Kapitel 13

Der gefährliche Ritterschlag

Es ist immer aufregend, wenn man als junger Mann beim Chef zu Hause eingeladen wird. Die demonstrative Öffnung des Privaten deutet beim Vorgesetzten grundsätzlich auf wohlwollende Motive hin. Allerdings steckt in der Teilverlagerung einer beruflichen Beziehung in den häuslichen Bereich auch etwas Zwiespältiges. Die Wahl von Gastgeschenk und Garderobe will ebenso gut überlegt sein wie die Antworten auf nicht zufällig gestellte Fragen.

Bei Peer Steinbrück hat es immerhin 29 Jahre gedauert, bis sich der frühere Hilfsreferent im Kanzleramt dem Staatsmann außer Diensten Helmut Schmidt zum Vieraugengespräch in dessen Privatgemächern nähern durfte. Aus dem von Schmidt kaum wahrgenommenen Mitarbeiter war inzwischen ein veritabler Bundesfinanzminister geworden. Man kannte sich zwar von vielen Gelegenheiten, von Konferenzen und Podiumsdiskussionen, und hatte auch schon ausführlich miteinander gesprochen, als der Jüngere gerade Ministerpräsident in Düsseldorf geworden war.

Aber erst als Steinbrück im Sommer 2008 den Altkanzler in dessen Ferienhaus am schleswig-holsteinischen Brahmsee besuchte, begann so etwas wie eine väterliche Freundschaft – wenngleich mit sehr speziellen, typisch hanseatischen Zügen. Die beiden pflegen sich beim Wiedersehen nicht plump auf die Schulter zu klopfen, und natürlich verabscheut man auch demonstrativ inbrünstige Männerumarmungen. Selbst das unter Genossen übliche »Du« ist bis zum heutigen Tag ausgeblieben. Vorname und Sie, das ist die feine Hamburger Art, Zuneigung und gegenseitige Wertschätzung nicht in peinliche Distanzlosigkeit abgleiten zu lassen. Außerdem verschwimmt bei diesen Umgangsformen nie die Hierarchie. In der Beziehung zum 92-jährigen Altkanzler ist der 65-jährige Steinbrück noch bereit, in die Rolle des Sohnes zu schlüpfen und dem Senior ein Junior zu sein.

Die Verehrung für Schmidt geht auf seine Zeit als Mitarbeiter in dessen Kanzleramt zurück. Je mehr Steinbrück selbst in politische Ämter hineinwuchs, desto näher kam er seinem Vorbild. Seine Kritiker sprechen sogar von Teilimitation oder nennen ihn spöttisch den »Mini-Schmidt«. Aber das ficht Steinbrück nicht an. Schmidt stand als Kanzler für vieles, was er heute noch für richtig hält: rationaler Politikstil, vernunftbetonte Entscheidungen, Orientierung am Machbaren, Ablehnung von Ideologen und Verachtung für politische Missionare. Auch die Gewissheit, dass Siege hart erarbeitet werden müssen und immer nur im Konflikt zu erringen sind, hat Steinbrück von Schmidt gelernt. Kühler Kopf, klarer Verstand und immer Mut zum Unpopulären – diese Glaubenssätze des Alten haben den Jungen geprägt. »Sie müssen stehen«, hatte Schmidt dem hanseatischen Genossen einst mit auf den Weg gegeben, als der an Rhein und Ruhr erstmals eine Regierung führen und einen harten Konsolidierungskurs einschlagen musste. Steinbrück hat das beherzigt, manchmal vielleicht zu sehr. Jedenfalls ist seine Distanz zur SPD ähnlich groß wie die von Schmidt und somit vergleichbar wie ihr Hamburger Zungenschlag.

Sein Leben in der Politik hat Steinbrück mit vielen bekannten Persönlichkeiten zusammengebracht. Wirklich imponiert haben ihm nur wenige und das auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Willy Brandt begeisterte ihn schon als Schüler durch Charisma und Emotion. Bei Johannes Rau konnte er als Büroleiter beobachten, wie wichtig Bauchgefühl in der Politik ist. Auf einer wirklich vergleichbaren persönlichen Wellenlänge liegt er jedoch nur mit Schmidt, weil bei beiden der Weg zum anderen nicht über Herz und Gefühl führt, sondern über den Verstand.

Aber bei allen Parallelen zwischen Schmidt und Steinbrück ist ein entscheidender Unterschied geblieben. Der Ältere ist als lebendes Denkmal bereits in die Sphäre des verklärten Weltweisen aufgestiegen. Schmidt gilt den Deutschen als Symbol für Führung und Urteilskraft, was selbst dadurch nicht an Wirkung verliert, dass heute nahezu jeder Satz des Exkanzlers unkritisch beklatscht wird.

Schmidt lässt kaum Leute an sich heran; seine Aura schafft Distanz. Ein Mann wie er kann wählerisch sein bei der Einladung seiner Gesprächspartner. Steinbrück schaffte es, in den inneren Kreis des Alten vorzudringen; Schmidt hat ihn bei vielen Gesprächen im Laufe der letzten Jahre sorgfältig gewogen und – was bei ihm eher die Ausnahme ist – sein Gegenüber für nicht zu leicht befunden. Nie aber könnte es umgekehrt sein – und das sagt alles. Erst wenn er selbst einmal Kanzler würde, wäre Steinbrück wahrscheinlich in der Lage, sich in Schmidts Gegenwart nicht immer noch ein bisschen so zu fühlen wie 1979 als Hilfsreferent in der Regierungszentrale.

Beim sommerlichen Besuch Steinbrücks am Brahmsee 2008 kündigte sich die Finanzkrise bereits mit leichtem Donnergrollen an, wenn auch das wahre Ausmaß des drohenden Unheils kaum erkennbar war. Dennoch verspürte Steinbrück den Wunsch, sich mit Schmidt auszutauschen. Er merkte, dass etwas in der Luft lag, das ihm weder die Experten im Bundesfinanzministerium noch die Ökonomieprofessoren befriedigend erklären konnten – von den wenigen Bankern, mit denen er bis dahin gesprochen hatte, einmal ganz zu schweigen.

Es war also nicht nur Bewunderung, die Steinbrück an den Brahmsee trieb, sondern die Fähigkeit Schmidts, in den Wirren der sich oft überschlagenden Tagespolitik die roten Linien zu erkennen und sie in einen ökonomischen und historischen Gesamtzusammenhang zu stellen. Steinbrück wusste, dass die Wellen höher schlagen würden, und er wollte wissen, welchen Kurs der alte Kapitän empfahl.

Schon weit vor der Krise hatte Schmidt in seinen Büchern und Reden den Begriff vom »Raubtierkapitalismus« geprägt. Er meinte damit ein Verständnis von freier Wirtschaft, das sich allen Regeln entzieht und sich immer mehr vom nachhaltigen Wachstum und den Gepflogenheiten der Realwirtschaft absetzt. Während sich die Finanzwelt noch an den erstaunlichen Umsätzen und Profiten der wuchernden Blase berauschte, warnte der politische Ökonom Schmidt bereits vor der Entkoppelung von Risiko und Haftung, vor dem Verlust von Maß und Mitte. Er ermunterte Steinbrück, die Dinge deutlicher beim Namen zu nennen und sich nicht von dem Nebel aus komplizierten englischen Begriffen und Abkürzungen verwirren zu lassen, in den sich die globale Finanzwelt bereits eingehüllt hatte. Wie richtig Schmidt mit seiner Warnung lag, zeigt allein der Umstand, dass die Banker am Schluss wirklich die Übersicht verloren hatten und gar nicht mehr wussten, was ihre »Asset Backed Securities«, ihre »strukturierten Anlageprodukte«, so alles enthielten.

»Dass Haftung und Risiko zusammengehören, ist keine linke Idee, sondern ein Grundprinzip der Marktwirtschaft« – Sätze wie diese, die Steinbrück in der Folge immer häufiger gebrauchte, geben mehr politische und ökonomische Orientierung als ein kluger Vortrag über Kreditausfallversicherungen oder über die im Trennbankensystem vorgesehene Differenzierung zwischen risikobehaftetem Investmentbanking und traditionellem Kredit- und Anlagegeschäft. Dass Steinbrück heute einem zwar wütenden, aber weitgehend ratlosen Publikum besser als jeder andere aktive Politiker die Mechanismen der Finanzwelt zu erklären vermag und die Auswirkungen der Krise zudem in einen gesellschaftlichen Kontext einordnen kann, ist sicher ein Resultat der vielen Gespräche mit dem Weltversteher Schmidt.

Auch über sein Buchprojekt sprach er mit dem Altkanzler. Schmidt, selbst Autor zahlreicher Bestseller und als Mitherausgeber der Wochenzeitung DIE ZEIT bestens im Hamburger Mediengeschäft bewandert, war Steinbrück sogar bei der Vermittlung eines Verlags behilflich. Und es passt, dass nach intensiven Verhandlungen mit Hoffmann und Campe ein renommiertes Haus zum Zuge kam, das seinen Sitz in Hamburg hat.

Als Steinbrück mit seinem Buch Unterm Strich die Bestsellerlisten stürmte und bei seiner Lesereise immer mehr Leute in immer größere Säle zog, entstand bei ihm der Gedanke, es doch noch einmal mit einem politischen Comeback zu versuchen. Er bezog Helmut Schmidt in seine Überlegungen ein und der bestätigte ihn. Was beiden besonders auffiel, war der Umstand, dass Steinbrück als Politiker mit einem politischen Buch trotz angeblicher oder echter Politikverdrossenheit immer volles Haus hatte und dabei Leute aus allen Teilen der Gesellschaft anzog. Hätte die SPD zu den Lesungen eingeladen, da ist sich Steinbrück sicher, wäre vielleicht nur ein Zehntel der Zuhörer gekommen. Er hat darüber auch mit Sigmar Gabriel gesprochen und dem SPD-Chef dringend geraten, die Formate der Parteiveranstaltungen zu ändern. Was nicht mehr gehe, so Steinbrück, sei das bislang übliche Schema »Klatschmarsch, Einzug, irgendein Musikstück, eine einstündige agitatorische Rede, nach der die anderen immer die Vollidioten und die eigenen Leute immer die Schlaumeier sind, obwohl jeder im Publikum weiß, dass die Verteilung von Schlaumeiern und Idioten in den Parteien der Normalverteilung in der Bevölkerung entspricht«.

Wie Gabriel auf die Beobachtungen und Anregungen Steinbrücks reagiert hat, ist nicht bekannt. Bislang hat die SPD ihre Parteitage noch nicht als Lesungen organisiert. Aber Steinbrück wurde im Verlauf seiner Lesereise klar, dass sich mit Büchern und verständlichem Reden darüber etwas vermitteln lässt, was die deutsche Politik braucht und was das deutsche Publikum offenbar sehr schätzt: »face und substance«. Mit dem amerikanischen Schlagwort ist gemeint, dass die Leute eine große Sehnsucht nach Erfahrung und Substanz, nach einer erkennbaren Persönlichkeit, einem Gesicht, einer Figur mit Ausstrahlung und klarer Kante verspüren. Nicht zuletzt erklärt das die Popularität von Elder Statesmen wie Schmidt, Richard von Weizsäcker oder in zunehmendem Maße auch von Joschka Fischer.

Steinbrück hat lange darüber mit Schmidt gesprochen – nachzulesen in ihrem Gesprächsband Zug um Zug, wobei der Titel auch auf die Rauchwaren- wie Schachleidenschaft der beiden Männer anspielt. In diesem Zusammenhang hat der Alte dem Jüngeren zugeredet und ihm Mut gemacht, seinen Hut in den Ring zu werfen. Im Zeitalter der Globalisierung, der andauernden sozialen Umbrüche und der Verunsicherung sind weder entrückte Großvisionäre noch gemütliche Landesväter gefragt, sondern kühle, rationale Politikmanager, die keine emotionale Heizdecke brauchen, um ihr Publikum zu überzeugen. Leute wie er eben, wie Peer Steinbrück. Und in diesen Gesprächen mit Schmidt ist dann auch die Idee entstanden, dass der Altkanzler den Mentor gibt und seinen politischen Ziehsohn weithin erkennbar unterstützt.

Die »Mission Ritterschlag« oder die »Aktion Krücke«, wie böse Spötter später die politische Gehhilfe des Methusalem für seinen einstigen Referenten genannt haben, wurde generalstabsmäßig geplant. Zunächst trafen sich die beiden Männer zu regelmäßigen Gesprächsrunden, aus denen in vier Tagen die gedruckte Grundlage der Kanzlerkandidatenkür entstand. Mit solchen Gesprächsbänden hatte Schmidt schon in der Vergangenheit allerbeste Erfahrungen gesammelt. Den Beginn markierten die Hand aufs Herz-Interviews, in denen Sandra Maischberger als geduldig lernende Enkelin des Altkanzlers inszeniert wurde. Es folgten Gesprächsbände mit Giovanni di Lorenzo: Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt und Verstehen Sie das, Herr Schmidt? Sämtliche Bücher verkauften sich bestens, auch der Band Unser Jahrhundert mit dem Historiker Fritz Stern wurde ein voller Erfolg. Kaum vorstellbar, dass dies nicht ebenso im gedruckten Gespräch mit Peer Steinbrück gelingen sollte.

Der Clou in Zug um Zug wird scheinbar beiläufig auf Seite 157 versteckt – die Empfehlung von Helmut Schmidt, Peer Steinbrück zum Kanzlerkandidaten zu küren. Die beiden sind im Laufe des Gesprächs scheinbar »bei der Kandidatenfrage« gelandet, wie Schmidt das ganz unschuldig nennt. »Ich gehe davon aus, Peer, dass Sie sich zu dieser Frage nicht äußern wollen.« Der Angesprochene zögert und erinnert daran, »wie das die letzten beiden Male gelaufen ist«. Dann bittet er in einer langen Antwort wortreich um Verständnis. »Wenn dieses Buch erscheint, sind es noch zwei Jahre bis zur nächsten Bundestagswahl«, so Steinbrück. »Niemand kann verhindern, dass es dennoch bereits eine Debatte um die sozialdemokratische Kanzlerkandidatur gibt.« Er selbst werde sich deshalb erst äußern, »wenn mich der SPD-Vorsitzende danach fragen sollte. Ihm alleine steht es zu, einen Vorschlag zu machen – und die Mitglieder der SPD sollten nach meinem Dafürhalten die Möglichkeit bekommen, über Person und Programm zu entscheiden.« Steinmeier, Gabriel und er hätten »kein Interesse daran, dass diese Personalfrage die wichtigen Sachfragen überlagert«.

Doch Schmidt lässt nicht locker. »Im Prinzip kann ich diese Verabredung erstens gut verstehen, und zweitens halte ich sie durchaus für richtig«, lobt der Altkanzler. »Das muss mich aber persönlich überhaupt nicht daran hindern, meine Meinung zu sagen. Und ob Ihnen das nun sonderlich in den Kram passt oder nicht, Peer, ich bin aus zwei Gründen der Auffassung, dass die SPD gut beraten wäre, Sie als den Kandidaten für das Amt des Bundeskanzlers zu nominieren. Der eine Grund ist, dass Sie offensichtlich in besonderem Maße die Fähigkeit haben, das Vertrauen und damit die Stimmen von Menschen an sich zu binden, die sich nicht notwendigerweise für sonderlich links halten, die sich wohl aber eigentlich zur Mitte der Gesellschaft zählen. Ihre Reichweite übertrifft die Reichweite der sozialdemokratischen Partei, wie sich in den letzten Wahlen zum Bundestag und zu verschiedenen Landtagen gezeigt hat. Der andere Grund ist, dass Sie bewiesen haben, dass Sie regieren können und dass Sie verwalten können. Das Regierenkönnen hat sich in vielerlei Stationen Ihres Lebens gezeigt, das Verwaltenkönnen desgleichen. Es hat sich insbesondere gezeigt in der souveränen Art, wie Sie als Finanzminister umgegangen sind mit den Konsequenzen der im Jahr 2007 ausgebrochenen, dann sich über die ganze Welt verbreitenden Finanzkrise. Deutschland ist da relativ gut durchgekommen, besser als mancher andere, und das ist zu einem großen Teil – und das weiß auch das Publikum – Ihr Verdienst. Deswegen steht meine Meinung heute schon fest, auch wenn die Führungsgremien der Sozialdemokratischen Partei noch ein weiteres Jahr Zeit brauchen.«

Das saß. Steinbrück dankte für das ehrenvolle Urteil, und Deutschland hatte ein neues Aufregerthema. In einem Spiegel-Interview, das am 24. Oktober 2011 erschien, brachte Schmidt seine Empfehlung auf die schlagzeilenfähige Kurzform »Er kann es«, womit dann auch der Titel für diese Ausgabe klar war. Das Handelsblatt widmete seine Aufmachung am gleichen Montag ebenfalls der vorgezogenen Krönung des Kandidaten durch den dampfenden Weltweisen Schmidt, und die ZEIT erschien am Donnerstag mit einem ganzen Dossier über das Buch und »Schmidts Erben«, wie die Titelzeile lautete.

Noch während die Zeitungen gedruckt wurden, saßen Schmidt und Steinbrück bei Günter Jauchs Sonntagabendtalkshow, wo sie im Prinzip das Spiegel-Interview und einige Passagen aus ihrem Gesprächsband für ein Millionenpublikum wiederholten. Moderator Jauch ließ die beiden gewieften Herren im dichten Qualm von Schmidts Mentholzigaretten beim Staatsmännerschauspiel gewähren und schaffte es mit einer Mischung aus demonstrativem Respekt und charmanter Schlitzohrigkeit, dass der etwas ungnädig gestimmte Altkanzler seine Empfehlung für den Kanzlerkandidaten Steinbrück vor laufenden Kameras noch einmal wiederholte. Den Einwand, dass Steinbrück bislang nur Wahlen verloren, aber noch nie eine gewonnen habe, konterte Schmidt mit dem Hinweis: »Ich hatte auch keine Wahl gewonnen, als ich 1974 das Amt des Bundeskanzlers von Willy Brandt übernahm.«

Die Zuschauerquote für das sonntägliche Schmidt-Steinbrück-Festspiel war überdurchschnittlich hoch. Als Kanzlerin Angela Merkel vier Wochen vorher bei Günter Jauch über die Eurokrise sprach, hatten 4,29 Millionen Zuschauer eingeschaltet. Bei Schmidt und Steinbrück blieben 5,61 Millionen Menschen am Fernsehschirm. Die Abstimmung mit der Fernbedienung haben der Kandidat und sein Mentor jedenfalls schon einmal gewonnen.

Das Echo auf den »Ritterschlag« fiel hingegen zwiespältig aus. Die beiden »Mitkandidaten«, Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier, zeigten demonstrative Gelassenheit. Zum einen waren sie von Steinbrück vorab informiert worden. Zum anderen wussten sie als Profis die Vorteile der gewaltigen Medienresonanz durchaus zu schätzen. Die beiden Sozialdemokraten Schmidt und Steinbrück hätten der Partei doch ziemlich viele Schlagzeilen verschafft – und nicht die schlechtesten, freute sich Gabriel. »Diese Debatte ist äußerst schmeichelhaft für die SPD.« Selbst mit weniger Überschwang ließ sich nicht mehr bestreiten, dass die Genossen nach ihrem Totalabsturz bei der Wahl 2009 zurück im Gespräch waren. Sie gewannen wieder Landtagswahlen und präsentierten sehr selbstbewusst gleich drei respektable Kandidaten auf Augenhöhe mit der Kanzlerin. Seitdem hält die K-Frage die SPD im Gespräch – und zwar immer mit der impliziten Aussage, man fühle sich stark genug für die Herausforderung im Kampf um das Kanzleramt.

Der linke Flügel als treuer Steinbrück-Gegner reagierte erwartungsgemäß verschnupft auf die Bewerbungsoffensive aus Hamburg. »Ich verstehe nicht, was dieser Egotrip zu diesem Zeitpunkt soll«, schäumte der Juso-Vorsitzende Sascha Vogt. »Kanzlerkandidaten werden nicht von Altkanzlern ausgerufen, sondern von der Partei bestimmt.« Ähnlich äußerten sich auch SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles sowie der schleswig-holsteinische SPD-Chef Ralf Stegner als Speerspitze der linken Bedenkenträger. Letzterer stellte auch Schmidts These infrage, dass die Wahlen in der Mitte gewonnen würden und dort Steinbrück am meisten bewirken könne. Er halte wenig davon, wenn sich die SPD auf die Wähler der Mitte konzentriere. »Für uns kommt es darauf an, die Stammwähler zu mobilisieren und die Nichtwähler zurückzugewinnen, die von uns gegangen sind«, so Stegner. »Das ist erfolgversprechender, als der CDU Wähler abwerben zu wollen.« Auch Berlins damaliger SPD-Chef Michael Müller stellte leicht mosernd eine »Überinszenierung« durch Schmidt und Steinbrück fest und warnte vor einem »Bumerang«, sollte versucht werden, »an den Gremien der Partei vorbei Fakten zu schaffen«.

Die Vertreter der Linken grollten vor allen Dingen deshalb, weil sie wussten, dass die Kandidatur Steinbrücks mit Schmidts Ritterschlag unverrückbar auf dem Tisch lag und sie nichts mehr dagegen tun konnten. Man mag sich über den Altkanzler zwar ärgern, aber eine Empfehlung von ihm lässt sich weder ignorieren, noch kann man sie einfach beiseitewischen. Allerdings gab es bei den Linken auch positive Stimmen. »Wenn Millionen Menschen am Sonntag zwei SPD-Politikern zuhören, hat das eine große Tiefenwirkung auf die gesamte Wählerschaft«, meinte Karl Lauterbach anerkennend. Der SPD-Gesundheitsexperte gab den Kritikern innerhalb der Partei sogar den Rat, sich »durchaus einmal darüber zu freuen, wenn Sozialdemokraten etwas gut gelingt«. Man müsse, so der Kölner Bundestagsabgeordnete mit den bunten Fliegen, »auch gönnen können«. Erschütternd fand Lauterbach als Gesundheitspolitiker lediglich den öffentlichen Nikotinkonsum des Kettenrauchers Schmidt.

Ebenso vorhersehbar wie die Kritik der Linken kam die Zustimmung des rechten SPD-Flügels. Garrelt Diun, Johannes Kahrs, Nils Schmid und andere Vertreter des Seeheimer Kreises verteidigten Steinbrück. Allerdings betonten auch sie, dass mit der Empfehlung Schmidts noch nichts entschieden sei. Viele Wohlmeinende gaben hinter vorgehaltener Hand zu erkennen, dass sie den frühen Zeitpunkt für die »Krönung« Steinbrücks problematisch fänden. »Wie will er denn jetzt über zwei Jahre den Spannungsbogen halten?«, fragten die Unterstützer. Und was jetzt nach Helmut Schmidts Ritterschlag noch kommen könne? August Bebel sei tot, und ein Buch mit dem Papst, so die Spötter, werde selbst Peer Steinbrück nicht zustande bringen. Schmidt selbst ließ die Kritik kalt. Auf die Frage, ob es nicht klüger gewesen wäre, die Empfehlung für seinen Freund Peer etwas zu verschieben, meinte der 92-Jährige lediglich, er sei so alt, dass er sich vielmehr fragen müsse, ob es klug sei, noch ein weiteres Jahr zu warten.

Besonders schmerzlich wurde im Steinbrück-Lager die pointierte Kritik von Manfred Güllner aufgenommen, Chef des Umfrageinstituts Forsa. »Ich glaube, dass die SPD mit Steinbrück null Chancen hat«, ließ der Meinungsforscher die Öffentlichkeit wissen. Seine Aussage relativierte sich jedoch dadurch, dass Güllner am Ende keinem der drei SPD-Aspiranten zutraute, 2013 gegen eine starke Kanzlerin wie Merkel zu gewinnen. Für Rot-Grün werde es nicht reichen, meinte der Forsa-Chef, selbst wenn Steinbrück »ein bisschen Zuspruch aus dem bürgerlichen Lager erhalten« sollte. Allerdings werde er dort zum Teil gar nicht der SPD zugerechnet. Außerdem habe der Mittelstand Steinbrück die ganzen Verschärfungen im Steuerrecht nicht vergessen. Den Vergleich Steinbrücks mit dem Altkanzler sah Güllner als »völlig verkehrte Parallele«. Neben Schmidt strahle Steinbrück keine eigene Führungskraft aus, sondern begebe sich wieder in die Rolle des Hilfsreferenten.

Diese Betrachtung inspirierte weitere Kritiker. Wenn Angela Merkel »Kohls Mädchen« gewesen sei, dann habe sich Steinbrück jetzt als »Schmidts Junge« präsentiert, hieß es nicht ohne Häme. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung zeigte die beiden Weltweisen am Sonntag nach Jauch auf dem Titelbild. Dort wurden sie allerdings nicht als sinnierende oder Schach spielende Weltökonomen abgebildet – man verhöhnte sie vielmehr per Fotomontage als die beiden Alten aus der Muppet Show, die in der Theaterloge sitzen und halb taub und reichlich skurril abwechselnd das Weltgeschehen kommentieren.

Innerhalb weniger Tagen drehte sich das positive Bild in den Medien wieder. Hieß es zunächst, dass Steinbrück die Kandidatur kaum noch zu nehmen sei, nachdem Schmidt ihn auf den Schild gehoben habe, so wurde kurz darauf gefragt, ob Steinbrück nicht stark genug sei, um selbst auf den Schild zu klettern. Andere wiederum mahnten, dass der Jüngere sich dem Alten unterwerfe. Sie meinten, dass Steinbrück zu einer Figur in der seit Jahrzehnten andauernden Weltbelehrungsshow des Bestsellerautors Schmidt zusammenschrumpfe. Wenn Steinbrück den Altkanzler für seine Kampagne brauche, stelle sich doch die Frage, ob er ohne Schmidt überhaupt stark genug sei für den erhofften Erfolg.

Die Wirkung des »Ritterschlags« lässt sich selbst mit etwas Abstand schwer messen. Vieles spricht für eine geteilte Wahrnehmung. Für die breite Öffentlichkeit strahlt durch die Empfehlung durchaus etwas Glanz von Schmidt auf Steinbrück ab. Wenn der von den Deutschen hochverehrte Altkanzler den jüngeren Freund als kanzlertauglich einstuft, dann hat das in Deutschland Gewicht, mögen die Medien im ewigen Rhythmus des Rauf und Runter auch noch so viele Fragezeichen setzen.

Innerhalb der SPD jedoch dürfte die Aktion Steinbrück eher geschadet haben. Erstens wirkte die Offensive mit der geballten Medienpräsenz auf viele übertrieben, und zweitens mag es die SPD als linke, autoritätsskeptische Partei nicht, wenn man über ihren Kopf hinweg Fakten zu schaffen versucht. Der Ritterschlag war gut inszeniert, aber im Nachhinein betrachtet zugleich recht gefährlich. Wenn der alte König in bester Absicht etwas zu fest mit dem Schwert auf die Schulter seines Knappen schlägt, muss der frisch gekürte Ritter gleich mit gebrochenem Schlüsselbein in die Schlacht ziehen.