Die Pokerlektion
Poker ist ein Spiel, bei dem jeder Mann sein selbst gewähltes Blatt spielt. Keine Überlegung sollte von den Mitspielern erwartet werden.
John Scarne
 
»Ich will in eins von Ihren Spielen«, sagte der Junge.
Keller blickte von seinem Hamburger in Angela’s Diner auf und sah den blonden Jungen an, der mit vorgeschobener Hüfte und verschränkten Armen dastand. Es sollte cool sein, aber er sah aus wie ein Tier, das sich unbeholfen auf den Hinterbeinen aufrichtet. Ganz hübscher Bengel aber, obwohl er schwarz geränderte Strebergläser trug und blass und dürr war.
Keller beschloss, ihn nicht aufzufordern, Platz zu nehmen. »Was für Spiele?«, fragte er. Er aß weiter von seinem Hamburger und schaute auf die Uhr.
Der Junge bemerkte die Bewegung und sagte: »Na, zum Beispiel das eine, das heute Abend um acht anfängt.«
Keller stieß ein knurrendes Lachen aus.
Er hörte einen Güterzug über die Strecke rumpeln, die dieses Viertel im Norden der Stadt in zwei Teile schnitt. Er dachte liebevoll an eine Diesellok zurück, die vor einem halben Jahr die Gläser an der Bar genau in dem Moment klirren ließ, in dem er einen Flush auf den Tisch legte, um einen Pot von sechsundfünfzigtausenddreihundertzwanzig Dollar von drei Geschäftsleuten aus dem Süden Frankreichs einzustreichen. Er hatte diesen Pot zwanzig Minuten nach dem ersten Setzen gewonnen. Die Männer hatten finstere Franzosenblicke in die Runde geworfen, aber das Spiel fortgesetzt, um weitere Siebzigtausend im Lauf der regnerischen Nacht zu verlieren.
»Wie heißt du?«
»Tony Stigler.«
»Wie alt bist du?«
»Achtzehn.«
»Selbst wenn es ein Spiel gäbe, was nicht der Fall ist, dürftest du nicht mitspielen. Du bist noch ein Kind. Du hast keinen Zutritt zu einer Bar.«
»Es findet in Sals Hinterzimmer statt. Nicht in der Bar.«
»Woher weißt du das?«, murmelte Keller. Mit Ende vierzig war der Mann mit der dunklen Gesichtsfarbe noch so stark und kräftig wie zwanzig Jahre zuvor. Wenn er eine Frage in diesem Ton stellte, hörte man auf, den Schlaumeier zu spielen, und antwortete ehrlich.
»Mein Kumpel arbeitet bei Marconi Pizza. Er hört alles Mögliche.«
»Dein Kumpel sollte vorsichtig sein mit dem, was er hört. Und er sollte sehr vorsichtig sein, wem er erzählt, was er hört.« Keller wandte sich wieder seinem Essen zu.
»Schauen Sie.« Der Junge schob die Hand tief in die Tasche und zog ein Bündel Geldscheine heraus. Hunderter hauptsächlich. Keller hatte zu spielen angefangen, als er jünger war als dieser Bursche hier, und er konnte ein Bündel Geld einschätzen. Der Junge hielt an die fünftausend in der Hand. »Ich mein es ernst, Mann«, sagte Tony. »Ich will mit Ihnen spielen.«
»Woher hast du das?«
Ein Achselzucken. »Ich hab’s eben.«
»Komm mir nicht mit dieser Sopranos-Scheiße. Wenn du Poker spielen willst, dann nach den Regeln. Und eine der Regeln lautet, du spielst mit deinem eigenen Geld. Wenn das gestohlen ist, kannst du deinen Arsch auf der Stelle hier rausschaffen.«
»Es ist nicht gestohlen«, sagte der Junge und senkte die Stimme. »Ich hab es gewonnen.«
»Beim Kartenspielen oder in der Lotterie?«, fragte Keller sarkastisch.
»Draw und Stud Poker.«
Keller ließ sich einen besonders guten Hamburgerhappen schmecken und betrachtete den Jungen erneut. »Wieso mein Spiel? Du kannst aus Dutzenden wählen.«
Die im Abstieg begriffene Stadt Ellridge mit ihren rund zweihunderttausend Einwohnern lag am flachen, grauen Indiana River, in einem an Stahlwerken reichen Gebiet. Was ihr an Klasse fehlte, machte die Stadt durch Laster mehr als wett. Nutten und Lap-Dance-Bars zum Beispiel. Die große Attraktion jedoch war das illegale Glücksspiel – aus einem ganz praktischen Grund: Atlantic City und Nevada lagen weiter als eine Tagesfahrt entfernt, und die wenigen Casinos mit legalen Pokertischen in Indiana waren voller Amateure, die nur um geringe Summen spielten.
»Warum Sie?«, antwortete Tony. »Weil Sie der beste Spieler in der Stadt sind, und ich will gegen den besten spielen.«
»Was soll das werden, ein Duell à la John Wayne?«
»Wer ist John Wayne?«
»Allmächtiger... Du bist wirklich eine ganz andere Liga, Kleiner.«
»Es gibt noch mehr davon«, sagte der Junge und wedelte mit seinem Geldbündel. »Viel mehr.«
Keller gestikulierte in Richtung Geld und sah sich um. »Steck das weg.«
Der Junge gehorchte.
Keller aß von seinem Burger und dachte an die Zeit, als er sich, nicht viel älter als der Junge, mit Großmäuligkeit und Lügen seinen Weg in so manches Pokerspiel gebahnt hatte. Die einzige Methode, Poker zu lernen, ist, es zu spielen – um Geld und gegen die besten Spieler, die man finden kann, Tag für Tag. Gewinnen und verlieren.
»Wie lange spielst du schon?«
»Seit ich zwölf bin.«
»Was sagen deine Eltern dazu?«
»Die sind tot«, erwiderte er regungslos. »Ich wohne bei meinem Onkel. Wenn er da ist. Meistens ist er nicht da.«
»Tut mir leid.«
Tony zuckte mit den Achseln.
»Also, ich lass niemanden mitspielen, für den nicht jemand bürgt. Deshalb...«
»Ich hab ein paar Mal mit Jimmy Logan gespielt. Sie kennen ihn, oder?«
Logan wohnte oben in Michigan und war ein geachteter Spieler. Die Einsätze waren eher klein bei ihm, aber Keller hatte einige verdammt gute Partien gegen den Mann gespielt.
»Geh dir eine Cola kaufen oder was«, sagte er. »Komm in zwanzig Minuten wieder.«
»Hören Sie, Mann, ich will nicht...«
»Kauf dir eine Cola«, herrschte er ihn an. »Und wenn du noch einmal ›Mann‹ zu mir sagst, brech ich dir die Finger.«
»Aber...«
»Geh«, murmelte er barsch.
So wäre es also, Kinder zu haben, dachte Keller, dessen Existenz als professioneller Glücksspieler in den letzten dreißig Jahren keinen Raum für eine Familie gelassen hatte.
»Ich bin da drüben.« Tony wies mit einem Kopfnicken zu der grünen Markise eines Starbucks auf der anderen Straßenseite.
Keller holte sein Handy hervor und rief Logan an. Er musste aufpassen, wen er mitspielen ließ. Vor einigen Monaten waren es ein paar Reporter, die unbedingt die Welt verbessern wollten, leid gewesen, über korrupte Politiker und Firmenskandale in Ellridge zu schreiben, und sie hatten eine Serie über Glücksspiel gemacht. (»Die Schande der Stadt« lautete der Langweiler von Titel.) Die Polizei wurde daraufhin vom Bürgermeister unter Druck gesetzt, die größeren Spieltreffs dichtzumachen, und Keller musste vorsichtig sein. Jimmy Logan bestätigte jedoch, dass er den Jungen vor etwa einem Monat sorgfältig überprüft hatte. Er war mit richtig viel Geld ins Spiel gekommen und hatte an einem Tag übel verloren, jedoch den Mumm gehabt, am nächsten Tag wiederzukommen. Er holte seinen Verlust wieder herein und spielte weiter; am Ende war er als der große Gewinner nach Hause gegangen. Logan hatte auch herausgefunden, dass Tonys Eltern ihm bei ihrem Tod fast dreihunderttausend Dollar Bargeld hinterlassen hatten. Das Geld hatte auf einem Treuhandkonto gelegen, war aber am achtzehnten Geburtstag des Jungen vor einem Monat freigegeben worden.
Diese Neuigkeit ließ Kellers Interesse wach werden.
Nach dem Anruf beendete er sein Mahl. Tony verspätete sich um eine trotzige halbe Stunde, ehe er zurückkam. Langsam und arrogant schlenderte er in das Diner.
»Okay«, sagte Keller. »Ich lasse dich heute Abend ein paar Stunden mitmachen. Aber du verschwindest, bevor es um die wirklich hohen Einsätze geht.«
Ein höhnischer Blick. »Aber...«
»Das ist die Abmachung. Nimm sie an, oder lass es bleiben.«
»Also gut.«
»Bring mindestens zehntausend mit... Und versuch, nicht alles in den ersten fünf Minuten zu verlieren, okay?«
 
Den Augenblicken vor Beginn eines Spiels wohnt ein Zauber inne.
Natürlich freuen sich alle darauf, die kräftigen und doch weichen kubanischen Zigarren anzuzünden, über die Steelers, die Pistons oder die Knicks zu debattieren und die Witze zu erzählen, die Männer nur erzählen können, wenn sie unter sich sind.
Aber diese kleinen Freuden sind nichts gegen den einen, alles beherrschenden Gedanken: Werde ich heute Abend gewinnen?
Vergessen Sie das Gerede über die Liebe zum Spiel, den Nervenkitzel als solchen... all das stimmt auch, sicher. Aber was die wahren Spieler tatsächlich von den Dilettanten unterscheidet, ist das verzehrende Verlangen, mit mehr Geld vom Tisch aufzustehen, als sie gehabt hatten, da sie sich setzten. Jeder Spieler, der etwas anderes behauptet, lügt.
Keller spürte diesen Rausch nun, als er in dem beißend riechenden dunklen Hinterzimmer von Sal’s Tavern saß, umgeben von Kartons mit Servietten, Strohhalmen und Kaffee, einer alten Reklametafel für Pabst Blue Ribbon Bier, einer Tonne Leergut, das langsam schimmelte. Das Spiel heute Abend würde klein anfangen (Keller ging trotz der zehn Riesen, die jeder Spieler vorweisen musste, von geringen Einsätzen aus), später am Abend würde es jedoch zu hohen Einsätzen kommen, wenn zwei ernsthafte Spieler aus Chicago eintrafen. Dann würde sehr viel mehr Geld den Besitzer wechseln. Aber die elektrisierende Vorfreude, die er bei hohen Einsätzen fühlte, unterschied sich kein bisschen von dem, was er jetzt empfand oder was er empfunden hätte, wenn sie nur um Kleingeld spielen würden. Während er über den blanken Holztisch blickte, auf die übereinandergestapelten, noch ungeöffneten Spiele der rotblauen Karten, brannte eine Frage in seinen Gedanken: Werde ich gewinnen?
Die übrigen Spieler trafen ein. Keller grüßte mit einem Kopfnicken Frank Wendall, den Leiter der Buchhaltung bei Great Lakes Metal Works. Rundlich, nervös und beständig schwitzend, benahm sich Wendall immer, als würde jeden Moment eine Razzia drohen. Wendall war der Klugscheißer in Kellers Runde. Er steuerte Sätze zur Unterhaltung bei wie: »Wisst ihr, dass es insgesamt fünftausendeinhundertacht mögliche Flushs in einem Spiel mit zweiundfünfzig Karten gibt, aber nur achtundsiebzig mögliche Paare? Klingt merkwürdig, leuchtet aber ein, wenn man sich die Zahlen ansieht.« Und dann legte er fröhlich mit einem Vortrag über diese Zahlen los, der erst aufhörte, wenn ihm jemand befahl, den Mund zu halten.
Der untersetzte, laute, kettenrauchende Quentin Lasky, Besitzer einer Kette von Karosseriewerkstätten, war der am wenigsten gebildete, aber reichste Mann im Raum. Die Leute in Ellridge mussten besonders schlechte Autofahrer sein, denn in seinen Werkstätten herrschte immer Hochbetrieb. Lasky spielte rücksichtslos – und leichtsinnig – und gewann oder verlor in der Regel sehr hoch.
Der Letzte der Gruppe war das Gegenteil von Lasky. Der schlanke, grauhaarige Larry Stanton, Ende sechzig, war hier aufgewachsen, hatte sein ganzes Leben für einen Stahlproduzenten gearbeitet und war dann in Ruhestand gegangen. Er lebte nur einen Teil des Jahres in Ellridge. Die Winter verbrachte er in Florida. Als Witwer, der von einem festen Einkommen lebte, war er ein konservativer, vorsichtiger Spieler, der nie große Summen verlor oder gewann. Keller betrachtete den alten Knaben als eine Art Maskottchen seiner Runde.
Schließlich traf der Youngster ein. Bemüht, cool zu wirken, aber erkennbar aufgeregt, weil er bei einem ernsthaften Spiel mitmachen durfte, kam Tony herein. Er trug eine weite, ausgebeulte Hose, T-Shirt und Mütze und hatte einen Becher Kaffee in der Hand. Was für ein gottverdammter Teenager, dachte Keller und lachte für sich.
Man stellte einander vor. Keller bemerkte, dass Stanton beunruhigt aussah. »Ist schon okay. Ich habe ihn überprüft.«
»Na ja, es ist nur so, dass er ein bisschen jung ist, findest du nicht?«
»Vielleicht sind Sie ein bisschen alt«, gab der Junge zurück. Aber er lächelte gutmütig dazu, und das Stirnrunzeln auf Stantons Gesicht verschwand langsam.
Stanton hielt die Bank, er sammelte Geld von allen ein und teilte die Chips aus. Weiße waren ein Dollar, rote fünf, blaue zehn und gelbe zwanzig.
»Okay, Tony, pass auf. Ich erkläre dir im Verlauf des Spiels die Regeln. Jetzt...«
»Ich kenne die Regeln, unterbrach Tony. »Alles gemäß Hoyle.«
»Nein, alles gemäß mir«, sagte Keller und lachte. »Vergiss Hoyle. Der hat nie etwas von Poker gehört.«
»Was soll das heißen? Er hat die Regeln für alle Spiele geschrieben«, entgegnete Lasky.
»Nein, hat er nicht«, sagte Keller. »Das glauben die Leute nur. Aber Hoyle war nichts weiter als ein britischer Anwalt im 17. Jahrhundert. Er hat dieses Büchlein über drei dämliche Spiele geschrieben: Whist, Quadrille und Pikett. Sonst nichts, kein Kankakee, kein High-Low Chicago, kein Stud oder sonst eine Pokervariante. Und geh mal in ein Casinohotel in Vegas und frag nach einer Partie Whist... Die lachen sich scheckig.«
»Aber man sieht überall Bücher von Hoyle«, sagte Wendall.
»Einige Verleger haben die Idee am Leben erhalten und Poker und die ganzen modernen Spiele mit aufgenommen.«
»Das wusste ich nicht«, sagte Tony zerstreut. Er schob seine affige Brille höher und bemühte sich, interessiert auszusehen.
»Tut mir leid, wenn wir dich langweilen, Kleiner«, sagte Keller streng, »aber ich habe eine Neuigkeit für dich: Alles über das Spiel zu wissen, selbst jeden unbedeutenden Mist – das ist es, was beim Pokern die Männer von den Jungs unterscheidet.« Er musterte ihn sorgfältig. »Wenn du die Ohren spitzt, kann es gut sein, dass du noch was lernst.«
»Wie soll er etwas hören, selbst wenn er die Ohren spitzt?«, murmelte Lasky und blickte auf die Mütze des Jungen. »Bist du so’ne Art Rapper oder was? Nimm das Ding ab. Zeig ein bisschen Respekt.«
Tony ließ sich Zeit, ehe er die Mütze abnahm und auf die Theke warf. Er zog den Deckel von seinem Starbucks-Becher und trank einen Schluck Kaffee.
Keller betrachtete den unordentlichen Haufen Chips vor dem Jungen und sagte: »Ich weiß nicht, was dir Jimmy Logan über Poker erzählt hat und was du von Hoyle zu wissen glaubst, aber vergiss es. Wir wenden hier die Regeln für große Jungs an, und Regel Nummer eins lautet: Wir spielen fair. Bewahre deine Chips immer geordnet vor dir auf, sodass alle am Tisch wissen, wie viel du hast. Okay?«
»Klar.« Der Junge begann die Chips in saubere Stapel zu ordnen.
»Und«, sagte Wendall, »angenommen, ein Wunder passiert und du fängst an, groß zu gewinnen, und jemand sieht nicht genau, wie viele Chips du hast, und fragt dich – dann sagst du es. Auf den Dollar genau. Verstanden?«
»Ich sag es, alles klar.« Der Junge nickte.
Sie zogen, wer Geber im ersten Spiel war, und Wendall gewann. Er begann mit seinen feisten Fingern zu mischen.
Keller blickte voll Freude auf die durcheinanderwirbelnden Karten und dachte: Nichts auf der Welt ist wie Poker.
Das Spiel war fast zweihundert Jahre alt. Es begann als ein Spiel von Betrügern auf den Mississippi-Flussbooten und ersetzte ein Bauernfängerspiel namens Kümmelblättchen, das selbst die leichtgläubigsten Großstadtmenschen rasch als Trick durchschauten, mit dem ihnen das Geld aus der Tasche gezogen wurde. Poker, das damals nur mit den Karten von der Zehn bis zum Ass gespielt wurde, schien ihnen fairere Chancen zu bieten. Das war selbstverständlich nicht der Fall, nicht wenn sie gegen ausgebuffte Haie antraten (die armen Teufel hätten vielleicht nicht so bereitwillig gespielt, wenn sie gewusst hätten, dass der Name des Spiels wahrscheinlich von »poke« kam, im 19. Jahrhundert ein Slangwort für Geldbörse, welche zu leeren das wahre Ziel des Spiels war).
»Die Einsätze bitte«, rief Wendall. »Wir spielen Draw-Poker mit fünf Karten.«
Es gibt Dutzende Variationen von Poker. Doch bei Keller wurde Draw-Poker mit fünf Karten gespielt – Closed Poker oder Jackpot lauteten die offiziellen Bezeichnungen; das höhere Blatt gewann. Im Lauf der Jahre hatte er alle Arten von Poker gespielt, die es gibt – vom kalifornischen Lowball Draw (der beliebtesten Pokervariante westlich der Rockies) über das normale Stud Poker bis zu Texas Hold’Em. Jedes war auf seine Weise interessant und aufregend, aber Keller gefiel das schlichte Jackpot am besten, denn dabei gab es keinen Schnickschnack, keine geheimnisvollen Regeln, es hieß du gegen die Karten und die anderen Spieler, wie Boxen mit bloßen Fäusten, Mann gegen Mann.
Bei Jackpot erhält jeder Spieler fünf Karten und hat dann die Möglichkeit, bis zu drei auszutauschen, um sein Blatt aufzubessern. Gute Spieler wie Keller wussten längst auswendig, wie hoch die Chancen standen, bestimmte Kombinationen zu ziehen. Angenommen er hatte ein Paar Dreien, einen Buben, eine Sieben und eine Zwei. Falls er beschloss, das Paar und den Buben zu behalten und zwei neue für die beiden anderen zu ziehen, hatte er eine Chance von eins zu fünf, einen zweiten Buben und damit ein Blatt mit zwei Paaren zu bekommen. Die Aussicht, die restlichen beiden Dreien zu ziehen und somit vier Gleiche zu haben, lag dagegen bei eins zu tausendsechzig. Entschied er sich aber, nur das Paar zu behalten und drei neue Karten zu ziehen, verbesserte sich die Wahrscheinlichkeit für vier Gleiche auf eins zu dreihundertneunundfünfzig. Diese Zahlen und Dutzende andere zu kennen unterschied Amateurspieler von Profis, und Keller hatte ein sehr gutes Auskommen als Profi.
Sie warfen ihre Einsätze in die Mitte, und Wendall begann zu geben.
Keller konzentrierte sich auf Tonys Strategie. Er hatte damit gerechnet, der Junge würde leichtsinnig spielen, aber im Großen und Ganzen spielte er vorsichtig und schien erst einmal ein Gefühl für den Tisch und die Spieler zu entwickeln. Viele andere Teenager wären wahrscheinlich laut und unangenehm gewesen, dachte Keller, aber der Junge saß einfach nur ruhig da und spielte Karten.
Was nicht bedeutete, dass er keinen Rat mehr gebraucht hätte.
»Spiel nicht mit deinen Chips, Tony. Du wirkst nervös, wenn du das tust.«
»Ich habe nicht mit ihnen gespielt. Ich...«
»Und noch eine Regel: Streite dich nicht mit den Leuten, die dir die Regeln erklären. Du bist gut. Du hast es drauf, ein großer Spieler zu werden – aber du musst die Klappe halten und hören, was dir die Könner sagen.«
»Hör auf ihn, Junge«, knurrte Lasky. »Er ist der Beste. Ich schätze, ich hab ihm seinen verdammten Mercedes finanziert mit dem ganzen Geld, das ich hier verloren habe. Und bringt er ihn zu mir in die Werkstatt, um seine Schrammen ausbessern zu lassen? Von wegen... Ich will sehen.« Er schob Chips in die Mitte.
»Ich bin ein guter Fahrer, Lasky, ich kriege keine Schrammen. So wie ich auch ein guter Pokerspieler bin … Sag schön guten Tag zu den Ladys.« Keller legte drei Damen auf den Tisch und strich die neunhundert Dollar Jackpot ein.
»Scheiße«, entfuhr es Lasky.
»Und noch eine Regel«, sagte Keller und wies mit einem Kopfnicken auf den Werkstattbesitzer. »Zeig nie Gefühle – egal, ob du gewinnst oder verlierst. Dein Gegner erfährt dadurch etwas über dich, das er gegen dich verwenden kann.«
»Verzeihung, dass ich gegen die Regel verstoßen habe«, murmelte Lasky. »Ich meinte: verdammte Scheiße.«
Zwanzig Minuten später hatte Tony eine Reihe von Verlusten. Beim nächsten Blatt sah er sich seine fünf Karten an, und als Stanton zehn Dollar setzte, schüttelte er den Kopf. Er stieg aus, ohne neue Karten zu ziehen, und spielte mürrisch mit dem Deckel seines Starbucks-Bechers.
Keller runzelte die Stirn. »Wieso passt du?«
»Pechsträhne.«
Keller setzte eine finstere Miene auf. »Es gibt keine Pechsträhnen.«
Wendall nickte und schob Tony die Karten zu, damit er gab. »Denk immer dran«, sagte der lokale Pokerkönig. »Vor jedem Pokerblatt wird neu gemischt, es ist also nicht wie bei Blackjack – es gibt keine Verbindung zwischen den einzelnen Blättern. Es herrschen nur die Wahrscheinlichkeitsregeln.«
Der Junge nickte, und tatsächlich hielt er Stantons Bluff und strich einen Achthundertfünfzig-Dollar-Jackpot ein.
»Na also«, sagte Keller. »Gut für dich.«
»Und – gehst du noch zur Schule, Junge?«, fragte Lasky nach ein paar glanzlosen Spielen.
»Zwei Karten«, sagte der Junge zu Keller. Dann antwortete er Lasky: »Ich studiere seit einem Jahr Computerwissenschaft auf dem städtischen College. Aber es ist langweilig. Ich werde wohl aussteigen.«
»Computer?«, sagte Wendall und lachte höhnisch. »IT-AKTIEN? Dann lieber Würfeln oder Roulette. Da weiß man wenigstens, wie hoch die Gewinnchancen stehen.«
»Und womit willst du dir deinen Lebensunterhalt verdienen?«, fragte Keller.
»Als professioneller Kartenspieler.«
»Drei Karten«, murmelte Lasky an Keller gewandt. Dann lachte er rau. »Professioneller Kartenspieler? Das macht doch kein Mensch. Na ja, gut, Keller. Aber sonst niemand, den ich kenne.« Er warf Stanton einen Blick zu. »Wie sieht es mit dir aus, Opa? Hast du mal professionell gespielt?«
»Eigentlich heiß ich Larry. Zwei Karten.«
»Nichts für ungut, Larry.«
»Und zwei Karten für den Geber«, sagte Keller.
Der alte Mann ordnete sein Blatt. »Nein, daran hab ich nicht einmal gedacht.« Er wies mit einem Kopfnicken auf den Stapel Chips vor ihm – er stand etwa bei plusminus null. »Ich spiele nicht schlecht, aber die Chance zu verlieren ist auf jeden Fall größer als die zu gewinnen. Wenn es ernsthaft um Geld geht, dann sorge ich dafür, dass der Vorteil auf meiner Seite liegt.«
Lasky schnaubte verächtlich. »Aber genau das macht dich verdammt noch mal zum Mann. Dass du den Mumm hast, auch dann zu spielen, wenn die Chancen gegen dich stehen.« Ein Blick zu Tony. »Du siehst aus, als hättest du Mumm. Oder?«
»Sagen Sie es mir«, erwiderte Tony, legte zwei Paare auf den Tisch und kassierte elfhundert Dollar.
Lasky sah ihn an. »Du kleiner Scheißer.«
»Schätze, das heißt ja«, sagte Keller, und alle am Tisch lachten – alle außer Lasky.
Das Spiel ging mit einer Reihe stattlicher Jackpots weiter, wobei Lasky und Tony die großen Gewinner waren. Schließlich war Wendall pleite.
»Okay, das war’s. Ich bin draußen. Meine Herren... war mir ein Vergnügen.« Wie immer setzte er eine Baseballmütze auf und schlüpfte aus der Hintertür, sichtlich erleichtert, dass er wieder einmal nicht verhaftet worden war.
Kellers Handy läutete, und er meldete sich. »Ja?... Okay. Sie wissen, wo?... Dann bis gleich.« Dann legte er auf, zündete sich eine Zigarre an und lehnte sich zurück. Er überflog Tonys Chips. »Du hast gut gespielt. Aber jetzt ist es Zeit, dass du dein Geld einsteckst.«
»Was? Ich habe mich gerade warmgespielt. Es ist erst zehn.«
Keller wies auf sein Handy. »Unsere Schwergewichte werden in zwanzig Minuten hier sein. Du bist für heute Abend fertig.«
»Was soll das heißen? Ich will weiterspielen.«
»Das ist eine Nummer zu groß für dich. Das sind Leute, die ich aus Chicago kenne.«
»Ich spiele gut. Das haben Sie selbst gesagt.«
»Du verstehst nicht, Tony«, sagte Stanton und nickte in Richtung der Chips. »Die weißen erhöhen sich auf zehn Dollar, die gelben auf zweihundertfünfzig. Um solche Einsätze kannst du nicht spielen.«
»Ich habe...« Er überflog seine Chips. »... fast vierzigtausend.«
»Und die könntest du in drei, vier Spielen verlieren.«
»Ich werde sie nicht verlieren.«
»Oh, Bruder«, sagte Lasky und verdrehte die Augen. »Die Stimme der Jugend.«
»Bei diesen Spielen«, sagte Keller, »tritt jeder mit hunderttausend an.«
»Ich kann sie besorgen.«
»Um diese Uhrzeit?«
»Ich habe vor ein paar Jahren Geld geerbt. Einen großen Teil davon hebe ich in bar zum Spielen auf. Ich habe es zu Hause – nur ein paar Meilen von hier.«
»Nein«, sagte Stanton. »Das ist nichts für dich. Es ist ein völlig anderes Spiel, wenn es um so viel Geld geht.«
»Verdammt noch mal, ihr behandelt mich alle wie ein Kind. Ihr habt mich spielen sehen. Ich bin gut, oder?«
Keller schwieg. Er sah in die trotzigen Augen des Jungen und sagte schließlich: »Okay, du bist in einer halben Stunde mit hundert Riesen hier.«
Nachdem der Junge gegangen war, verkündete Keller eine Pause, bis die Abordnung aus Chicago eintraf. Lasky ging sich ein Sandwich holen, und Stanton und Keller schlenderten auf ein Bier in die eigentliche Bar.
Stanton nippte an seinem Newcastle und sagte: »Der Junge spielt ziemlich gut.«
»Er hat Potenzial«, sagte Keller.
»Und wie viel willst du ihm abnehmen? Seinen ganzen Einsatz, die ganzen hunderttausend plus?«
»Was soll das werden?«
»›Regel Nummer eins, wir spielen fair‹«, flüsterte Stanton sarkastisch. »Was zum Henker sollte das denn? Du legst ihn herein. Du hast die meiste Zeit nur beobachtet, wie er zieht – und die Hälfte von deinem Geld dabei draufgegeben.«
Keller lächelte und stieß den Rauch seiner Zigarre in Richtung Decke. Der Alte hatte Recht. Keller hatte mehr als einmal mit Verliererblättern dagegengehalten, nur um zu sehen, wie Tony Karten zog. Und die Aufklärungsarbeit war sehr erhellend gewesen. Der Junge hatte seine Stärken, aber die eine Sache, die ihm fehlte, war die Wahrscheinlichkeitsrechnung beim Poker. Er zog blind. Keller war kein Genie, aber er hatte im Lauf der Jahre hart daran gearbeitet, die Mathematik des Spiels zu erlernen. Tony dagegen mochte ein Computerguru sein, aber er hatte keine Ahnung, wie hoch seine Chance war, einen Flush oder ein Full House zu ziehen oder auch nur ein zweites Paar. Zusammen mit seinem grauenhaft schlechten Geschick im Bluffen, das Keller sofort bemerkt hatte, machte es den Kleinen zu einer leichten Beute.
»Du hast außerdem gemauert«, sagte Stanton angewidert.
Noch ein Punkt für Opa. Stanton hatte bemerkt, dass Keller mit guten Blättern absichtlich nicht geboten hatte – um Tonys Selbstbewusstsein zu stärken und ihn glauben zu machen, dass Keller ein lausiger Bluffer war.
»Du lockst ihn in die Falle, um ihn auf einen Schlag auszunehmen.«
Keller zuckte die Achseln. »Ich habe versucht, ihn zu überreden, dass er aufhört.«
»Quatsch«, entgegnete Stanton. »Sag einem Jungen wie ihm, er muss gehen, und was ist seine erste Reaktion? Er bleibt... Komm, Mann, du darfst ihn nicht so viel Geld verlieren lassen.«
»Er hat einen Haufen Geld geerbt.«
»Und sobald du das herausgefunden hattest, hast du ihn zum Spiel eingeladen.«
»Nein, er ist zu mir gekommen... Du bist nur sauer, weil er dich wie einen von gestern behandelt.«
»Du nutzt ihn aus.«
»Ich sag dir mal, wie meine wahre Regel Nummer eins beim Pokern lautet«, gab Keller zurück. »Solange du nicht betrügst, kannst du alles tun, um deine Gegner auszutricksen.«
»Hast du vor, Tony noch von dieser Regel zu erzählen?«
»Ich werde etwas Besseres tun – er bekommt aus erster Hand demonstriert, wie der Hase läuft. Er will Pokern lernen? Heute Abend, das wird die beste Lektion werden, die er je bekommt.«
»Du glaubst, er wird ein besserer Spieler, wenn du ihn brichst und ihm das Geld für seine Ausbildung abnimmst?«, fragte Stanton.
»Ja. Er will sowieso nicht mehr auf die Schule gehen.«
»Darum geht es nicht. Worum es geht, ist, dass du ein Könner bist, und er ist ein Kind.«
»Er behauptet, er ist ein Mann. Und zum Mannsein gehört, dass man auf die Nase fällt und daraus lernt.«
»Bei einem Spiel mit kleinen Einsätzen, sicher. Aber nicht bei einem solchen Spiel.«
»Hast du ein Problem damit, Opa?«, fragte Keller wütend und sah ihn an.
Stanton wandte den Blick ab und hob abwehrend die Hände. »Tu, was du willst. Es ist dein Spiel. Ich versuche nur, die Stimme des Gewissens zu sein.«
»Wenn du nach den Regeln spielst, wirst du immer ein reines Gewissen haben.«
Laskys Stimme rief vom Eingang: »Sie sind da.«
Keller schlug Stanton auf die knochige Schulter. »Komm, gehen wir ein bisschen Geld gewinnen.«
 
Noch mehr Zigarrenrauch erfüllte das Hinterzimmer. Die Quelle: Elliot Rothstein und Harry Piemonte, Geschäftsleute aus der Windy City. Keller hatte schon einige Male mit ihnen gespielt, wusste aber nicht viel über sie; die beiden Männer gaben so wenig über sich selbst preis wie ihre Mienen über die Karten in ihrer Hand. Sie hätten Mafiabosse sein können oder Leiter einer karitativen Organisation, die sich um Waisen kümmert. Keller wusste nur, dass sie solide Spieler waren, ihre Verluste ohne Gezeter zahlten und gewannen, ohne sich gegenüber den Verlierern aufzuspielen.
Beide Männer trugen dunkle Anzüge und teure, maßgeschneiderte weiße Hemden. Rothstein hatte einen Diamantring am kleinen Finger, und Piemonte trug ein schweres goldenes Armkettchen. Am linken Ringfinger steckte bei beiden ein Ehering. Sie legten ihre Sakkos ab, setzten sich an den Tisch und plauderten mit Stanton und Lasky, als Tony zurückkam. Er setzte sich auf seinen Platz, machte den Deckel seines neuen Starbucks-Bechers ab und nickte Rothstein und Piemonte zu.
Die beiden runzelten die Stirn und sahen Keller an. »Wer ist das?«, murmelte Rothstein.
»Er ist in Ordnung.«
Piemonte furchte die Stirn. »Wir haben eine Regel. Wir spielen nicht mit Kindern.«
Tony lachte und schob seine Streberbrille hoch auf die Nase. »Ihr mit euren Regeln.« Er öffnete ein Kuvert und schüttelte Geld heraus. Dann zählte er einen hohen Stapel ab und steckte einiges wieder in die Tasche. »Hunderttausend«, sagte er zu Stanton, der Keller einen finsteren Blick zuwarf, aber anfing, Chips für den Jungen auszugeben.
Die beiden neuen Spieler sahen einander an und beschlossen lautlos, eine Ausnahme von ihrer Regel betreffend Jugendliche in Pokerspielen zu machen.
»Okay, das Spiel ist normales Poker mit fünf Karten«, sagte Keller. »Grundeinsatz fünfundzwanzig, erhöhen um mindestens fünfzig.«
Piemonte wurde als Geber ermittelt, und sie fingen an.
Die Spiele verliefen zunächst ziemlich ausgeglichen, dann zog Keller langsam davon. Tony hielt sich über Wasser, er verbuchte den zweithöchsten Gewinn – aber nur, weil die anderen Spieler schlechte Blätter erhielten, wie es schien; der Junge war immer noch ein hoffnungsloser Fall, wenn es darum ging, die Chancen beim Ziehen zu berechnen. Ein halbes Dutzend Mal hatte er eine einzige Karte gezogen und dann gepasst – was hieß, dass er auf eine Straße oder einen Flush aus war, wofür die Wahrscheinlichkeit bei eins zu zwanzig lag. Er hätte entweder drei Karten ablegen sollen, womit er eine gute Chance gehabt hätte, sein Blatt zu verbessern, oder, nachdem er eine Karte gezogen hatte, schwer bluffen müssen; in diesem Fall hätte er den Pot wahrscheinlich ein paar Mal eingestrichen.
Überzeugt, die Spielweise des Jungen durchschaut zu haben, begann Keller nun absichtlich zu verlieren, wenn Tony gute Karten zu haben schien – um dessen Selbstvertrauen zu steigern. Bald hatte der Junge sein Geld verdoppelt und an die zweihunderttausend Dollar vor sich liegen.
Larry Stanton schien über Kellers Plan, den Jungen auszunehmen, nicht glücklich zu sein, sagte aber nichts und spielte weiter seine vorsichtigen Großvaterspiele, bei denen er langsam und beständig an die anderen verlor.
Die Stimme des Gewissens...
Die Nacht schritt voran, und Lasky stieg aus, nachdem er an die achtzigtausend verloren hatte. »Verdammt, ich glaub, ich muss die Preise für Beulenziehen erhöhen«, scherzte er und ging zur Tür. Er sah das Duo aus Chicago an. »Könnten die Herren auf dem Weg zum Highway vielleicht ein paar geparkte Autos rammen?« Er nickte in Richtung Keller. »Und wenn Sie die Front von seinem Mercedes komplett demolieren, hätte ich nichts dagegen.«
Piemonte lächelte darüber; Rothstein blickte auf und sah den Werkstattbesitzer an, als würde der Mann Japanisch oder Kisuaheli sprechen, dann wandte er sich wieder seinen Karten zu und versuchte, ihnen ein Gewinnerblatt zu entlocken.
Opa Stanton stieg ebenfalls bald aus. Er hatte immer noch Chips vor sich auf dem Tisch liegen, aber eine weitere Regel beim Poker besagte, dass ein Spieler jederzeit aufhören darf. Stanton tauschte die Chips nun gegen Geld ein und schob mit mürrischem Blick seinen Stuhl zurück, um Kaffee zu trinken und den verbliebenen Spielern zuzusehen.
Zehn Minuten später verlor Rothstein seinen noch übrigen Einsatz in einer spannenden, langen Bieterrunde an Tony.
»Verdammt«, entfuhr es ihm. »Pleite. Ich habe noch nie gegen einen Jungen verloren – nicht so.«
Tony verzog keine Miene, aber der wissende Blick in seinen Augen sagte: Und das hast du auch jetzt nicht – ich bin kein Junge mehr.
Das Spiel ging noch eine halbe Stunde weiter, wobei große Jackpots den Besitzer wechselten.
Die meisten Pokerabende enden nicht mit einem dramatischen letzten Spiel. Normalerweise geht den Spielern einfach das Geld aus, oder sie bekommen wie Opa kalte Füße und schleichen mit eingekniffenem Schwanz vom Tisch.
Aber manchmal kommt es tatsächlich zu dramatischen Höhepunkten.
So wie an diesem Abend.
Tony mischte und schob Keller den Kartenstapel zu, der zweimal abhob. Der Junge fasste die Karten wieder zusammen und begann zu geben.
Piemonte nahm seine auf und bewegte sie wie alle guten Pokerspieler nicht (durch Ordnen der Karten kann man eine Menge über sein Blatt verraten).
Keller hob sein Blatt auf und war erfreut über das, was er bekommen hatte: zwei Paare – Damen und Sechsen. Damit ließ sich in einem Spiel dieser Größenordnung sehr gut gewinnen.
Tony nahm seine fünf Karten und prüfte sie, ohne eine Reaktion zu zeigen. »Bieten Sie?«, fragte er Piemonte, der passte.
Um das Bieten zu eröffnen, muss ein Spieler bei dieser Pokervariante ein Paar Buben oder mehr haben. Piemontes Passen bedeutete, dass er entweder kein so gutes Blatt hatte oder aber mauerte – sich also entschied, nicht zu bieten, damit die anderen Spieler glaubten, er habe ein schwaches Blatt.
Keller beschloss, ein Risiko einzugehen. Obwohl er die beiden Paare hatte und das Bieten eröffnen konnte, passte er ebenfalls, was Tony zu der Annahme führen würde, dass sein Blatt nichts taugte.
Ein kniffliger Moment folgte. Wenn Tony nicht bot, würden sie die Karten zusammenwerfen und ein neues Spiel beginnen; Keller hätte dann ein solides Blatt verschenkt.
Doch Tony warf einen Blick auf seine Karten und bot zehntausend.
Kellers Blick flackerte besorgt, wie es ein Bluffer tun würde, aber in seinem Herzen frohlockte er. Die Angel war ausgelegt.
»Ich gehe mit«, sagte Piemonte und schob seine Chips in die Mitte.
Der Mann aus Chicago hatte also wahrscheinlich ebenfalls gemauert, dachte Keller.
Mit ausdrucksloser Miene schob er die zehntausend in den Pott und dann noch einen Stapel Chips. »Ich gehe eure zehn mit und erhöhe um fünfundzwanzig.«
Tony sah das neue Gebot und erhöhte wieder. Piemonte zögerte, blieb aber im Spiel, und Keller ging bei Tonys neuem Gebot mit. Als Geber »brannte« Tony nun die oberste Karte im Stoß – er legte sie verdeckt vor sich hin. Dann wandte er sich an Piemonte. »Wie viele?«
»Zwei.«
Tony schob ihm die zwei neuen Karten vom Stoß über den Tisch.
Keller kalkulierte im Kopf automatisch die Möglichkeiten durch. Die Chance, drei Gleiche beim anfänglichen Geben zu erhalten, war sehr gering, Piemonte hatte also wahrscheinlich ein Paar und einen »Kicker«, eine hohe Karte, die zu nichts passte, vermutlich ein Bild. Die Chance, dass er mit seinen beiden neuen Karten zu einem mächtigen Full House kam, stand nur bei eins zu hundertneunzehn. Und falls er zufällig tatsächlich drei Gleiche am Anfang bekommen hatte, war seine Aussicht auf ein Paar, welches das Blatt zu einem Full House komplettierte, immer noch nicht sehr hoch: eins zu fünfzehn.
Nachdem er diese Information abgespeichert hatte, bat Keller für sich selbst um eine Karte, womit er den anderen Spielern zu verstehen gab, dass er auf ein Full House, eine Straße oder einen Flush aus war – oder dass er bluffte. Er nahm die Karte auf und steckte sie in seine Hand. Kellers Miene blieb reglos, aber sein Herz machte einen Freudensprung, als er sah, dass er ein Full House bekommen hatte, und ein gutes noch dazu mit drei Damen.
Tony selbst nahm drei Karten.
Okay, sagte sich Keller, rechnen wir es durch. Indem er drei Karten nahm, signalisierte der Junge, dass er nur ein Paar gehabt hatte. Um Keller zu überbieten, musste er also auf ein Straight Flush, vier Gleiche oder ein Full House mit Königen oder Assen kommen. Wie ein Computer rechnete Keller im Kopf die jeweilige Wahrscheinlichkeit durch, dass dies zutraf.
Und nachdem auf der Grundlage, was der Junge und Piemonte gezogen hatten, alles berechnet war, kam Keller zu dem Schluss, dass er wahrscheinlich das Siegerblatt am Tisch hatte. Von nun an bestand sein Ziel darin, den Pott in die Höhe zu treiben.
Der Junge schob sich die Brille wieder auf die Nase und sah Piemonte an. »Sie bieten.«
Der Spieler aus Chicago seufzte vorsichtig und schob einige Chips in die Mitte. »Zwanzigtausend.«
Keller war bei einigen der großen Spiele im Land dabei gewesen – sowohl als Spieler als auch als Beobachter – und er hatte Hunderte von Stunden damit verbracht, das Verhalten von Bluffern zu studieren. Die kleinen Dinge, die sie taten – Manierismen, Blicke, wann sie zögerten und wann sie sich aufplusterten, was sie sagten, wann sie lachten. Jetzt bot er alle diese Erinnerungen auf und begann mit einem Schauspiel, das die anderen Spieler glauben machen sollte, dass er ein mieses Blatt hatte und es mit einem Bluff versuchte. Was bedeutete, er fing an, hoch zu bieten.
Nach zwei Runden stieg Piemonte schließlich aus – widerwillig, denn er hatte bereits an die sechzigtausend Dollar gesetzt, und sein Blatt war vermutlich ganz anständig. Aber er war überzeugt, dass Tony oder Keller ein großartiges Blatt hatte, und wollte seine Verluste nicht ins Uferlose steigen lassen.
Erneut war Keller an der Reihe, zu bieten. »Deine zwanzig«, sagte er zu Tony, »und noch mal zwanzig.«
»Himmel«, murmelte Stanton. Keller warf ihm einen finsteren Blick zu, und der Alte verstummte.
Tony seufzte und blickte erneut in seine Karten, als könnten sie ihm sagen, was er tun sollte. Aber das konnten sie natürlich nicht. Die Antwort darauf, wie man ein Pokerspiel gewinnt, findet man nur im eigenen Herzen und im eigenen Verstand.
Der Junge hatte nur noch fünfzehntausend Dollar auf dem Tisch liegen. Er griff in seine Tasche und holte das Kuvert hervor. Ein Zögern. Dann entnahm er ihm den Rest seines Geldes. Er zählte es, es waren achtunddreißigtausend. Ein weiteres Zögern, ein nachdenklicher Blick auf das Geld.
Tu es, betete Keller lautlos. Bitte …
»Chips«, sagte der Junge schließlich, den Blick fest auf Keller gerichtet, der ihn sowohl trotzig als auch nervös erwiderte – ein Bluffer, der kurz davorstand, seine Karten auf den Tisch legen zu müssen.
Stanton zögerte.
»Chips«, wiederholte der Junge mit Nachdruck.
Der alte Mann gehorchte widerstrebend.
Tony holte tief Luft und schob die Chips auf den Tisch. »Ihre zwanzig und erhöhe um zehn.«
Keller schob zehntausend vor – ein bisschen dramatisch, wie er selbstkritisch fand – und sagte: »Die zehn.« Er schaute auf alles, was er noch hatte. »Und erhöhe um fünfzehn.« Der Rest seiner Chips wanderte in die Mitte.
»Großer Gott«, sagte Piemonte.
Selbst der barsche Rothstein schaute wie hypnotisiert auf den gewaltigen Jackpot, in dem etwa vierhundertfünfzigtausend Dollar lagen.
Für einen kurzen Moment hatte Keller tatsächlich ein wenig Gewissensbisse. Er hatte seinen Gegner mit Psychologie in die Falle gelockt, seine Chancen bis auf eine Stelle hinterm Komma ausgerechnet – kurz, Dinge getan, zu denen der Jungspund nicht fähig war. Trotzdem, der Junge behauptete, er wolle wie ein Mann behandelt werden. Er hatte sich das selbst zuzuschreiben.
»Will sehen«, flüsterte Tony und schob den größeren Teil seiner Chips in die Mitte.
Stanton wandte den Blick ab, als wollte er einen schweren Verkehrsunfall nicht mit ansehen.
»Full House mit Damen«, sagte Keller und drehte seine Karten um.
»Schau dir das an«, flüsterte Piemonte.
Stanton seufzte angewidert.
»Tut mir leid, Junge«, sagte Keller und streckte die Hand nach dem Pott aus. »Sieht aus, als hättest du...«
Tony legte sein Blatt offen auf den Tisch – ein Full House, aber mit drei Königen und einem Paar Sechsen. »Sieht aus, als hätte ich gewonnen«, sagte er ruhig und strich die Chips ein.
»Mann«, flüsterte Piemonte, »was für ein Spiel... Nur gut, dass ich so früh ausgestiegen bin.«
Stanton stieß ein kurzes, bellendes Lachen aus, und Rothstein sagte zu Tony: »Das war ausgezeichnet gespielt.«
»Reines Glück«, sagte der Junge.
Wie um alles in der Welt konnte das geschehen?, fragte sich Keller und ging hektisch jeden Moment des Spiels noch einmal durch. Natürlich spielte einem das Schicksal manchmal einen Streich, egal wie gut man alle Chancen berechnete. Trotzdem, er hatte doch alles so perfekt geplant.
»Zeit, Schluss zu machen«, sagte Piemonte, gab Stanton seine restlichen Chips, damit dieser sie zurückwechselte, und fügte humorvoll hinzu: »Nachdem ich gerade den größten Teil meines Geldes einem Teenager vermacht habe.« Er sah Rothstein an. »Von nun an halten wir uns an diese Regel über Kids, okay?«
Keller lehnte sich zurück und beobachtete, wie Tony anfing, die Chips auf den Haufen zu stapeln. Aber die Wahrscheinlichkeit, dachte er ständig... Er hatte sie so sorgfältig berechnet. Mindestens hundert zu eins. Poker ist Mathematik und Instinkt – wie konnte ihn beides so völlig im Stich lassen?
Tony schob Stanton die Chips zu, damit er ihn ausbezahlte.
Das Pfeifen eines Zugs drang wieder in den Raum. Keller seufzte und dachte, dass es diesmal einen Verlust signalisierte – genau das Gegenteil dessen, was das drängende Heulen bei dem Spiel mit den Franzosen bedeutet hatte.
Der klagende Ton wurde lauter. Nur... als sich Keller darauf konzentrierte, erkannte er, dass es diesmal anders klang. Er sah zu dem Alten und den beiden Spielern aus Chicago. Sie runzelten die Stirn, sahen einander an.
Wieso? Stimmte etwas nicht?
Tony erstarrte, die Hand auf den Stapeln mit den Chips.
Verdammt, dachte Keller. Das war kein Zug, das war eine Sirene.
Keller stieß sich vom Tisch ab, und im selben Moment wurden die Tür zur Bar und der Hinterausgang gleichzeitig aufgetreten, sodass Holzsplitter durch den Raum flogen. Zwei uniformierte Polizisten drängten mit gezogener Waffe herein. »Auf den Boden, sofort! Sofort!«
»Nein«, murmelte Tony, stand auf und drehte sich zu dem Polizisten um, der ihm am nächsten war.
»Junge«, murmelte Keller streng und hob die Hände. »Keine Dummheiten. Tu, was sie sagen.«
Der Junge zögerte, sah auf die schwarzen Pistolen und legte sich auf den Boden.
Stanton ging langsam in die Knie.
»Ein bisschen dalli, Alter«, murmelte einer der Polizisten.
»Ich tu ja, was ich kann.«
Nachdem die Spieler schließlich alle auf dem Bauch lagen, legten ihnen die Polizisten Handschellen an und brachten sie anschließend in eine sitzende Position.
»Na, wen haben wir denn heute erwischt?«, fragte eine Stimme von der Gasse her, und ein Mann Ende fünfzig mit schütterem Haar und in einem grauen Anzug betrat den Raum.
Detective Fanelli, stellte Keller fest. Verdammt, nicht ausgerechnet der! Der Mann säuberte seit Jahren mit jesusmäßiger Begeisterung das sündige Ellridge von seinen Lastern. Er schüchterte viele der kleinen Spieler derart ein, dass sie erst gar keine Spiele organisierten, und schaffte es, ein, zwei von den großen pro Jahr zu sprengen. Wie es aussah, war Keller diesmal dran.
Stanton seufzte resigniert, sein Gesichtsausdruck entsprach dem der Profispieler aus Chicago. Dem Jungen dagegen stand das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Keller wusste, es war nicht wegen der Verhaftung; es war, weil der Staat Spielgewinne konfiszierte.
Fanelli prüfte mit zusammengekniffenen Augen die Führerscheine von Rothstein und Piemonte. »Die weite Fahrt von Chicago gemacht, nur um sich verhaften zu lassen. Das tut echt weh, was, Jungs?«
»Ich habe nur zugesehen«, protestierte Rothstein. Er wies mit einem Kopfnicken auf seinen Platz am Tisch. »Kein Geld, keine Chips.«
»Das bedeutet nur, dass Sie ein Loser sind.« Der Detective sah nun Piemonte an.
»Ich möchte einen Anwalt sprechen«, sagte der Mann kleinlaut.
»Und bestimmt möchte ein Anwalt Sie sprechen, angesichts des saftigen Honorars, das er für den Versuch kassieren wird, Ihren Arsch zu retten. Was ihm, nebenbei bemerkt, nicht gelingen wird... Ah, Keller.« Er schüttelte den Kopf. »Das ist ja wirklich zu reizend. Hinter Ihnen bin ich schon lange her. Sie sollten wirklich nach Vegas ziehen. Ich weiß nicht, ob Sie die Nachrichten groß verfolgen, aber meines Wissens soll Glücksspiel dort legal sein... Und wer ist das hier?« Er sah Stanton an, ließ sich von einem uniformierten Beamten die Brieftasche des Alten geben und betrachtete den Führerschein. »Was zum Teufel tun Sie in Ellridge, wenn Sie in Tampa mit den Damen Mah-Jongg spielen könnten?«
»Ich kann mir die Einsätze da unten nicht leisten.«
»Der alte Knabe ist ein ganz Schlauer«, murmelte der dürre Detective an die anderen Beamten gerichtet. Dann musterte er Tony von Kopf bis Fuß. »Und wer bist du?«
»Ich muss Ihnen nichts sagen.«
»Doch, das musst du. Wir sind hier nicht bei der Armee. Dieser Quatsch mit Name, Rang und Seriennummer, das reicht bei mir nicht. Wie alt bist du?«
»Achtzehn. Und ich möchte ebenfalls einen Anwalt.«
»Ich möchte ebenfalls einen Anwalt«, äffte ihn Fanelli nach. »Du kriegst aber erst einen, wenn dir etwas zur Last gelegt wird. Und noch lege ich dir nichts zur Last.«
»Wer hat mich hingehängt?«, fragte Keller.
»Wäre unhöflich, seinen Namen zu verraten«, erwiderte Fanelli. »Sagen wir einfach, Sie haben letztes Jahr dem Falschen die Taschen geleert. Er war nicht allzu glücklich darüber und hat mich angerufen.«
Keller verzog das Gesicht. Letztes Jahr dem Falschen die Taschen geleert... Tja, damit kamen so an die hundert Leute in Frage.
Fanelli blickte auf die Stapel von Chips hinunter, die dort lagen, wo Tonys Platz gewesen war. »Hübsche Farben, rot, blau, grün. Was sind sie wert?«
»Die weißen sind zehn Streichhölzer wert«, sagte Rothstein, »die blauen...«
»Halt’s Maul.« Fanelli schaute sich im Raum um. »Wo ist die Bank?«
Niemand sagte etwas.
»Tja, wisst ihr, wir werden sie auf jeden Fall finden. Nur, ich werde nicht hier drin zu suchen anfangen, sondern draußen in Sal’s Bar, und ich werde sie vollkommen auseinandernehmen. Dann machen wir das Gleiche mit seinem Büro. Wir zerlegen jedes Möbelstück, leeren sämtliche Schubladen auf den Boden... Jetzt kommt schon, Leute, das hat Sal nicht verdient, oder?«
Keller seufzte und nickte Stanton zu, der seinerseits mit einem Kopfnicken auf das Schränkchen über der Kaffeemaschine wies. Ein Beamter holte zwei Zigarrenkisten heraus.
»Heilige Mutter Gottes«, sagte Fanelli und blätterte das Geld durch. »Das muss ja fast eine halbe Million sein.«
Er warf einen Blick auf den Tisch. »Das sind deine Chips, was?«, sagte er zu Tony. Der Junge antwortete nicht, aber das schien Fanelli gar nicht zu erwarten. Er lachte und sah die anderen Spieler an. »Und ihr nennt euch Männer – lasst euch von einem halben Kind beim Pokern den Arsch versohlen.«
»Ich bin kein Kind.«
»Ja, ja, ja.« Der Detective wandte sich wieder den Zigarrenkisten zu. Dann trat er zu den beiden uniformierten Beamten. Sie hielten eine kurze Besprechung im Flüsterton ab, schließlich nickten die beiden und verließen den Raum.
»Meine Jungs müssen ein paar Dinge überprüfen«, sagte Fanelli. »Ein paar Zeugenaussagen erhärten oder so etwas. Das ist ein tolles Wort, ›erhärten‹, oder?« Er lachte. »Ich liebe es, das zu sagen.« Er lief im Raum auf und ab, hielt an der Kaffeekanne und goss sich eine Tasse ein. »Warum zum Teufel wird bei Spielen um hohen Einsatz nie Alkohol getrunken? Habt ihr Angst, eine Dame mit einem Buben zu verwechseln?«
»Genau das«, sagte Keller.
Der Beamte schlürfte seinen Kaffee und sagte leise: »Hört zu, ihr Arschlöcher. Vor allem du, Kleiner.« Er zeigte auf Tony und begann wieder auf und ab zu laufen. »Die Geschichte hier fällt in eine... na ja, sagen wir, schwierige Zeit für mich. Wir sind mit ernsthaften Verbrechen befasst, die sich zufällig gerade in anderen Teilen der Stadt ereignen.«
Ernsthafte Verbrechen, dachte Keller. So reden Polizisten nicht. Worauf um alles in der Welt will er hinaus?
Ein Lächeln. »Folgender Vorschlag. Ich will keine Zeit damit vergeuden, euch auf der Stelle festzunehmen. Es würde mich von meinen anderen Fällen abhalten, versteht ihr? Nun, das Geld habt ihr so oder so verloren. Wenn ich euch einbuchte, wird das Geld als Beweismittel beschlagnahmt, und wenn ihr verurteilt werdet – und das werdet ihr -, geht jeder Cent an den Staat. Falls es jedoch... ich sage nur falls, es gar kein Beweismittel gäbe, tja, dann müsste ich euch mit einer Verwarnung davonkommen lassen. Aber das wäre in Ordnung für mich, weil ich mich den anderen Fällen widmen könnte. Den wichtigen.«
»Die im Augenblick gerade erhärtet werden?«, fragte Tony.
»Halt’s Maul, du Null«, murmelte der Detective und sprach damit exakt aus, was Keller dachte.
»Also, was meint ihr?«
Die Männer sahen einander an.
»Es liegt an euch«, sagte der Polizist. »Wie entscheidet ihr euch?«
Keller überflog die Mienen der anderen Spieler. Er sah Tony an, der das Gesicht verzog, und nickte. »Wir kommen Ihnen gern entgegen, Fanelli«, sagte er zu dem Detective. »Wir wollen unseren Beitrag leisten, damit ein paar – wie sagten Sie – ernsthafte Verbrechen aufgeklärt werden können.«
»Ellridge soll so sauber bleiben, wie es ist«, murmelte Stanton.
»Und die Bürger danken Ihnen für Ihre Bemühungen«, sagte Detective Fanelli und stopfte das Geld in seine Anzugtaschen.
Dann sperrte er ihre Handschellen auf, steckte sie ebenfalls ein und verließ den Raum ohne ein weiteres Wort durch den Hintereingang.
Die Spieler tauschten erleichterte Blicke – bis auf Tony natürlich, in dessen Gesicht das nackte Entsetzen geschrieben stand. Immerhin war er der große Verlierer bei der ganzen Sache.
Keller schüttelte ihm die Hand. »Du hast gut gespielt heute Abend, Junge. Tut mir ehrlich leid für dich.«
Der Junge nickte, winkte den anderen kraftlos zu und ging auf die Gasse hinaus.
Die Spieler aus Chicago schnatterten noch ein paar Minuten aufgeregt, dann verabschiedeten sie sich ebenfalls. Stanton fragte Keller, ob er noch ein Bier wolle, aber der Spieler schüttelte den Kopf, und der Alte ging allein in die Bar. Keller setzte sich an den Tisch, nahm geistesabwesend einen Satz Karten zur Hand, mischte und begann für sich allein zu spielen. Der Schock über die Razzia war praktisch verflogen; was ihm zu schaffen machte, war, dass er gegen den Jungen verloren hatte, der ganz okay spielte, aber keinesfalls sehr gut.
Doch nach ein paar Minuten Spiel besserte sich seine Stimmung, und er erinnerte sich an eine andere seiner Hausregeln: Auf lange Sicht gewinnt immer Verstand gegen Glück.
Der Junge hatte dieses eine Mal eben Glück gehabt. Aber es würde neue Spiele geben, neue Gelegenheiten, der Wahrscheinlichkeit zu ihrem Recht zu verhelfen und Tony oder andere wie ihn um ihre Geldnotenbündel zu erleichtern.
Anmaßende Jugendliche, die man ausnehmen kann, wird es immer geben, dachte Keller und legte die schwarze Zehn auf den Herzbuben.
 
Tony Stigler stand auf der Brücke über den Gleisen, sah einen Zug in die Nacht verschwinden und versuchte, nicht an das Geld zu denken, das er gerade gewonnen hatte – und das ihm dann gestohlen wurde.
Fast eine halbe Million.
Papiere und Staub wirbelten im Gleisbett hinter dem Zug auf. Tony beobachtete es geistesabwesend und wiederholte in Gedanken etwas, das Keller gesagt hatte.
Alles über das Spiel zu wissen, selbst jeden unbedeutenden Mist – das ist es, was beim Pokern die Männer von den Jungs unterscheidet.
Aber das stimmt nicht, dachte Tony. Man muss nur eins wissen: Egal, wie gut du bist, Poker wird immer ein Glücksspiel bleiben.
Und das ist nicht so gut wie eine sichere Sache.
Er vergewisserte sich, dass er allein war, dann griff er in die Tasche und holte den Deckel des Starbucks-Bechers hervor. Er entfernte die falsche Plastikscheibe auf der Unterseite und drückte auf einen winzigen Schalter. Dann verpackte er ihn sorgfältig in einen gepolsterten Umschlag und steckte ihn wieder in seine Tasche. Das Ding war seine eigene Erfindung. Eine Minikamera im Trinkloch des Deckels hatte jede Karte erfasst, wenn Tony gegeben hatte, und der winzige Rechner hatte Farbe und Zahl an den Computer in Tonys Wagen geschickt. Er musste nur den Deckel an einer bestimmten Stelle antippen, um dem Computer zu sagen, wie viele Personen am Spiel beteiligt waren, und das Programm, das er geschrieben hatte, kannte das Blatt aller Mitspieler. Es entschied, wie viele Karten er ziehen musste, und ob er in den einzelnen Runden bieten oder passen sollte. Der Computer übermittelte seine Anweisungen dann an den Bügel seiner Brille, der nach einem bestimmten Code vibrierte, und Tony agierte entsprechend.
»Betrügen idiotensicher« nannte er das Programm.
Ein perfekter Plan, perfekt ausgeführt – das Einzige, woran er nicht gedacht hatte, war, dass die verdammte Polizei seinen Gewinn stehlen würde.
Tony sah auf die Uhr. Beinahe ein Uhr morgens. Er hatte es nicht eilig, nach Hause zu fahren; sein Onkel war auf einer seiner Geschäftsreisen. Was sollte er tun? Marconi Pizza hatte noch geöffnet, und er beschloss, vorbeizuschauen und seinen Kumpel zu besuchen, der ihm den Tipp mit Kellers Spiel gegeben hatte. Ein Stück Pizza essen und eine Cola trinken.
Hinter ihm knirschten Schritte, und als er sich umdrehte, sah er Larry Stanton steifbeinig die Gasse entlangkommen; er war auf dem Weg zur Bushaltestelle.
»Hallo«, rief der Alte, als er ihn bemerkte, und ging zu ihm hin. »Leckst du deine Wunden? Oder überlegst du, ob du springen sollst?« Er nickte in Richtung der Bahngleise.
Tony lachte säuerlich. »Unglaublich, was? Wirklich verdammtes Pech.«
»Ach, Razzien gehören zum Spiel, wenn man illegal spielt«, sagte Stanton. »Du musst sie mit einkalkulieren.«
»Eine halbe Million?«, murmelte Tony.
»Sicher, das tut weh«, sagte Stanton und nickte. »Aber besser als ein Jahr im Knast.«
»Ja, das schon.«
Der alte Mann gähnte. »Ich geh mal besser heim und packe. Ich fliege morgen nach Florida zurück. Wozu den Winter in Ellridge verbringen, wenn es nicht sein muss?«
»Haben Sie noch etwas übrig?«, fragte Tony.
»Geld?... Ein bisschen.« Ein spöttischer Blick. »Aber sehr viel weniger als zuvor, dank dir und Keller.«
»Warten Sie.« Der Junge holte seine Brieftasche hervor und gab dem Mann hundert Dollar.
»Ich nehme keine Almosen.«
»Nennen Sie es ein Darlehen.«
Stanton überlegte einen Moment. Dann nahm er den Schein mit verlegener Miene und steckte ihn ein.
»Danke … Ich gehe jetzt lieber. Bald fahren keine Busse mehr. War nett, mit dir zu spielen, mein Sohn. Du hast Potenzial. Wirst es weit bringen.«
Ja, dachte der Junge, allerdings werde ich es weit bringen. Die Cleveren, die Innovativen, die Jungen... letzten Endes schlagen wir Leute wie dich und Keller immer. So ist das Leben. Er sah den Opa davonhumpeln, ein alter, gebrochener Mann. Mitleid erregend, dachte der Junge. Bevor ich so werde, erschieße ich mich.
Tony setzte seine Mütze auf, trat vom Geländer zurück und ging zu seinem Wagen. Unterwegs überlegte er bereits, wen er sich als Nächstes vornehmen sollte.
 
Zwanzig Minuten später hielt der Stadtbus am Bordstein, und Larry Stanton stieg aus.
Er ging die Straße entlang, bis er an eine dunkle Kreuzung kam, das gelbe Warnlicht blinkte für den Verkehr auf der Hauptstraße, das rote für den auf der Querstraße. Er bog um die Ecke und blieb stehen. Vor ihm stand ein dunkelblauer Crown Victoria. Auf dem Kofferraum stand Police Interceptor.
Und an dem Kofferraum lehnte die schlanke Gestalt von Detective George Fanelli.
Der Polizist stieß sich von dem Wagen ab und ging Stanton entgegen. Die beiden anderen Beamten von der Razzia am Abend standen in der Nähe. Sowohl Stanton als auch Fanelli blickten sich um und schüttelten einander dann die Hände. Der Detective holte ein Kuvert aus der Tasche und gab es Stanton. »Deine Hälfte – zweihundertzweiundzwanzigtausend.«
Stanton machte sich nicht die Mühe, nachzuzählen. Er steckte das Geld weg.
»Heute hat sich’s gelohnt«, sagte der Polizist.
»Allerdings«, stimmte ihm Stanton zu.
Die beiden zogen diese Masche einmal in jedem Jahr ab, wenn Stanton von Florida heraufkam. Stanton erschlich sich das Vertrauen eines Spielers, verlor in einer Reihe privater Spiele einiges Geld und gab dann an einem Abend mit hohen Einsätzen den Polizisten rechtzeitig einen Tipp. Fanelli schob die Schuld an der Razzia einem namenlosen Verräter zu, steckte die Bank als Schmiergeld ein und ließ alle laufen. Pokerspieler waren immer so froh, nicht ins Gefängnis zu müssen und weiterspielen zu können, dass es nie Beschwerden gab.
Was Stanton anging, hatte ihm ein solcher Schwindel immer besser gelegen als Spielen.
Ich spiele nicht schlecht, aber die Chance zu verlieren ist auf jeden Fall größer als die, zu gewinnen. Wenn es ernsthaft um Geld geht, dann sorge ich dafür, dass der Vorteil auf meiner Seite liegt.
»Hey, Larry«, rief einer der uniformierten Beamten Stanton zu. »War nicht bös gemeint vorhin, als ich dir die Manschetten angelegt habe. Ich dachte nur, es wirkt irgendwie realistischer.«
»Hast du genau richtig gemacht, Moscawitz. Du bist ein geborener Schauspieler.«
Stanton und der Detective gingen an dem Polizeifahrzeug vorbei und spazierten den schmutzigen Gehsteig entlang. Sie kannten sich seit Jahren, seit Stanton als Leiter des Werkschutzes bei Midwest Metal gearbeitet hatte.
»Alles okay?« Fanelli sah auf Stantons Bein hinunter, das er nachzog.
»Ich bin am Genfer See ein Wettrennen auf Jet Ski gefahren und in ein Kielwasser geraten. Ist nicht weiter schlimm.«
»Wann geht es zurück nach Tampa?«
»Morgen.«
»Fliegst du?«
»Nein, ich fahre.« Er zog Schlüssel aus seiner Tasche und öffnete die Tür eines neuen BMW-Sportwagens.
Fanelli betrachtete das Auto bewundernd. »Hast du den Lexus verkauft?«
»Ich hab beschlossen, ihn zu behalten.« Er nickte in Richtung des schlanken, silbernen Flitzers. »Ich brauchte nur ein Gefährt mit mehr Sexappeal, verstehst du. Die Damen in meinem Golfclub lieben Männer in einem Sportwagen. Selbst wenn sie gichtige Knie haben.«
Fanelli schüttelte den Kopf. »Der Junge hat mir leidgetan. Woher hat er das Geld für ein Spiel mit so hohen Einsätzen?«
»Sein Ausbildungsgeld oder was. Hat es von seinen Alten geerbt.«
»Du meinst, wir haben gerade eine Waise ausgenommen? Ich werde einen Monat lang zur Beichte gehen.«
»Er ist eine Waise, der Keller und die anderen bis aufs Hemd betrogen hat.«
»Was?«
Stanton lachte. »Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich dahinterkam. Er muss eine Art elektronisches Auge oder eine Kamera oder so etwas im Deckel seines Kaffeebechers gehabt haben. Er hat immer auf dem Tisch damit herumgespielt und ihn nahe an die Karten gerückt, wenn er gab – und er hat nur dieses eine Mal im großen Stil gewonnen, als er Geber war. Nach der Razzia habe ich mir dann seinen Wagen angesehen – er hatte einen Computer und eine Art Antenne auf dem Rücksitz.«
»Verdammt«, sagte Fanelli. »Das war aber dumm. Wenn er nicht aufpasst, endet er als Leiche. Es wundert mich, dass Keller nichts gemerkt hat.«
»Keller war zu sehr mit seiner eigenen Masche beschäftigt, um den Jungen auszunehmen.« Stanton erzählte ihm, wie der Profi Tony in die Falle gelockt hatte.
Der Detective lachte. »Er hat versucht, den Jungen hereinzulegen, der Junge wollte den ganzen Tisch hereinlegen, und wir beiden Alten haben sie alle zusammen hereingelegt. Da steckt doch irgendwie eine Lehre drin.« Die Männer gaben einander zum Abschied die Hand. »Bis zum nächsten Frühjahr, mein Freund. Dann versuchen wir mal Greenpoint. Wie ich höre, laufen dort schöne Spiele um hohen Einsatz.«
»Das machen wir.« Stanton nickte und brachte den Sportwagen auf Touren. Er fuhr bis zur Kreuzung, schaute sorgfältig nach links und rechts und bog dann auf die Hauptstraße, die zum Highway führte.