. Sonderleistungen?« Er lachte. »Null. Versicherung?« Er schüttelte den Kopf. »Alles, was unsere Väter für selbstverständlich hielten, solange man hart arbeitete - das Sicherheitsnetz, gerechter Lohn und am Ende des Berufslebens eine goldene Uhr -, das gibt es hier nicht mehr, mein Freund.«
»In Boston auch nicht«, entgegnete ich.
»Wohl nirgendwo mehr, schätze ich.«
Schweigend fuhren wir weiter. Während wir im Gefängnis gewesen waren, war der blaue Himmel grau geworden. Die Temperatur war um gute fünf Grad gefallen. Die Luft fühlte sich an wie aus feuchter Alufolie. Keine Frage - bald würde es Schnee geben.
»Bigs hatte die Möglichkeit, zum Colby College zu gehen. Man sagte ihm, wenn er ein Jahr Community College machen würde und seine Noten halbwegs akzeptabel wären, würde man ihm im nächsten Jahr einen Platz in der Baseballmannschaft freihalten. Also kniete er sich rein.« Trainer Mayfield schaute mich mit zur Bestätigung erhobenen Augenbrauen an. »Wirklich. Ging tagsüber zur Schule, arbeitete nachts.«
»Und dann?«
»Die Firma, wo er arbeitete, setzte die gesamte Belegschaft auf die Straße. Nach einem Monat boten sie den Leuten die alten Jobs wieder an. Die Konservenfabrik da drüben.« Als wir über eine kleine Brücke rollten, wies er auf ein Gebäude aus gelbem Ziegelstein am Ufer des Androscoggin River. »Nur den ungelernten Arbeitskräften wurde ein Angebot gemacht, die gelernten blieben auf der Straße sitzen. Aber die Firma bot den ungelernten ihren alten Job für die Hälfte des ehemaligen Stundenlohns an. Keine Zusatzleistungen, keine Versicherung, nichts. Dafür jede Menge Überstunden, solange man keinen Zuschlag forderte oder mit diesem ganzen Kommunistenquatsch anfing. Also nahm er seinen Job wieder an, Bigs. Um seine Miete und die Schule bezahlen zu können. Er arbeitete siebzig Stunden die Woche. Und ging dabei zur Schule. Raten Sie mal, wie er sich wach hielt?«
»Mit Crystal.«
Mit einem Nicken fuhr der Trainer auf den Parkplatz seiner Anwaltskanzlei. »Die Sauerei, die diese Fabrik abgezogen hat, das machen hier alle Firmen in der Stadt so, im gesamten Staat. Und das Geschäft mit Crystal? Na, das boomt.«
Wir stiegen aus und standen auf dem kalten Parkplatz. Ich bedankte mich, und Trainer Mayfield wiegelte ab, ein Mensch, dem Kritik deutlich angenehmer war als Lob.
»Bigs hat Scheiße gebaut, wirklich, aber bis er mit dem Meth anfing, war er echt noch zu gebrauchen.«
Ich nickte.
»Das macht das, was er getan hat, nicht besser«, sagte er, »aber es kam nicht aus dem Nichts.«
Ich gab ihm die Hand. »Finde ich gut, dass Sie auf ihn aufpassen.«
Auch dieses Kompliment perlte an ihm ab. »Wegen eines beschissenen Autos.«
»Wegen eines beschissenen Autos«, wiederholte ich, stieg in meinen Wagen und fuhr davon.
An einer Raststätte direkt hinter der Grenze von Massachusetts hielt ich an, um etwas zu essen zu kaufen. Ich setzte mich mit dem Snack ins Auto, klappte meinen Laptop auf und schaltete ihn ein. Ein angenehmes Prickeln lief mir über die Kopfhaut. Auf der Homepage von IntelSearchABS gab ich meinen Usernamen und mein Passwort ein und klickte mich durch zur Seite für die individuelle Suche. Ein kleines grünes Kästchen wartete dort auf mich. Es verlangte einen Namen oder ein Alias. Ich klickte auf »Name«.
Angie würde mich umbringen. Diese Extratouren von mir waren eigentlich vorbei. Ich hatte meinen Laptop zurück. Ich hatte meine Laptoptasche und mein Foto von Gabby. Ich hatte meine Antworten zu Peri Pyper bekommen. Es war vorbei und abgeschlossen. Ich konnte mit etwas anderem weitermachen.
Ich musste daran denken, wie ich mit Peri im Chilis in Lewiston und im T.G.I. Friday’s in Auburn etwas trinken gewesen war. Kein Jahr war das her. Wir hatten Kindheitsanekdoten ausgetauscht, uns über Sportvereine gestritten, wegen unserer politischen Anschauungen miteinander gerungen, aus Filmen zitiert, die wir beide mochten. Es gab keinerlei Zusammenhang zwischen ihrem Herumspionieren und der Tatsache, dass sie von einem abgestumpften, verkorksten Jüngelchen um drei Uhr morgens auf einem Parkplatz erschossen worden war. Keinerlei Zusammenhang.
Aber alles steht miteinander in Verbindung.
Hier darf es nicht um dich gehen, sagte eine Stimme. Du bist doch bloß angepisst. Und wenn du angepisst bist, schlägst du um dich.
Ich lehnte mich auf dem Sitz zurück und schloss die Augen. Vor mir sah ich das Gesicht von Beatrice McCready -gequält, vorzeitig gealtert und eventuell sogar verrückt.
Eine andere Stimme sagte: Tu das nicht!
Die Stimme klang unangenehm nach der meiner Tochter.
Lass es sein.
Ich schlug die Augen auf. Die Stimmen hatten recht.
Ich sah Amanda aus dem Traum am Morgen, sah die Briefumschläge, die sie in die Büsche geworfen hatte.
Alles steht miteinander in Verbindung.
Nein, das stimmt nicht.
Was hatte ich in diesem Traum gesagt?
Ich bringe nur die Post.
Ich beugte mich vor, wollte den Computer ausschalten. Stattdessen tippte ich in das Kästchen:
Kenneth Hendricks
Dann drückte ich »Return« und lehnte mich zurück.