Kapitel 6
Ein Nordlicht an Rhein und Ruhr
Wie eine Festung überwölbt das 20 Stockwerke hohe »Stadttor« die Bundesstraße 1 in Düsseldorf. Die schiere Größe des Gebäudes zwingt die Vorbeigehenden zum Aufschauen und die Autos in den Untergrund. Bevor der tosende Verkehr dem gläsernen Hochhaus zu nahe kommt, verschwindet er in einem Tunnel.
Hierher, mitten hinein in das schicke Hafenviertel der Landeshauptstadt Düsseldorf, hat Wolfgang Clement die Staatskanzlei von Nordrhein-Westfalen verlegt. Das moderne Ungetüm aus Stahlbeton und Glas steht gegenüber von Fernsehturm und Landesparlament. Direkt daneben liegt der Rheinhafen mit Medienmeile, Galerien, trendigen Bars, Designeroutlets und den chromglänzenden Gehry-Bauten. Clement schätzt dieses urbane Ambiente. Es verkörpert den Strukturwandel und die neue Zeit an Rhein und Ruhr besser als die vielen restaurierten Zechen und Stahlwerke, in denen am Wochenende bestenfalls noch Rockkonzerte oder Flohmärkte stattfinden.
Die ehrwürdige Villa Horion, nur 500 Meter entfernt, findet der moderne Macher zu altbacken. Hier haben vor ihm zwar fast alle Ministerpräsidenten des Landes residiert, aber diese Art traditioneller Beständigkeit ist Clement fremd. Die neoklassizistische Architektur des Palais, das der Landeshauptmann der Rheinprovinz Johannes Horion 1911 erbauen ließ, strahlt dem neuen Chef einfach zu viel Vergangenheit aus. Außerdem stört es Clement, dass der alte Regierungssitz im baulichen Schatten des benachbarten Mannesmann-Hochhauses steht, in dem heute die Deutschlandzentrale des Telefonriesen Vodafone untergebracht ist. Clement ist kein Typ, der sich versteckt. Er residiert lieber hoch oben im Glaspalast in einem nüchternen Designerbüro mit bodentiefer Fensterfront und einem weiten Blick über den Rhein und die Stadt.
Als Peer Steinbrück im Herbst 1998 Kiel verlässt und zurück nach Düsseldorf kommt, besucht er schnell noch einmal seine frühere Wirkungsstätte in der alten Staatskanzlei. Der Umzug von der Villa Horion in das gläserne Stadttor ist bereits in Vorbereitung, doch noch sind die Spuren von Johannes Rau in den vertrauten Räumlichkeiten am Mannesmannufer zu erkennen. Vier Jahre lang diente Steinbrück dem alten Landesvater hier als Büroleiter. Die Möbel stehen noch da, nur die Bilder wurden ausgetauscht.
Mit Clement hat ein neuer Regierungsstil Einzug gehalten in NRW, wie das Land kurz und knapp genannt wird. Der gelernte Journalist und ehemalige Parteisprecher ist ein ungeduldiger Mann. Er verbirgt seine Meinung höchst ungern hinter schönen Worten und sozialdemokratischen Floskeln. Lieber spricht er in schnörkelloser Offenheit aus, was Sache ist. Damit eckt er bei den Genossen an, was Clement nicht weiter stört. Er weiß, dass seine direkte Art wenig Anklang findet in der gefühligen, sozialromantischen Ruhrgebiets-SPD. Die Ungeduld des neuen Ministerpräsidenten hat ihren Grund: Sechs Jahre lang musste Clement als Chef der Staatskanzlei in Düsseldorf zuschauen, wie Johannes Rau durch das Land reiste, ohne die Probleme so entschlossen anzupacken, wie es seiner Meinung nach erforderlich gewesen wäre.
Aus dieser Zeit bei Rau kennen sich Clement und Steinbrück. Sie haben sich von Anfang an verstanden. Beide wohnten mit ihren Familien in Bonn und nicht an ihrem Arbeitsplatz in der Landeshauptstadt, mieteten deshalb Ende der Achtzigerjahre eine gemeinsame Wohnung unweit der Düsseldorfer Staatskanzlei an, in der sie unter der Woche übernachteten. Am Ende der langen Arbeitstage führte der Weg die beiden oft noch auf ein Bier in die benachbarte Altstadt. Was Steinbrück bis heute imponiert, ist das geringe Schlafbedürfnis von Clement. Der las nämlich selbst nach dem nächtlichen Kneipenbummel noch Akten und machte frühmorgens bereits wieder Krach, während Steinbrück noch Ruhe suchte. Auch später in Berlin blieben sie einander durch eine Wohnung verbunden: Steinbrück übernahm 2005 Clements Apartment am Tiergarten, als dieser nach der Wahl Merkels sein Amt als Bundeswirtschafts- und Arbeitsminister verlor und Steinbrück in der neu gebildeten Großen Koalition das Finanzressort erhielt.
Von Anfang an waren Steinbrück und Clement sich einig, dass gute Politik aus der sauberen Umsetzung rationaler Entscheidungen besteht. Das Emotionale bei Parteiveranstaltungen und Wahlkämpfen war und ist ihnen lästig. Sie verstehen, worum es geht, können es aber selbst nicht liefern. Das Bad in der Menge haben beide immer nach Kräften vermieden. Die Rolle des »Oma-Knutschers« liegt weder Clement noch Steinbrück. Schon früher haben sie hinter der Bühne oft gemeinsam mit den Augen gerollt, wenn Landesvater Rau auf dem Podium in seiner pastoralen Art die Zuhörer einlullte und sich wieder einmal um unangenehme Entscheidungen drückte. Dabei fiel der Strukturwandel kaum irgendwo in Westdeutschland schmerzhafter aus als in der alten Industrieregion an Rhein und Ruhr. Es dauerte Jahrzehnte, bis das Ruhrgebiet aus seiner strukturellen Abhängigkeit von Kohle und Stahl befreit werden konnte.
Das qualvolle, durch Milliardensubventionen immer wieder hinausgezögerte Dahinsiechen des Bergbaus hat den Stolz einer ganzen Generation von Kumpeln gebrochen. Das wirkt nach, auch wenn die heutige Generation nicht mehr unter Tage einfährt – inzwischen wohnen Lehrer und Softwareprogrammierer in den alten, hübsch renovierten Siedlungshäuschen der Bergarbeiter. Die Vorstellung aber, was soziale Gerechtigkeit ausmacht, haben die Kinder trotzdem von der Generation ihrer Eltern übernommen. »Nordrhein-Westfalen ist ein durch und durch sozialdemokratisches Land, ganz gleich wer hier regiert«, hat Stefan Willeke in einem sehr einfühlsamen ZEIT-Dossier über Nordrhein-Westfalen geschrieben (12.5.2005). »Wem der Ruf anhaftet, das Soziale in der Demokratie zu gefährden, der hat zwischen Rhein und Ruhr einen schweren Stand.«
Entsprechend ließ sich der notwendige Strukturwandel nicht so einfach umsetzen. Nach reinen Marktgesetzen hätte man die unrentablen Bergwerke und viele der alten Stahlhütten schließen müssen. Was allerdings nur um den Preis der sozialen Verelendung einer ganzen Region machbar gewesen wäre. Es gab deshalb über Jahrzehnte hinweg mit allen Bundesregierungen den Konsens, den Bergbau an Ruhr und Saar mit Subventionen zu unterstützen und ihn nach und nach allmählich auslaufen zu lassen. Die lange Übergangszeit sollte genutzt werden, um die Ansiedlung neuer Industrien und Dienstleistungen zu ermöglichen.
Clement und Steinbrück indes merkten rasch, dass die vereinbarten Hilfszahlungen den dringend gebotenen Veränderungsprozess letztlich lähmten. Ihnen ging der gesamte Strukturwandel nicht schnell genug voran. Egal wo sie hinkamen – sie wollten Tempo, Bewegung, Wandel. Mit dieser Grundhaltung haben die beiden in Nordrhein-Westfalen in allen ihren Ämtern Politik gemacht: als unbequeme Fragesteller und vorwärtsdrängende Macher. Bei der traditionellen NRW-SPD stießen sie damit auf Unverständnis, ja Abwehr.
In der »Herzkammer der Sozialdemokratie«, wie Herbert Wehner das Ruhrgebiet einmal genannt hat, war man andere Töne aus der Düsseldorfer Regierungszentrale gewöhnt. Ob der wortgewaltige Ministerpräsident Heinz Kühn, der gütige Sozialminister Hermann Heinemann oder der zugewandte Johannes Rau – zur Kulisse ihrer Macht gehörte stets die demonstrative Liebe zu den Leuten sowie eine emotionale und verklärte Ruhrgebietsromantik. Wer den feuerroten Himmel beim Stahlanstich über den Hochöfen nicht schön fand, gehörte eigentlich nicht dazu. Diese Referenz der Mächtigen an das einfache Leben »im Pott« hatte, zusammen mit einer tiefen Verankerung in der Bevölkerung, die Genossen als Vertreter der Arbeiter über Jahrzehnte hinweg ebenso erfolgreich wie selbstgewiss gemacht.
Bergmannslieder und Kohlenstaub waren eine scheinbar unauflösbare Verbindung mit der SPD eingegangen. Doch die rapide Veränderung des modernen Arbeitslebens und das Entstehen neuer Beschäftigungszweige vor allem im Dienstleistungssektor führten zu einer langsamen, unaufhaltsamen Erosion der festgefügten Milieus. Weil die Auflösung der industriellen und gesellschaftlichen Strukturen nicht nur soziale Folgen zeigte, sondern auch mit dem Schwinden traditioneller politischer Vertretungsmacht einherging, stemmten sich die führenden SPD-Leute mit aller Kraft dagegen, dem Wandel die Hand zu reichen. Die meisten ahnten zwar, dass in der digitalen Welt die Veränderungen und Umwälzungen nicht mehr aufzuhalten waren. Aber man wollte entweder nichts davon wissen oder den ganzen Prozess wenigstens so lange wie möglich hinauszögern.
Gegen diese Beharrungskräfte musste Clement als Ministerpräsident regieren. Er war deshalb froh, in Steinbrück einen Mitkämpfer und Geistesverwandten zu finden. Das Amt des Wirtschaftsministers, das Steinbrück 1998 übernahm, hatte zuvor einige wenige Monate in den Händen von Bodo Hombach gelegen. Auch er zählte zu den Leuten, die ganz nach Clements Geschmack waren: zupackend, ideenreich und, wenn es sein musste, rücksichtslos. Der gelernte Fernmeldetechniker hatte sich auf dem zweiten Bildungsweg über die Postgewerkschaft bis in die erste Reihe der Landespolitik durchgekämpft. Hombach galt als genialer Wahlkampfmanager und Gestalter politischer Botschaften. Der identitätsstiftende Slogan »Wir in Nordrhein-Westfalen« stammte aus seiner Feder. Die entsprechende Kampagne dazu stellte in dem »Bindestrichland« erstmals so etwas wie ein Zusammengehörigkeitsgefühl der Rheinländer und Westfalen her. Hombach, genannt der »Sultan von der Ruhr« (Tina Hildebrandt, DIE ZEIT, 48/2008), verfügt als Verlagsmanager und Moderator des Initiativkreises Ruhr bis heute über großen Einfluss. Als Landeswirtschaftsminister hingegen vermochte er keine Spuren zu hinterlassen – er war damals vollauf damit beschäftigt, Gerhard Schröder als Berater und »Spin Doctor« im Wahlkampf gegen Helmut Kohl zu dienen. Außerdem half er der SPD, das noch unklare Konzept der »neuen Mitte« und der »Modernisierung« in greifbare Politik zu übersetzen. Nach dem klaren Wahlsieg im Herbst 1998 holte Schröder seinen Berater Hombach als Chef des Kanzleramts in die rot-grüne Bundesregierung.
Nach dem Ruhrsultan zieht also ein Nordlicht ins Düsseldorfer Wirtschaftsministerium ein. Dort ist Steinbrück lediglich aus seiner Zeit als Büroleiter von Rau bekannt, und so wird auf den Fluren anfangs skeptisch gefragt, wie ernst man denn den »Kofferträger vom alten Chef« nehmen müsse. Doch die Zweifler werden schnell eines Besseren belehrt. »Der Zwilling von Clement« (Jürgen Zurheide im Tagesspiegel, 26.10.1998) macht in Nordrhein-Westfalen genauso weiter, wie er zuvor in Schleswig-Holstein aufgehört hat. Äußerlich freundlich, aber hart in der Sache, vertritt er in NRW die Interessen der Wirtschaft – oft genug gegen die Widerstände der Grünen, die auch in Düsseldorf der SPD als Koalitionspartner dienen.
Von Anfang an zeigt Steinbrück der Umweltpartei, wo seiner Meinung nach der Hammer hängt. Er könne es nicht leiden, wenn in einem Land mit Strukturproblemen und hoher Arbeitslosigkeit eine »Politik auf Wolke sieben« betrieben werde, lässt er die Grünen gleich zu Beginn wissen. Und mit bedrohlichem Unterton fügt er hinzu, dass er in Kiel »dieses Konfliktmuster ja schon einmal erlebt« habe. »Wer die Spielregeln einer globalisierten Wirtschaft ignoriert, der meldet sich aus der wirtschaftspolitischen Debatte ab.«
Das wird zu Recht als unverhüllte Warnung an die Grünen und die Sozialromantiker in den Reihen der SPD verstanden. Aber desgleichen erhalten die Unternehmer zwischen Aachen und Paderborn bei Steinbrücks Start eine unmissverständliche Ansage – die gleiche übrigens wie zuvor in Schleswig-Holstein: Eine Förderpolitik »mit der goldenen Mohrrübe« könne es wegen der angespannten Haushaltslage nicht geben, stellt der neue Minister klar. Das ist sicher deutlich, indes nicht besonders originell. Selbst Peer Steinbrück erfindet eben nicht jeden Tag die Welt aufs Neue. Und zur Wahrheit gehört ebenfalls, dass Steinbrück wie alle anderen Politiker recht gut von der ständigen Wiederholung einprägsamer Sprüche und Begriffe lebt.
Steinbrück schätzt seine Düsseldorfer Position sehr. Als Minister für Wirtschaft, Technologie und Verkehr im bevölkerungsreichsten Bundesland laufen die wichtigsten Fäden für eine moderne Infrastruktur- und Wirtschaftspolitik bei ihm zusammen. Betrachtet man seinen Regierungsstil, dann hat er in gewisser Weise das »Zettelkastensystem« aus der Kieler Studentenzeit auf sein späteres Politikmanagement übertragen. Er stellt Zusammenhänge zwischen den einzelnen Sachgebieten her, aktualisiert ständig seinen Fundus an Wissen und versucht, in ressortübergreifenden Strukturen zu denken. Vor allem das Zusammenspiel zwischen der Technologieförderung und der anwendungsgetriebenen Forschung an den Hochschulen hat er in NRW als Nährboden für die Gründung neuer Unternehmen und Wirtschaftszweige verstanden und ausgebaut.
Die erste Kraftprobe mit den Grünen in Düsseldorf lässt nicht lange auf sich warten. Deren starke Figur ist zu dieser Zeit Landesumweltministerin Bärbel Höhn. Die hochintelligente Diplom-Mathematikerin verbindet mit Steinbrück die Kampfeslust und die Herkunft aus dem Norden. Doch damit enden die Gemeinsamkeiten der beiden auch schon. Höhn überprüft mithilfe eines wachsenden Behördenapparats alle Industrie- und Verkehrsprojekte in NRW auf ihre Umweltverträglichkeit. Im geschickten Zusammenspiel mit Naturschutzverbänden, betroffenen Anwohnern und einer entsprechend kritisch eingestimmten Lokalpresse versteht sie es dabei recht gut, jedem größeren Bauvorhaben im Land gleich den Anschein einer drohenden Umweltkatastrophe zu verleihen.
Steinbrück bringt das auf die Palme, ebenso seinen Ministerpräsidenten Clement. Es dauert nicht lange und die Koalition gerät in schweres Fahrwasser. Während in Bonn das soeben begonnene »rot-grüne Projekt« eine neue Ära nach Kohl einläuten soll, gibt es einige Kilometer rheinabwärts ständig Streit zwischen den Koalitionären. Als größter Zankapfel erweist sich ein Braunkohletagebau bei einem Ort namens Garzweiler. Dieses zwischen Aachen und Neuss gelegene Gebiet entstand 1983 als Großtagebau durch den Zusammenschluss bereits bestehender Abbaufelder. Da die qualitativ hochwertige Braunkohle hier nur wenige Meter unter der Oberfläche liegt, wird sie seit Jahrzehnten abgebaggert und vom Energiekonzern RWE zur Stromproduktion genutzt. Im Gegensatz zur wesentlich tiefer liegenden Steinkohle kommt die Braunkohle ohne öffentliche Subventionen aus.
Das Schürfen im Tagebau ist seit jeher ein profitables Geschäft. Da in der Gegend um Garzweiler noch Reserven von 1,3 Milliarden Tonnen vorhanden sind, wurde einige Jahre zuvor eine signifikante Erweiterung der Abbaufläche unter dem Projektnamen Garzweiler II beschlossen. Allerdings müssen dafür ganze Ortschaften umgesiedelt werden. Zwölf Dörfer und 7600 Einwohner sind von dem Vorhaben betroffen. Häuser, Schulen, Straßen, Kirchen – ganze Gemeinden tragen die riesigen Baggerschaufeln ab. Für die Menschen bedeutete das, ihre Heimat und ihre von Kindesbeinen an vertraute Umgebung für immer zu verlieren. Außerdem werden bei der Erschließung eines Tagebaus riesige Löcher in die Landschaft gerissen und Tausende Hektar Natur zerstört. Zwar hat RWE es stets geschafft, die abgebaggerten Krater anschließend in ausgedehnte Seen und Naherholungsflächen zu verwandeln, doch stellt diese Renaturierung in den Augen der Naturschützer nur die nachträgliche, oberflächliche »Begrünung« einer im Kern zerstörten Landschaft dar. Und für die betroffenen Bewohner ist selbst der schönste Baggersee kein Ersatz für das verlorene Heimatdorf.
Die nordrhein-westfälischen Grünen solidarisierten sich nun mit den Dorfbewohnern im Gebiet von Garzweiler II und stemmten sich mit aller Macht gegen die Erweiterung des Tagebaus. Der grüne Landtagskandidat in dem Gebiet erhielt 40 Prozent der Stimmen. Der BUND kaufte dort eine große Obstwiese, um vor Gericht als klagebefugter Betroffener auftreten zu können. Die Auseinandersetzungen zogen sich über Jahre hin und beschäftigten alle Instanzen.
Als Minister für Wirtschaft und Verkehr musste Steinbrück das umstrittene Projekt durchziehen. In der Folge wurden etliche Straßen, ja sogar ganze Autobahnabschnitte verlegt. Dafür waren aufwendige Planungen erforderlich, die das grüne Umweltministerium unter Führung von Bärbel Höhn nach Kräften zu verhindern oder aufzuhalten suchte. Es entwickelte sich ein zähes Tauziehen zwischen den beiden Ressorts. Die verbissen geführten Kämpfe erinnerten Beobachter an die »Stellungskriege« im Ersten Weltkrieg: Sie forderten viele Opfer, brachten aber keinen Geländegewinn.
Bis schließlich Wolfgang Clement der Kragen platzte und er mit brutaler Entschlossenheit die Koalitionsfrage stellte. Für ihn war klar: Lieber eine Neuwahl riskieren, als auf die beschlossene Erweiterung des Braunkohletagebaus zu verzichten. Zumal sich die SPD im Kohleland NRW an drei Fingern ausrechnen konnte, dass sie eher besser als schlechter aus einer solchen Neuwahl hervorgehen würde. Die Grünen hätte man nämlich im ganzen Land als Industriefeinde und Arbeitsplatzvernichter hinstellen können. Außerdem bestand aus Sicht von Clement und Steinbrück ja immer noch die Möglichkeit, gegebenenfalls mit der FDP zu koalieren. Die Liberalen waren zumindest wirtschaftsfreundlicher eingestellt als die Grünen.
Doch so weit sollte es gar nicht erst kommen. Bärbel Höhn und ihre Partei hatten die verfahrene Lage mit ähnlichen Ergebnissen analysiert wie Clement und knickten schließlich ein. Die Aussicht, nach nur kurzer Regierungszeit wieder auf den harten Bänken der Opposition zu landen, war für die Umweltpartei noch unerfreulicher als der Verzicht auf ihren unermüdlichen Kampf gegen die Braunkohle.
Steinbrück selbst war allerdings nur 16 Monate dafür verantwortlich, Garzweiler II und andere Infrastrukturprojekte gegen die Grünen durchzukämpfen. Dann stand sein Wechsel ins Finanzministerium an. Fast wäre seine Zeit als Wirtschaftsminister in NRW noch kürzer ausgefallen, denn bereits im September 1999 wollte Gerhard Schröder ihn unbedingt in sein Kabinett nach Berlin holen. Er bot ihm den Posten von Bundesverkehrsminister Franz Müntefering an, der sein Regierungsamt aufgegeben hatte, um nach dem Rückzug des Parteilinken Ottmar Schreiner die Bundesgeschäftsführung der SPD zu übernehmen. Schröder wertete diesen Posten später begrifflich auf: Von da an trugen die Manager der SPD den Titel »Generalsekretär«. Schröder fragte mehrfach bei Clement nach, ob er Steinbrück nicht ziehen lassen wolle, aber der Ministerpräsident, selbst in höchsten Personalnöten, legte sich quer.
Steinbrück hätte zwar liebend gerne den Ruf in die Bundespolitik angenommen, sah aber ein, dass er seinen Freund und politischen Zwilling Clement nach einer so kurzen Zeit in Düsseldorf nicht schon wieder im Stich lassen konnte. Wie richtig diese Entscheidung war, sollte sich nur fünf Monate später erweisen. Gleich zu Beginn des Wahljahrs 2000 trat Finanzminister Heinz Schleußer zurück, was die rot-grüne Landesregierung erneut ins Wanken brachte. Steinbrück, inzwischen erprobt als »Feuerwehrmann« und »politische Allzweckwaffe«, sprang sofort ein und übernahm das Finanzministerium.
Schleußer musste gehen, weil er sich in der »Düsseldorfer Flugaffäre« in immer tiefere Widersprüche verwickelt hatte. Hintergrund dieses Skandals waren die zahlreichen Reisen, die Johannes Rau und sein langjähriger Vertrauter Schleußer mit der Firma Privat-Jet-Charter (PJC) unternommen hatten. Diskret beglichen wurden die teuren, teilweise stark überhöhten Rechnungen von der Westdeutschen Landesbank.
Zu ihren besten Zeiten eines der größten Kreditinstitute Deutschlands, stand die WestLB 20 Jahre lang unter dem Kommando von Friedel Neuber. Der als »roter Pate« oder schlicht als »die Macht vom Rhein« bezeichnete Banker hatte sich über eine politische Karriere im Landtag bis ganz nach oben an die Spitze der Landesbank gekämpft. Dort half er der NRW-SPD, ihre Standortpolitik zu finanzieren und den Übergang der Wirtschaft von der Schwerindustrie zu zukunftsfähigeren Strukturen zu begleiten. Aber auch zur Union pflegte Neuber beste Kontakte. Fusionen wie die von RWE und VEW oder von Hoesch und Krupp fielen ebenso in seine Amtszeit wie der Aufbau der LTU am Düsseldorfer Flughafen oder die Übernahme von Horten durch die Metro.
Nicht alles jedoch gelang dem hemdsärmeligen Banker. Der Umbau der Babcock Borsig AG beispielsweise endete in der Insolvenz. Und im Zusammenhang mit der Pleite des Baukonzerns Philipp Holzmann wurde Neuber sogar angeklagt. Ebenso scheiterte die Ausweitung der WestLB von einer landeseigenen Förderanstalt zu einer weltumspannenden Investmentbank spätestens in dem Augenblick, als die EU-Kommission die öffentlich-rechtlichen Garantieprivilegien der Bank als wettbewerbswidrig verwarf. Mit der Gewährträgerhaftung verlor die WestLB ihren wichtigsten Vorteil gegenüber der privaten Bankkonkurrenz und damit ein entscheidendes Geschäftsmodell.
Trotz all dieser Höhen und Tiefen konnte Neuber seine wirtschaftliche und politische Macht fast unumschränkt ausüben. Mit Rau war er eng befreundet, und den langjährigen Finanzminister Schleußer kannte der Bankmanager schon aus gemeinsamen Juso-Tagen. Und keiner der Herren schien etwas dabei zu finden, die teuren Privatjets für dienstliche Reisen und sonstige Ausflüge zu buchen, selbst wenn der private oder parteipolitische Charakter eindeutig im Vordergrund stand. Der Skandal um die Flüge, in den auch CDU-Politiker verstrickt waren, kam erst durch eine Indiskretion ins Rollen, als Johannes Rau schon Bundespräsident war.
Als harter Kritiker Raus profilierte sich damals übrigens der Oppositionsführer im niedersächsischen Landtag, der CDU-Politiker Christian Wulff. Er warf Rau wegen der Inanspruchnahme der Flüge »moralisches Fehlverhalten bis hin zur Korruption« vor und forderte lautstark den Rücktritt des Bundespräsidenten. Während Rau alle Vorwürfe zurückwies und die Reisen als reine Dienstangelegenheiten verteidigte, verstrickte sich Schleußer zunehmend in Ungereimtheiten. Das Pikante an den Flugreisen war nämlich, dass sich bei einigen Trips wechselnde junge Damen an Bord befanden. Am Ende der ganzen Affäre blieb Rau Bundespräsident, während Schleußer seinen Posten als Landesfinanzminister räumen musste.
Clement, dem der ganze rote Filz um WestLB-Chef Friedel Neuber immer schon unheimlich war, geriet dadurch kurz vor den Landtagswahlen in eine veritable Regierungskrise. In der Folge sorgte er für die Ablösung Neubers an der Spitze der Landesbank und bat seinen Freund Steinbrück, das schwierige Amt des Finanzministers zu übernehmen.
Die Kassenlage des Landes war geprägt von hohen Schulden und geringen Investitionen. Die CDU machte deshalb mächtig Druck gegen den ihrer Meinung nach verfassungswidrigen Etat. Der neue Finanzminister Peer Steinbrück kündigte zwar sogleich eine Sanierung an, verfügte jedoch nur über minimalen Bewegungsspielraum. Der Löwenanteil eines Landeshaushalts ist in der Regel für soziale Leistungen verplant, der Rest geht an die Beamten und Angestellten des Landes. Einsparmöglichkeiten gibt es nur in engen Grenzen: Wer will schon an Polizei, Justiz und Lehrern sparen, wer auf den Bau lange geplanter Umgehungsstraßen verzichten?
In seiner Not kramte Steinbrück zu Beginn seiner Finanzministerzeit wieder eine Auswahl seiner kernigsten Sprüche hervor, was ihm jedoch keinen Pfennig mehr Geld in die leeren Kassen spülte. »Auf realwirtschaftlichen Druck kann man nicht mit den Tempelweisheiten sozialer Bannerträger« reagieren, sagte er beispielsweise, um die unvermeidlichen Ausgabewünsche aus den eigenen Reihen abzuwehren. Gerne bekannte er in dieser Zeit auch, dass ihm der Begriff »Eigenverantwortung« wichtiger sei als das Wort »Versorgung«. Ebenfalls aufs Korn nahm er den teuren Sozialstaat: Es gebe da »diverse Merkwürdigkeiten«, äußerte er, etwa wenn der Staat Jobsuchenden »die Entfernung von Tätowierungen bezahlt, weil das karrierehemmend sein könnte«.
Während die SPD bei solchen Äußerungen ihres kantigen Peer leise aufstöhnte, wurden die Zitate bei CDU und FDP so verstanden, wie sie gemeint waren. Steinbrück wollte nach den schlechten Erfahrungen mit den Grünen hinsichtlich der bevorstehenden Landtagswahl 2000 das Tor zur FDP weit aufstoßen und als wirtschaftsfreundlicher, pragmatischer Realpolitiker auch im Lager der konservativen Wählerschaft um Zustimmung werben. Mit Ernst Schwanhold, seinem Nachfolger im Amt des Wirtschaftsministers, verband ihn die gemeinsame Idee, den Unternehmen in der Steuer- und Abgabenpolitik mehr Freiräume zu schaffen. Die beiden Ressorts, so kündigten Schwanhold und Steinbrück an, sollten künftig zusammenarbeiten wie »zwei kommunizierende Röhren«.
Die Schwerpunkte seiner wiederum nur kurzen Amtszeit als Finanzminister lagen neben der Sanierung des Haushalts bei zwei anderen Themen: dem Länderfinanzausgleich und der Neustrukturierung der angeschlagenen Landesbank. Die WestLB war nämlich zwischenzeitlich wegen Fehlspekulationen und ihrem überhasteten Ausbau in Turbulenzen geraten. So gut Steinbrück später als Bundesfinanzminister die Krise um die Pleitebank Hypo Real Estate (HRE) und die bedrohte Commerzbank meistern sollte, so wenig gelang es ihm als Landesfinanzminister, bei der Sanierung der WestLB einen Durchbruch zu erzielen. Die Zeit reichte einfach nicht aus, zumal sein erstes Jahr in der Schleußer-Nachfolge ganz im Zeichen des Landtagswahlkampfs stand.
Die Wahl 2000 endete schließlich mit einem erneuten, wenngleich glanzlosen Sieg der SPD. Bemerkenswert fiel allerdings das Ergebnis der FDP aus, die sich von 4,8 Prozent auf fast 10 Prozent steigern konnte. Trotzdem wagte Clement es nicht, den Wechsel zu den erstarkten Liberalen zu vollziehen. Was vor allem mit dem sprunghaften und exaltierten Wesen von Jürgen Möllemann zusammenhing, der die FDP in Nordrhein-Westfalen zwar zu neuer Größe geführt hatte, aber als unberechenbar und populistisch galt. Außerdem tendierte die Stimmung an der sozialdemokratischen Basis eher in Richtung Rot-Grün. Die Vorbehalte gegen die FDP waren einfach zu groß, um sie ignorieren zu können. Also entschied sich Clement schweren Herzens für die Fortführung des von ihm und Steinbrück so wenig geliebten Bündnisses mit Bärbel Höhns Grünen.
Zwar startete die neue Landesregierung mit viel Schwung, jedoch folgten den Ankündigungen meist keine Taten. Clement, der rastlose Exjournalist, sorgte jeden Tag für Schlagzeilen. Ständig präsentierte er neue Projekte und Ideen. Nicht zu Unrecht erntete er dafür Kritik von der Opposition. Als Regierungschef war er schließlich nicht für spektakuläre Forderungen, sondern für konkrete Ergebnisse zuständig. Eines der vielen Negativbeispiele war der von Clement groß angekündigte »Kampf gegen die Geißel der Bürokratie«. Er berief dafür Kommissionen ein, organisierte mit Beteiligten aus Wirtschaft und Politik mediengerechte »Bürokratiegipfel«, doch die Resultate ließen auf sich warten. Auch die von Clement erfundenen »Leuchttürme« strahlten weniger hell als erhofft. Gemeint waren damit Vorhaben wie etwa die »NRW Medien GmbH« oder die »Projekt Ruhr GmbH«. Viele der stolz angekündigten »Denkfabriken« erwiesen sich als nutzlos oder litten an einer deutlichen Diskrepanz zwischen Nutzen und Kosten.
Die landeseigene Wirtschaftsförderung produzierte ebenfalls Schlagzeilen. Der Grund dafür waren nicht etwa spektakuläre neue Industrieansiedlungen, sondern diverse Machenschaften, die sogar einen Untersuchungsausschuss beschäftigten. Eines konnte man Clement allerdings nie vorwerfen: Dass er Veränderungen nicht mutig anpackte und zu wenig Ideen produzierte. Sein Problem bestand darin, dass er von den vielen Dingen, die er anfing, zu wenig zu Ende brachte.
Trotz der gemischten Bilanz von Wolfgang Clement fand der Bundeskanzler Gefallen an ihm, denn er hielt bereits Ausschau nach Leuten für eine zweite rot-grüne Legislaturperiode. Nach dem Umzug des Kanzleramts vom Rhein an die Spree regierte Gerhard Schröder jetzt in Berlin im »Basta-Stil«. In dem vorwärtsdrängenden NRW-Ministerpräsidenten erkannte er sein Alter Ego und einen wirtschaftsfreundlichen, resoluten Kandidaten für das Amt des Wirtschaftsministers, der ihm dabei half, die in Grundzügen bereits erkennbare »Agenda 2010« gegen den absehbaren Widerstand der SPD durchzuboxen. Nachdem Schröder die Bundestagswahl 2002 erneut gewonnen hatte, holte er den »Modernisierer« Clement als Superminister für Wirtschaft und Arbeit nach Berlin. In dieser Rolle entwickelte sich dieser zum energischen Vollstrecker der ungeliebten »Hartz-Reformen«, was ihn von der SPD entfernte und wohl auch die Grundlage für sein späteres Zerwürfnis mit der Partei legte.
Steinbrück wurde 2002 recht früh von Schröder über den bevorstehenden Wechsel Clements in die Bundespolitik informiert, damit er sich darauf vorbereiten konnte, in Düsseldorf den Job des Ministerpräsidenten zu übernehmen. Der gebürtige Hamburger war erst überrascht und anschließend einem Wechselbad der Gefühle ausgesetzt. Konnte er, das Nordlicht, hier an Rhein und Ruhr den knapp 18 Millionen Menschen mit starkem Hang zum Lokalpatriotismus wirklich als glaubwürdige Identifikationsfigur dienen? Steinbrück hatte in den letzten zehn Jahren in drei Städten gelebt und dabei fünf verschiedene Ämter in zwei Bundesländern ausgeübt. Seine Identität ließ sich also nicht so ohne Weiteres definieren. Würde er hier als Ministerpräsident akzeptiert? Allein sein Vorname! Die Leute im Ruhrpott hießen Peter oder Paul, aber bestimmt nicht Peer. »Genosse Peer« – wie das schon klang. Der nordische Vorname kostete ihn in seinem Landtagswahlkreis Unna II am Ostrand des Ruhrgebiets jedes Mal zwei Prozent der Stimmen, glaubten alteingesessene Genossen. Und wenn der »Härr Schteinbrück«, wie man ihn hier ansprach, in Wanne-Eickel oder Bottrop mit hanseatisch spitzer Zunge über »Ssssteinkohle« statt über »Schteinkohle« sprach, dann waren die nächsten zwei Prozent futsch.
Steinbrück war lange genug mit Johannes Rau kreuz und quer durch Nordrhein-Westfalen gefahren, um genau zu wissen, dass von einem Ministerpräsidenten mehr erwartet wurde als von einem sachkundigen Staatssekretär oder einem fleißigen Fachminister. Und ihm war auch nicht entgangen, dass den Leuten sogar beim gebürtigen Bochumer Wolfgang Clement Wärme und Ausstrahlung fehlten. Davon würde er, der ewige Hamburger, wohl noch viel weniger aufbieten können. Den meisten SPD-Mitgliedern galt Rau nach wie vor als Idealverkörperung des Landesvaters: gütig, mitfühlend und nachsichtig gegenüber seinen Landeskindern. »Mit pastoralen Anekdötchen, einem frisch gezapften Pils und einer lockeren Hand beim Skat hatte Rau sein Wahlvolk 20 Jahre lang bei Laune gehalten«, schreibt Peter Dausend über die Ära von »Bruder Johannes« in der Welt (9.4.2003). Von Steinbrück durfte man Ähnliches nicht erwarten. Allerdings war diese gute alte Zeit bereits mit Clements Amtsantritt vorbei gewesen. Würde da die Herausforderung für einen Ministerpräsidenten Steinbrück nicht sogar darin bestehen, sich in diesen neuen ernsten Zeiten vom überholten Bild des fürsorgenden Landesvaters zu lösen? War es nicht an ihm, die Rolle des Ministerpräsidenten zu modernisieren, sie der härter gewordenen Wirklichkeit anzupassen?
Peer Steinbrück kannte seine Stärken und Schwächen. Er sah sich schon damals als guter Politikmanager und nicht als begnadeter Politikdarsteller. Mochten ihm in NRW auch der Stallgeruch und ein landestypischer Zungenschlag fehlen – er kannte das Land und seine Probleme besser als die große Mehrzahl der Einwohner. Und an administrativer und fachlicher Kompetenz mangelte es ihm gewiss nicht. Im Gegenteil: Als politischer Feuerwehrmann hatte er schon vielen Herren gedient und dabei zahlreiche Brände gelöscht.
Später erzählte Steinbrück einmal, dass er nach dem ersten vertraulichen Gespräch mit Schröder und Clement im Sommer 2002 in den Spiegel geschaut und sich eine Menge Fragen gestellt habe. Die entscheidende lautete: »Mensch, kannst du das?« Wie lange die Selbstprüfung vor dem Spiegel gedauert hat, ist nicht überliefert. Doch das Ergebnis stellte keine Überraschung dar. Natürlich traute er sich den Job zu.
Sein Ehrgeiz allein reichte allerdings nicht aus. Parteitaktisch war das Manöver mit einigen Risiken verbunden. Die SPD sah den Kronprinzen von Clement weniger in Steinbrück, sondern ganz klar in ihrem Landesvorsitzenden Harald Schartau. Und den durfte man nicht unterschätzen.
Der Mann mit dem Schnauzbart und dem gemütlichen Duisburger Akzent war einer der typischen Vertreter der Ruhrgebiets-SPD. Schartaus Vater arbeitete als Stahlarbeiter in Huckingen, und der Junge stieß früh zu den »Falken«, der sozialistischen Jugendbewegung. Als 1968 SDS-Genossen im Sommerlager der »Falken« über Marxismus diskutieren wollten, bewies der junge Harald seinen Sinn fürs Praktische: »Wer im Trockenen Marx lesen will, muss erst mal ein Zelt aufbauen können«, beschied er die linken Lehrmeister.
Nach einer Ausbildung als Chemielaborant und einer Tätigkeit als Personalreferent bei Mannesmann schloss Schartau über den zweiten Bildungsweg ein Studium der Betriebswirtschaft ab und gelangte über Stationen beim Deutschen Gewerkschaftsbund und der IG Metall in die Politik. Clement war es, der den einflussreichen Leiter des IG-Metall-Bezirks Nordrhein-Westfalen im Jahr 2000 zum Minister für Arbeit und Soziales, Qualifikation und Technologie ernannte. Damit saß Schartau in einer sozialdemokratischen Schlüsselposition: Einst oberster Gewerkschafter des Landes führte er nun den mit Abstand größten Landesverband der SPD und war zudem der für die arbeitende Bevölkerung wichtigste Minister. Diese Bilderbuchkarriere wies nur einen einzigen Schönheitsfehler auf und der wurde Schartau schließlich zum Verhängnis: Niemand hatte daran gedacht, ihm bei seinem Weg in die Politik ein Landtagsmandat zu verschaffen. Das nämlich fordert die Landesverfassung in NRW von jedem, der sich anschickt, Ministerpräsident zu werden.
Clement war diese Besonderheit der Landesverfassung erst aufgefallen, als er sich wegen des bevorstehenden Wechsels nach Berlin mit der Regelung seiner Nachfolge in Düsseldorf beschäftigte. Doch da war es für Harald Schartau bereits zu spät. Auf die Schnelle ließ sich für ihn kein Landtagsmandat aus dem Hut zaubern. Außerdem liegt die Vermutung nahe, dass Clement seinen politischen Seelenverwandten Steinbrück ohnehin bevorzugt hätte. Und es dürfte ihm nur recht gewesen sein, den Gesinnungsgenossen allein deshalb ohne größere Widerstände durchsetzen zu können, weil der klare Parteifavorit Schartau aus formaljuristischen Gründen nicht infrage kam.
Steinbrück wurde also mit den Stimmen der rot-grünen Landtagsmehrheit am 6. November 2002 zum Ministerpräsidenten des bevölkerungsreichsten Bundeslands gewählt. Er war klug genug, den verhinderten Regierungschef Schartau anschließend zum Superminister für Wirtschaft und Arbeit zu ernennen. Damit kopierte er den Aufgabenzuschnitt, den Schröder für Clement in Berlin ersonnen hatte. Da Schartau gleichzeitig Landesvorsitzender der SPD blieb, stieg er zur starken Figur im Kabinett auf. Es gab nicht wenige, die aufgrund der Machtverteilung sogar von einer »Doppelspitze« Steinbrück – Schartau sprachen, die sich bestens ergänze. Hier der Technokrat, da der Arbeiterversteher, einer mehr für die Krise, der andere mehr zum Anfassen – eine optimale Mischung aus Brillanz und Bodenständigkeit. Doch es gab auch Eifersüchteleien und Misstrauen zwischen den beiden, Missverständnisse und echte Meinungsunterschiede. Sprüche des neuen Ministerpräsidenten wie »Jeder Job ist besser als keiner« stießen dem früheren Gewerkschafter sauer auf.
Steinbrück und seine neue Regierung erben ein Land mit zahlreichen Baustellen. Clement hat viel hinterlassen, aber wenig fertiggestellt. Also macht sich der neue Ministerpräsident vom Start weg an die mühsame Aufgabe, begonnene Projekte entweder abzuschließen oder abzuschießen. Letzteres gilt für viele von Clements »Leuchttürmen« und »Denkfabriken«, die sich einfach als zu teuer und zu uneffektiv erweisen. Steinbrück ackert sich durchs Land, arbeitet Punkt für Punkt ab und gefällt sich darin, statt großer Versprechungen lieber kleine Erfolge zu produzieren. Ein bisschen mehr Ganztagsschule und erheblich mehr Bildungsausgaben stehen ganz oben auf seiner Liste. Es folgen Projekte wie das Logistikzentrum in Duisburg-Ruhrort, dem größten Binnenhafen Europas. Er setzt die Privatisierung und Erweiterung des Flughafens Düsseldorf durch, hilft beim Bau des Technologieparks Dortmund und bildet ein Cluster innovativer Firmen rund um die RWTH Aachen, die führende technische Hochschule des Landes. Als neuer Ministerpräsident rennt er nicht wie Clement in Siebenmeilenstiefeln durchs Land, sondern verkleinert die Schritte. Dadurch gelingt ihm vieles, und im Gegensatz zum Vorgänger lässt er nichts mehr fallen, was er einmal angefasst hat. Steinbrück wird schnell als »Reformmotor« gelobt und als »ein Clement, der die Dinge zu Ende bringt« (Die Welt, 9.4.2003).
Aber der gute Start als Ministerpräsident wird bald getrübt durch dunkle Wolken, die bedrohlich am politischen Horizont aufziehen. In Berlin braut sich Ungemach zusammen, weil Schröder nicht nur die ungeliebten Hartz-Reformen gnadenlos durchpeitscht, sondern auch seine große Steuerreform vorziehen will. Das würde sowohl beim Bund, als auch in den Ländern zu erheblichen Einnahmeausfällen führen. Insgesamt soll die Steuerreform ein Volumen von 17 Milliarden Euro umfassen. Steinbrück hält es für »illusorisch«, diese Summe über den Abbau von Subventionen einzusparen.
Im Sommer 2003, als er gerade einmal ein gutes halbes Jahr in NRW regiert, legt er sich fest. Entschlossen kündigt Steinbrück als einziger sozialdemokratischer Ministerpräsident im Bundesrat eine strikte Blockade gegen den Plan der Bundesregierung an, die Steuerreform vorzuziehen. Dabei greift er Kanzler Schröder ganz persönlich an. Dieser betreibe in Berlin ohne jede Abstimmung mit den Ländern eine »egomane Politik« (Berliner Zeitung, 26.6.2003), klagt Steinbrück deutlich vernehmbar. Damit spricht er zwar anderen SPD-Landeschefs aus dem Herzen, aber die besitzen nicht den Mumm, ihrer Meinung öffentlich Ausdruck zu verleihen. Prompt füllt Steinbrück als neuer »Gegenspieler des Kanzlers« die Titelseiten. Dabei hat er gute Gründe, verstimmt zu sein. Sein Landesetat steckt tief in den roten Zahlen, und weitere Mindereinnahmen durch die vorgezogene Steuerreform würden seine gesamten Planungen über den Haufen werfen.
Schröder reagiert äußerst ungnädig, weil er von Steinbrück, dem er sich politisch als wirtschaftsfreundlichem Modernisierer eng verbunden fühlt, keine so harte Attacke erwartet hätte. Bei einem gemeinsamen Besuch der Kölner Ford-Werke ist die Spannung zwischen den beiden deutlich zu spüren. Schröder spricht beim Werksrundgang nahezu mit jedem, nur nicht mit Steinbrück. Als dieser sich am Ende des Termins zu ihm ins Auto setzen will, um doch noch das Gespräch mit dem Kanzler zu suchen, schlägt Schröder ihm die Wagentür vor der Nase zu und braust davon.
Trotz dieser Brüskierung suchte Steinbrück diskret einen Ausweg aus dem Dilemma. Dabei ging er durchaus ungewöhnliche Wege: Gemeinsam mit dem hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) erarbeitete er im Stillen einen Katalog von Steuerprivilegien, deren Abschaffung sowohl Hessen als auch Nordrhein-Westfalen unterstützen würden.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Sozialdemokraten schätzte Steinbrück den profilierten konservativen CDU-Politiker sehr. Der sei »schnell im Kopf«, hat er einmal über den Amtskollegen geurteilt. Dieses hanseatisch knappe Lob muss aus der Warte Steinbrücks als höchstmögliche Auszeichnung verstanden werden. Er leidet nämlich darunter, dass seine Umgebung meist nicht so schnell mitkommt, wie er denkt, und es fällt ihm schwer, dafür auch noch Verständnis zu zeigen. Intellektuelle Überlegenheit darf höchstens gefühlt, aber nie demonstriert werden – diese Lektion hat Steinbrück in der Politik lernen müssen. In dem blitzgescheiten Koch jedoch entdeckte er einen Kollegen, den er auf gleicher Höhe verortete und mit dem sich unbelastet von Parteizwängen und ideologischen Schaukämpfen vernünftig über politische Fragen sprechen ließ.
Wochenlang redeten die beiden, beauftragten einen Stab von Vertrauten in den Finanzministerien von Düsseldorf und Wiesbaden mit Recherchen und suchten Kompromisse. Vor allen Dingen aber schwiegen sie eisern, als die Presse Wind von der heimlichen schwarz-roten Verständigung bekam, die da vorbereitet wurde. Als die »Koch-Steinbrück-Liste« Ende September 2003 schließlich vorgestellt wurde, fanden sich darin spitz gerechnete und Punkt für Punkt belegte Kürzungsvorschläge in Höhe von 15,8 Milliarden Euro. Das hatte Gewicht. NRW als wichtigstes SPD-Land und Koch als stärkster CDU-Landespolitiker waren Einflussfaktoren, die selbst ein verärgerter Kanzler Schröder nicht ignorieren konnte. Auf der anderen Seite enthielt die Liste natürlich nur zum Teil echte Einsparungen wie etwa die Verringerung der Steinkohlehilfen; ein schmerzliches Zugeständnis des NRW-Ministerpräsidenten Steinbrück. Der größte Teil des »Subventionsabbaus« bestand in versteckten oder indirekten Steuererhöhungen. Die Kürzung von Eigenheimzulage, Pendlerpauschale und Sparerfreibetrag, um nur einige zu nennen, führten ja am Ende dazu, dass die Betroffenen vom Fiskus stärker zur Kasse gebeten wurden. Teile der »Koch-Steinbrück-Liste« wurden schließlich umgesetzt, andere scheiterten im Verlauf des politischen Streits. Die vorgeschlagene Verringerung der Entfernungspauschale für Fahrten zum Arbeitsplatz verwarf das Bundesverfassungsgericht 2008 als grundgesetzwidrig.
Neben diesem Kräftemessen mit Schröder wegen der Steuerreform stand Steinbrück kurz nach seinem Start als Ministerpräsident noch ein weiterer Kampf bevor: Die Grünen legten sich wieder einmal quer. Diesmal ging es nicht um Braunkohle, Feldhamster oder Autobahnen, sondern ausgerechnet um Steinbrücks neues Lieblingsprojekt, den »Metrorapid«. Diese Auseinandersetzung sollte sich als die folgenschwerste in einer langen Reihe von Zusammenstößen erweisen und das Verhältnis zwischen Steinbrück und den Grünen dauerhaft beschädigen.