Überwachung
Das Klopfen an der Tür riss Jake Muller nicht nur
aus seinem Nachmittagsschläfchen, es verriet ihm auch sofort, wer
sein Besucher war.
Kein höfliches, einmaliges Anklopfen, keine
freundlichen Morsezeichen, nein, der Messingring wurde wiederholt
heftig an das Holz geschlagen, dreimal, viermal, sechsmal...
O Mann, nicht schon wieder.
Muller wälzte seinen kräftigen Körper von der Couch
und hielt einen Moment inne, um auf eine etwas höhere Stufe des
Wachseins zu gelangen. Es war siebzehn Uhr, und er hatte den ganzen
Tag im Garten gearbeitet – bis vor etwa einer Stunde, als ihn ein
holländisches Bier und die Wärme eines Mainachmittags einnicken
ließen. Jetzt knipste er die Stehlampe an, ging mit unsicheren
Schritten zur Tür und zog sie auf.
Der schlanke Mann in dem blauen Anzug und der
dichten, gut geschnittenen Politikerfrisur strich an Muller vorbei
ins Wohnzimmer. Hinter ihm folgte ein älterer, beleibterer Mann in
braunem Tweed.
»Detective«, murmelte Muller zur Begrüßung.
Lieutenant William Carnegie antwortete nicht. Er
setzte sich auf die Couch, als hätte er sie nur mal eben für zwei
Minuten verlassen gehabt, um aufs Klo zu gehen.
»Wer sind Sie?«, fragte Muller den anderen
Polizisten rundheraus.
»Sergeant Hager.«
»Sie müssen seinen Ausweis nicht sehen, Jake,
oder?«, sagte Carnegie.
Muller gähnte. Er hätte gern auf der Couch Platz
genommen, aber der Lieutenant saß steif in deren Mitte, deshalb
musste er mit dem unbequemen Sessel vorliebnehmen. Hager setzte
sich nicht. Er verschränkte die Arme, schaute sich in dem düsteren
Raum um und ließ den Blick dann auf Mullers ausgewaschenen Jeans,
den staubigen weißen Socken und dem T-Shirt ruhen, das für
Muscheltauchen warb. Seine Gartenarbeitskluft.
Nachdem er erneut gegähnt und sich über das kurze,
sandfarbene Haar gestrichen hatte, fragte Muller: »Sie sind nicht
gekommen, um mich zu verhaften, oder? Sonst hätten Sie es bereits
getan. Also, was wollen Sie?«
Carnegies gepflegte Hand verschwand in der
Jackentasche und kam mit einem Notizbuch wieder zum Vorschein, das
er nun zurate zog. »Ich wollte Ihnen nur sagen, dass wir über Ihre
Konten bei der West Coast Federal Bank in Portland Bescheid
wissen.«
»Und wie haben Sie das gemacht? Hatten Sie einen
richterlichen Beschluss?«
»Für manche Dinge braucht man keinen richterlichen
Beschluss.«
Muller lehnte sich zurück und überlegte, ob sie
seinen Computer irgendwie angezapft hatten – denn er hatte die
Konten letzte Woche online angelegt. Wie er festgestellt hatte, war
Annandales Kriminalpolizei technisch hochgerüstet; er stand seit
Monaten unter intensiver Überwachung.
Ein Leben wie im Goldfischglas …
Er bemerkte, dass der tweedgewandete Cop die
Einrichtung von Mullers bescheidenem Bungalow inspizierte.
»Nein, Sergeant Haver...«
»Hager.«
»... es sieht nicht aus, als würde ich in Luxus
leben, falls es das ist, wonach Sie geschaut haben. Und ich tue es
auch nicht. Sagen Sie, haben Sie den Anco-Fall bearbeitet?«
Der Sergeant brauchte den Blick seines Vorgesetzten
nicht, um zu wissen, dass er besser den Mund hielt.
»Aber Sie wissen sicherlich, dass der Einbrecher
fünfhunderttausend Dollar und ein bisschen Kleingeld eingesackt
hat«, fuhr Muller fort. »Wenn ich aber derjenige wäre, der das Geld
gestohlen hat – wie unser Detective Carnegie hier glaubt -, würde
ich dann nicht etwas angenehmer wohnen?«
»Nicht, wenn Sie klug wären«, murmelte der Sergeant
und beschloss, sich zu setzen.
»Nicht, wenn ich klug wäre«, wiederholte Muller und
lachte.
Detective Carnegie sah sich in dem düsteren
Wohnzimmer um und fügte hinzu: »Das hier ist unserer Ansicht nach
eine Art sicheres Haus. Wahrscheinlich besitzen Sie irgendwo in
Übersee ein paar wirklich hübsche Anwesen.«
»Schön wär’s.«
»Aber wir sind uns doch wohl einig, dass Sie nicht
der typische Bewohner Annandales sind.«
Tatsächlich war Jake Muller in dieser wohlhabenden
südkalifornischen Gemeinde eine etwas auffällige Figur. Er war vor
etwa sechs Monaten plötzlich hier aufgetaucht, um sich über ein
paar Geschäfte in der Gegend einen Überblick zu verschaffen. Er war
Single, reiste viel und ging einer schwer greifbaren Tätigkeit nach
(wie er es erklärte, besaß er Firmen, die andere Firmen kauften und
verkauften). Er machte gutes Geld, hatte sich aber dieses
bescheidene Haus als Wohnsitz ausgesucht, das, wie sie eben
festgestellt hatten, weit von jeglichem Luxus entfernt war.
Als Detective Carnegies schlauer Polizeicomputer
eine Liste aller Leute zusammenstellte, die kurz vor dem
Raubüberfall auf das Geldtransportunternehmen Anco vor vier Monaten
in die Stadt gezogen waren, erhielt Muller sogleich den Status
eines Verdächtigen. Und als die Polizei anfing, sich Muller genauer
anzusehen, wurde die Beweislage immer besser. Er hatte kein Alibi
für die Zeit des Raubs. Die Reifenspuren des Fluchtwagens ähnelten
denen von Mullers Lexus. Carnegie fand außerdem heraus, dass Muller
ein Diplom in Elektrotechnik besaß; der Einbrecher im Fall Anco
hatte ein ausgeklügeltes Alarmsystem außer Betrieb gesetzt, um in
den Tresorraum zu gelangen.
Noch besser aus Carnegies Sicht war jedoch der
Umstand, dass Muller vorbestraft war: eine Jugendstrafe wegen
Autodiebstahls und eine Verhaftung vor zehn Jahren wegen eines
komplizierten Geldwäschemanövers in einer Firma, mit der er
Geschäfte machte. Obwohl man die Anklage gegen Muller fallen
gelassen hatte, war Carnegie überzeugt, dass man ihm nur nichts
nachweisen konnte. Er wusste tief in seinem Innern einfach, dass
Muller hinter dem Anco-Raub steckte, und er verfolgte den
Geschäftsmann mit all dem Eifer und der Energie, die ihn unter den
Bürgern Annandales zu einer Berühmtheit gemacht hatten. Seit
Carnegie vor zwei Jahren zum Chef der Kriminalpolizei ernannt
worden war, hatten sich Raubüberfälle, Drogenverkäufe und
Bandenaktivitäten halbiert. Annandale hatte die niedrigste
Verbrechensrate von allen Städten in der Region. Er war auch bei
den Staatsanwälten beliebt – er lieferte wasserdichte Fälle.
Doch im Fall Anco hatte er sich verstolpert. Kurz
nachdem er Jake Muller im letzten Monat verhaftet hatte, hatte sich
ein Zeuge gemeldet und angegeben, der Mann, den er kurz nach dem
Raub das Gelände von Anco verlassen sah, habe Muller in keiner
Weise geähnelt. Carnegie führte ins Feld, dass sich ein gerissener
Täter wie Muller für die Flucht tarnen würde, aber ein Staatsanwalt
kam zu dem Schluss, es reiche nicht für eine Anklage, und ließ den
Geschäftsmann wieder auf freien Fuß setzen.
Carnegie schäumte über die Peinlichkeit und den
Fleck auf seiner Karriereweste. Deshalb kehrte er, nachdem keine
andere Spur etwas erbrachte, mit neuer Inbrunst zu Muller zurück.
Er wühlte weiter im Leben des Geschäftsmanns und begann den Fall
langsam über Indizien aufzubauen: Muller spielte häufig Golf auf
einem Platz neben der Firmenzentrale von Anco – der ideale Ort, um
das Unternehmen auszukundschaften -, und er besaß einen
Schneidbrenner, der stark genug war, um die Tür an der Laderampe
von Anco zu durchschneiden. Mit diesen Informationen setzte
Carnegie seinen Captain unter Druck, die Überwachung Mullers zu
verstärken.
Deshalb der unterbrochene Nachmittagsschlaf mit der
brandaktuellen Information über Mullers Konten.
»Also, was ist mit dem Geld in Portland,
Jake?«
»Was soll damit sein?«
»Woher stammt es?«
»Ich habe die Kronjuwelen gestohlen. Nein, halt, es
war der große Eisenbahnraub von Northfield. Also gut, alles
gelogen. Ich habe ein Casino in Vegas ausgenommen.«
William Carnegie seufzte und senkte kurz die
Augenlider, die in makellosen Wimpern endeten.
»Was ist mit diesem anderen Verdächtigen?«, fragte
der Geschäftsmann, »dem Straßenarbeiter? Sie wollten ihn doch
überprüfen.«
Etwa zur Zeit des Raubs war ein Mann im Overall
eines Straßenarbeiters gesehen worden, der unweit des Haupttors von
Anco einen Koffer aus einem Gebüsch zerrte. Ein vorbeikommender
Autofahrer fand das verdächtig, notierte das Nummernschild des
Baufahrzeugs und verständigte die Highway Patrol. Der Lkw, der eine
Woche zuvor in Bakersfield gestohlen worden war, wurde später
verlassen am John-Wayne-Airport von Orange County gefunden.
Mullers Anwalt hatte behauptet, dieser Mann sei der
Räuber, und Carnegie sollte ihn verfolgen.
»Ich hatte kein Glück bei der Suche nach ihm«,
sagte der Detective.
»Sie meinen«, knurrte Muller, »es war nur eine vage
Chance, der Mann befindet sich außerhalb Ihres
Zuständigkeitsbereichs, und es ist verdammt viel einfacher, mich zu
schikanieren, als den wahren Dieb zu finden. Himmel noch mal,
Carnegie«, brauste er auf, »das Einzige, was ich in meinem Leben
falsch gemacht habe, war, mit siebzehn auf ein paar Kumpels zu
hören, auf die ich besser nicht gehört hätte. Wir haben uns für
zwei Stunden einen Wagen geborgt...«
»›Geborgt‹?«
»... und den Preis dafür bezahlt. Ich verstehe
einfach nicht, warum Sie mir so zusetzen.«
Aber in Wirklichkeit kannte Muller die Antwort
genau. In seiner langen und wechselvollen Laufbahn hatte er eine
Reihe von Männern und Frauen mit ähnlicher Selbstdisziplin wie
Carnegie getroffen. Sie waren Maschinen, angetrieben vom blinden
Ehrgeiz, jeden niederzumachen, den sie für einen Konkurrenten oder
Feind hielten. Sie unterschieden sich von Menschen wie Muller
selbst, die ehrgeizig waren, gewiss, aber deren Begeisterung dem
Spiel selbst galt. Für die Carnegies dieser Welt zählte einzig der
Sieg, der Weg dorthin bedeutete ihnen nichts.
»Können Sie beweisen, dass das Geld aus einer
legitimen Quelle stammt?«, fragte der Sergeant gespreizt.
Muller sah Carnegie an. »Was ist aus Ihrem anderen
Assistenten geworden, Detective? Wie hieß er gleich noch – Carl?
Ich mochte ihn. Er hat nur nicht lange durchgehalten.«
Carnegie hatte zwei Assistenten verschlissen, seit
er hinter Jake Muller her war. Vermutlich beeindruckte er als
zwanghafter, besessener Polizist zwar Bürgerschaft und Presse,
seinen Mitarbeitern würde er das Leben damit aber wohl schwer
machen.
»Okay«, sagte der Detective. »Wenn Sie nicht reden
wollen, dann eben nicht. Ach ja, was ich Ihnen noch sagen sollte:
Wir haben ein paar Informationen bekommen, die wir uns gerade
anschauen. Sehr interessant.«
»Aha, noch mehr Überwachung?«
»Vielleicht.«
»Und was genau haben Sie herausgefunden?«
»Nennen wir es einfach interessant.«
»Das sagten Sie schon«, entgegnete Muller. »Hey,
wollen Sie ein Bier? Sie, Sergeant?«
»Nein«, antwortete Carnegie für beide.
Muller holte ein Heineken aus der Küche. »Sie
wollen mir also sagen«, fuhr er fort, »wenn Sie diese Informationen
durchgearbeitet haben, werden Sie genügend Beweismaterial haben, um
mich diesmal wirklich zu verhaften? Aber wenn ich gestehe, geht die
ganze Sache viel einfacher. Stimmt’s?«
»Kommen Sie, Jake. Niemand wurde bei Anco verletzt.
Sie kriegen vielleicht fünf Jahre. Sie sind noch jung. Sie würden
das locker wegstecken.«
Muller nickte und trank einen kräftigen Schluck
Bier. Dann sagte er todernst: »Aber wenn ich gestehe, müsste ich
das Geld zurückgeben, oder?«
Carnegie erstarrte für einen Moment. Dann lächelte
er. »Ich höre nicht auf, bis ich Sie festgenagelt habe, Jake, das
wissen Sie.« Dann wandte er sich an seinen Assistenten. »Gehen wir,
hier verschwenden wir nur unsere Zeit.«
»Das ist zumindest ein Punkt, in dem wir uns einig
sind«, sagte Muller und schloss die Tür hinter ihnen.
Am nächsten Tag trug William Carnegie einen
perfekt gebügelten grauen Anzug, ein weißes Hemd und eine
gestreifte rote Krawatte, als er gefolgt von Hager in den Wachraum
des Polizeireviers von Annandale marschierte.
Er nickte den acht Beamten auf den billigen
Fiberglasstühlen zu. Die Männer und Frauen verstummten, als der
Detective über seine Truppe blickte.
Es wurde Kaffee geschlürft, mit Stiften geklopft,
auf Blöcke gekritzelt.
Auf Uhren geschaut.
»Wir gehen bei dem Fall in die Offensive. Ich habe
Muller gestern besucht und ihm Feuer unterm Hintern gemacht. Es hat
Wirkung gezeigt: Letzte Nacht habe ich seine Internetbewegungen
überwacht, und er hat fünfzigtausend Dollar von einer Bank in
Portland auf eine Bank in Lyon, Frankreich, überwiesen. Ich bin
überzeugt, er bereitet sich darauf vor, aus unserem
Zuständigkeitsbereich zu fliehen.«
Carnegie war es gelungen, eine Überwachung der
Stufe zwei für Muller durchzusetzen. Dazu gehörten
Echtzeitverbindungen zu Mullers Internet-Provider und den Computern
von Mullers Kreditkartengesellschaften, Banken, Handybetreiber und
dergleichen. Jedes Mal, wenn Muller einkaufte, online ging,
telefonierte, Geld abhob und so weiter, erhielten die Beamten im
Team Anco fast im selben Moment Kenntnis davon.
»Big Brother wird alles beobachten, was unser Knabe
treibt.«
»Wer?«, fragte einer der jüngeren Beamten.
»1984«, sagte Carnegie, erstaunt, dass der
Mann noch nie von dem Roman gehört hatte. »Das Buch«, setzte er
sarkastisch hinzu. Als der Beamte weiter verständnislos
dreinblickte, erklärte er: »Big Brother war die Regierung. Sie hat
alles beobachtet, was die Bürger taten.« Er nickte in Richtung
eines staubigen Computerterminals und wandte sich dann wieder
seinen Leuten zu. »Sie, ich und Big Brother – wir ziehen das Netz
um Muller zusammen.« Als er das unterdrückte Grinsen bemerkte,
wünschte er, er hätte sich weniger dramatisch geäußert. Aber
verdammt noch mal, begriffen sie denn nicht, dass Annandale zur
Zielscheibe des Spotts bei der Polizei Südkaliforniens geworden
war, weil sie den Fall Anco nicht abschließen konnten? Ob Los
Angeles Police Departement oder die Beamten in kleineren Orten
ringsum – niemand verstand, wieso die Polizei von Annandale trotz
des höchsten Pro-Kopf-Budgets im Orange County den Einzeltäter bei
diesem Raub noch nicht dingfest gemacht hatte.
Carnegie teilte die Mannschaft in drei Schichten an
den Computern ein und gab Befehl, dass man ihm umgehend alles
meldete, was Muller tat.
Als er zu seinem Büro zurückging, um sich Mullers
Überweisung nach Frankreich noch einmal genauer anzusehen, hörte er
eine Stimme. »Hallo, Dad.«
Er drehte sich um und sah seinen Sohn, der ihm im
Flur entgegenkam, bekleidet mit seiner üblichen
Siebzehnjährigenuniform: Ohrringe, Schlabber-T-Shirt und eine Hose,
die so tief saß, dass es aussah, als würde sie jeden Moment
herunterfallen. Und das Haar: Mit Gel zu Spitzen geformt und
schreiend gelb gefärbt. Trotzdem war Billy ein überdurchschnittlich
guter Schüler und ähnelte in keiner Weise den Unruhestiftern, mit
denen Carnegie beruflich zu tun hatte.
»Was tust du denn hier?«, fragte er. Es war Anfang
Mai, und eigentlich sollte jetzt Schule sein, oder?
»Heute ist Elternsprechtag, weißt du noch? Mr.
Gibson erwartet dich und Mom um zehn Uhr. Ich schau nur vorbei, um
sicherzustellen, dass ihr da seid.«
Verdammt... Carnegie hatte den Termin völlig
vergessen. Und er hatte eine Konferenzschaltung mit zwei
französischen Ermittlern wegen Mullers Überweisung angesetzt – auf
neun Uhr fünfundvierzig. Wenn er sie auf später verschob, würden
die französischen Beamten wegen der Zeitdifferenz nicht mehr zur
Verfügung stehen, und der Anruf würde bis morgen verzögert
werden.
»Ich hab es in meinem Kalender stehen«, sagte der
Detective geistesabwesend. In seinem Hinterkopf war ein Gedanke
aufgeblitzt. Was war es nur gewesen? »Könnte nur sein, dass ich ein
bisschen zu spät komme.«
»Dad, es ist wichtig«, sagte Billy.
»Ich werde da sein.«
Dann nahm der Gedanke in seinem Kopf Gestalt an.
»Billy, belegst du noch Französisch?«
Sein Sohn blinzelte. »Ja, du hast mein Zeugnis
unterschrieben, weißt du noch?«
»Wer ist dein Lehrer?«
»Mrs. Vandell.«
»Ist sie jetzt in der Schule?«
»Ich denke schon. Ja, wahrscheinlich. Wieso?«
»Sie muss mir bei einer Konferenzschaltung helfen.
Geh du jetzt nach Hause. Sag deiner Mutter, ich komme zu dem
Termin, sobald ich kann.«
Carnegie ließ den Jungen mitten im Flur stehen und
trabte zu seinem Büro, so begeistert über seinen Geistesblitz, die
Französischlehrerin als Dolmetscherin einzusetzen, dass er beinahe
einen Arbeiter über den Haufen gerannt hätte, der sich über eine
der Topfpflanzen im Korridor beugte und Blätter stutzte.
»’tschuldigung«, rief er und eilte in sein Büro. Er
rief Billys Französischlehrerin an, und als er ihr erklärte, wie
wichtig der Fall sei, erklärte sie sich widerstrebend
einverstanden, ihm bei der Übersetzung zu helfen. Der
Konferenzanruf ging wie geplant vonstatten, und die
Übersetzungsbemühungen der Frau erwiesen sich als große Hilfe; ohne
seinen Geistesblitz hätte er mit den beiden Beamten überhaupt nicht
kommunizieren können. Immerhin berichteten die Ermittler in
Frankreich, sie hätten bei Mullers Investments oder
Finanzgeschäften nichts Unrechtes festgestellt. Er zahlte Steuern
und hatte noch nie Ärger mit der Gendarmerie gehabt.
Carnegie fragte, ob sie sein Telefon angezapft
hätten und seine Internet- und Bankaktivitäten überwachten.
Nach einer Pause antwortete einer der Beamten.
Billys Französischlehrerin übersetzte: »Sie sagen: ›Wir sind
technisch nicht so hochgerüstet wie Sie. Wir fangen Verbrecher
lieber auf die althergebrachte Art.‹« Sie erklärten sich aber
bereit, ihren Zoll auf Muller aufmerksam zu machen, damit er dessen
Gepäck sorgfältig untersuchte, wenn er das nächste Mal ins Land
käme.
Carnegie dankte den beiden Männern und der Lehrerin
und legte auf.
Wir fangen Verbrecher lieber auf die
althergebrachte Art...
Und deshalb erwischen wir sie, und ihr erwischt sie
nicht, dachte der Detective, drehte sich in seinem Sessel herum und
begann wieder konzentriert in Big Brothers Computermonitor zu
blicken.
Jake Muller kam aus dem Kaufhaus im Zentrum von
Annandale und folgte dem jungen Mann, der ihm in der
Schmuckabteilung aufgefallen war.
Der Junge hielt den Kopf gesenkt und entfernte sich
rasch.
Als sie an einer Gasse vorbeikamen, rannte Muller
plötzlich vor, packte den dürren Bengel am Arm und zog ihn ins
Halbdunkel.
»Großer Gott«, flüsterte der Junge
erschrocken.
Muller drückte ihn an die Wand. »Denk nicht dran,
wegzulaufen.« Ein Blick auf die Taschen des Jungen. »Und komm bloß
nicht auf andere Gedanken.«
»Nein, ich...«, begann der Junge mit bebender
Stimme. »Ich habe keine Waffe oder so was.«
»Wie heißt du?«
»Ich...«
»Der Name!«, bellte Muller.
»Sam. Sam Phillips. Was wollen Sie?«
»Gib mir die Uhr.«
Der Junge seufzte und verdrehte die Augen.
»Gib sie mir. Du willst bestimmt nicht, dass ich
sie dir abnehme.« Muller wog fünfzig Pfund mehr als der
Bursche.
Der Kleine griff in seine Tasche und zog die Seiko
hervor, die ihn Muller aus der Auslage im Kaufhaus hatte stehlen
sehen. Er gab sie ihm.
»Wer sind Sie? Ein Kaufhausdetektiv?
Polizist?«
Muller betrachtete ihn aufmerksam und steckte die
Uhr dann weg. »Du hast dich ungeschickt angestellt. Wenn der
Detektiv nicht gerade pinkeln gewesen wäre, hätte er dich
erwischt.«
»Welcher Detektiv?«
»Genau das meine ich. Der Kleine mit dem
scheußlichen Sakko und der dreckigen Jeans.«
»Das war ein Detektiv?«
»Ja.«
»Wie haben Sie ihn erkannt?«
»Sagen wir, ich hatte die eine oder andere
Begegnung mit Typen wie ihm.«
Der Junge hob kurz den Kopf, sah Muller prüfend an
und studierte dann wieder den Asphalt in der Gasse. »Und wie haben
Sie mich bemerkt?«
»Das war nicht schwer. Du hast dich in dem Kaufhaus
so schuldbewusst herumgedrückt, als wärst du bereits hopsgenommen
worden.«
»Wollen Sie mich erpressen, oder was?«
Muller schaute vorsichtig die Straße rauf und
runter. Dann sagte er: »Ich brauche jemanden, der mir morgen bei
einer Sache hilft, die ich erledigen muss.«
»Wieso ich?«, fragte der Junge.
»Es gibt da ein paar Leute, die würden mich gern
hereinlegen.«
»Polizei?«
»Einfach... ein paar Leute.« Muller nickte in
Richtung Uhr. »Aber da ich gesehen habe, wie du die hier geklaut
hast, weiß ich, dass du für niemanden arbeitest.«
»Was muss ich tun?«
»Es ist nicht schwer. Ich brauche einen Fahrer.
Eine halbe Stunde Arbeit.«
Halb ängstlich, halb aufgeregt: »Und was springt
für mich raus?«
»Ich zahl dir fünfhundert.«
Noch ein prüfender Blick. »Für eine halbe
Stunde?«
Muller nickte.
»Verdammt. Fünfhundert?«
»So ist es.«
»Und was tun wir?«, fragte der Junge, ein bisschen
vorsichtig jetzt. »Ich meine, was genau?«
»Ich muss ein paar Dinge von... aus diesem Haus in
Tremont abholen. Du musst in der Gasse hinter dem Haus parken,
während ich ein paar Minuten hineingehe.«
Der Junge grinste. »Dann klauen Sie also etwas? Das
Ganze ist ein Diebstahl, richtig?«
Muller bedeutete ihm, still zu sein. »Selbst wenn
es einer wäre, glaubst du, ich würde es laut sagen?«
»Tut mir leid, ich habe nicht nachgedacht.« Der
Junge kniff die Augen zusammen. »Hey, ich hab da einen Freund. Und
wir haben einen Kontaktmann. Er besorgt uns guten Stoff, so richtig
netten. Wir können ihn binnen einer Woche weiterverkaufen. Wenn Sie
mit ein-, zweitausend einsteigen, macht er uns einen besseren
Preis. Sie könnten Ihr Geld verdoppeln. Interessiert?«
»Drogen?«
»Ja.«
»Die rühr ich nicht an. Und du solltest es auch
nicht tun. Sie machen dein Leben kaputt. Denk dran... Wir treffen
uns morgen, okay?«
»Wann?«
»Mittags. An der Ecke Siebte und Maple. Vor dem
Starbucks.«
»Ich denk schon.«
»Denk nicht. Sei da.« Muller wandte sich zum
Gehen.
»Glauben Sie, es gibt noch mehr Arbeit für mich,
wenn diese Sache hinhaut?«
»Kann sein, dass ich eine Weile weg sein werde.
Aber ansonsten, ja, vielleicht. Wenn du es richtig machst.«
»Sie können sich auf mich verlassen, Mister. Hey,
wie heißen Sie eigentlich?«
»Das brauchst du nicht zu wissen.«
Der Junge nickte. »Cool, klar... Eins noch. Was ist
mit der Uhr?«
»Ich lasse das Beweisstück für dich
verschwinden.«
Nachdem der Junge fort war, spazierte Muller
langsam zum Ausgang der Gasse und spähte hinaus. Von Carnegies
Überwachungsteam war nichts zu sehen. Er hatte sie sorgfältig
abgehängt, aber sie hatten diese fast magische Fähigkeit, aus dem
Nichts wieder aufzutauchen und ihn mit ihren Lauschmikrofonen und
Telelinsen festzunageln.
Er setzte seine Baseballkappe auf und trat mit
gesenktem Kopf aus der Gasse, dann ging er schnell den Gehsteig
entlang, als würden Satelliten aus zehntausend Kilometern Höhe im
All seine Position feststellen.
Am nächsten Morgen traf William Carnegie später
als sonst im Büro ein.
Da er am Tag zuvor Mist gebaut und den
Elternsprechtag versäumt hatte, hatte er sich gezwungen, mit seiner
Frau und Billy zu frühstücken.
Als er um halb zehn ins Revier kam, meldete Hager:
»Muller hat ein paar Einkäufe gemacht, von denen Sie wissen
sollten.«
»Nämlich?«
»Er verließ sein Haus vor einer Stunde. Unsere
Jungs verfolgten ihn bis zum Einkaufszentrum. Dort verloren sie
ihn, aber bald darauf erhielten wir eine Belastungsmeldung von
einer seiner Kreditkartenunternehmen. Er hat bei Books’n’ Java
sechs Bücher gekauft. Wir wissen nicht genau welche, aber der
Produktcode des Ladens weist sie als Reisebücher aus. Dann hat er
das Einkaufszentrum verlassen und in Tyler’s Gun Shop
achtunddreißig Dollar für zwei Schachteln Neun-Millimeter-Munition
ausgegeben.«
»Himmel, ich hielt ihn immer für einen, der
schießt. Die Wachleute bei Anco hatten Glück, dass sie ihn nicht
einbrechen hörten; er hätte sie kaltgemacht. Ich weiß es... Hat ihn
das Überwachungsteam wieder aufgegabelt?«
»Nein. Sie sind zu seinem Haus
zurückgefahren.«
»Hier ist noch etwas«, rief eine junge Polizistin,
die nicht weit entfernt saß. »Er hat bei Home Depot für
vierundvierzig Dollar Werkzeuge gekauft.«
»Er ist also bewaffnet, und es sieht so aus, als
plante er einen neuen Raub«, überlegte Carnegie. »Anschließend wird
er aus dem Bundesstaat fliehen.« Er starrte auf einen der Monitore
und fragte geistesabwesend: »Worauf hast du es diesmal abgesehen,
Muller? Ein Laden, ein Eigenheim?«
Hagers Telefon läutete. Er meldete sich und
lauschte. »Das war der Babysitter vor Mullers Haus. Er ist wieder
daheim. Komisch ist nur, dass er zu Fuß kam. Er muss den Wagen
irgendwo an der Straße geparkt haben.« Er hörte noch eine Weile zu.
»In seiner Einfahrt steht der Lieferwagen eines Malergeschäfts.
Vielleicht deshalb.«
»Nein. Er hat irgendwas vor. Ich traue dem Mann bei
nichts, was er tut.«
»Noch eine Meldung!«, rief einer der Beamten. »Er
ist gerade online gegangen...« Die Polizei hatte keine richterliche
Genehmigung, die Inhalte anzusehen, die sich Muller herunterlud,
aber sie konnten die Seiten beobachten, mit denen er verbunden war.
»Okay. Er ist auf der Website von Anderson & Cross.«
»Die Firma, die die Alarmsysteme baut?«, fragte
Carnegie, und sein Herz schlug heftig vor Aufregung.
»Ja.«
Ein paar Minuten später rief der Beamte: »Jetzt
sieht er sich Travel-Central Dotcom an.«
Ein Service, bei dem man online Flüge buchen
konnte.
»Sagen Sie dem Überwachungsteam, wir geben ihnen
Bescheid, sobald er aus dem Netz geht. Sie sollen sich
bereithalten. Ich habe das Gefühl, dass es jetzt sehr schnell gehen
wird.«
Jetzt haben wir dich, dachte Carnegie. Dann lachte
er und betrachtete die Computer liebevoll.
Big Brother Is Watching You...
Auf dem Beifahrersitz seines Wagens nickte Jake
Muller in Richtung eines hohen Zauns in einer Gasse hinter der
Tremont Street. »Halt dort drüben, Sam.«
Der Wagen kam langsam zum Stehen.
»Hier ist es, hm?«, fragte der Junge nervös und
deutete mit einem Kopfnicken zu einem weißen Haus auf der anderen
Seite des Zauns.
»Ja. Jetzt hör zu. Wenn ein Polizist vorbeikommt,
fahr einfach langsam los. Fahr um den Block, aber bieg an der
Straße links ab, verstanden? Was du auch tust, Hauptsache, du
bleibst von der Tremont Street weg.«
»Denken Sie, es kommt jemand vorbei?«, fragte der
Junge besorgt.
»Hoffentlich nicht.« Muller nahm die Werkzeuge, die
er am selben Morgen erst gekauft hatte, aus dem Kofferraum und
blickte die Gasse auf und ab. Dann ging er durch das Tor im Zaun
und verschwand seitlich ums Haus.
Zehn Minuten später kehrte er zurück. Er eilte
durch das Tor, in den Händen eine schwere Box und eine kleine
Einkaufstasche. Dann verschwand er wieder und kam mit mehreren
weiteren Boxen zurück. Er lud alles hinten in den Wagen und wischte
sich den Schweiß von der Stirn. Er ließ sich schwer auf den
Beifahrersitz fallen. »Machen wir, dass wir von hier
wegkommen.«
»Wo sind die Werkzeuge?«
»Die habe ich da drin gelassen. Worauf wartest du?
Fahr los.«
Der Junge gab Gas, und der Wagen machte einen Satz
mitten in die Gasse.
Kurz darauf waren sie auf dem Freeway, und Muller
dirigierte sie zu einem billigen Motel auf der anderen Seite der
Stadt, der Starlight Lodge. Dort stieg Muller aus. Er ging in die
Lobby und meldete sich für zwei Nächte an. Dann kam er zum Wagen
zurück. »Zimmer hundertneunundzwanzig. Er sagte, es liegt auf der
Rückseite.«
Sie fanden es, parkten und stiegen aus. Muller gab
dem Jungen den Zimmerschlüssel. Er öffnete die Tür, und sie trugen
gemeinsam die Kisten und die Einkaufstasche hinein.
»Nicht gerade toll«, sagte der Junge, als er sich
umsah.
»Ich werde nicht lange hier bleiben.«
Muller drehte sich um und öffnete die
Einkaufstasche. Er zog fünf Hundertdollarnoten heraus und gab sie
dem Jungen. Dann legte er noch zwanzig Dollar drauf. »Du wirst dir
ein Taxi zurück in die Stadt nehmen müssen.«
»Mann, sieht nach einem fetten Raubzug aus.« Er
nickte in Richtung Tasche.
Muller sagte nichts. Er stopfte die Tasche in einen
Koffer, verschloss ihn und schob ihn unter das Bett.
Der Junge steckte die Scheine ein.
»Das war gute Arbeit, Sam. Danke.«
»Wie finde ich Sie, Mister? Ich meine, wenn Sie
mich wieder anheuern wollen.«
»Ich hinterlasse eine Nachricht in dem
Starbucks.«
»Ja, gut.«
Muller sah auf die Uhr. Er leerte seine Taschen auf
die Kommode. »Ich muss jetzt duschen und dann ein paar Leute
treffen.«
Sie schüttelten sich die Hände. Der Junge ging, und
Muller stieß die Tür hinter ihm zu.
Im Badezimmer drehte er das Wasser voll auf und
stellte es sehr heiß. Er lehnte sich gegen das wacklige Becken,
beobachtete den Dampf, der sich wie eine Gewitterwolke aus der
Kabine wälzte, und fragte sich, welche Richtung sein Leben nun
einschlagen würde.
»Da läuft irgendwas schief«, rief Sergeant
Hager.
»Was?«
»Irgendein Defekt.« Er nickte in Richtung Computer.
»Muller ist immer noch online in seinem Haus. Sehen Sie? Nur dass
wir gerade eine Meldung vom Kreditkartencomputer der National Bank
bekommen haben. Jemand hat mit Mullers Kreditkarte vor etwa einer
Dreiviertelstunde ein Zimmer in der Starlight Lodge an der Simpson
Road genommen. Da muss ein Fehler vorliegen. Er...«
»Oh, verdammt«, entfuhr es Carnegie. »Da liegt kein
Fehler vor. Muller hat seinen Computer angelassen, damit wir
denken, er ist noch zu Hause. Deshalb hat er das Auto um die
Ecke geparkt. Unsere Leute sollten ihn nicht wegfahren sehen. Er
ist über den Garten hinausgeschlichen.« Carnegie griff nach dem
Telefon und herrschte das Überwachungsteam an, dass ihnen ihr
Subjekt entwischt sei. Er befahl ihnen nachzusehen. Er knallte den
Hörer nieder, und kurz darauf meldete ein kleinlauter Beamter, die
Maler hätten gesagt, Muller sei vor mehr als einer Stunde
gegangen.
Der Detective seufzte. »Während wir also ein
Nickerchen gehalten haben, hat er sich das nächste Zielobjekt
vorgenommen. Es ist nicht zu fassen. Ich...«
»Er hat die Karte gerade neu belastet«, rief ein
Beamter. »Achtundsechzig Liter Benzin in der Mobil-Tankstelle an
der Ecke Lorenzo und Principale.«
»Er hat vollgetankt.« Carnegie nickte und
überlegte. »Vielleicht fährt er hinauf nach San Francisco, um von
dort einen Flug zu nehmen. Oder nach Arizona oder gleich nach
Vegas.« Der Detective ging an die Wandkarte und steckte Reißnägel
in die Orte, die Hager genannt hatte. Er war jetzt ruhiger. Muller
hatte vielleicht erraten, dass sie seinen Internetverkehr
überwachten, aber offensichtlich wusste er über das Ausmaß ihrer
Überwachung nicht Bescheid.
»Ein Zivilwagen der Bezirkspolizei soll sich an ihn
dranhängen.«
»Detective, ich habe gerade vom Hauptcomputer des
Mautsystems eine Meldung erhalten«, rief ein Beamter von der
anderen Seite des Raums. »Muller ist vor vier Minuten an der
Stanton Road auf die Viernullacht gebogen. Er hat die Mautstelle in
Richtung Norden benutzt.«
Die kleine Box an der Windschutzscheibe, die
automatisch die Maut für Highways, Brücken und Tunnel bezahlte,
meldete genau, wo und wann man sie benutzt hatte.
Ein weiterer Reißnagel wurde in die Karte
gesteckt.
Hager dirigierte die Beamten, die die Verfolgung
aufgenommen hatten, zu dieser Kreuzung.
Fünfzehn Minuten später meldete sich der Beamte,
der den Mautcomputer überwachte, wieder. »Er hat den
mautpflichtigen Highway gerade verlassen. An der Markham Road. Die
Kontrollstelle in östlicher Richtung.«
Nach Osten in die Gegend um Markham? Carnegie
überlegte. Es ergab Sinn. Das war ein rauer Teil der Stadt,
bevölkert von Rednecks und Bikern, die in windschiefen Bungalows
und Wohnwagen hausten. Falls Muller einen Komplizen hatte, wäre
Markham eine gute Quelle für dessen Rekrutierung gewesen. Und
gleich dahinter begann die Wüste, Tausende Quadratmeilen Sand, in
denen er die Anco-Beute verstecken konnte.
»Noch immer kein Sichtkontakt«, sagte Hager, der
die verfolgenden Beamten am Telefon hatte.
»Verdammt. Wir verlieren ihn.«
Aber dann rief ein anderer Beamter: »Ich habe
gerade einen Alarm des Netzbetreibers von Mullers Autotelefon – er
hat es eingeschaltet und telefoniert. Sie verfolgen es zurück...«
Einen Moment später rief er: »Okay. Er ist in nördlicher Richtung
auf der La Ciena unterwegs.«
Ein weiterer blauer Pin in die Karte.
Hager übermittelte die Information an die
Bezirkspolizisten. Dann hörte er zu und lachte. »Sie haben den
Wagen! … Muller fährt in den Desert Road Wohnwagenpark... Okay...
Er parkt vor einem der Wohnwagen... Steigt aus... Er redet mit
einem Weißen in den Dreißigern, rasierter Schädel, tätowiert... Der
Mann nickt in Richtung eines Schuppens auf der Rückseite des
Stellplatzes... Sie gehen zusammen dorthin... Sie holen ein
Päckchen aus dem Schuppen... Jetzt gehen sie in den
Wohnwagen.«
»Das reicht mir«, verkündete Carnegie. »Sag ihnen,
sie sollen außer Sichtweite bleiben. Wir sind in zwanzig Minuten
da. Geben Sie Bescheid, wenn sich der Verdächtige zum Aufbruch
rüstet.«
Auf dem Weg zur Tür dankte er mit einem kleinen
Gebet dem Herrn – und Big Brother – für ihre Hilfe.
Die Fahrt dauerte eher vierzig Minuten, aber
Mullers Wagen stand immer noch vor dem rostigen, schiefen
Wohnwagen.
Die Beamten vor Ort berichteten, dass der Räuber
und sein kahler Komplize noch drinnen seien, vermutlich, um ihre
Flucht zu planen.
Die vier Polizeiautos der Zentrale waren mehrere
Wohnwagen entfernt geparkt, und neun Beamte aus Annandale, drei von
ihnen mit Gewehren bewaffnet, kauerten hinter Schuppen,
Unkrautstauden und Rostautos. Alle blieben in Deckung, eingedenk
der Tatsache, dass Muller bewaffnet war.
Carnegie und Hager näherten sich langsam dem
Trailer. Sie mussten die Sache vorsichtig handhaben. Solange sie
nicht durch die Tür oder das Fenster einen Blick auf das Geld von
dem Anco-Raub erhaschten oder Muller es deutlich sichtbar ins Freie
trug, hatten sie keinen hinreichenden Grund, ihn zu verhaften. Sie
umkreisten den Wagen, konnten aber nicht hineinsehen; die Tür war
geschlossen und die Vorhänge zugezogen.
Verdammt, dachte Carnegie enttäuscht. Vielleicht
könnten sie …
Aber dann kam ihnen das Glück zu Hilfe.
»Riechen Sie das?«, fragte Carnegie im
Flüsterton.
Hager runzelte die Stirn. »Was?«
»Was aus dem Wagen kommt.«
Der Sergeant atmete tief ein. »Gras oder Hasch«,
sagte er und nickte.
Damit hatten sie einen hinreichenden Grund, in den
Wagen einzudringen.
»Wir gehen rein«, flüsterte Hager und machte den
anderen Beamten ein Zeichen, zu ihnen zu stoßen.
Ein Beamter des Spezialkommandos fragte, ob er die
Tür eintreten sollte, aber Carnegie schüttelte den Kopf.
»Nein. Er gehört mir.« Er zog sein Sakko aus und
legte die kugelsichere Weste an, dann zog er seine
Automatikpistole.
An die anderen Beamten gewandt, formte er mit den
Lippen ein Bereit?
Sie nickten.
Der Detective hielt drei Finger in die Höhe, dann
beugte er einen nach dem anderen.
Eins... zwei...
»Los!«
Er stieß die Tür mit der Schulter auf und stürmte
in den Wohnwagen, die anderen Beamten direkt hinter ihm.
»Keine Bewegung, Polizei!«, rief er, sah sich um
und kniff dabei die Augen zusammen, um in dem Halbdunkel besser
sehen zu können.
Das Erste, was er bemerkte, war eine große
Plastiktüte voll Gras, die neben der Tür stand.
Das Zweite war, dass es sich bei dem Besucher des
tätowierten Mannes gar nicht um Jake Muller handelte. Es war
Carnegies eigener Sohn Billy.
Der Detective stürmte in das Polizeirevier von
Annandale, flankiert von Sergeant Hager. Hinter ihnen führte ein
weiterer Beamter den verdrossenen, mit Handschellen gefesselten
Jungen am Arm.
Den Eigentümer des Wohnwagens – einen wegen
Drogenvergehen vorbestraften Motorradrocker – hatte man ins
Drogendezernat ein Stück den Flur entlang gebracht und das Kilo
Gras in die Asservatenkammer.
Carnegie hatte Billy befohlen, ihnen zu erzählen,
was los gewesen war, aber der Junge hatte dichtgemacht und sich
geweigert, auch nur ein Wort zu sagen. Eine Durchsuchung des
Anwesens und von Mullers Auto hatte keinen Hinweis auf den Verbleib
der Anco-Beute erbracht. Carnegie hatte eine frostige Reaktion der
Bezirkspolizisten erhalten, als er ihnen die Frage entgegenbrüllte,
wie sie seinen Sohn mit dem Geschäftsmann hatten verwechseln
können. (»Kann mich nicht erinnern, dass Sie sich die Mühe gemacht
hätten, sein Bild durchzufunken, Detective«, erinnerte ihn
einer.)
Nun blaffte Carnegie einen der Beamten vor den
Computerschirmen an: »Bringen Sie mir Jake Muller.«
»Nicht nötig«, sagte ein anderer. »Er ist dort
drüben.« Muller saß dem Sergeant am Empfang gegenüber. Er stand auf
und sah Carnegie und seinen Sohn überrascht an. Dann deutete er auf
den Jungen. »Haben sie dich also schon erwischt, Sam. Das ging ja
schnell. Ich habe die Anzeige vor fünf Minuten ausgefüllt.«
»Sam?«, fragte Carnegie.
»Ja. Sam Phillips«, antwortete Muller.
»Er heißt Billy. Er ist mein Sohn«, murmelte
Carnegie. Der zweite Vorname des Jungen war Samuel, und Phillips
war der Mädchenname von Carnegies Frau.
»Ihr Sohn?«, fragte Muller und schaute ungläubig
drein. Dann entdeckte er einen Beamten, der eine Kiste trug. In ihr
befanden sich Koffer, Geldbeutel, Schlüssel und Handy, die man in
Mullers Wagen gefunden hatte. »Sie haben alles gerettet«, sagte er.
»Wie geht es meinem Wagen? Hat er ihn zu Schrott gefahren?«
Hager setzte an, ihm zu erklären, dass sein Wagen
in Ordnung sei, aber Carnegie brachte ihn mit einer Handbewegung
zum Schweigen. »Okay, was zum Teufel wird hier gespielt?«, fragte
er Muller. »Was hatten Sie mit meinem Jungen zu schaffen?«
»Hey, dieser Bursche hat mich ausgeraubt«,
sagte Muller verärgert. »Ich wollte ihm nur einen Gefallen tun. Ich
hatte keine Ahnung, dass er Ihr Sohn ist.«
»Gefallen?«
Muller betrachtete den Jungen von Kopf bis Fuß.
»Ich habe ihn gestern gesehen, wie er bei Maxwell drüben an der
Harrison Street eine Uhr gestohlen hat.«
Carnegie warf einen frostigen Blick auf seinen
Sohn, der weiter den Kopf gesenkt hielt.
»Ich folgte ihm und ließ mir die Uhr geben. Er tat
mir leid. Er sah aus, als ginge es ihm nicht gut. Ich heuerte ihn
für etwa eine Stunde als Hilfskraft an. Ich wollte ihm einfach
zeigen, dass es Leute gibt, die für ehrliche Arbeit gutes Geld
zahlen.«
»Was haben Sie mit der Uhr gemacht?«, fragte
Carnegie.
Muller schaute entrüstet drein. »Dem Laden
zurückgegeben. Was dachten Sie denn? Dass ich Diebesgut
behalte?«
Carnegie sah seinen Sohn an. »Wofür hat er dich
angestellt?«, fragte er.
Als der Junge nichts sagte, erklärte Muller: »Ich
habe ihn dafür bezahlt, auf meinen Wagen aufzupassen, während ich
ein paar Sachen aus meinem Haus abgeholt habe.«
»Ihr Haus?«, fragte Billy entsetzt. »An der
Tremont Street?«
»Ganz recht«, sagte Muller zu Billys Vater. »Ich
bin für ein paar Tage in ein Motel gezogen – ich lasse mein Haus
streichen, und ich kann bei den Farbdämpfen nicht schlafen.«
Der Lieferwagen in Mullers Einfahrt, erinnerte sich
Carnegie.
»Die Vordertür konnte ich nicht benutzen«, fügte
Muller zornig an, »weil ich es satthabe, dass sich Ihre Blödmänner
jedes Mal an mich hängen, wenn ich das Haus verlasse. Ich habe
Ihren Sohn angeheuert, damit er mit dem Wagen in der Gasse bleibt.
Da hinten wird abgeschleppt; man kann sein Auto keine fünf Minuten
unbeaufsichtigt stehen lassen. Ich habe ein paar Werkzeuge
abgeladen, die ich heute Morgen gekauft habe, und ein paar Sachen
geholt, die ich brauchte, dann sind wir zum Motel gefahren.« Muller
schüttelte den Kopf. »Ich habe ihm den Schlüssel gegeben, damit er
die Tür aufmacht, und vergessen, ihn an mich zu nehmen, als er
gegangen ist. Er kam zurück und hat mich ausgeraubt, während ich
unter der Dusche stand. Mein Auto, Handy, Geld, Börse, Koffer.«
Angewidert setzte er hinzu: »Himmel, und ich habe ihm einen Haufen
Geld gegeben. Und ihn praktisch gebeten, sein Leben auf die Reihe
zu kriegen und sich von Drogen fernzuhalten.«
»Das hat er gesagt?«, fragte Carnegie.
Der Junge nickte widerwillig.
Sein Vater seufzte und deutete zu dem Koffer. »Was
ist da drin?«
Muller zuckte die Achseln, nahm seine Schlüssel und
öffnete den Koffer.
Carnegie nahm zwar an, der Geschäftsmann wäre nicht
so kooperativ, wenn der Koffer die Anco-Beute enthielte, dennoch
durchfuhr es ihn freudig, als er bemerkte, dass die Papiertüte
darin voller Geld war.
Seine Begeisterung verblasste jedoch rasch, als er
sah, dass es nur drei-, vierhundert Dollar waren, das meiste
zerknüllte Ein- und Fünf-Dollar-Noten.
»Haushaltsgeld«, erklärte Muller. »Ich wollte es
nicht im Haus lassen, wenn die Maler da sind.«
Carnegie warf die Tüte verächtlich in den Koffer
und schlug den Deckel zu. »Verdammt.«
»Dachten Sie, es sei das Anco-Geld?«
Carnegie schaute auf die Computer ringsum, deren
Cursor jeweils teilnahmslos blinkte.
Verdammter Big Brother... Die beste Überwachung,
die man für Geld bekommen konnte. Und dann so etwas.
Die Stimme des Detectives war heiser vor Erregung.
»Sie sind meinem Sohn gefolgt! Sie haben die Maler bestellt, damit
Sie ungesehen verschwinden konnten, Sie haben die Munition gekauft,
die Werkzeuge... Und wieso zum Teufel haben Sie eine Website mit
Alarmanlagen gegen Einbrecher angesehen?«
»Ich habe Angebote verglichen«, antwortete Muller
vernünftig. »Ich will ein Alarmsystem für mein Haus kaufen.«
»Das ist alles eingefädelt! Sie...«
Der Geschäftsmann brachte ihn zum Schweigen, indem
er auf Carnegies Kollegen blickte, die ihren Chef mit einer
Mischung aus Besorgnis und Angewidertheit über sein paranoides
Geschwätz ansahen. Muller zeigte mit einem Kopfnicken zu Carnegies
Büro. »Was halten Sie davon, wenn wir beide da hineingehen und uns
in Ruhe unterhalten?«
Im Büro schloss Muller die Tür und wandte sich dem
finster dreinschauenden Detective zu. »Die Lage ist folgendermaßen,
Detective: Ich bin der einzige Zeuge im Fall des Diebstahls und
Autodiebstahls Ihres Sohns. Das ist ein schweres Verbrechen, und
wenn ich auf meine Anzeige bestehe, wird er ein Weilchen brummen,
zumal ich vermute, dass man ihn in Gesellschaft von etwas
unappetitlichen Freunden aufgegriffen hat. Und dann wäre da noch
das kleine Problem mit dem Karriereverlauf seines Vaters, wenn die
Verhaftung des Sohnes erst mal in der Zeitung erscheint.«
»Wollen Sie auf einen Deal hinaus?«
»Ganz recht. Ich habe genug von Ihren
Wahnvorstellungen, Carnegie. Ich bin ein ehrlicher Geschäftsmann.
Ich habe die Lohngelder bei Anco nicht gestohlen. Ich bin kein Dieb
und war nie einer.«
Er beäugte den Detective vorsichtig, dann griff er
in seine Jackentasche und gab ihm einen Zettel.
»Was ist das?«
»Die Nummer eines Coastal-Air-Flugs vor sechs
Monaten – dem Nachmittag des Raubs bei Anco.«
»Woher haben Sie das?«
»Meine Firmen machen Geschäfte mit den Fluglinien.
Ich habe ein paar Verbindungen spielen lassen, und der
Sicherheitschef von Coastal Airlines hat mir diese Nummer besorgt.
Einer der Passagiere in der ersten Klasse auf diesem Flug hat vier
Stunden nach dem Raub bei Anco bar für einen einfachen Flug vom
John-Wayne-Airport nach Chicago bezahlt. Er hat kein Gepäck
aufgegeben. Nur Handgepäck. Den Namen des Passagiers wollten sie
mir nicht verraten, aber für einen hart arbeitenden Polizisten wie
Sie dürfte er nicht schwer zu ermitteln sein.«
Carnegie starrte auf das Papier. »Der Typ in der
Straßenbauermontur? Den der Zeuge nicht weit von Anco mit diesem
Koffer gesehen hat?«
»Vielleicht ist es nur Zufall, Detective. Aber ich
weiß, dass ich das Geld nicht gestohlen habe. Vielleicht war er
es.«
Das Papier verschwand in Carnegies Tasche. »Was
wollen Sie?«
»Streichen Sie mich als Verdächtigen. Heben Sie die
Überwachung auf. Ich will wieder ein normales Leben führen. Und ich
will ein Schreiben, in dem Sie per Unterschrift bestätigen, dass
die Indizien meine Unschuld beweisen.«
»Das würde vor Gericht nichts bedeuten.«
»Aber es würde ziemlich schlecht aussehen, falls
jemand beschließen sollte, mir wieder nachzustellen.«
»Schlecht für meinen Job, meinen Sie.«
»Genau das meine ich.«
Nach einer kurzen Pause murmelte Carnegie: »Wie
lange planen Sie das schon?«
Muller sagte nichts, aber er überlegte: Eigentlich
gar nicht so lange. Er hatte erst angefangen, darüber nachzudenken,
nachdem die beiden Cops ihn neulich aus seinem
Nachmittagsschläfchen gerissen hatten.
Er hatte etwas Geld von einem Anlagekonto auf eines
seiner Bankkonten in Frankreich überwiesen, um bei der Polizei den
Verdacht zu nähren, er bereite sich auf eine Flucht aus Amerika vor
(die französischen Konten waren völlig legal; nur ein Idiot würde
Beutegeld in Europa verstecken).
Dann hatte er seinerseits ein wenig Überwachung
betrieben, wenn auch ohne großen technischen Aufwand. Er hatte sich
einen Overall angezogen, eine Brille und einen Hut aufgesetzt und
sich mit einer Wasserkanne und einer Gartenschere bewaffnet ins
Polizeirevier geschlichen, um die Pflanzen zu pflegen, die er bei
seiner ersten Verhaftung dort bemerkt hatte. Er hatte eine halbe
Stunde auf Knien und mit gesenktem Kopf im Flur vor dem Wachraum
gestutzt und gegossen und dabei das Ausmaß der elektronischen
Invasion in sein Leben in Erfahrung gebracht. Er hatte auch den
Wortwechsel zwischen Billy Carnegie und dem Detective mitgehört –
das klassische Beispiel eines teilnahmslosen Vaters und eines
schwierigen, zornigen Sohns.
Muller lächelte jetzt für sich, als er daran
dachte, wie Carnegie nach der Begegnung mit dem Jungen sofort
wieder so auf seinen Fall konzentriert gewesen war, dass er ihn
fast über den Haufen gerannt hätte, ohne zu bemerken, wer der
Gärtner war.
Er war Billy ein paar Stunden lang gefolgt, bis er
ihn dabei erwischte, wie er die Uhr klaute. Dann hatte er den
Jungen dazu gebracht, ihm zu helfen. Er hatte die Maler bestellt,
um ein paar Wände im Haus aufzufrischen – und ihm den Vorwand zu
liefern, seinen Wagen woanders zu parken und ins Motel zu ziehen.
Schließlich hatte er die Überwachungsmaßnahmen der Polizei gegen
diese eingesetzt und ihnen vorgegaukelt, er sei tatsächlich der
Einbrecher bei Anco und bereite sich auf einen letzten Raub vor, um
danach aus dem Staat zu fliehen. Zu diesem Zweck hatte er
Reisebücher, Munition und Werkzeuge gekauft und sich in die
Websites der Alarmsysteme und Reisebüros eingeloggt. Im Motel hatte
er Billy in die Versuchung geführt, Koffer, Kreditkarten, Handy und
Wagen zu stehlen – alles, was die Polizei den Jungen verfolgen und
ihn auf frischer Tat ertappen ließ.
»Es tut mir leid, Detective«, sagte er nun zu
Carnegie. »Aber Sie haben mir keine andere Wahl gelassen. Sie
hätten einfach nie geglaubt, dass ich unschuldig bin.«
»Sie haben meinen Sohn benutzt.«
Muller zuckte die Achseln. »Dem ist kein Schaden
entstanden. Sehen Sie es mal positiv – seine erste Verhaftung, und
er gerät an ein Opfer, das bereit ist, die Anzeige fallen zu
lassen. Bei jedem anderen hätte er weniger Glück gehabt.«
Carnegie schaute durch die Jalousie auf seinen
Sohn, der neben Hagers Schreibtisch stand und ein Bild des Elends
bot.
»Er ist noch zu retten, Detective«, sagte Muller.
»Wenn Sie ihn retten wollen... Also, gilt unsere Abmachung?«
Nach einem verdrossenen Seufzer nickte Carnegie
widerwillig.
Vor dem Polizeirevier warf Muller den Koffer auf
den Rücksitz seines Wagens, den die Polizei dorthin hatte
abschleppen lassen.
Er fuhr zu seinem Haus und ging hinein. Die Maler
waren offenbar gerade fertig geworden, es roch noch stark nach
Farbe. Er ging durchs Erdgeschoss und riss die Fenster auf, um das
Haus zu lüften.
Dann schlenderte er in den Garten hinaus und
blickte über den großen Haufen Mulch, den zu verteilen er wegen des
unterbrochenen Nickerchens hatte verschieben müssen. Der
Geschäftsmann sah auf die Uhr. Er hatte einige Anrufe zu erledigen,
beschloss jedoch, sie ein andermal zu machen. Er war in der
Stimmung, im Garten zu arbeiten. Er zog sich um, ging in die Garage
und griff nach einer glänzenden neuen Schaufel, einem seiner
Einkäufe bei Home Depot am Morgen. Dann begann er den braunen und
schwarzen Mulch sorgfältig über den weitläufigen Garten zu
verteilen.
Nach einer Stunde Arbeit machte er eine Pause, um
ein Bier zu trinken. Er setzte sich unter den Ahorn, nippte an
seinem Heineken und schaute auf die leere Straße vor dem Haus –
dort, wo in den letzten Monaten immer Carnegies Überwachungsteam
stationiert gewesen war. Mann, es tat gut, nicht mehr ausspioniert
zu werden.
Sein Blick ging zu einem kleinen Felsblock auf
halbem Weg zwischen einer Reihe Maisstängel und einigen
Klettertomaten. Darunter lag in einem Meter Tiefe eine Tasche mit
den fünfhundertdreiundvierzigtausend Dollar von Anco Security. Er
hatte sie am Nachmittag des Raubs hier vergraben, unmittelbar bevor
er die Uniform des Straßenbauers weggeworfen und das gestohlene
Baufahrzeug zum Orange County Airport gefahren hatte, um unter
einem falschen Namen nach Chicago zu fliegen – eine
Vorsichtsmaßnahme, falls er die Ermittler auf eine falsche Spur
locken musste, was dank des zwanghaften Detective Carnegie nun ja
tatsächlich der Fall gewesen war.
Jake Muller plante alle seine Raubzüge bis ins
kleinste Detail. Deshalb war er nach beinahe fünfzehn Jahren als
Dieb auch noch nie gefasst worden.
Er hatte das Geld seit Monaten an seinen
Finanzverwalter in Miami schicken wollen – Muller hasste es, wenn
Beutegeld keine Zinsen abwarf -, aber solange ihm Carnegie im
Nacken saß, hatte er sich nicht getraut. Sollte er es jetzt
ausgraben und losschicken?
Nein, beschloss er; er wartete lieber bis zur
Dämmerung.
Außerdem war es warm, der Himmel klar, und es ging
nichts über Gartenarbeit an einem schönen Frühlingstag. Muller
trank sein Bier aus, griff zur Schaufel und machte sich wieder über
seinen scharf riechenden Mulchhaufen her.