|156|

/epubstore/H/D-Heldt/Ausgeliebt/OEBPS/9783423210065.images/figure/figure_156_0.jpg

Lampenfieber

Leonie erhob sich langsam, ging auf die Saunatür zu, neben der eine Sanduhr hing, die sie umdrehte. Ihr Blick streifte die Frau, die rücklings auf der unteren Bank lag, dann setzte sie sich wieder auf ihr Handtuch und sah mich auffordernd an. Ich stand auf, nahm mein Handtuch und setzte mich eine Etage nach unten, neben Leonie. Ich beugte mich zu ihr und flüsterte: »Was ist?«

Sie heftete ihren Blick erneut auf die liegende Frau. Ich folgte ihrem Blick, mir kam die Frau überhaupt nicht bekannt vor. Ich sah Leonie fragend an und zuckte mit den Schultern.

Sie schüttelte den Kopf, flüsterte: »Gleich.«

Ich lehnte mich zurück und beobachtete die Sanduhr. Unentwegt rieselten die Minuten in den Sand. Langsam fing ich an zu schwitzen.

 

Leonie und ich trafen uns alle vierzehn Tage zu einem Saunatag, mittlerweile war es ein Ritual. Leonies Mann Michael hatte uns einmal begleitet. Beim anschließenden Bier hatte er mit gespielter Fassungslosigkeit festgestellt, dass er nicht noch einmal mit uns beiden in die Sauna wollte. Er sei zu männlich und naiv, um unseren Frauengesprächen ohne bleibende Schäden folgen zu können.

Wir hatten nicht die geringste Ahnung, was er damit meinte.

 

Die Frau neben uns setzte sich auf und streckte sich. Sie sah auf die Sanduhr, stand auf, wickelte sich ihr Handtuch um die Brust und verließ die Sauna.

Jetzt waren wir allein.

|157|Kaum war die Tür zugefallen, drehte sich Leonie zu mir.

»Die waren doch niemals echt.«

Ich überlegte immer noch, ob mir die Frau bekannt vorkam, ich verstand nicht, was Leonie meinte.»Was war nicht echt?«

Leonie sah mich empört an. »Meine Güte, Christine, bist du blind? Die hat sich ihre Brüste machen lassen. Und noch nicht mal besonders gut. Das sieht man doch sofort.«

»Wo du gleich wieder hinguckst. Ich fasse es nicht. Michael wäre schon wieder zusammengezuckt.«

»Das hätte mein Liebster auch gesehen, die Dinger sprangen einem ja förmlich ins Auge.«

Leonie musste selbst über ihren Satz lachen.

Der Schweiß lief mir über das Gesicht. Ich sah auf die Sanduhr, wir hatten jetzt zwanzig Minuten geschwitzt. Ich stand auf. »Mir reicht es, ich gehe raus.«

 

Etwas später lagen wir, in Bademäntel und Decken gehüllt, auf zwei Teakholzliegen, die nebeneinander auf der überdachten Dachterrasse standen.

Leonie sah in den strahlend blauen Himmel. »Sieht noch aus wie Sommer, dabei riecht es schon wie Herbst.«

Ich drehte den Kopf in ihre Richtung. »Wir haben September, der Sommer ist fast vorbei.«

Leonie drehte sich auf die Seite, stützte ihren Kopf auf ihren angewinkelten Arm und sah mich an. »Hast du eigentlich schon den Herbstblues?«

»Wie kommst du da drauf? Du hast doch mit dem Herbst angefangen.«

Sie musterte mich nachdenklich.

»Ich weiß nicht, du bist so still heute. Hast du irgendwas?«

Ich schüttelte den Kopf. Charlotte nickte. »Richard.«

Edith antwortete: »Na toll, das bringt dich jetzt schon so durcheinander, dass es jeder mitkriegt. Super.«

Leonie musterte mich immer noch. Nachdem keine Antwort |158|von mir kam, drehte sie sich wieder auf den Rücken. Ihre Stimme klang verschnupft.

»Du musst nichts erzählen, wenn du nicht willst. Aber du warst am Telefon vorgestern Abend auch so kurz angebunden. Ich frag ja nur.«

Sie starrte in die Luft.

Ich zupfte sie versöhnlich an ihrem Bademantelärmel.

»Wenn ich was hätte, würde ich dir das erzählen. Vorgestern habe ich noch auf einen anderen Anruf gewartet, deshalb wollte ich nicht so lange telefonieren.«

Ich machte eine Pause, Leonie fragte aber nicht nach. Dafür drehte sie ihren Kopf und sah mich wieder an. »Ich soll dir also glauben, dass dich im Moment nichts umtreibt? Ich kenne dich doch, du kaust doch auf irgendetwas rum.«

Ich suchte nach Formulierungen, mit denen ich Leonie weder anlog noch zu viel preisgab.

»Es ist nicht so konkret. Ich habe im Moment zu viel Zeit, meine Termine sind fast alle abgearbeitet, ich habe nur noch eine Hand voll Besuche vor mir. Und wenn ich zu oft frei habe, gehen mir lauter Gedanken durch den Kopf. Ob ich überhaupt mit dem Alleinleben klarkomme, ob ich mich jemals wieder verlieben kann, ob ich mich überhaupt noch mal auf eine Beziehung einlassen will, ob ich jemals wieder jemandem vertrauen kann, solches Zeug halt.«

Ich fand, ich hatte Richard elegant umschifft.

Leonie setzte sich auf.

»Natürlich wirst du dich wieder verlieben. Und wenn du das getan hast, wirst du dich auch wieder einlassen können. Es braucht vielleicht noch Zeit. Nimm dir doch erst mal einen Liebhaber, unverbindlich, nur um hin und wieder Nähe zu spüren. Du brauchst doch auch mal Sex.«

Ich starrte sie verblüfft an.

»Leonie, du empfiehlst mir nicht ernsthaft, eine heimliche Geliebte zu werden?«

Mittlerweile war sie aufgestanden und sah auf mich runter.

|159|»Meine Güte, sei nicht so moralisch. Ich rede ja nicht davon, dass du gleich eine Affäre anfangen sollst, aber du kannst doch mal über deine Bedürfnisse nachdenken und denen auch folgen. Du wirst in acht Wochen vierzig, sei nicht so verklemmt.«

Ich war sprachlos.

Leonie merkte das und lachte. Sie setzte sich auf das Fußende meiner Liege und legte ihre Hand auf meine zugedeckten Beine.

»Sieh es doch mal so. Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder hast du einen Partner, der deine Bedürfnisse erkennt, sie ernst nimmt und versucht, sie zu erfüllen, dann ist das Glück. Oder du hast einen Partner, dem deine Bedürfnisse egal geworden sind und der sich auch nicht mehr zuständig fühlt, dann kannst du das vergessen. Du hattest leider mit Bernd die zweite Variante, mach aber nicht den Fehler, dass du deine Bedürfnisse verdrängst, auf die hast du nämlich ein Anrecht.«

Sie erhob sich wieder und sah auf die Uhr.

Ich musste fragen. »Wie ist es bei dir?«

Leonie lächelte. »Ich habe viel Glück. Aber ich habe jetzt meinen Massagetermin bei diesem niedlichen Masseur. Das ist eines der wenigen Bedürfnisse, die Michael nicht erfüllen kann. Dafür schenkt er mir zum Geburtstag seit zwei Jahren einen Gutschein für zehn Massagen. Also, ich gehe jetzt, bis später.«

Ich sah ihr nach, wie sie durch die Glastür zum Innenbereich verschwand.

Ich wickelte meine kalten Füße fester in die Wolldecke und legte mich bequem zurück. Leonies Worte gingen mir durch den Kopf. Meine Bedürfnisse waren in den letzten Jahren wirklich unter die Räder gekommen, ich wusste eigentlich nicht genau, welche ich überhaupt hatte.

Charlotte wusste eines. »Richard ist ein Bedürfnis.«

Ich stellte mir Richard als meinen Liebhaber vor und bekam sofort Herzklopfen.

Edith winkte ab. »Blödsinn, du bist wieder so dämlich und verliebst dich sofort. Und dann kannst du das vergessen.«

|160|Ich vergrub mich tiefer in meinen Bademantel und hatte wieder dieses Richard-Gefühl in der Magengrube.

 

Vor zwei Wochen hatte ich das Telefon mindestens zwanzigmal in die Hand genommen und genauso oft wieder auf die Station gelegt. Ich hatte mir die Fußnägel lackiert, das Badezimmerfenster geputzt, meine Kontoauszüge abgeheftet, drei Blusen gebügelt und schließlich eine Flasche Rotwein geöffnet. Ein Glas lang dachte ich nach, gegen 21 Uhr rief ich Richard an. Als ich die Bremer Vorwahl wählte, spürte ich meinen Pulsschlag im Hals.

Nach dem zweiten Freizeichen meldete er sich.

»Jürgensen.«

Mein Hirn fühlte sich leer an, mein Mund trocken. Ich suchte verzweifelt den Anfang. Richard war ungeduldig, ahnte nichts von meiner Qual.

»Hallo, wer ist denn da?«

Ich beeilte mich, nahm die Hürde.

»Hallo, Richard, äh, hier ist Christine, ich, also Georgs Schwester.«

Edith verdrehte die Augen. »Toller Einstieg.«

Am anderen Ende entstand eine kleine Pause. Dann hörte ich wieder seine Stimme. Sie klang verhalten.

»Christine. Das ist ja nett. Wie geht es dir denn so?«

Ich hatte keine Vorstellung von seiner Reaktion gehabt, hatte nicht mit Jubelschreien oder Tränenausbrüchen gerechnet, aber dieses »Nett« klang ganz schief. Ich gab mich betont lässig.

»Mir geht es gut, danke. Dorothea hat mir deine Grüße ausgerichtet und mir deine Visitenkarte gegeben, da dachte ich, ich rufe dich doch mal an. Mal hören, was du so treibst.«

Edith schüttelte den Kopf. »Was für ein beknackter Satz.«

Richard schien nichts anderes erwartet zu haben. Seine Antwort klang unverbindlich.

»Ach ja, Annekes Geburtstag. Dorothea hat mir erzählt, dass ihr noch Kontakt habt, obwohl sie nicht mehr mit deinem |161|Bruder liiert ist. Das finde ich gut. Wie geht es Georg denn? Ich habe lange nichts mehr von ihm gehört, ist er noch in Berlin?«

Das lief ja völlig aus dem Ruder. Mit so einem Gesprächsverlauf hatte ich nicht gerechnet, als ich vorhin gefühlsduselig um die Alster gelaufen war.

Edith schon. »Ich habe es dir doch gesagt.«

Charlotte hoffte noch.

Ich beantwortete Richards Frage.

»Nein, Georg lebt seit zwei Jahren auch in Hamburg. Er ist jetzt freier Journalist, hat aber jede Menge Aufträge. Es geht ihm gut.«

Pause.

Dann wieder Richard.

»Aha. Schön. Was heißt denn auch? Ach ja, eure Schwester wohnt ja auch da, wie heißt sie noch? Iris?«

»Ines.«

»Ja, genau. Das ist ja gut. Dann hast du jetzt ja zwei Übernachtungsmöglichkeiten.«

Edith brach fast zusammen. »Das wird ja immer schlimmer.«

Ich zündete mir eine Zigarette an, sah, dass meine Hand zitterte.

Richard bemerkte: »Du rauchst noch.«

Zum ersten Mal hörte ich ein Lächeln in seiner Stimme. Ich räusperte mich.

»Ja, ich rauche noch. Und Übernachtungsmöglichkeiten brauche ich in Hamburg auch nicht mehr, ich wohne jetzt hier.«

Pause.

Dann seine Stimme, wieder neutral. »Hattet ihr das Landleben satt?«

»Nicht wir. Ich.«

Jetzt war ich gespannt.

Seine Antwort war enttäuschend. »Ach so, na ja, ich habe es umgekehrt gemacht. Ich bin aus Berlin in einen Vorort von Bremen gezogen, fast schon Dorf. Aber man gewöhnt sich daran.«

Charlotte bettelte. »Los, frag ihn was Privates.«

|162|Edith winkte ab. »Das ist ja wohl das dämlichste Telefonat, das du seit Jahren geführt hast.«

Ich war ihrer Meinung und setzte mich gerade hin.

»Also, Richard, ich wollte dich auch nicht stören, es war nur wegen Dorothea und der Visitenkarte. Jedenfalls wünsche ich dir noch einen schönen Abend.«

Richards Antwort war genauso unverbindlich.

»Ja, dann danke für den Anruf. Vielleicht treffen wir uns mal zum Mittagessen, ich bin öfter beruflich in Hamburg.«

Edith war in Fahrt. »Mittagessen. Geschäftsmäßiger geht es wohl nicht. Der setzt dich auch noch von der Steuer ab.«

Ich blieb verzweifelt locker.

»Sicher, du kannst dich ja mal melden. Schönen Abend noch.«

Charlotte war kreuzunglücklich.

Und Edith sagte: »Der Arsch hat noch nicht mal nach deiner Telefonnummer gefragt.«

 

Ich blieb in meiner geraden Haltung am Tisch sitzen, hielt immer noch den Hörer in der Hand und hatte das unbändige Verlangen, ihn quer durch das Zimmer an die Wand zu feuern. Stattdessen stand ich auf, ging mit schnellen Schritten zweimal durch meine Wohnung, um mich zu beruhigen. Schließlich stand ich vor meinem roten, sicheren Sessel. Ich ließ mich hineinfallen, stand wieder auf, holte zornig mein Weinglas und setzte mich wieder.

 

Edith bohrte in der Wunde. »Da machst du dich zum Affen, steigerst dich den ganzen Tag in alberne Gedanken rein, erwartest Gott weiß was von einem Typen, von dem du sechs Jahre nichts gehört hast, und bist dann enttäuscht, weil er dich abbügelt. Mimose.«

Charlotte war immer noch fassungslos. »Aber da war irgendetwas zwischen euch in Berlin. Das hast du dir doch nicht eingebildet. Und er hat dich grüßen lassen, vielleicht war er einfach nur überwältigt und unsicher durch deinen Anruf.«

|163|Edith lachte höhnisch. »Überwältigt. Ha! Das soll wohl ein Witz sein. Wir reden hier von einem Abend, der sechs Jahre her ist. Das ist doch vergessen. Du benimmst dich, als wärst du wieder dreizehn. Da hast du genauso für David Cassidy geschwärmt, sein Bravo-Starschnitt hing über deinem Bett. Das ist aber fast dreißig Jahre her. Sei nicht so kindisch.«

 

Ich ärgerte mich, als ich Tränen spürte. Es war wirklich kindisch. Ich hatte mich einfach in die Erinnerungen hineingesteigert. Vielleicht hatten mich Ninas Sehnsüchte angesteckt und ich mutierte jetzt auch zu einer dieser suchenden, sich verzehrenden Singlefrauen.

»Das lasse ich nicht zu. Nicht nach allem, was ich geschafft habe.«

Ich merkte, dass ich diesen Satz laut gesagt hatte. Wenn ich Dorothea erzählt hätte, dass ich begann, laute Selbstgespräche zu führen, sie hätte mich noch am selben Tag in ein Schuhgeschäft ihrer Wahl geschleppt. Sie löst alle kleinen Probleme mit dem Kauf neuer Schuhe.

Und dieses war nur ein kleines Problem, noch nicht einmal ein Problem, mehr eine Verwirrung.

Ich merkte, dass mir der Wein langsam zu Kopf stieg, ging in die Küche, goss den kleinen Rest aus der Flasche in die Spüle und ging Zähne putzen.

Nach drei Seiten Krimi, bei denen sowohl der Kommissar als auch der Verdächtigte Richards Gesicht hatten, knipste ich entnervt die Lampe aus.

Ich stand vor einem riesigen Berg Schuhe und versuchte verzweifelt, ein zusammengehöriges Paar zu finden. Einen schwarzen Stiefel hatte ich in der Hand, die anderen Stiefel waren entweder braun oder grün oder hatten eine ganz andere Form. Dorothea stand lächelnd neben mir und fügte Paar um Paar zusammen. Es war wie ein Memory-Spiel, jedes Mal, wenn sie ein Paar zusammen hatte, ertönte eine Klingel.

Ich wurde wach, weil das Klingeln immer lauter wurde, und |164|tastete verschlafen nach dem Lichtschalter. Als ich den Wecker entziffern konnte, begriff ich, dass ich erst zwei Stunden geschlafen hatte. Es war kurz vor Mitternacht und irgendein Idiot rief hier an. Ich setzte mich auf, wollte erst nicht rangehen, dann schossen mir Bilder von Unfällen und anderen Katastrophen durch den Kopf. Ich sprang auf, nahm den Hörer vom Wohnzimmertisch und meldete mich heiser.

Sofort hörte ich die fragende Stimme, die jetzt ganz anders klang, fast drängend.

»Christine?«

Ich war schlagartig wach.

»Richard?«

Dann erst fiel mir das Gespräch von vorhin wieder ein.

»Woher hast du denn meine Nummer?«

Richard lachte leise.

»Die habe ich mir vorhin vom Display abgeschrieben. Christine, ich habe wie ein Idiot reagiert. Können wir das Gespräch von vorhin vergessen und noch mal neu anfangen?«

Ich bekam Herzklopfen, setzte mich langsam in den roten Sessel.

»Das wäre gut.«

»Ich hatte heute einen ziemlich blöden Tag, das soll jetzt keine Entschuldigung sein, vielleicht eine Erklärung. Jedenfalls habe ich vorhin in meiner Wohnung gesessen, ziemlich schlecht gelaunt, und als das Telefon klingelte, dachte ich erst, das Generve ginge weiter. Und als ich deine Stimme hörte, habe ich mich so gefreut, dass ich das nicht so schnell auf die Reihe bringen konnte. Es tut mir leid.«

»Naja, ich war ja auch nicht der Ausbund an Witz, ich fand dich nur so unverbindlich, damit hatte ich nicht gerechnet.«

Richard antwortete schnell. »Ich wollte überhaupt nicht unverbindlich sein, ganz im Gegenteil. Ich war so unsicher, kennst du das? Man ist aufgeregt, will ganz charmante und witzige Sachen sagen und hört sich selbst dabei zu, wie man das ganze Gespräch vergeigt?«

|165|»Das kenne ich.«

Ich fing an zu zittern, wusste nicht, ob ich aufgeregt war oder fror. Richard merkte es an meiner Stimme und fragte nach. »Du hast schon geschlafen, oder? Hast du überhaupt noch Lust zu telefonieren?«

Ich hatte Lust, holte mir eine Wolldecke und meine Zigaretten und kroch damit in den roten Sessel.

Und plötzlich ging es. Wir machten da weiter, wo wir in Berlin vor sechs Jahren aufgehört hatten. Ich erzählte Richard von den letzten Monaten, begann mit dem Anruf von Bernd und endete beim roten Sessel. Er stellte Fragen, ich antwortete. Er begann Sätze, ich beendete sie.

Ich stellte ihm Fragen, er erzählte. Von den Kämpfen mit Sabine, seiner zweiten Frau, von Streitigkeiten, von Machtkämpfen, von Versöhnungen, von Resignationen.

Richards Ehe wurde immer mehr Fassade, er selbst immer gleichgültiger. Dazu kam die Unlust, weiterhin als Justiziar beim Berliner Sender zu arbeiten.

»Und dann traf ich vor zwei Jahren einen Studienkollegen wieder. Er hatte eine Anwaltskanzlei in Bremen übernommen, wollte sich auf Medienrecht spezialisieren und suchte einen Partner. Ich fand die Idee großartig. Sabine lehnte sofort ab, mit nach Bremen zu gehen, also blieb sie in Berlin, ich zog in eine kleine Wohnung in Schwachhausen, habe einen klasse Job und in der Woche meine Ruhe. Es ist besser so.«

Wir telefonierten über zwei Stunden. Als ich danach ins Bett ging, fühlte sich meine Seele gestreichelt.

 

Leonie rüttelte an meiner Liege.

Ich öffnete die Augen, Leonie sah zu mir runter.

»Ach, Christine, war das wieder gut. Was ist? Hast du geschlafen? Du siehst völlig weggetreten aus.«

Ich nickte nur kurz, streckte mich und antwortete: »Ich war einen Moment lang weg. Wollen wir gleich den nächsten Saunagang machen?«

|166|Leonie hatte schon ihr Handtuch über dem Arm. »Aber jetzt sofort, komm, erhebe deinen müden Körper.«

Die Sauna war dieses Mal voll, wir konnten uns nicht unterhalten. Leonie musterte unauffällig die anderen Saunagäste und schloss dann die Augen.

Ich konnte meine Gedanken wieder zu Richard wandern lassen.

 

Nach diesem ersten Gespräch hatten wir in den letzten zwei Wochen achtmal telefoniert.

Jedes Gespräch hatte mindestens eine Stunde gedauert. Ich war überrascht, wie viele Themen wir fanden. Richard fragte mich nach allen Details meines Jobs, ließ sich alles erklären, fand alles spannend. Ich erzählte ihm von meinen Buchhändlern, von den Kollegen, die ich getroffen hatte, er erklärte mir in groben Zügen das Medienrecht, beschrieb die Fälle, an denen er gerade saß.

Wir redeten über Bücher, er las viel, ließ sich Vorschläge von mir machen, fragte, in welcher Bremer Buchhandlung er das Buch kaufen sollte. Drei Tage später erzählte er mir stolz den Inhalt, er hatte die ganze Nacht gelesen.

Er gab mir das Gefühl, ihn schon jahrelang zu kennen, der Wunsch, ihn zu treffen, wurde immer größer.

Charlotte war selig, Edith schwieg.

Mich trug die Vorfreude auf die Telefonate durch die Tage.

Das Thema Sabine klammerten wir aus. Ich traute mich nicht zu fragen, ob er jedes Wochenende nach Berlin fuhr und diese Ehe trotz allem noch lebte. Er redete zwar über die vergangenen schwierigen Jahre, sagte aber nichts mehr zu dem, was jetzt war.

Ich verdrängte meine Fragen und die Gedanken und nahm mir vor, die Dinge einfach geschehen zu lassen.

 

Leonie setzte sich auf und wechselte die Saunabank. Ich setzte mich neben sie. Sie lächelte mich kurz an und betrachtete ihre |167|rotlackierten Zehen. Ich hatte den Anflug eines schlechten Gewissens, weil ich ihr nichts von Richard erzählte. Sie hätte sich gefreut, allein schon, weil ich mich wieder mit einem Mann beschäftigte. Ich wusste nur selbst noch gar nicht, was hier mit mir passierte.

Sie sah auf die Sanduhr und machte eine Kopfbewegung zur Tür. Wir nickten uns zu, gingen zusammen raus, auf die kalten Duschen zu.

Leonie nahm unser Gespräch vor ihrer Massage nicht mehr auf. Wir beschränkten uns auf allgemeinere Themen, die Sauna hatte sich mittlerweile gefüllt, wir saßen nie ungestört.

Nach dem letzten Saunagang tranken wir noch unser übliches Sauna-Feierabend-Bier in dem kleinen Bistro vor den Umkleideräumen.

Leonie sah erholt und zufrieden aus. Sie hob ihr Glas.

»Wie ein Tag Urlaub, das war doch wieder schön. Wo musst du eigentlich morgen hin?«

Ich bemühte mich um einen neutralen Gesichtsausdruck. »Ich fahre morgen nach Bremen. Vier Termine.«

Leonie trank einen Schluck und wischte sich den Schaum vom Mund.

»Das geht ja, dann bist du früh zu Hause.«

»Ja«, sagte ich. Und dachte: Entschuldige, Leonie, es ist nur eine kleine Notlüge.

 

Am Abend packte ich meine Unterlagen zusammen und nahm anschließend meine kleine Reisetasche vom Schrank.

Während ich meine Klamotten durchsah und überlegte, was ich anziehen sollte, fühlte ich, wie die Aufregung immer größer wurde. Ich setzte mich aufs Bett und sah auf die leere Tasche.

Beim letzten Telefonat hatte Richard unvermittelt gefragt: »Wann bist du eigentlich das nächste Mal in Bremen?«

»Übermorgen.«

Seine Antwort kam nach einer kleinen Pause.

»Dann sollten wir uns sehen.«

|168|In meinem Kopf tauchten Bilder auf. Berlin. Sein Gesicht. Der Kuss. Das Hotel. Seine Wohnung.

 

Edith versuchte es. »Du hast in Bremen noch nie übernachtet, das ist doch Schwachsinn. Du bist in einer guten Stunde zu Hause.«

Charlotte antwortete. »Ihr geht Abendessen, du kannst das allein entscheiden. Du willst bestimmt nicht nach Hause.«

 

Richard fragte: »Soll ich dir ein Hotelzimmer buchen? Es gibt ein Hotel hier in der Nähe, da bringe ich auch manchmal Mandanten unter. Dann kannst du auch etwas trinken und musst nicht nachts noch nach Hamburg fahren.«

Ich war erleichtert. »Gerne.«

Er hatte ein Lächeln in der Stimme. »Schön.« Er nannte mir die Adresse.

»Ich hole dich um 19 Uhr da ab und dann machen wir uns einen tollen Abend, o.k.?«

»Wunderbar.«

Ich fühlte mich genau so.

 

Ich suchte die neue Bluse, die ich mit Dorothea zusammen in Eppendorf gekauft hatte. Dorothea hatte mich überredet, ich fand den Ausschnitt zu tief. An diesem Abend fand ich sie in Ordnung und packte sie ein.

Und rote Wäsche.

 

Als ich im Bett lag und mir Richards Gesicht in meine Erinnerung zog, fühlte ich mein Lampenfieber. David Cassidy, dachte ich und lächelte.

Edith schüttelte missbilligend den Kopf.

Charlotte flüsterte: »Morgen.«

Und ich freute mich sehr.