Epilog

 

Es gibt noch eine letzte Begegnung, von der ich erzählen möchte; es geht nicht ums Surfen, sondern um das, was mich dazu veranlasst hat, die Art von Frieden zu suchen, die das Surfen bietet. Ich hatte meinen Pick-up bepackt, und Susan erwartete mich am nächsten Tag in Berkeley zum Mittagessen, also ging ich hinunter zum Geländer an der Klippe, um mir nach einem Jahr mit tollen Sonnenuntergängen meinen letzten anzusehen. Erst einmal sah ich wieder den Architekten, der am Geländer lehnte: Auch er hatte die Frühjahrs-Nordwestwinde im Kopf. Er hatte versucht, ein Gedicht über die Zypresse vor seinem Fenster zu schreiben, darüber, wie sie ihm jede Bewegung des Windes offenbarte, er hatte von seinem Strandhütten-Panoptikum aus die wirbelnde Welt festgehalten.

Ich überlegte laut, ob er ein Gedicht von A. R. Ammons kannte: «Das Schilf / gibt dem Wind nach / und gibt / den Wind preis.»

Nein, gab er offen zu, aber er kannte Jeffers' Gedicht über die Schaumkronen der Wellen: das Meer «geweißt vom Flug des Falken». Nicht mythologisch, beharrte er und führte die Chaostheorie an, laut der ein Schmetterlingsflügelschlag in Arabien einen Hurrikan in Florida verursachen kann. Und Gedichte, sagte er, sind wie besagter Schmetterling die 0,02 Prozent am Boden aller Statistiken, die wir sowieso immer vernachlässigen, weil wir sie für unbedeutend erachten. Daher rückt die Anziehungskraft des Meeres, eine Bindung an das ewig Unbekannte dieser Welt, eine tägliche Dosis Wildheit. «Ein Schritt von diesem Strand ins Meer, und du bist in wahrer Wildnis», sagte er, «keine Entweder-Oder und keine Halbheiten. Diese Energien da draußen» – und er zeigte auf eine große, vom Wind erzeugte Wellenreihe – «eine Geometrie im Chaos, unbehindert durch den Menschen. Nichts verlangsamt oder verändert diese Energie. Und du spürst sie sogar, wenn du am Strand entlanggehst und einem Seelöwen in die Augen siehst.»

(Noch einmal Ammons: «Ich fand / ein Kraut / das hatte / einen Spiegel in sich / und der Spiegel / schaute in / einen Spiegel / in / mir der / hatte ein Kraut in sich.») Ich erzählte ihm von meinem fürchterlichen Tag allein in dem monströsen Schaum, vor schäumenden Wänden, und dass ich ziemliche Angst hatte.

Er knurrte etwas, sagte, er schwimme lieber nackt.

«Ich habe schon vor langer Zeit alle Ausrüstung aufgegeben», sagte er. «Ich war genau wie du, weißt du», und er machte mit seiner breiten Hand voller Altersflecken eine Bewegung, als gleite und stoße er durch Wasser. «Klar, da ist Zeug drin, das da nicht rein gehört, und der Scheiß ist im Wasser und in der Luft und überall. Aber ich hab's nicht so mit Ökologie. Mich interessiert mehr die Energie selbst, diese flüssige Kraft auf meinem Körper.»

Aber, erwiderte ich ihm, diese mehr als drei Meter hohen schäumenden Biester … das ist schon eine Menge Energie, wissen Sie?

«USS Wasp», sagte er achselzuckend, die Augen gesenkt, «Flugzeugträger in philippinischen Gewässern, wir hatten über 25 Meter hohe gläserne Berge aus Wasser zu bezwingen. Wenn sich das Schiff nach einer Seite neigte, konnte man Wasser sehen so hoch wie die Zypresse dort drüben, die große, grüne ganz oben auf dem Hügel.» Ich sah hinüber, für einen Moment von der Größe meiner eigenen Wellen abgelenkt, und sah den großen Baum, der sich vor der Spätnachmittagssonne über der Zementstatue eines Wals als schwarze Silhouette abzeichnete. «Dann drehte sich das Schiff, und man sah nichts als Himmel; dann ging's wieder runter. Und dann hörte ich das schwache Knattern eines alten Dieselmotors – put, put, put –, ein kleines chinesisches Fischerboot mit drei Burschen, die ganz ruhig einen der Berge hochtuckerten und auf der anderen Seite wieder runter. Als ich in der Nacht zu schlafen versuchte, schlug der Bug immer wieder in die Wellen, und der über dreihundert Meter lange Flugzeugträger wackelte und haute meinen Schädel gegen das Schott.»

«Also mein Onkel», entgegnete ich in einem Reflex, mithalten zu wollen, «ist Kapitän bei Chevron und fährt auf der Strecke zwischen Anchorage und San Diego. Er sagt, die größten Brecher habe er im Golf von Alaska erlebt, wo die Wellen den Tanker umschlangen und Kräne und Laufplanken wegrissen.»

Der Architekt ließ das auf sich wirken, blinzelte hinüber zu einem flachen, eckigen Fischkutter an der Pier. «Wildnis ist schon okay», sagte er. «Darum lebe ich hier. Du musst schon sehr weit nach Norden fahren, um so etwas in der Art zu finden.» Wir sahen beide einem kleinen Jungen zu, der mit Eimerchen und Schaufel hinunter zum Strand watschelte. Ich wechselte das Thema und erzählte ihm, dass ich in ein paar Ebbesielen gestochert hatte.

«Das mache ich nie», sagte er und sah weg, «sie sind zu intim. Man überfällt sie regelrecht, wenn man da umherläuft und allen möglichen Kram sammelt. Nein», sagte er und blinzelte wieder in die Ferne, «ich muss nichts sammeln … oder benennen.»

Da wir genug gesagt hatten, standen wir eine Weile still da, nickten jeder mit dem Kopf, und dann zog er zum Abschluss die Augenbrauen hoch und machte sich auf zu seinem Spaziergang allein am Strand; Wind und Wasser leckten am Sand, in der Luft lag Rauch von den wenigen ersten Treibholzfeuern am Strand. Vor den kleinen Apartments lagen lauter Blumenkästen und Dreiräder, und eine Reihe neuer kleiner Palmen stand vor der Tür der Malerin. In einem alten braunen Chrysler tranken zwei junge Männer mit schwarzen Sonnenbrillen Bier, ohne ein Wort zu sagen, auf dem Rücksitz lagen zwei Surfboards. Ich lehnte mich ans Geländer und stellte mir vor, vermutlich genau wie sie, dass große Wellenkämme vom Horizont heranrollten, eine für die Jahreszeit untypische Dünung – als würde man in den Tropen an Schnee denken. Unten am Strand breitete ein Mann in einem schwarzen Kimono mit rotem Gürtel eine Decke aus und legte ein Kampfsportschwert und einen Stock parallel zueinander an eine Seite. Eine weitere fünfzehn Zentimeter hohe Welle überspülte den Sand und floss wieder ab. Der Fahrer des Chrysler schaute in sein Bier. Ich streckte mich und sah den Ninja unter mir dem Land zugewandt mit gespreizten Beinen dastehen, die Fäuste geballt, tief atmend, als wolle er seinen Mut sammeln. Plötzlich sprang er in die Luft, drehte sich gen Meer und trat mit beiden Füßen aus. Als er landete, stieß er jede Faust hart nach vorn und hielt dann abrupt inne. Eine Frau führte vor ihm ihren Dobermann im Sand Gassi.

Die üblichen ernsten Gespräche hier drehten sich um die Brandung, und in einem dunkelroten Chevrolet Pick-up beobachtete ein dicker Mann mit schwammigem Gesicht und leeren Augen durch ein am Armaturenbrett montiertes Teleskop eingehend ein am Wasser liegendes Paar. Dann ging seine Frau barfuß auf das Auto zu, sehr braun mit schönem grauem Haar und verbissen-gelassenem Schritt. Sie griff in den Wagen und schnappte sich ein Fernglas; er sagte nichts, sondern sah unverwandt weiter durch sein Teleskop. Allein ging sie zu der Holzbank, saß dort mit untergeschlagenen Beinen und beobachtete dann auch die Leute. Aber während ihr Blick schnell und ungeduldig umherwanderte, blieb seiner an dem Paar hängen – wahrscheinlich sah er die beiden ebenso gut wie sie einander. Als ich mich zum Gehen wandte und an einem gelben Bungalow, mit abgeblätterter Farbe, mit Topfpflanzen und einer kleinen, windbetriebenen Holzmöwe, vorbeikam, schlug der Fahrer des Chrysler mit der Hand auf das Armaturenbrett und verfluchte den ruhigen Pazifik. Es war ein stahlblauer Sonnenuntergang mit einem Hauch Violett; zwei Frachter zeichneten sich schwarz vor einem roten Streifen am Himmel ab, und am Horizont standen ein paar Wolken wie geheimnisvolle, zeitlose Inseln, Berge, Türme.

Die Studiotür der Malerin ging quietschend auf, und da stand sie neben einem ausgeräumten Aktenschrank auf ihrer Zementveranda. Wir hatten im vergangenen Monat ein paar Male miteinander gesprochen, und ich mochte sie inzwischen sehr.

Ich fragte sie, wie es ihr ginge, und sie wischte eine Hand an ihrer farbbeklecksten Jeans ab, wusste noch nicht recht, welche Version sie mir erzählen sollte. «Oh», sagte sie mit einem Blick zum Himmel, «ich muss morgen einen kleinen Eingriff vornehmen lassen. Nichts Großes, nur … Es geht mir gut.» Sie lächelte absurd hinter ihrer Sonnenbrille; schlüpfte mit ihren langen Füßen in rosa Slipper, ehe sie auf den Bordstein trat.

«Also», sagte ich und versuchte, nicht mitleidig zu klingen, «nichts Lebensbedrohliches?»

«Na ja, es ist eine Krebs-Biopsie.»

Das Licht war vom Land aufs Meer hinaus geflossen und hatte die Erde dunkel hinter dem jetzt wild leuchtenden Wasser zurückgelassen.

«Jetzt wissen Sie's», sagte sie, «was würden Sie am letzten Abend Ihres Lebens tun?»

Ich sah auf ihre Hände und machte behutsam einen Vorschlag: «Scotch und eine Zigarette auf dem Kliff?»

«Genau das.» Sie nickte und schaute auf den vollen Becher in ihrer Hand, während sie die Asche ihrer Zigarette in der anderen abschnippte. «Ich habe bis sechs gemalt», sagte sie gespielt munter, die Erschöpfung war in den Pausen zwischen den Silben hörbar, «was spät für mich ist. Vielleicht backe ich noch ein Brot.»

«Sicher tut das Kneten gut», sagte ich. «Sie können den Sternenhimmel betrachten, während der Teig aufgeht.»

«Deshalb lebe ich hier.»

«Um jeden Tag diese gewaltige Weite zu spüren?»

Sie dachte darüber nach und seufzte, während sie die Straße hinuntersah; der Ozean war jetzt in einem weitaus tieferen Schwarz versunken als das Land. Dann schüttelte sie den Kopf und sagte: «Nein.»