Wenn man kein Naturforscher, Farmer, Fischer oder Förster ist, dann braucht man ein Medium, ein Spiel, ein Lustprinzip, das das Wissen über die eigene Heimat zu einer leidenschaftlichen Wissenschaft macht. Städter wissen nichts über Nippfluten oder die Topographie von Riffen, und zwar aus demselben Grund, weshalb nur wenige Amerikaner eine Fremdsprache beherrschen: nicht etwa aus moralischer oder persönlicher Schwäche, sondern weil es nicht wichtig ist. Ich bin nicht an die Küste gezogen, um meinen «backside aerial attack» zu vervollkommnen (nicht einmal, um zu lernen, was zum Teufel ein «backside aerial attack» überhaupt ist), sondern weil mein Bedürfnis, jeden Tag auf einem wirklichen, grundehrlichen Surfboard im klaren, lebendigen Wasser meines kalifornischen Pazifiks zu verbringen, seit meinem ersten Wellenritt eine Quelle nagender Angst geblieben war. Und Monterey Bay – eine große Delle in der kalifornischen Küste, etwa siebzig Meilen südlich der San Francisco Bay – war eine ideale Heimat, um den Wellen nahe zu sein. Santa Cruz, ein unprätentiöser Badeort mit einer kleinen Uni, bevölkert die Klippen an der Nordseite und endet jäh an den Feldern und Hügeln der offenen Küste. Südlich von Santa Cruz ziehen sich Kleinstädte zehn bis zwölf Meilen an der geschützten Bucht entlang, bis sich schließlich das Farmland des Sahnas Valley bis zur Fischerei- und Touristenstadt Monterey an der Südspitze der Bucht erstreckt. Ich arbeitete zwei Tage in der Woche als Aushilfsdozent an der Uni und verdiente genug, dass ich mir dort auf genau diesem Küstenstreifen ein Zimmer in einem zweistöckigen, mit Schindeln gedeckten Haus mieten konnte. Das Haus hatte große Giebel und war grün gestrichen; hier und da standen unter den Pfirsichbäumen und Palmen im Vorgarten ein paar von den Studenten angefertigte Skulpturen, und der Schuppen für die Surfbretter war so alt, dass er noch von handgeschmiedeten Nägeln zusammengehalten wurde. Das Haus war als Sommerdomizil erbaut worden, zu einer Zeit, als sich die Felder noch an der Steilküste entlangzogen. Innen war es mit altem Redwoodholz getäfelt, was es warm und gemütlich machte, wenngleich die Bohlen ziemlich schief waren. Die Böden neigten sich hierhin oder dorthin, keine Tür saß ganz richtig in ihren Angeln, und bei starkem Wind schwankte das ganze obere Stockwerk leicht. Ein paar Renovierungsarbeiten hätten dem Haus durchaus gut getan: vom Schornstein war nach dem letzten Erdbeben nur noch ein Haufen Backsteine übrig geblieben, die Pinienholzböden waren abgewetzt, an der Decke im Badezimmer zeigten sich schwarze Schimmelflecken, die Türrahmen wiesen zahllose Löcher von Reißzwecken auf, die Abflüsse waren nicht ganz frei, im ersten Stock gab es kein Warmwasser, und in den meisten Ecken hockten Spinnen. Trotz der sehr niedrigen Miete bot mein Schlafzimmer jedoch einen unverbauten Blick aufs Wasser (zur einen Seite die offene Bucht, zur anderen die Brandung an der Küste), die Fenster öffnete man nach außen wie Flügeltüren, und da die Wände, die Fußböden, die Decken und sogar die Fensterrahmen in tiefem Rotbraun gestrichen waren, hatte man den Eindruck, sich in der Offiziersmesse eines alten Segelschiffs zu befinden.

In den Jahren zuvor hatte ich in einer Stadt voller bekannter Gesichter gelebt, inmitten sehr guter Buchläden und thailändischer, mexikanischer, toskanischer und mediterraner Restaurants. Direkt nebenan gab's erstklassigen Kaffee, und ich hatte, wie gesagt, mit acht Freunden im selben Haus gewohnt. (In der Nähe verlief ein Highway, und mitten in der Nacht, wenn die Geräusche der Stadt verklungen waren, erzeugte die Schnellstraße ein brüllendes Zischen wie die Brandung.) Meine Freunde nickten meistens mit gezwungener Begeisterung, wenn ich erklärte, ich wolle ans Meer ziehen; es war die Art von Schritt, die sich großartig anhört, wie alle zugaben, aber ihre Reaktion ließ mich auch wissen, dass sie selbst einen solchen Fehler nie machen würden. Aber ich konnte nicht klagen, denn als ich zum ersten Mal in Santa Cruz auf meinem noch nicht bezogenen Futon aufwachte, wehte eine neblige Brise durch die unverhängten Fenster, brüllten die Seelöwen sehnsüchtig unter der Pier, und das Kabbelwasser erzeugte ein leichtes, gurgelndes Geräusch. Die Reisetaschen mit den Kleidungsstücken waren noch nicht ausgepackt, die Wände des Schlafzimmers noch ohne jeden Schmuck, und auf der Holzveranda trank ich Kräutertee (ich fand es am besten, in einer solchen Zeit existenzieller Unsicherheit auf Koffein zu verzichten) und aß Müsli zum Frühstück. Der grüne Farbanstrich blätterte, die Dielen waren wellig und lose, über ein Spalier rankte sich eine Glyzinie zum Badezimmerfenster empor – ein typischer Spätsommermorgen, an dem die Sonne über dem Land gerade den Nebel vertrieb. Barfuß saß ich im feuchten Gras und las die Lokalzeitung, nahm mir sogar die Zeit für die Titelgeschichte über ein Treffen des Lehrer-Eltern-Ausschusses. Ich nickte einem älteren Herrn zu – einem Nachbarn, den ich bald besser kennen lernen sollte, mit langem, blondem Pferdeschwanz und wettergegerbten, schönen Gesichtszügen –, der zur Steilküste schlenderte, um sich seine tägliche frische Brise um die Nase wehen zu lassen. Ich war 27 Jahre alt und wohnte zwischen Rentnern und offenkundig Arbeitslosen, hatte weder einen Verkäufer- noch einen Bürojob … da war es absolut notwendig, tief durchzuatmen, um Schwindelanfälle abzuwehren. Mit einer weißhaarigen Frau, die auf der anderen Seite energisch Unkraut jätete, tauschte ich einen Guten-Morgen-Gruß aus. Wie ich später erfuhr, lebte Emma allein, und zwar recht glücklich. Am frühen Morgen ging sie am Strand spazieren, hielt energisch ihren Garten in Schuss, fuhr einen pinkfarbenen 65er Mustang und bekam regelmäßig Besuch von ihren wohlerzogenen Enkelkindern.

Und während ich so in der Zeitung blätterte, fand ich auf der Seite mit dem Wetterbericht ein farbiges Symbol mit einem Surfer, daneben den Text: «Kaum Swell, an den besten Stellen etwa sechzig bis neunzig Zentimeter.» Aber wo? Diejenigen, die es wissen, ziehen los; diejenigen, die es nicht wissen, bleiben zu Hause; niemand, der Bescheid weiß, wird einem sagen, wo, und zwar damit man dort eben nicht hinläuft. Auch nicht, wann man los muss, bei welchem Gezeitenstand, bei welchem Wind und welcher Dünung – das alles muss man ganz allein herausfinden. Alle Städte mit Surfern haben allgemein bekannte Surfspots, vom Bürgersteig aus gut sichtbar, gesäumt von Parkplätzen und bei der geringsten Andeutung einer Brandung überfüllt von dreißig lebenslänglichen Einheimischen. Aber die Chancen eines Ortsfremden, ein paar Brecher abzubekommen, sind gering. Und grünere, weniger besuchte und weiter außerhalb gelegene Weiden sind schwer zu finden: Sie sind auf keiner Karte, in keinem Surfguide verzeichnet und werden nie in Anwesenheit Fremder erwähnt. Man gestatte mir einen Vergleich mit einer anderen Sportart, die ich gut kenne: das Camp von Felskletterern im Yosemite-Nationalpark, sechs Uhr in der Frühe, der Himmel hinter dem Half Dome hellt sich gerade auf. Du packst die Rucksäcke, während dein Partner sich einen Kaffee aufbrüht und ein spindeldürrer Typ mit wirren Haaren im Nachbarzelt fest verklebte Wasserflaschen in eine übergroße Segeltuchtasche schiebt – ein untrügliches Anzeichen dafür, dass bedeutende Dinge anstehen. Du bietest ihm einen Kaffee an, doch in seiner Thermosflasche dampft bereits Peet's 101 Blend; so kommt man dann ins Reden, erörtert die Wettervorhersage, tauscht sich über Ängste aus und über Plätze, wo man wild zelten kann, verrät vielleicht sogar den Weg zu einer geheimen heißen Quelle. Nachdem die Rucksäcke gepackt sind, der Kaffee getrunken ist, wird es Zeit, aufzubrechen, und man wünscht sich gegenseitig viel Glück und Hals- und Beinbruch und geht seiner Wege. Etwas Derartiges versuche man einmal irgendwo am Pacific Coast Highway: wieder sechs Uhr morgens, Nebelschwaden wabern durch die Redwoods, du stehst am Tresen des durchgehend geöffneten Ladens Schlange für einen Becher Kaffeeplörre und ein verschrumpeltes Zimtbrötchen in Zellophan. Da siehst du zwei nett aussehende Typen im Surfer-Outfit: Surfer-Sweatpants, gefütterte Ugg-Stiefel (eines der auffälligeren Stücke der Surfermode, ideal für kalte, feuchte Füße nach einer langen Session), Hang-Ten-Revival-Sweatshirts (hergestellt in der Phase, als alle Dinge aus den frühen sechziger Jahren zum Fetisch wurden («Bitchin' Before You Were Born») und Surfshop-Mützen. Ein bisschen neu in der Gegend, fragst du sie nach Tipps. Werden sie dir etwa vom Wanderriff auf der anderen Seite der Farm erzählen? Oder von dem abgelegenen Strand mit der perfekten Sandbank? Warnen sie dich vor den Untiefen direkt neben dem Startplatz, oder weihen sie dich gar in das Geheimnis ein, das Wellentop anzupaddeln, bevor es zu steil ist?

«Nee», knurrt der Kleinere von beiden, ganz offensichtlich total genervt, weil er mit dir reden muss, «keine Ahnung.»

Du bist ein bisschen erstaunt, denn du weißt, dass du im Surfer vom letzten Monat gesehen hast, wie der Mistkerl eine Riffwelle vor den Fidschi-Inseln gesurft ist, und fragst die beiden ganz freundlich, wohin sie wollen. Aber sie sehen dich kaum an; die Frage hat ihnen die Sprache verschlagen – was für eine Frechheit! Derselbe Typ, dem seine Mutter besser Manieren hätte beibringen sollen, grummelt missmutig: «Nach Norden.» Was so viel heißt wie: Wenn ich dir das verrate, kommst du vielleicht auch da hin, und dann müsste ich dich umbringen. Man kann Bildunterschriften als Indiz werten: Während Freeclimbing-, Ski-, Biker-, Segel-, Tauch- und Rafting-Magazine jeden Ort auf jedem Foto benennen, samt detaillierten Informationen über Anreise und Campingmöglichkeiten, lassen Surf-Zeitschriften nichts unversucht, all dies zurückzuhalten: Es freut uns, dass du unsere Zeitschrift gekauft hast, aber komm bitte nie hierher. Das ist zwar eine Haltung, deren Vorteil ich inzwischen erkenne, denn es gibt nur wenige gute Surfspots und viele Surfer, aber ich könnte auf diesen kannibalischen Verdrängungswettbewerb gut verzichten.

Ich wusch jedenfalls meinen Teller und meine Tasse sorgfältig ab, lud das von meinem Onkel geerbte Board samt abgewetztem Neoprenanzug in den Pick-up und fuhr los, um die Gegend auszukundschaften. Vorbei an von Eukalyptusbäumen überschatteten Lagunen, wo an Gartenstegen Ruderboote vertäut lagen, wo es unkonventionelle Häuschen auf großen, überwucherten Grundstücken neben Stränden gab, bis ich schließlich zu einer schmalen Straße kam, an der kleine Häuser mit großen Panoramafenstern an einer Bucht mit hellblauem Wasser standen. In mediterranem Klima fällt im Herbst kaum Regen, doch dieser Ausklang des kalifornischen Sommers, wenn die Täler im Landesinneren so weit abkühlen, dass die Nebelbänke draußen auf See bleiben und der Küste einige kostbare Wochen warmen Wetters gewähren, gilt immer als Herbst; der Nebel ist jetzt eine wirbelnde, verschwommene Wolke weit jenseits der Surferhorden, die im Sonnenschein dahindümpeln. Die Vormittage um diese Zeit waren köstlich frisch, die Luft kalt, klar und salzig, die Sonne stand tief und glitzerte silbern auf dem stillen Meer, während kleine Wellen unter dem Seetang hindurchrollten und keinen Betrachter daran zweifeln ließen, dass die besten Dinge im Leben umsonst zu haben sind oder zumindest nicht direkt Geld kosten, was zugegebenermaßen nicht ganz dasselbe ist. Und das empfanden offenbar auch die rund hundert Müßiggänger entlang des Kliffs, die Ortsansässigen auf den kleinen Bänken, die beim spätvormittäglichen Kaffee miteinander plauderten, die Trinker, die bei einem kleinen Thunderbird ausnüchterten, die Jogger, die ihren Kopf zum Wasser drehten; sie alle sahen dem Schaukeln und Gleiten der Surfbretter auf den Wellen zu.

Ein paar schlanke, entspannte und überaus fit wirkende Jugendliche mit bloßem Oberkörper standen da, wo ich parkte. Außerdem noch ein paar Kerle mit Glatzen und fiesen, verbeulten Fressen, Tätowierungen, Stirnbändern und extrem weiten Klamotten – die weiße Surfer/Skater-Fraktion im Los-Angeles-Chicano-Gangster-Outfit. Sie genossen ihre Gruppenzugehörigkeit, rangelten miteinander und schrien vorüberfahrenden Cabrios nach; ein paar von ihnen rauchten Zigaretten, andere tranken ostentativ Whiskey zum Frühstück. Das war zwar nicht das unberührte grüne Tal, das ich mir vorgestellt hatte, alle Claims waren ziemlich abgesteckt, und es gab schon zu viel Fortschritt für meinen Geschmack, aber ich kaufte mir trotzdem eine Flasche Orangensaft in einem kleinen Laden, einem chinesischen Außenposten in der westlichen Welt, setzte mich auf ein Geländer und beobachtete zwei bekiffte Wracks unten am Strand. Mit einem Luftgewehr hielten sie eine große Kanalratte in Schach, die sie aufgestöbert hatten, um sie abzuknallen, und lachten sich schlapp. Während ich in meine Montur schlüpfte, stieg ein Junge in einem gelbschwarzen Neoprenanzug aus dem Wasser, nahm sein Board und winkte den Rattenjägern eine etwas ängstliche Begrüßung zu. Der mit dem Gewehr – ein kräftig gebauter, tätowierter Typ mit kleinen Augen und bloßem Oberkörper – stierte leer zurück, gluckste, sah seinen Freund an, der nickte, und fing an zu schießen.

«Was jagt ihr denn da, Jungs?», fragte der Junge schüchtern und strebte rasch der Betontreppe zu. Die Leute auf dem Gehsteig beugten sich über das Geländer, um ja nichts zu verpassen.

«Nichts Besonderes, du Kniich», meinte der Schütze, nahm den Hintern des Jungen ins Visier und drückte ab. Der Junge schrie auf und lachte, weinte ein bisschen und versuchte schließlich tapfer weiterzulachen, als ob auch er das alles unheimlich witzig fände.

Etwas abwesend sah ich hinaus aufs Meer und rieb die Standfläche meines von der Sonne vergilbten, 1,83 m langen, doppelfinnigen Surfboards mit kokosaromatisiertem Wachs ein. Dann streifte ich meine Superhelden-Montur aus Gummi über (die allerdings weniger wie das Neueste aus den Marvel-Comics aussah, sondern eher wie ein alter Tiefseeanzug von Kapitän Nemo) und stieg die ausgetretenen Stufen der Behelfstreppe aus Beton hinunter, an deren Geländer lauter Zettelchen für Surfboard-Reparaturen steckten. In der offenen Bucht unter mir umschlangen die Wellen weit die Mündung, ehe sie über die Felsenriffe schwappten – feinere, redigierte Versionen grober Pazifikentwürfe. In der Zeit zwischen 10 und 14 Uhr waren die meisten Kinder in der Schule, und die Frühaufsteher-Truppe der Surfer hastete zur Arbeit, sodass jetzt nur noch der harte Kern am Kliff herumlungerte und im Wasser ein paar freundlich wirkende Typen, die miteinander plauderten, sich gegenseitig nass spritzten, über andere beschwerten. Aber nicht gehässig, was mich freute, denn ich war aus der Übung. Es waren alles Erwachsene, wie mir auffiel: nicht gerade im Rentenalter, aber Erwachsene, die zuschauten, wie ein paar Pelikane das glasglatte, klare Wasser überflogen. «Surfbretter, kleine Boote und Tiere», schreibt Willard Bascom, «können aus der Welle die Energie zur Fortbewegung beziehen, indem sie die Vorderseite der herankommenden Welle hinabgleiten … Der Trick beim Wellenreiten ist natürlich, das Brett in Bewegung zu setzen und das Gewicht so zu balancieren, dass die Welle selber die Arbeit übernimmt, wenn sie unter ihm durchrollt.» Energie beziehen? Aber klar. Wenn die Welle herankommt, zum höchsten Punkt kraulen, schnell wenden und anpaddeln, spüren, wie das Brett von allein zu gleiten beginnt, mühelos aufspringen, ohne die Balance zu verlieren, die Vorderseite der Welle hinabfahren, sich nach rechts lehnen, einen Turn in die Wand setzen und laut über diese Wasser-Rampe lachen, die sich nur zu deinem Vergnügen auftürmt, ein wenig nach vorn treten, um noch schneller über die steilen Stellen zu rasen, einen Finger ins Wasser halten, um sicher zu sein: Das alles geschieht wirklich! Wenn dann die Welle in Weißwasser weggurgelt, vom Brett springen, um hinterher – wie Bascom sagen würde – mehr Energie zu haben als zuvor.

Das klappt natürlich nicht, wenn sich jemand vor dir in Position gebracht hat und die Welle für sich beansprucht: Begrenzte Ressourcen, Überbevölkerung, die Hackordnung gegen dich – genau die Gründe, warum aufrechte Einwanderer sich dem Treck nach Westen anschlossen. Das Wasser war so weit zurückgegangen, dass es die Schulschwänzer, die Jungs mit gewichtigen männlichen Anliegen, anlockte. Kaum war ich einem ausgewichen und prustend wieder aufgetaucht, da hörte ich, wie mich ein anderer anschrie.

«Hey, Kook», rief der kleine blonde Apollo, ein extrem unglücklich wirkender Junge mit scharf geschnittener Nase. «Barney … willst du noch lange den Verkehr hier aufhalten?» (Kook: Surftalk für einen unbekannten, wenig beeindruckenden Surfer in Anspielung auf die lächerlichen, zuckenden Bewegungen eines ungelenken Wellenreiters; im Surfer erscheint sogar ein regelmäßiger Comic mit einem Tölpel namens Wilbur Kookmeyer als Hauptfigur. Barney meint ungefähr dasselbe und leitet sich vermutlich von Fred Feuersteins kleinem Freund, Barney Geröllheimer, her.) Apollo war außer sich, fuchsteufelswild, und – was am schlimmsten war – er hatte Recht. In der Zeit, die ich nicht am Meer war, hatte ich den Code, die Verkehrsregeln, vergessen und ihm durch mein inkompetentes Kreuzen seine Welle zerstört. Trotzdem fand ich seinen Wutanfall schon fast komisch: Abgesehen davon, dass ich fünfzig Pfund mehr auf die Wage brachte als er, woher wollte das Bürschchen in diesen Zeiten wissen, ob ich nicht in meinem Wagen eine Glock liegen hatte? Es hat schon etwas ausgesprochen Niedliches, dieses Vertrauen in die Menschheit, dass man es wagt, einen Wildfremden anzuschreien. Aber bevor ich ihm das verklickern konnte, paddelte er kopfschüttelnd davon, als hätte ich mir auf die Schuhe gepinkelt und dürfte kein Mitleid dafür erwarten.

In einer Surfer-Stadt gibt es keinen besseren Ort der Bewährung als einen gut einsehbaren Surfspot. Apollo zog seine Show für die Schaulustigen an der Klippe ab, indem er wie Motocross-Fahrer eine Wüstenpiste die Wellen attackierte, in den Augen eine Wut, bei der man eher an Prügeleien auf dem Schulhof denkt. Aber es war doch schön, ihm zuzusehen, wie er selbst auf den langsamsten Wellen in Fahrt kam und präzise, scharfe Turns drehte. Ein paar der anderen Jungen waren genauso wendig – darunter ein höchstens 13-jähriger Junge, der unverkennbar in eine Peaceful-Warrior-Phantasie versunken war, den Ausdruck ruhiger Entschlossenheit im Blick, während er jedes Manöver mit einer langen, stilvollen Armbewegung ausführte. Es ist schon ein traumhafter Sport: Er erlaubt dir, jede Menge Dampf abzulassen, gibt jedem Moment des Tages eine Gestalt und der Zukunft in Teilen einen Sinn, indem er dich ein besonderes Fleckchen Erde verstehen lehrt.

Und während ich so zusah, wie Apollo die Naturgewalten bezwang, spürte ich langsam meinen Koffein-Entzug, dieses zunehmende Druckgefühl an den Schläfen (für alle, die so etwas noch nie erlebt haben: fürchterlich). Schlecht in Form und ohne Feeling, ohne Chance, eine Welle zu erwischen, wurde ich zu einer Art menschlicher Boje. Neben mir ließ sich ein Junge, der keine acht Jahre alt war und in einer viel zu großen Montur auf einem riesigen Longboard lag, von seinem Dad anschieben und schaffte es in die Hocke. Plötzlich zischte er seitwärts durch den Sonnenschein, und dieser Schock überwältigte ihn geradezu. Mit schriller Stimme schrie er «Wahnsinn! Wow! O Mann!» mit dermaßen ungezügelter Freude – und so wider alle ungeschriebenen Surferregeln, die Coolness und Schweigen fordern dass alle im Wasser großmütig grinsten, sogar die ganz harten Burschen. «Na, das war's wohl», sagte ein rundlicher Typ zu dem stolzen Vater. «Dass dein Junge jemals Präsident wird, kannst du jetzt vergessen.»

Unmittelbar hinter der dicht gedrängten Reihe der Surfer trieb ein quadratisches Boot, das Seetang einholte und die langen, glitzernden grünen Halme auf ein Förderband zog, das vom Bug herabhing. Als ich auf das Riff mit dem hin und her schwenkenden Seegras unter meinem Brett schaute, sah ich einen silberfarbenen Schlangenhalsvogel aufsteigen und die glänzende Wasseroberfläche durchbrechen. Während er davonschwamm, schluckte und würgte er, bemüht, den in seinem langen Hals feststeckenden Fisch hinunterzuschlingen, und ich versuchte, das Surfen, dieses Spiel, das den Blick verengt, für einen Moment zu vergessen. Während ich die Luft und das Wasser mit der Offenheit eines Toren betrachtete und versuchte, den Himmel in mein Hirn einzulassen, stellte ich zu meiner großen Verwunderung fest, dass dieser Montagvormittag im September der erste Morgen voller mystischer Wolkenzeichen war, den ich je erlebt hatte. Damit meine ich, dass ein Mann mit breitem Brustkorb und dicken, zur Seite ausgestreckten Armen aus den Wolkenfetzen in den Horizont eintauchte, gerade als drei Adlerfedern in zarter Perfektion im blassblauen spätsommerlichen Himmel wehten. Ich mache keine Witze. Es ist nicht meine Art, Adlerfedern am Himmel zu sehen, aber sie waren da, jeder Kiel war klar und deutlich zu erkennen und zog eine lange Feder hinter sich her, und all dies unter einer Sonne, die kaum sichtbar Regenbögen aus Grün und Violett durch die daunenweichen Fasern tupfte. Und das, wissen Sie, war genug für einen Tag, dieser Kreislauf aus platonischen Wolkenformen, die mir meine Seele wie in einem Rorschachtest vor Augen führten, denn genau in dem Moment floss mir ein Band grünen Lichts entgegen mit niemandem darauf. Wie der Teufel paddelte ich auf meinem bescheuerten alten lila-orangefarbenen Board – frühe Achtziger mit einem Logo, das aussah, als gehörte es auf eine Bierdose spürte, wie sich die Welle hob, und schaffte es. Ich sprang auf, und als ich zwischen mehreren paddelnden Typen die Welle hinuntersteuerte, fiel mir etwas höchst Seltsames auf – in ihren Augen war kein Ausdruck des Entsetzens! War ihnen nicht klar, dass ich alles vermasseln und sie möglicherweise umbringen konnte? Offenbar nicht, und so wurde für mich dieser Morgen, während ich die schöne, wogende Mauer entlangglitt, hinauf zum Wellenkamm und wieder zurück in die konkave Wasserwand, während ich das Spiel spielte und dahinraste, zu einer reinen, stillen Freude. Doch als ich zurückpaddelte, kam ich irgendwie erneut Apollo in die Quere: Er fuhr gerade einen akrobatischen Turn, als ich den Kamm seiner Welle erreichte, und wir fielen beide vom Board. Wütend tauchte er auf, und gemeinsam trieben wir in der schäumenden Strömung und tasteten nach unseren Brettern.

«Hey» – er bebte geradezu vor Zorn –, «das hier ist nichts für Scheißamateure oder so.»

Während ich landeinwärts trieb, fort von der Menge, und erfolglos einige übrig gebliebene kleinere Wellen zu ergattern versuchte, sah ich, wie die Jungen einander etwas zuriefen und sich verstohlen ansahen. Auf der Hafenmauer verkündete ein Graffito: «Anfänger raus! Hau ab, oder du musst bluten.» Daneben prangte auf dem rauen Beton ein Hakenkreuz. Entzückend.

«Sag mal», hörte ich ein kleines, aggressives Bürschchen mit grünen Augen und flachsblonden Haaren seinem achtzig Pfund leichten Freund mit Piepsstimme zurufen. «Kennst du die zweite Bowl drinnen im zweiten Peak? Die, wo es dich echt schnell nach draußen zieht? Ich hatte grade den geilsten Floater da runter.» Man lasse sich nicht täuschen: Der Satz enthält mehr Wissen über Wellen, als die meisten von uns in ihrem ganzen Leben erwerben: «der zweite Peak» ist eine flache Stelle des Riffs, das die kleinere von zwei Wellen erzeugt; «drinnen» bezeichnet Stellen, an denen sich die Wellen am Strand erschöpfen und noch mal kurz zu kleineren Wellen aufbauen; «die zweite Bowl» ist eine noch flachere Stelle Richtung Strand, an der die Wellen zurückprallen und sich in kleinen, kabbeligen Spitzen brechen. Bei einem Floater gleitet der Surfer über das Weißwasser einer gebrochenen Welle. Nach einer Weile kam ich mit einem gut aussehenden Typen mit kurzen roten Haaren und freundlicher Miene, der für diesen Tag genug hatte, ins Gespräch. Wie sich herausstellte, war er Lehrer für Kite-Surfing, der sich während seiner Sprünge aus einem Flugzeug ein Surfbrett an die Füße band: «Kite-Surfen, Kumpel! Da drehste ab!» Er stammte aus einer bürgerlichen Familie in New Jersey und sagte, er habe keinen Kontakt mehr zu seinen Eltern, habe ihnen sein Leben nie begreiflich machen können. (So viele von uns folgen immerhin demselben Mythos!)

Plötzlich paddelte Apollo an mir vorbei. Er kam von seiner fünfzehnten Welle zurück, für die er so viel Zeit gebraucht hatte wie ich für zwei.

«He, Zwerg», brummelte ein Mann mit Bierbauch und Vollbart in einem schwarzen Neoprenanzug. Womit er den Jungen an sein Alter erinnerte. Der Mann hatte schwere Lider, und sein Gesicht hatte nach den vielen Jahren in der Sonne eine gewisse Gravitas. «Wir müssen mal reden.» Sein vergilbtes Ultralongboard unterschied ihn von den jungen, radikalen Surfern, den Shreddern, und hätte ihn durchaus zum indiskutablen Erwachsenen abstempeln können, aber er hatte die Statur eines Oldtimers und Soul-Surfers. Der Junge, unverkennbar der beste Wellenreiter im Wasser, blieb trotzig, war aber nervös, doch anscheinend kannte er den Mann, und außerdem war er ungefähr hundert Pfund leichter. Da Menschen im Wasser recht unbeholfen sind, werden Auseinandersetzungen unter Surfern meistens verbal ausgetragen: Und weil zwei Surfer manchmal auch bei einer Entfernung von nur zwei Metern manchmal völlig außerstande sind, aneinander heranzukommen, haben diese Streitereien oft die unfreiwillige Komik von zwei eingetopften Zitronenbäumen, die sich eine Wortschlacht liefern.

«Du musst noch einiges lernen», sagte der Mann auf dem Longboard selbstbewusst und seiner Autorität gewiss. «Wenn du jemals wirklich cool sein willst und die Leute dich wirklich mögen sollen, darfst du kein Arschloch sein. Solange du ein Arschloch bist, ist es egal, wie gut du surfst. Du bist und bleibst ein Arschloch.»

Ein Treffer ins Schwarze. «Ach, leck mich doch», murmelte der Junge und paddelte davon. Als er aber das nächste Mal an mir vorbeikam, schien er diese Lektion über das soziale Miteinander beherzigen zu wollen. «Pass auf, Mann», sagte er und bemühte sich tatsächlich, freundlich zu sein, «du bist grade über einer tiefen Stelle, deshalb brechen die Wellen hier nicht. Hier kriegst du garantiert keine.» Es bereitete ihm zwar sichtlich Mühe, sich zu diesem Ratschlag herabzulassen, der aber hervorragend und eine großherzige Geste war. Und dann redete er weiter und versuchte zum ersten Mal, ein großer Surfer und ein anständiger Typ zu sein. «Kannst ja mal mit raus kommen und dir ein paar schnappen», sagte er und verstummte jäh. Fast hätte er es geschafft, beinahe hätte er ein gutes Werk vollbracht, doch als er lospaddelte, rief er mir noch über die Schulter zu: «Damit du endlich besser wirst.»

 

Es hat auch seine Vorteile, etwas auf die lange Bank zu schieben, insbesondere in einer guten Universitätsbibliothek. Sitzt man an einem Eichentisch im dritten Stock des Lesesaals mit Blick auf die über 30 Meter hohen Redwoodbäume an der Küste, die in der nebligen Brise schwanken und tropfen, vergisst man ziemlich leicht die vor einem liegende Aufgabe und fragt sich, was der Online-Katalog wohl unter dem Begriff «Surfen» zutage fördert. Nicht viel, ehrlich gesagt, aber man kann sich ja ein wenig weiter umsehen, dringende Studien zur Seite legen und die Abteilung Reise/Entdeckungen aufsuchen. Als ich in den dicken, ledergebundenen Folianten mit Goldbeschriftung und schrecklich enger Type – Bände, die ungefähr alle zehn Jahre einmal ausgeliehen werden – stöberte, entdeckte ich zu meiner großen Freude, dass Kapitän James Cook, der später von Hawaiianern ermordet und möglicherweise auch verspeist wurde, bereits im 18. Jahrhundert etwas vom Mysterium des Surfens ahnte. Während sein Schiff vor Tahiti ankerte und die Mannschaft sich an Land ausruhte, vertraute er seinem Tagebuch den ersten Eintrag an, den es über das Wellenreiten in einer europäischen Sprache gibt. Ihm falle auf, so Cook, dass die Tahitianer «mit der beruhigenden Wirkung einer bestimmten Art der Fortbewegung» – er meinte das Surfen –, «die in einigen Fällen offenbar ebenso erfolgreich den Geist besänftigt wie die Musik, durchaus vertraut sind». 200 Jahre vor dem berühmten Surfer-Film The Endless Summer stand Surfen im Geist eines Engländers also bereits für Heilung und Meditation.

Während er auf dem weißen Sand im Schatten liegt, sieht Cook einem Tahitianer zu, der im Einbaum auf den Wellen reitet. «Zunächst», gibt er offen zu, «dachte ich, er habe von einem der Schiffe etwas gestohlen und werde verfolgt.» Aber der Eingeborene erwischt noch eine Welle, reitet sie und nimmt gezielt weitere in Angriff, und da begreift Cook: «Ich kam nicht umhin, daraus zu schließen, dass dieser Mann das größte Vergnügen empfand, während ihn die Wellen so schnell und sanft vor sich her trieben.» Kapitän Cook, der selbst einen großen Teil seines Lebens auf den Weltmeeren verbracht und Frau und Kinder stets in weiter Ferne zurückgelassen hatte, musste man nicht erklären, welch großes Vergnügen es bereitete, auf den wogenden Wellen dahinzugleiten. Und herrlich scharfsinnig bemerkt er, dass die anderen Dorfbewohner zwar die europäischen Zelte und Schiffe bestaunten, aber der Surfer «diese offenbar nicht im Geringsten bewunderte, ja nicht einmal bemerkte». Schon damals zog das Wellenreiten also jene Wörter und Gedanken an, die sich bis heute darum ranken. Und jener Tahitianer aus dem 18. Jahrhundert hat, ganz versunken in die saubere Dünung, kein Interesse an Reichtum, keine Sehnsucht nach grüneren Weiden, keine Angst vor dem Imperialismus vor seiner Haustür.

Nachdem ich die Recherchemöglichkeiten der Bibliothek ausgeschöpft hatte, verblüffte mich zudem, mit welchem Feuereifer die nichtsahnenden Mitarbeiter der Fernausleihe meine Pflichtvergessenheit unterstützten. Beispielsweise bestellten sie mir noch ein Buch aus der Northern Regional Library der University of California, eine Erstausgabe, die noch kein einziges Mal ausgeliehen worden war und in keiner Weise als Rarität galt: das 1854 erschienene Buch Sandwich Island Notes, by a Haole des Missionars George Washington Bates. Bates, der – zweifellos mit den besten Absichten – an einem der großen kulturellen Völkermorde seines Jahrhunderts beteiligt war, berichtet darin über die Exotik der Tropen. Er schreibt über die Surfer in Klischees, die bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts und in den Schriften von Jack London überdauert haben. Bates sieht die Wellenreiter als «geboren aus dem schäumenden Kamm der mächtigen Woge, während sie mit der Geschwindigkeit des schnellsten Rennpferdes Richtung Strand gleiten, wo ein Zuschauer neugierig beobachtet, ob sie in Stücke gehauen oder zu Krüppeln werden». In ihrem 1875 erschienenen Bericht Six Months Among the Palm Groves, Coral Reefs, and Volcanoes of the Sandwich Islands findet die unermüdliche Reiseschriftstellerin Isabella L. Bird ähnlich dramatische Worte: «Majestätisch ritten die Surfer an den Strand, stets unmittelbar vor den Brechern, wurden von deren mächtiger Antriebskraft mit einer Geschwindigkeit von 40 Meilen in der Stunde ans Ufer getragen … wobei sie immer wieder fast verschlungen wurden von dem tosenden Brecher, dessen aufragender weißer Kamm sich stets über und direkt hinter ihnen befand.» Risiko, Wagemut und Bezwingung – das sind die Kategorien, mit denen westliche Autoren einem ihnen fremdartigen Sport einen vertrauten Sinn zu verleihen suchen. Cook jedoch hatte es schon richtig erkannt: Es kommt auf die Wiederholung der beruhigenden Bewegung an, den inneren Frieden, den man empfindet, wenn man in einer Betätigung vollkommen aufgeht.

Doch für Bates ist Surfen, 140 Jahre bevor Patrick Swayze in Point Break einen Bankräuber und Surfmystiker spielt, gleichbedeutend mit heidnischem Hedonismus. Bestürzt schreibt er über Waikiki – damals noch ein Dorf –, dass es dort «keine geschäftigen Handwerker gibt, die ihre Werkzeuge schwingen, keine zivilisierten Fahrzeuge, die Handelswaren befördern». Der Ort ist das genaue Gegenteil einer westlichen Stadt, des einzigen Modells, das Bates kennt. Man spürt geradezu, dass der Mann mit seinem Latein am Ende ist und sich die klassische Frage in Bezug auf die «Naturmenschen» stellt: Arbeiten die denn nie? Isabella Bird ist zwar eine erfahrene Bergsteigerin (die erste Frau auf dem Longs Peak in Colorado) und eine unermüdliche Reisende, reagiert aber ebenso: «Keine mühselige Arbeit, kein Klingen der Werkzeuge, keine Eile. Die Menschen machten alle Ferien (falls dies an einem Ort, an dem es keine Arbeit gibt, überhaupt möglich ist).» Zumindest jedoch sympathisiert sie in Worten, wenn auch nicht in Taten (sie war keine Frau, die bei einem Captain Bligh gemeutert hätte), «mit denjenigen, die Lotos essen und für immer an solch verzauberten Gestaden verweilen». Bates dagegen verlässt diese Idylle am Meer, unternimmt eine Wanderung und stöbert schließlich in einem zerfallenen Tempel herum. «Meine Phantasie», schreibt er, «beschwor das Bild einiger der Hohepriester des Heidentums herauf. Mir war, als sähe ich einen dieser betrogenen und betrügenden Peiniger vor mir: seine dämonische Fratze, den nackten Arm, während die erhobene Hand das tödliche Instrument ergreift und das Menschenopfer auf dem blutigen Altar liegt.» Bird bringt uns außerdem schon damals auf die Idee, dass das Surfen ein Spiel, eine Metapher für ewige Jugend ist. «Die Liebe zu diesem Wassersport», schreibt sie, «ist nicht auf die Jungen beschränkt. Ich sah große, dicke Männer mit ergrautem Haar, die mit so viel Freude auf ihren schmalen Wellenbrettern balancierten und auf den Brandungswellen zum Strand glitten, als wären sie in ihrer ersten Jugend.» Und während sie im Licht der Südsee die ziellosen Kreisläufe dieses Sports beobachtet, fragt sie sich verständlicherweise: «Herrscht hier eigentlich ewiger Feierabend …?» Und wie Teddy Roosevelt, als er sich zum ersten Mal auf dem Lande in Wyoming aufhielt, um unter kernigen Männern überflüssiges Fett loszuwerden, reitet auch sie tagelang in der von ihr so genannten einheimischen Tracht – also in dem, was die Haloer trugen –, und sehnt sich danach, wie die Eingeborenen zu leben: «Ich werde jeden Tag gesünder und lebe fast ständig im Freien … Ich bin schon geradezu hawaiianisiert.»

Selbst der Griesgram Mark Twain unternimmt einen Versuch: Am Ende seiner Blitztour durch den Wilden Westen in Roughing It segelt er nach Hawaii, nachdem er sich zum Kauf eines baufälligen Hauses überreden ließ, als Silbergräber bankrott ging, sein eigenes Waldstück in Tahoe in Brand setzte und sich während des Goldrausches in San Francisco fast zu Tode soff (vielleicht absichtlich). Doch anders als seine Vorgänger versuchte das sanfte Rauhbein tatsächlich zu surfen. So wie Roughing It den Wilden Westen als eine Art Urlaubsregion und das, was man dort treibt, als Spiel präsentiert, so wird das Surfen in dem Reisebericht als etwas Ursprüngliches dargestellt, das wir alle einmal ausprobieren sollten. Inmitten «einer großen Gruppe nackter Eingeborener», erklärt er, «brachte ich das Brett in die richtige Position – und sogar im richtigen Augenblick –, schaffte es aber nicht, mich darauf zu stellen. Binnen einer dreiviertel Sekunde landete das Brett, ohne seine Fracht, am Strand, und in etwa derselben Zeit drückte es mich auf den Meeresgrund, und ich schluckte eimerweise Wasser.» Aber nach seiner Reise quer über Kontinent und Meer, die nichts als eine Abfolge von Streichen war, sonnt sich Twain in seiner Schmach. Er findet sogar Worte für die Faszination, von der wir seither immer wieder gehört haben, nämlich dass «nur die Einheimischen die Kunst des Brandungs-Badens vollkommen meistern».

Als der Nebel endlich gewichen war, gab ich Fernleihscheine für einige andere Reiseberichte aus dem 19. Jahrhundert ab und ging dann durch den Redwoodwald nach Hause; die rötlich braune Borke der Bäume war so dick und weich, dass mir der Wald wie ein feuchter, gepolsterter Hörsaal aus gefiltertem Licht erschien. Auf dem Hinweg am Morgen war ich zwischen denselben kerzengeraden Mammutbäumen, deren Äste die Größe kleiner Bäume erreichen können, hindurchgegangen, als ich von einer Brücke über einer kleinen Schlucht aus einen der Baumriesen im Morgenlicht buchstäblich dampfen sah – das Licht fiel in die Nebelschwaden, die von seiner Rinde wie goldener Rauch aufstiegen. Jetzt, in der Mittagshitze, produzierte der Staub auf dem Weg einen ähnlichen Effekt und glitzerte in Streifen aus Sonnenlicht. Schließlich trat ich hinaus in das offene Hügelland, das mit verbranntem Sommergras bedeckt war und über das Schwaden von Wärme und Staub zogen – wer nicht im Westen der USA aufgewachsen ist (Twain interessierte sich nicht besonders für die hier lebenden Menschen), kann sich nur schwer daran gewöhnen. Nichts in der Typologie amerikanischer Orte und Regionen entspricht diesen flachen Hügeln ohne rote Scheunen oder Silos; es gibt hier nichts, das an eine ländliche Gegend erinnert. (Ich wuchs auf in der Annahme, dass die Abbildungen der Farmen in meinen Bilderbüchern europäische Bauernhöfe zeigten, da ich solche in Amerika noch nie gesehen hatte.) Und es ist schwierig, ein Land gut zu kennen, mit dem die eigene Kultur so wenige Berührungspunkte aufweist: kein Schnee, kaum Regen, das Land der Ohlone-Indianer und des Rotschwanzbussards … Wie soll man es nennen? Man kann ja wohl kaum die ganze Zeit an einem Ort namens «Der Westen» leben, außerdem brauchen diese trockenen Gegenden Raum, es sprießt dort nicht genug Grün, das die leeren Fluren zwischen Einkaufszentrum und bebauten Gebieten mit örtlicher Wildnis ausfüllen könnte. Ein Supermarkt mit Parkplatz kann durchaus ein ganzes Tal erdrücken und dessen mickrig grüne Flächen schrecklich einsam und verlassen aussehen lassen. Aber durch den freien Blick von den Hügeln über die blaue Bucht von Monterey weitete sich mein Bewusstsein ohne jede Angst und nahm die angenehm trockene Wärme und die schlichte Schönheit der Eiche auf einem Feld in sich auf.

Unten an meinem kleinen Strand breitete sich unter Schäfchenwolken die Abenddämmerung aus. Wie ein Kirchenfenster fing der Sand an seinen feuchtesten Stellen das Orange der Sonne ein. Ein kleiner Hund rannte kläffend an das ruhige Meer, sprang hinein, um ein Stöckchen zu holen, und lief dann zu einer Frau in Militärjacke. Ein besorgt dreinschauender Mann, ebenfalls im Parka, suchte den Sand mit einem Metalldetektor ab, blieb plötzlich stehen und hockte sich hin. Während die Frau und der Hund sich balgten und an einem Strang Seegras zerrten, erhellten etwas weiter nördlich die Lichter der Restaurants die Pier. Draußen auf dem chromblauen Meer, das inzwischen wirklich glatt, ganz ohne Brandung war, neigte sich ein einsames Segelboot im Abendwind, der vom Land her auffrischte. Doch später, als ich aus den offenen Fenstern meines Schlafzimmers blickte, begann es allmählich zu erwachen. Das obere Stockwerk des alten Redwood-Hauses schaukelte im Rhythmus der Bewegungen meiner Mitbewohnerin und ihres Freundes, zu dem sich noch das Bellen der Seelöwen hinzugesellte und die mit der Zeit immer lauter werdenden Wellen: erst nur ein leichtes Plätschern, dann ein ganz leises, hohl klingendes «Wumm».

Wenn ein Surfspot ein idyllischer Thoreau'scher Walden-See sein kann, eine stoffliche Entsprechung all dessen, was man auf der Welt als schön und geheimnisvoll empfindet, dann habe ich meinen durch jemanden entdeckt, der es dort draußen hasste. Skinny hieß mit richtigem Namen Warren Cohn und war 29, wurde aber seit der achten Klasse Skinny genannt, dem Jahr, von dem an er nicht mehr dünn war. Während der Schulzeit waren wir nicht befreundet gewesen, hatten aber zusammen ein Konzert von Grateful Dead besucht. Unser Geschichtslehrer hatte damals zwei Freikarten übrig und holte uns um acht Uhr morgens ab. Auf dem Weg zum Konzert auf den Grass Valley Fairgrounds fuhr Mr. Wells, angespannt und mit übermüdeten Augen, mit 75 Meilen die Stunde auf der Route 80, eine Flasche Mickey's Malt Liquor zwischen den Beinen, und hielt das Steuer mit den Ellbogen, während er sich eine Pfeife mit selbst gezogenem Kolumbianer ansteckte. Während ich auf dem Rücksitz saß und überlegte, was meine Eltern wohl denken würden (das war natürlich die Kehrseite einer typischen Siebziger-Jahre-Jugend in Berkeley), stopfte sich Skinny mit einem Haufen halluzinogener Pilze voll. Aber er hatte den Mund etwas zu voll genommen, denn nach den ersten Songs verließ er das Konzert und irrte allein zum Highway zurück. Mr. Wells, der glaubte, Skinny wäre ermordet oder entführt worden, flippte total aus, weil er nicht wusste, wie er sein Verschwinden der Schulleitung erklären sollte. Später erwies sich, dass Skinny einfach nur nach Hause wollte und den ganzen Weg per Anhalter zurückfuhr, während die Welt in einem Schweif grünblauen Lichts an ihm vorüberflog.

Skinny war ein Berufs-Surfer und Taugenichts, der immer breit grinste. Er sprach mich einige Tage nach meinem Umzug nach Santa Cruz auf der Straße an. Er habe sein Jahreseinkommen von sieben Riesen, sagte er, bei einem Team verdient, das in Oregon Wanderungen veranstaltete, als die Wellen in Kalifornien klein waren, dann ein paar Monate in Costa Rica mit perfektem Surfen totgeschlagen und sei jetzt über den Winter zurückgekommen. Seinen Trailer hatte er für einen Hunderter im Monat auf einem Campingplatz geparkt. Die meiste Zeit sah er sich Basketballspiele im Fernsehen an, aß Müsli und rauchte Gras. Außerdem hörte er von morgens bis abends Radio, verfolgte die Wetterberichte und hielt sich beim Seewetteramt auf dem Laufenden. An jenem Tag, als wir uns zufällig in der Stadt trafen, erzählte er mir, dass ein Hochdruckgebiet vor Washington nach Idaho ziehen und uns ablandige Winde bescheren könnte. Er bot mir an, mit mir bei Morgengrauen die Spots abzuchecken, was mich durchaus reizte, da ich mich in der Gegend noch nicht gut auskannte und am Pleasure Point bereits eine Menge miese zweistündige Surfsessions mit nicht mehr als zwei Wellen erlebt hatte. Also fuhr ich am nächsten Morgen vor Sonnenaufgang los, um Skinny abzuholen. Während sich der Nachthimmel über Sahnas rot verfärbte, bog ich von einer schmalen Straße in Santa Cruz mit unauffälligen Bungalows und hohen Redwoodbäumen auf seinen geschotterten Abstellplatz ein und schaltete die Scheinwerfer aus. Skinny kam heraus, schloss rasch die Tür des Wohnwagens und verbot mir, einen Blick hineinzuwerfen. Niemand dürfe dort hinein, sagte er, nicht einmal seine Freundin, eine Lehrerin. Und er wollte auch nicht, dass sie ihn dort abholte, fand es einfach zu schwierig, ihr das Ganze zu erklären. Am besten war, dass sich alles bei ihr abspielte.

Ich lud mein Board und meinen Anzug auf die gepolsterte Ladefläche seines aufgemotzten, verdreckten 4WD-Toyota-Pick-ups, den er mit Stickern von Surfshops – Biotribe, Unitryb, World Jungle, Hunters and Gatherers – voll geklebt hatte. Sofort bekam ich gute Laune, denn jetzt saß ich mit einem Surfkumpel im Auto, mit einem, der sich in der Gegend auskannte. Nachdem wir kurz auf ein paar labbrige Blaubeer-Muffins und dünnen Kaffee gehalten hatten, fuhren wir noch etwas in der Stadt herum und redeten über die Schulzeit und seinen und meinen Umzug an die Küste. Skinny besaß einen wachen, schalkhaften Humor. An das Grateful-Dead-Konzert erinnerte er sich hauptsächlich wegen der Erdnussbutter, die er verdrückt hatte, damit die Pilze überhaupt genießbar waren. Während wir an der Steilküste entlangfuhren, vorbei an pittoresken, stuckverzierten Steinhäusern, sagte er, ihm gefalle der Wind auf dem Wasser nicht, und wahrscheinlich würden sich sowieso schon bald zu viele Typen an den Spots in der Stadt tummeln. Also verließen wir die Stadt Richtung Norden, auf einem Highway mit verdörrten Hügeln zur Rechten und bewirtschafteten Feldern zur Linken, während der Nebel sich vor der Küste hob. Wir kamen an mehreren Gruppen von Pick-ups vorbei, die offensichtlich an Surfspots parkten, aber Skinny hatte jedes Mal Bedenken anzumelden: zu viele Autos, Richtung der Dünung falsch, Wind verkehrt. Ich wurde langsam hippelig und fragte, was er von dem Spot ohne Autos halte, an dem ich schon einmal mit dem Sensenmann flüchtig Bekanntschaft gemacht hatte.

«Der heißt Point», antwortete Skinny, als er direkt daran vorbeisauste. «Ist echt scheiße.»

«Aber dort ist niemand.»

«Der Spot ist doch pipifax», sagte er grinsend. «Nichts für mich.»

Weil das vermutlich heißen sollte, dass die Wellen nicht seinem Standard entsprachen, beschloss ich, ihm die Geschichte, wie ich fast ums Leben gekommen war, ein andermal zu erzählen. Doch als wir die Stadt hinter uns gelassen hatten, bis zur nördlichen Grenze des County gefahren waren und immer noch keinen geeigneten Spot gefunden hatten, teilte ich ihm mit, ich würde gern mal kurz ins Wasser, wenn er nichts dagegen habe. Ich sei nicht darauf aus, etwas Perfektes zu finden, hätte einfach nur Lust, ein bisschen zu surfen. Da beschloss er, dem Point eine zweite Chance zu geben. In der Nähe eines Eukalyptuswäldchens und einiger verlassener Farmarbeiterbaracken mit zerbrochenen Fensterscheiben holten wir unsere Bretter heraus, und ich packte meinen Rucksack mit Surfanzug, Handtuch, Wachs, Sonnenöl, Proteinriegel und Möhrensaft. Inzwischen standen auf dem Schotterparkplatz ein paar Autos, darunter ein japanischer Pick-up, ein alter El Camino und ein Buick. Gerade als die Sonne über dem Horizont hervorlugte und Licht die Dunkelheit durchströmte, brachen wir zu jenem Ort auf, an dem ich schließlich einen großen Teil des folgenden Jahres verbringen sollte. Auf einem Feldweg, der von Hemlocktannen gesäumt war – alle auf eine schwarze, teerige Art welk, sodass sie aussahen wie Agent-Orange-Opfer –, stapften wir durchs Unkraut und sammelten lauter Kletten an unseren Hosenbeinen. Die ganze Gegend war wild und überwuchert, hier und da lag etwas Müll herum, aber überwiegend war es ein herrliches Fleckchen Erde, dem nur niemand einen Namen gegeben hatte. Rechts sah man Reihen von Rosenkohl unter den Wasserfontänen einer Sprinkleranlage; links führte ein hübsches kleines Bachbett durch Schilfrohr zu einer Lagune, die vor der Brandung durch eine Sandbank geschützt wurde. In einer flachen Stelle des Brackwassers stand ein Reiher, zierlich und verletzlich, schön wie eine fragile Filmdiva mit einer weißen Federboa. Weiden säumten die Nord-Süd-Eisenbahntrasse, ein Frosch quakte in dem stehenden, von Algen bedeckten Gewässer. Gegen Eisenbahngleise ist übrigens nichts einzuwenden – vor hundert Jahren waren sie der Vorbote für die moderne Industriegesellschaft im Paradies Amerika, jetzt aber sahen sie aus wie ein vertrauter Gartenweg. Und kleine gelbe Blüten, vermutlich Kamille, bedeckten den Mittelstreifen des Weges (ich pflückte ein paar, um später Tee daraus zu machen, stellte beim Aufbrühen und Abseihen allerdings fest, dass es sich um eine Art falscher Kamille handelte). Es war toll, den verdörrten, weizengelben kalifornischen Sommer zu riechen, das Meer voller Seetang, während Richtung Süden, jenseits der Monterey Bay, die Berge hinter dem pseudo-bohemehaften, halb vom Nebel verborgenen Carmel aufragten.

Tatsächlich war die Kombination von Lagune und Sandbank, felsiger Landspitze, Unterwasserriff und Bach ein wunderschöner Küstenabschnitt, ein exakter Mikrokosmos dessen, was die gesamte Küste Nordkaliforniens auszeichnet – und deshalb natürlich mehr als genug Welt für mich. Rechts beschrieb der Point einen natürlichen Bogen. In der Hälfte der Bucht, die davon geschützt wurde, hoben sich vier kleine Wellen durch ein Kelpbett, während drei Jungs, die Kapuzen ihrer Sweatshirts tief ins Gesicht gezogen, im Morgengrauen dastanden und ihre Surfanzüge ausschüttelten – sie hingen einfach im Land Gottes herum, als wäre es ihr Hinterhof. Genau in diesem Augenblick entschied ich, auch ich wollte von diesem Ort leicht gelangweilt sein, wollte so viel von seiner Schönheit in mir aufnehmen, bis ich dieses leise Bedauern nicht mehr empfand, das einen oft überkommt, wenn man etwas Herrliches sieht, und zwar ein Bedauern darüber, dass man sein Leben wirklich ändern sollte, um solche Orte und Augenblicke darin einzuschließen, aber genau weiß, dass man es doch nicht tut. Etwa so, wie wenn man etwas findet, von dem man gar nicht wusste, dass man danach gesucht hat: Diese Bucht fegte alle Gedanken an das Wellenreiten beiseite. Und so stand ich völlig hingerissen neben ein paar niedrigen, breiten, typisch windschiefen Zypressen auf dem matschigen Trampelpfad, der sich durch eine kleine, mit Brombeersträuchern zugewachsene Schlucht zum Wasser hinunterschlängelte.

«Oooh», sagte Skinny und betrachtete die kleine, menschenleere Brandung, «es läuft leer

«Hmm?»

«Das Riff, Dummkopf. War bloß ein Scherz, aber das merkst du nicht mal.» Wir kletterten den rutschigen Weg voller zertretener Fettpflanzen hinunter, während der graue Pazifik allmählich Blautöne annahm und Gischtbögen am Kliff emporschossen. Unsere Anzüge waren kalt, klamm, nass und sandig, nachdem wir sie drei Tage benutzt hatten. Obwohl sein Trailer völlig heruntergekommen war, hatte Skinny den Tick, dass an seinem Surfanzug kein Körnchen Sand, kein Grashalm kleben durfte. Er stand auf einer Plastikfolie (damit die Füße sauber blieben), ohne Hosen, mit einem Handtuch um die Hüften, und schüttelte und bürstete an dem Neopren ohne die geringste Hast. Als er sein Programm endlich durchgezogen hatte, gingen wir ins Wasser, und sofort erwischte mich eine Welle frontal. Ich tauchte auf mit dem Board in der Hand, schlug wild aufs Wasser und keuchte, während mich eine blöde Strömung gegen einen Felsen zog. Angesichts einer neuen Welle schwamm ich wie üblich mit geschlossenen Augen, als ich einen starken Sog spürte, während die Welle über mich hinwegging. Beim Auftauchen direkt vor einem mit Rankenfußkrebsen überzogenen Felsbrocken überkam mich ein ekelhaftes Gefühl von déjà vu. Da rollte noch eine Welle herein. Ich tauchte und schwamm, spürte, wie der Auftrieb mich nach oben zog, wieder freigab, und durch eine Laune der Strömung trieb ich aufs Meer hinaus.

Einer von den anderen Surfern im Wasser, ein mittelgroßer Mann mittleren Alters mit einem zerfurchten, aber irgendwie jungenhaften Gesicht, erwischte erstaunlich viele Wellen. Zwei Stunden lang beobachtete ich ihn und seinen Freund, einen geschmeidigen Mann mit braunem Haar, der erstaunlich elegant und schnell surfte. Letzterem rief ich ein Lob zu, als er an mir vorbeisauste, woraufhin mich Skinny böse ansah; anscheinend galt es hier, extrem cool zu sein. Doch war es schon unglaublich, was für ein Leben diese Männer führten; beide offenbar Anfang vierzig, ungefähr im selben Alter wie der jüngste Bruder meines Vaters – der mir auch das Brett und den Surfanzug geschenkt hatte –, und mitten am Tag, mitten in der Woche waren sie hier draußen auf dem Wasser, weit weg von jedem hektischen Treiben. Während sie sich auf Spanisch («¡Coño!»), Französisch («Cette vague-ci, c'est la mienne!») und auf Italienisch Worte zuriefen, die ich nicht verstand, freuten sie sich offensichtlich, zusammen hier draußen zu sein. Zur Aufsässigkeit von Surfern im Wasser kommt noch hinzu, dass die Surfbretter und -anzüge alle mehr oder weniger gleich aussehen, sodass man die Leute nicht unbedingt erkennen kann; deshalb lernt man, Aussprache und Gesichtsausdruck zu deuten. Der kleinere, dunklere Mann warf Skinny und mir ein kurzes Lächeln zu, das teils sanft und überschwänglich, teils merkwürdig ironisch wirkte. Aber es war keine Zeit, sich zu unterhalten, und deshalb trieb ich nur so herum und erwischte ein paar Wellen, die zwar schnell waren, aber eine ganz eigene Form hatten, mit enormer Power unter der Wasseroberfläche, die jedoch dennoch gemütlich brachen. Trotzdem war es großartig, an diesen rollenden Wasserwänden entlangzugleiten, in einer perfekten Wildnis, während über dem Meer die Sonne aufging. Kein Haus und keine Straße war in Sicht – zumindest nicht von unterhalb der Steilküste, aber das allein zählt, denn es ist wichtig, offen für die Bewältigung der Wirklichkeit zu sein und sich an Ausblicken oder Blickwinkeln zu erfreuen, die die Wildnis ausmachen, etwa so, wie man in seiner Heimatstadt ausschließlich auf Straßen fährt, von denen aus betrachtet sie so wirkt, wie man sie haben will.

Skinny ritt zwar auf einigen kleineren Wellenhügeln, aber die ganze Szenerie schien ihn immer mehr zu ärgern. Keiner von uns kam so richtig dahinter, wo man warten musste – wir waren nie an der richtigen Stelle, konnten die besseren Wellen einfach nicht erwischen. Er brummelte etwas wie, er wisse schon, warum er diesen Strand normalerweise meide, und verkündete, jemand sollte das Riff da draußen mal mit ein bisschen Dynamit in Form bringen. Leonard Lueras schreibt in seinem Buch Surfing, the Ultimate Pleasure, dass die alten Hawaiianer um die Wellen beteten, indem sie mit pōhuehue, Winderanken, aufs Wasser schlugen; in der Hoffnung, dass die kleinen Wellen größere auslösen würden, sangen sie (und Lueras übersetzt); «Kū mai! Kū mai! Ka nalu nui mai Kahiki mai.» (Steigt auf, steigt auf, Ihr großen Wellen von Kahiki.) «Alo po'ipū! Ku mai ka pōhuehue.» (Ihr mächtigen, übereinander schlagenden Wogen. Steigt auf mit dem pōhuehue.) «Hū ! Kai ko'o loa.» (Wölbe dich, lange, wütende Welle.) Ich suchte mir einen schönen Zweig, lief zum flachen Wasser, bat um ein Zeichen des Himmels. Schlug in Ehrfurcht und Frustration auf die Oberfläche und sah zu, wie sich meine kleinen Wellen auflösten … Skinny, der auf seinem Board saß und nach Westen sah, kam langsam heran und drosch so heftig aufs Wasser, dass es in hohem Bogen spritzte.

Da ich von Natur aus optimistisch bin, paddelte ich eine der kleinen Wellen an, die er ignoriert hatte, aber sie rollte unter mir hindurch, und so kraulte ich mit gesenktem Kopf zurück.

«Schön, was?», fragte der ältere Typ und meinte damit den Sonnenschein und die saubere Luft. Eine weitere Welle rollte herein, und er nahm sie sich vor.

Skinny griff sich die nächste, erwischte sie allerdings nicht ganz. Schließlich gab er es auf und wirbelte herum, Geifer auf den Lippen, sein Gesicht verzerrt vor Zorn. «Zwei Scheiß-Monate in Costa Rica», sagte er, «Surfen perfekt. Und dann komm ich zurück, und wo lande ich? In diesem Scheiß.» Er drehte sich um, schlug hart aufs Wasser und schrie dem Pazifik entgegen: «Mach schon, du Schlampe

Ein großer Otter schwamm in der Nähe auf dem Rücken, in erschreckend menschenähnlicher Manier. Auf dem Bauch trug er einen Stein, auf den er immer wieder mit einer Miesmuschel einschlug, an der er dann knabberte. Obwohl es zweifellos kalt war und voller Gefahren, schien mir sein Leben für seine Umgebung durchaus eine Empfehlung. Als ich vor Kälte und Erschöpfung zitterte, ritt ich auf einer bereits gebrochenen Welle wieder zurück. Als sie am Felsvorsprung hochspritzte, beugte ich mich zurück und stolperte auf das Riff: mein Gleichgewicht war immer noch aufwogende Wellen eingestellt. Der Niedrigstand der Ebbe hatte bemooste Riffe freigelegt und Tümpel mit Anemonen, und ich schlitterte zwischen den glitschigen, mit schlaffem Seegras behängten Felsen hindurch. Ich setzte mich auf einen Schieferfelsen, um auf Skinny zu warten, und hatte plötzlich so ein merkwürdiges Gefühl, als würde ich so bald nirgendwo anders surfen als hier. Als wir uns anzogen, sagte Skinny so was wie, er hätte lieber hohe Wellen, die ihn forderten, und dass dieses Riff für ihn nur dümpelig und ein formloser Haufen sei. Die meisten Typen, mit denen er surfe, weigerten sich rundweg, hierher zu kommen, behauptete er; er war nur deshalb einverstanden gewesen, weil er fand, es täte mir gut, aus der Stadt rauszukommen. Während er redete, brach weit und breit über dem Wasser der helle Tag an, und das offene Blau des Himmel spiegelte sich in kleinen Wasserlachen wider. Ich habe zu Skinny zwar nichts gesagt, aber ich konnte es nicht fassen: Hier bekam ich ganz Kalifornien geschenkt, am Ende des 20. Jahrhunderts, lebendig und zugänglich, an einer kleinen Stelle neben einem kleinen Highway ohne Hinweisschild.

Die beiden älteren Männer zogen sich rasch und konzentriert um, sie standen jeder auf einer Plastiktüte und hatten einen kleinen Rucksack mit dem Wesentlichen dabei. Mit einem kurzen Nicken in unsere Richtung gingen sie davon, lange bevor Skinny jede einzelne seiner Zehen so weit abgetrocknet hatte, dass wir ihnen folgten konnten. Als wir mit unseren Boards unterm Arm auf dem von der Sprinkleranlage durchweichten Weg zwischen den Feldern zurückgingen, hörte ich das dunkle Rattern des Southern Pacific, der aus San Francisco herunterkam. Aus irgendeinem Grund sah ich uns plötzlich wie aus weiter Entfernung, und mir wurde klar, dass ich hier einen Moment erlebte, von dem ich immer geträumt hatte und den ich unbedingt festhalten wollte; wie oft denkt man, das ist es jetzt!, und fühlt sich hinterher doch enttäuscht und kein bisschen anders. Aber die Surfbretter und Sandwege und Farmen und Züge hatten in mir irgendeine riesengroße, perfekte Saite zum Klingen gebracht und machten mich verrückt vor Sehnsucht, so lebendig zu sein, dass ich irgendwie zu diesem Moment selbst werden könnte.

«He, Mann!», rief ich. «Hast du das gehört?»

«Was denn?»

«Willst du den Zug nicht sehen?»

«Was?»

Hunderte von Möwen stiegen über uns auf, als ich losrannte. Vor den Gleisen versank mein linkes Bein bis zur Wade im Schlamm. Meinem anderen Bein passierte gleich darauf dasselbe, und ich stand da mit beiden Füßen im Matsch, hielt das Board mit der einen Hand, winkte mit der anderen und grinste den Lokführer wie ein Volltrottel an. Er winkte höflich zurück.

Es erforderte ein wenig Arbeit, die Sandalen zu finden und auszugraben – sie sehen immer noch nicht so aus wie vorher –, und während ich dahinschlenderte und meine Zehen in den nassen Socken quatschten, erzählte ich Skinny, wie sehr ich mir wünschte, die Leute würden hier etwas Schmackhafteres als Rosenkohl anbauen. Dann hätte ich mir die Taschen damit voll stopfen können.

 

Auf einem alten Foto sieht mein Vater mir recht ähnlich – er ist darauf ein paar Jahre jünger, als ich es jetzt bin. Er liegt in seiner Koje an Bord des Flugzeugträgers Oriskany und liest Two Years Before the Mast von Richard Henry Dana. Es ist eines dieser seltenen Bilder, durch die Vater und Sohn einen Augenblick lang gleich alt sein können; und ich habe tatsächlich seine Nase und seine Augen, die gleichen zusammengezogenen Brauen beim Lesen. Dad hasste den Militärdienst, und immer noch schleicht sich eine überraschende Bitterkeit in seine Stimme, wenn das Thema aufkommt, aber es hätte schlimmer kommen können: Ein paar Jahre früher wäre er nach Korea eingezogen worden, ein paar Jahre später nach Vietnam. Außerdem hat er ziemlich viel von der Welt gesehen, ohne einen Menschen töten zu müssen. Er leistete seinen Militärdienst als Fluglotse ab und wurde in Europa ausgemustert. Bald darauf kehrte er in die USA zurück, um Jura zu studieren, und lernte meine Mutter kennen. Aber er wuchs am Strand eines ganz anderen Los Angeles auf – Santa Monica und Hollywood waren tatsächlich noch getrennte Städte, in Orange County gab es wirklich Orangenplantagen –, und er hatte eine Mutter, die ganz offen ihre Meinung sagte. Großmutter Duane war eine fröhliche New Yorkerin irischer Abstammung mit explosivem Humor, die in einer Hinsicht ganz fest blieb: «Die Männer aus unserer Familie gehen zur Marine.» Sein Vater war nicht zur Marine gegangen, was Dad zweifellos wunderte. Doch irgendwie ging es darum nicht, oder vielleicht eben doch.

Dad und seine jüngeren Brüder surften und bodysurften in ihrer Jugend, aber dann sagte er dem Strandleben ade, um aufs College zu gehen und zur See zu fahren. Wenn irgendjemand dafür verantwortlich ist, dass ich vom Wasser und der Freiheit, es zu genießen, besessen bin, dann mein Vater: Er liebte Steppenwolf-Geschichten, Erzählungen über Männer, die sich von der Herde entfernten. Zum Beispiel die Geschichte über den befreundeten Rechtsanwalt, der seine Kanzlei, die auf Berufungsverfahren beim obersten Bundesgericht spezialisiert war, von einer Holzhütte im Vorgebirge der Sierra Nevada aus leitete, oder über den Mann, der einen Ein-Jahres-Vertrag als Rechtsberater des Parlaments der Republik Pongo Pongo unterzeichnete und nie mehr zurückkehrte. Wir hatten ein unbändiges Vergnügen bei der Vorstellung, wie der Bursche auf einem Floß von einer Insel zur andern fuhr, mit den Fischern plauderte und alle paar Monate versuchte, sich an seinen Nachnamen zu erinnern. Oder die Zeit, als Dad eine Woche lang bei Joshua Tree geklettert war und in der Hochlandwüste im Auto gelebt hatte, heiße Tage, eisige Nächte. Auf einem Campingplatz wurde eingekauft, und er kam mit der älteren Kassiererin ins Gespräch. Ihr Mann sei vor kurzem gestorben, erzählte die Frau, aber das Alleinsein mache ihr nichts aus. Da er Matrose in der Handelsmarine gewesen sei, habe sie ohnehin die meiste Zeit ihres Lebens an Land auf ihn gewartet. Sie seien dann nach seiner Pensionierung da hinaus gezogen, weil – so Dad in einem großartigen Beispiel für seine Art des Geschichtenerzählens – für den alten Seemann die Wüste dem offenen Meer am nächsten kam. Dad hatte enorm viel Sympathie für solche Leute; und genau dahinein passte der junge Dana, dessen Nerven versagten und der nach seiner dritten Erkrankung an Masern seine Sehkraft so sehr eingebüßt hatte, dass er 1834 im Alter von 19 Jahren von Harvard abging und mit dem Schiff nach Kalifornien aufbrach.

Es hat etwas zutiefst Romantisches, dass ein reicher Junge von der Ostküste nicht als Passagier mitfährt (was er sich mühelos hätte leisen können), sondern als einfacher Seemann anheuert. Denken Sie nur an den schwächlichen Theodore Roosevelt, der auf einer Ranch in Wyoming hart rangenommen wurde, oder an den dicklichen, empfindsamen Frederic Remington draußen in Montana. Dana schreibt: «Nicht mehr den engen Frack, den Seidenzylinder und die Glacehandschuhe eines Studenten in Cambridge zu tragen, sondern eine weite Segeltuchhose, ein kariertes Hemd und eine Seemannsmütze aus Ölzeug … diese Veränderung war bald vollzogen, und so glaubte ich, durchaus als alter Seebär durchgehen zu können.» Nachdem er Kap Horn umsegelt hat, geht er in Kalifornien bei Santa Barbara zwischen lauter Hawaiianern in der Brandung an Land. «Nie werde ich den Eindruck vergessen», notiert er, «den unsere Landung am Strand von Kalifornien bei mir hinterließ. Die Sonne war gerade untergegangen; es dämmerte, der feuchte Abendwind frischte auf, und die massive Dünung des Pazifiks setzte ein und brach sich in lauten, hohen Sturzwellen auf dem Strand.» Während Dana und die Mannschaft seines kleinen Boots ängstlich außerhalb der Brandung verharren, fährt ein mit «dunkelhäutigen Sandwich-Insulanern» bemanntes Beiboot eines anderen Schiffes vorbei. Die Hawaiianer «stießen einen Schrei aus, und indem sie einen mächtigen Brecher ausnutzten, der gerade auf das Land zurollte und dabei sein Haupt aufrichtete … pullten sie drei- oder viermal kräftig und schoben sich die hohe Welle hinauf.» Und so macht es Dana, erfolgreicher als Mark Twain, den Erfindern des Surfens nach und reitet in seinem Ruderboot auf einer Welle an Land.

Während er am Strand auf den Kapitän wartet, blickt er auf die Wellen und schildert eine offenbar wunderschöne Brandung: «In regelmäßigen Reihen rollten die mächtigen Wogen an den Strand», erinnert er sich. «In regelmäßigen Abständen wurden sie immer größer, je mehr sie sich der Küste näherten, und hingen buchstäblich über dem Strand, auf dem sie sich brechen würden, kräuselten sich, wurden weiß vor Schaum und brachen sich von einem äußeren Rand her zum anderen, ähnlich einem langen Kartenhaus, das zusammenfällt, wenn Kinder die Karten an einem Ende umstoßen.» Ein Schiffskamerad bemerkt etwas zu Dana, worüber der sich mit Sicherheit freut: «Sieht hier nicht sehr nach Cambridge College aus, oder?» Und für die Schönheit des Meeressaums hat Dana ein ziemlich gutes Auge: An der Küste von San Juan Capistrano «lag in allem eine Größe, die der Landschaft fast etwas Feierliches verlieh; eine Stille und Einsamkeit, die alles durchdrangen! Meilenweit kein Mensch außer uns und kein Laut außer dem steten Pulsieren des großen Pazifiks! Zudem der große steile Berg, der sich einer Mauer gleich erhob und uns von aller Welt abschnitt, ausgenommen der Wasserwelt!» Und das weckt in Dana «eine glühende Freude, weil das, was ich an poetischen Empfindungen je in mir hatte, durch mein bisheriges mühseliges und zerfahrenes Leben noch nicht vollständig abgetötet worden war.» Wie herrlich, dass jemand sein Glück, diese Küste in solch uneingeschränkter Schönheit erblicken zu dürfen, so zu schätzen wusste. Zu den Konstanten meiner Liebe zu dieser Küste gehört seit jeher der müßige Wunsch, diese vor ihrer Verschandelung gesehen zu haben; manchmal fällt es schon schwer, Emersons Rat zu befolgen und zu glauben, dass die Welt mit all ihren Reichtümern direkt so vor uns liegt.

Seine zentrale Erfahrung macht Dana jedoch in San Diego, wo zwanzig Sandwich-Insulaner am Strand leben. Sie haben ihre Heimstatt in einem alten, gemauerten Backhaus aufgeschlagen und geben sich, wie zu erwarten, «dem uneingeschränkten Müßiggang hin – trinken, Karten spielen und auf jede erdenkliche Art feiern». (Bei all ihrer freien Zeit und dem warmen Wasser darf man aber wohl zusätzlich annehmen, dass sie auf Treibholzplanken oder umgestürzten Bäumen surften oder zumindest bodysurften.) Einmal versucht Danas Kapitän, die Hawaiianer anzuheuern, woraus sich eine zeitlose Unterhaltung mit deren Sprecher ergibt:

«Was tun sie hier, Mr. Mannini?», fragt der Kapitän.

«Ach, wir spielen Karten, betrinken uns, rauchen – alles, wozu wir Lust haben.»

«Wollen Sie nicht an Bord kommen und arbeiten?»

«Aole! Aole make make mokou i kana hana. Jetzt haben viel Geld; Arbeit nicht gut. Manule, Geld pau – alles fort. Ah! sehr gut, Arbeit! – makai, hana nui!»

«Aber so geben Sie Ihr ganzes Geld aus», sagt der Kapitän.

«Aye! Ich das wissen. Nach und nach Geld pau – alles weg; dann Kanaka viel arbeiten.»

Schließlich sticht das Schiff in See, um weitere Häfen in Kalifornien anzulaufen, und Dana bleibt ein paar Monate lang zurück, gerbt Tierhäute und wartet auf die Rückkehr des Schiffs. Man stelle sich das vor! Der Sprössling einer prominenten Bostoner Familie verbringt einen ganzen Sommer an den Stränden von San Diego, nur sieben Jahre nachdem Jedediah Smith als erster Weißer über Land nach Kalifornien gereist ist (und nur drei Jahre nachdem ein Trupp Komantschen Smith umzingelte und ihn in einer Spelunke in Kansas tötete). Dana versteht sich auf Anhieb prächtig mit den Insulanern, die ihn als Aikane ansehen – einen weißen Mann, dem sie trauen können. «Hier veränderte sich mein Leben», schreibt Dana, «ebenso vollständig wie plötzlich. Im Nu verwandelte ich mich von einem Seemann in einen «Strandläufer»» – vom Studenten zum «Seebären» zum Strand-Clochard. Und das alles auch noch in ziemlich rauer Gesellschaft, darunter «der dickste Mann, den ich je in meinem Leben gesehen habe, der von Kindheit an auf See war und überall gedient hatte … auf Handelsschiffen, Kriegsschiffen, Piratenschiffen und Sklavenschiffen». Einem der Hawaiianer, benannt nach dem Missionar Hiram Bingham (der den Niedergang des Surfens auf Hawaii dokumentiert hatte), fehlten zwei Vorderzähne, die ihm seine Eltern ausgeschlagen hatten, um ihrer Trauer über den Tod König Kamehamehas Ausdruck zu geben. Dana zieht ihn mit der Bemerkung auf, er habe sie wohl beim Verspeisen von Kapitän Cook verloren, worauf Bingham ominös antwortet, er sei damals noch zu jung gewesen, sein Vater hingegen nicht.

Dana findet, das Strandleben der Schiffsmannschaften, die sich aus «Halbblut»-Mestizen, chilenischen Indianern, Schwarzen und Mulatten, Männern von Tahiti und den Marquesa-Inseln zusammensetzen, mache träge und faul, öffne jedoch auch die Augen für so manches. Er selber erwähnt zwar nur die Hurerei der anderen, doch Lawrence Clark Powell berichtet, Jahre später sei ein Brief von einem Schiffskameraden eingetroffen, in dem dieser sich wundere, warum Dana weder etwas über «die wunderschönen indianischen Mädchen» schrieb, «die so oft in deine bescheidene Unterkunft in der Gerberei kamen und durch die umliegenden herrlichen Haine streiften, noch von den schönen Erlebnissen in den glücklichen Stunden der Streifzüge über die romantischen Hügel oder wenn du in der Dämmerung auf jenen majestätischen Felsen saßest, ein hübsches indianisches Mädchen auf den Knien». So bekommt dieser Sohn von Puritanern, was er immer haben wollte: Strandleben als Liebesleben, Freiheit. Man denke hier auch an den jungen Herman Melville ein paar Jahre später: Typee, Melvilles erste Südsee-Erzählung, beginnt damit, dass es den Helden, einen jungen Neuengländer, nach einem halben Jahr auf See in einen Hafen der Marquesa-Inseln verschlägt. Spielerisch, ja ironisch, bemerkt er: «Welch absonderliche Bilder beschwört allein schon der Name Marquesa herauf! Nackte Huris – Menschenfresser-Bankette – Kokosnuss-Haine – Korallenriffe – tätowierte Häuptlinge – Tempel aus Bambus; sonnenbeschienene Täler voller Brotfruchtbäume – geschnitzte Kanus, die auf blinkendem blauem Wasser tanzen – Urwälder, bewacht von furchteinflößenden Götzen – heidnische Riten und Menschenopfer

Eine Gruppe marquesischer Mädchen schwimmt zum Schiff hinaus und klettert an Bord, «das Salzwasser rinnt ihnen am Leib herunter, ihre Haut glänzt nach ihrem Bad im Meer, die jadeschwarzen Haare fallen ihnen über die Schultern und bedecken die ansonsten nackte Gestalt». Melville schildert den Schock der Männer, den man sich gut vorstellen kann, nachdem sie sechs Monate kein Land mehr gesehen haben und aus dem zugeknöpften Nantucket hier eintreffen. Dabei gesteht er, dass «man sich auf unserem Schiff von da an völlig jeder Art von Aufruhr und Ausschweifung hingab. Auch nicht die geringste Schranke wurde zwischen die unheiligen Leidenschaften der Mannschaft und ihre grenzenlose Befriedigung geschoben.» Als es Zeit wird, den Anker zu lichten, beschließt er – wen wundert's – zu desertieren. Aber nach einigen Wochen lösen Einsamkeit und Angst vor Persönlichkeitszerfall bei Dana und Melville Heimweh aus. Als ein hawaiianischer Freund während Danas letztem Zwischenstopp in San Diego an Syphilis stirbt, befällt ihn panische Angst vor den Folgen der Lasterhaftigkeit, und der ganze wilde Sex hier am Rande der westlichen Welt wird ihm allmählich unheimlich. Auf der Heimfahrt ist er ganz auf Erzählungen über Weiße fixiert, die durch den Verkehr mit den «Mischblut»-Prostituierten Kaliforniens moralisch verkommen und nie mehr nach Hause zurückkehren. Und so schließt diese kurze Initiationsreise an die Grenze der Gesellschaft nicht den Wunsch ein, dort zu bleiben; erst stößt man sich die Hörner ab, dann kehrt man an seinen Platz in der Gesellschaft zurück.

Nach den sechzehn Monaten an der Küste fehlt Dana der Ort, «den alle nur die Hölle Kaliforniens nennen», zunächst überhaupt nicht. Doch als ein Freund im Bostoner Hafen sieht, wie er «vom Schiff steigt und wie ein Gassenjunge aussieht in seiner Segeltuchhose und dem roten Hemd, den langen Haaren und einem Gesicht so braun gebrannt wie das eines Indianers», strahlt er – ein Seemann und Wilder, nach Hause zurückgekehrt aus den Besitzungen. Der Historiker Kevin Starr schreibt, dass Dana seine Zeit in Kalifornien zunächst als eine Abweichung vom geziemenden Pfad des Lebens ansah und ihn die Zweifel hinsichtlich seines wüsten Strandlebens, aber auch hinsichtlich seiner anschließenden Existenz als unglücklich verheirateter Rechtsanwalt verzehrten. Vielleicht um sich wegen seiner Leidenschaften zu geißeln, begann Dana, in Seemannskleidung Hafenbordelle aufzusuchen und Prostituierte aufzugabeln, allerdings nur, um ihnen Predigten über ihren verderbten Lebenswandel zu halten (man kann nur hoffen, dass sie dennoch auf Bezahlung bestanden). Später, nachdem er in seiner Ehe und in seinem Anwaltsberuf immer unzufriedener geworden war, betrachtete er jene Jahre in Kalifornien als die beste Zeit seines Lebens. Als er zwanzig Jahre später nach Kalifornien zurückkehrte, hatte er das Gefühl, dass «mein Leben, gemessen an dem, was ich hätte tun sollen und können, ein Scheitern darstellt».

Und dann gibt es natürlich noch Jack London, auf den in der Surfliteratur häufig als Beispiel für das bedeutende literarische Erbe des Sports verwiesen wird. Um die Jahrhundertwende tut London mehr, um das hawaiianische Surfen und den kalifornischen Fun bekannt zu machen, als irgendjemand vor oder nach ihm. Als ihn das Leben auf seiner Ranch im Sacramento Valley langweilt, macht er vor seiner Reise in den Pazifik, aus der The Cruise of the Snark hervorgeht, Station in der Künstlerkolonie in Carmel. Monterey Bay ist in Londons Augen das Land der Abalone-Esser, wo Maler, Dichter und Autoren im Meer schwimmen, Krustentiere sammeln, ihre Partner betrügen, Selbstmord begehen und sich ganz allgemein dem guten kalifornischen Leben hingeben. In The Valley of the Moon bekommt das Salz-der-Erde-Protagonistenpaar die Bohemiens zum ersten Mal zu Gesicht, als ein Beachboy, die Anglo-Variante des Südseeinsulaners – «mit dem Gesicht eines Engels und einem blonden Lockenschopf, der Körper muskelbepackt wie der von Herkules» –, ins Meer wetzt, «während sich über ihm eine mindestens drei Meter hohe Wand aus sich überschlagendem Wasser hob … er sprang los, der Welle entgegen, und just in dem Augenblick, als es schien, er würde zerschmettert, tauchte er in den Brecher ein und verschwand.» Vielleicht das erste Erscheinen des blonden Kaliforniers als «weißer Naturmensch». Während eines Strand-Barbecues mit den Bohemiens tauchen London und der Schriftsteller George Sterling – der Kopf der Gruppe, der unter dem Künstlernamen «Grieche» an «Wolf» London schrieb – nach Abalone, während die im Stil einer indianischen Prinzessin gekleidete kalifornische Schriftstellerin Mary Austin angesichts der Abenddämmerung in Verzückung gerät.

Jedenfalls ist London eine ungewöhnliche Ikone der Surfer-Szene. Starr berichtet, dass sich London «immer für einen Übermenschen, eine von Nietzsches blonden Bestien hielt …

er ließ sich auf Fotos ablichten, auf denen er mit bloßem Oberkörper dastand und seine Muskeln spielen ließ. Die Fotos verteilte er dann an Besucher.» Wie sich herausstellt, verabscheut London allerdings jede körperliche Betätigung – so sehr, dass er sich jeden Morgen von einem Diener die Schnürsenkel zubinden lässt. Franklin Walker schreibt, Mary Austin fand in jenen Tagen, London «sacke unter seinem übermäßigen Erfolg ein wenig zusammen» – er aß, trank und rauchte zu viel und war ständig krank. Sein schlechter Gesundheitszustand ruinierte seine Kreuzfahrt durch den Pazifik auf der Snark, seine Version der Seereisen von Dana und Melville, und so ist es nicht verwunderlich, dass die offenkundige Virilität des hawaiianischen Surfens ihn in Fahrt bringt. In «A Royal Sport for the Natural Kings of Earth» reflektiert er über den «Naturmenschen» beim Spiel, als ein Surfer «wie ein Meeresgott aus tosender Gischt und brodelndem Schaum aufstieg … Seine dunklen Schultern, seine Brust, seine Lenden, seine Arme – waren plötzlich in mein Gesichtsfeld getreten.» Dieser Hawaiianer war alles, was der kränkliche und träge London so gern gewesen wäre: «Ein Merkur – ein brauner Merkur. Seine Fersen trugen Schwingen, und in ihm steckte die Rasanz des Meeres.» Als die Welle bezwungen ist und der Südseeinsulaner an Land tritt, «zeigt sich der Stolz auf seine große Tat in der Haltung seines prachtvollen Körpers, wobei er einen Augenblick achtlos herüberblickt zu mir, der ich im Schatten der Küste sitze». Dass der Südseeinsulaner die Brandung bezwungen hat, raubt ihm geradezu den Atem.

«Du bist doch ein Mann», sagt er sich. «… Los, runter mit den Klamotten, die in diesem milden Klima sowieso nur lästig sind. Rein ins Wasser, ring mit dem Meer.» Gesundheit, Stärke, Nacktheit und Eroberung – das sind die Begriffe, mit denen London das Surfen in Verbindung bringt. Ein einziger erfolgreicher Wellenritt zusammen mit Alexander Hume Ford und George Freeth genügt, dass er «von diesem Augenblick an verloren» ist; durchaus verständlich. Das vermutlich von Ford initiierte Triumvirat ist in der Tat recht beeindruckend. London schreibt über seine Surfsession, als habe er die beiden Männer zufällig inmitten der Wellen getroffen, was wohl eher unwahrscheinlich ist. Ford, dem Pionier des Tourismus auf Hawaii und Verleger des Hawaiian Annual, musste klar gewesen sein, dass es sich für ihn fürstlich auszahlen würde, wenn er dem berühmten Jack London einen unterhaltsamen Zeitvertreib präsentierte: London wurde pro Wort für seine in Fortsetzungen abgedruckten Bücher bezahlt und suchte ständig nach Stoff. Auch Ford hätte keinen besseren Surflehrer als den Irisch-Hawaiianer Freeth finden können, den später eine südkalifornische Eisenbahngesellschaft aus genau demselben Grund einstellte, nämlich um Surfdemonstrationen abzuhalten, in der Hoffnung, dadurch mehr Touristen in die Region zu locken. (Freeth machte schließlich Karriere als Rettungsschwimmer in Kalifornien und starb recht jung während einer Rettungsaktion.) Hinterher legt sich London zwei Tage lang mit einem bösen Sonnenbrand ins Bett (wo er ohnehin fast immer schrieb). «Eines habe ich mir fest vorgenommen», erklärt er zuversichtlich, «die Snark wird erst aus Honolulu absegeln, wenn auch meine Fersen von der Rasanz des Meeres beschwingt sind und ich zu einem sonnengebräunten Merkur mit pellender Haut geworden bin.» Wegen seines fürchterlichen Gesundheitszustandes endet die Kreuzfahrt fünf Jahre früher als geplant, doch nicht ehe er dem geliebten Sterling, seinem «männlichen Seelenverwandten», ein paar Geschenke gekauft hat. Von den Solomon-Inseln, so berichtet Walker, schreibt London, «er habe [Sterling] nicht nur Speere und Kriegskeulen mitgebracht, sondern auch das Geschlecht einer Eingeborenen, ‹eine Klitoris, getrocknet, mit allem Drum und Dran›, und zwar als Ohrschmuck, wie es sich gehört.»

Im Laufe der Zeit fand ich heraus, dass sich der Otter hier am Point mit seinen grauen Barthaaren, schwarzen Augen und kräftigen Pfoten am liebsten von Miesmuscheln und den violetten Seeigeln ernährte, die in den Prielen zwischen den Felsen hausten. Und das war gut so, weil diese stacheligen Pflanzenfresser die Seetangwälder vernichten und seetangfreie Seeigel-Wüsten hinterlassen. Und so wie das Seegras dazu beiträgt, dass die Brandung ihre Form behält, indem es Unebenheiten in der Kabbelsee glättet und die langwellige Grunddünung durchrollen lässt, so leistete der Otter mehr als nur eine optische Verschönerung dieses Ortes: mit jeder Mahlzeit trug er zur Qualität der Wellen bei. Gelegentlich fraß er auch die Krabben, die in den schmalen Felsritzen hausten, aber ansonsten rührte er kaum etwas an. Ich beschloss zwar, dem legendären hawaiianischen Surfer, Wassersportler und olympischen Goldmedaillengewinner Duke Kahanamoku nachzueifern und nie wieder Haifischfleisch zu essen – schlechtes Karma –, aber in einem mit Zedernholz getäfelten Sushi-Lokal probierte ich dann trotzdem die Nahrung des Otters, wenn auch in leicht abgewandelter Form: Seeigel in Rotalgen auf Reis (von der Konsistenz etwa wie Pudding) und Krabben in einer California-Roll. Natürlich trank ich auch ein wenig heißen Sake, und der Wasabe trieb mir das Wasser in die Augen, die Meeresfrüchte verzehrte ich jedoch genau wie der Otter: in Form von Sashimi. Und während ich über dessen andere Optionen nachdachte, etwa Röhrenwürmer, fand ich, dass er einen recht guten Geschmack hatte, auch wenn er auf Venusmuscheln und Abalone verzichtete und offenbar nicht, wie andere heimische Otter, Jagd auf große Seevögel (Kormorane, Seetaucher und Möwen) machte.

Eines frühen Morgens, es nieselte, verschloss ich meinen Pick-up in der Nähe eines buchstäblich über den Highway ausgewalzten Rehs, von dem nur noch ein furchtbarer, gespenstischer Schmierfleck übrig geblieben war, der aussah, als hätte ihn ein 100 Meilen die Stunde fahrender 18-Wheeler-Truck zu verantworten. Eine riesige Eule hüpfte in großen Sprüngen über den Kadaver – ihre letzte Beute vor Tagesanbruch –, dann machte sie sich über das erste von den Erntearbeitern abgeerntete Rosenkohlfeld davon. Beim Überqueren der leeren, stillen Straße überkam mich jener innere Friede, den ein menschenleerer Highway manchmal ausstrahlt, sodass man am liebsten rechts ranfahren und dösen oder sich strecken möchte. Da aber in der Nähe ein junger Farmaufseher ohne Daumen in seinem Pick-up saß und Zeitung las, ging ich weiter; vorbei an zwei Farmarbeitern, die mit gekrümmten Rücken über den Furchen standen, aus Eimern irgendetwas verspritzten, schwarz wie Scherenschnitte vor dem flachen, grauen Himmel. Auf den anderen Feldern standen noch die ausgewachsenen, salbeigrünen, vom feuchten Dunst glänzenden Kohlköpfchen. Entlang des Wegs waren Warnschilder («Peligro/Poison») mit Totenköpfen und gekreuzten Knochen aufgestellt, die darauf hinwiesen, dass in der Nacht zuvor Pestizide versprüht worden waren. Offenbar bestimmt der Jahresverbrauch des US-Durchschnittsbürgers die zulässigen Höchstwerte, und da der ungefähr einen Rosenkohl pro Jahr isst, glaubte man anscheinend, die Felder mit Chemikalien durchtränken zu dürfen. Seit ihrem teerigklebrigen Tod vor ein paar Wochen waren alle Hemlocktannen zu einem Wald gebrochener Stängel verdorrt, in dem Spatzen umherflitzten; ein weiterer herbstlicher Tod auf dem Tiefpunkt des jährlichen Wachstumszyklus der Natur. Leise rollte die Flutbrandung unter dem geräuschdämpfenden Nebel. Draußen am Point, auf einem vorgelagerten Felsen, hatte eine Seehundfamilie Quartier bezogen. Während ich mich im Zwielicht umkleidete, zogen Wolkenfetzen durch die Zypressen und regneten Tröpfchen auf Gras und Sand. Irgendjemand hatte eine Coladose und verschmutzte Unterwäsche in der Gegend herumliegen lassen, und einer der Seehunde gab ein furchtbar misslauniges Gewinsel von sich. Es war die Art von nächtlichem Gebrüll, die jedem Seemann einen guten Grund für seinen Aberglauben liefert. Irgendwie kam ich mir wie ein Eindringling vor, als belauschte ich streitende Nachbarn. Nachdem ich meinen Kräutertee ausgetrunken hatte, paddelte ich allein hinaus und beobachtete die aufgeworfenen Wellen, die von Süden her hereinrollten. Sie stammten von einem der letzten Winterstürme im Südpazifik und waren ein weiterer Nachklang des Sommers; der Winkel, in dem sie heranrollten, spiegelte die Neigung der Erdachse wieder. Die erste Welle, die ich bekam, war dicht und gläsern, ich stieg und fiel mit jedem Wellental. Der Himmel verblasste langsam zu einem Graublau, als der Nebel aufriss, und da kam noch ein anderer Surfer zu mir ins Wasser. Es war der ältere der beiden Freunde, derjenige, der immer so viele Wellen erwischte. Das morgendliche Erscheinen vor einer solch felsigen, abgelegenen Küste setzte eine völlig andere Motivation voraus, als sich nur in der Sonne räkeln zu wollen. Eine Woche zuvor hatten wir ein lakonisches Gespräch im Surferjargon geführt, das rasch zu Ende war, als ein paar andere Surfer herausgepaddelt kamen. Ich fragte mich immer noch, wie er seinen Lebensunterhalt bestritt: Irgendwie reichte «Surfer» als Berufsbezeichnung nicht aus. War er Geschäftsmann? Unabhängig und reich? Zunächst war er ziemlich distanziert gewesen, als wir uns obligatorisch ernst zunickten. Dann saßen wir nebeneinander und blickten schweigend aufs Meer, obwohl niemand sonst da war. Man macht das oft beim Surfen, es gibt dem anderen die Möglichkeit, seinen Gedanken nachzuhängen. Nur wenige Surfer legen den weiten Weg zurück, weil sie Gesellschaft suchen. Als ich dann doch ein Gespräch anfing, antwortete er mir in knappen Sätzen.

«Ganz schöne Wellen, was?», sagte ich, die übliche Phrase, ein Gespräch zu beginnen.

«Das Wasser geht zu weit zurück.»

«Wann ist Tiefstand?»

«Ungefähr jetzt.» Und damit drehte er sich um und paddelte eine Welle an. Nur dieser Mann und ein paar andere Surfer kamen täglich hierher zum Point, wie ich festgestellt hatte. Er war der bei weitem Engagierteste, war jedes Mal da, wenn ich kam, und fühlte sich hier offenbar zu Hause. Nach einer kleinen, aber sanften Welle, einigen leichten Turns und weichen Schrägfahrten vom Brechungsrand paddelten wir gemeinsam wieder hinaus.

«Also», sagte ich, um ihm eine Antwort zu entlocken, «Raus mit der Sprache. Aktien? Arbeitslos?» Viele Leute waren freigestellt, seit es mit der Wirtschaft bergab ging und die Lage insgesamt schlechter wurde. Viele Männer mittleren Alters surften häufiger als sonst.

«Vince Collins», stellte er sich vor, obwohl ich ihn nicht nach seinem Namen gefragt hatte. Er musterte mich und sagte, er sei Mathematikdozent an der Universität. Dabei lächelte er etwas gezwungen, weil er wohl ahnte, warum ich gefragt hatte. Dann lachte er plötzlich und sah auf sein Board. «Jämmerlich», sagte er, «ich weiß.» Sofort wurde er viel lockerer. Später fand ich heraus, dass das typisch für ihn war. Sosehr er auch über die Torheiten anderer Surfer herzog und sich ereiferte, er werde Windschutzscheiben einschmeißen und Autos mit Schlüsseln zerkratzen – wenn er einem anderen Menschen gegenüberstand, war er die Freundlichkeit in Person.

Sauber und grau erschienen im Nieselregen kleine Wellen mit geraden Rändern, auf denen außer uns niemand surfte. Nur Wasser – ich, das Meer, die Luft … und er. Dann paddelte er los, plötzlich, aber nicht hektisch, eine Hand vor die andere, den Kopf gesenkt. Daran war zwar nichts Unsoziales, er ermutigte mich aber auch nicht, ihm zu folgen; so blieb man einfach aufmerksam sitzen, reagierte auf das Wasser und blieb in Bewegung. Mir kam es allerdings so vor, als vermassele er alles; die meisten Wellen brachen genau dort, wo ich mich befand. Wenn man im Wasser rauf- und runterschaukelt, hat man eine ziemlich eingeschränkte Sicht: Im Wellental sieht man gar nichts, auf dem Wellengipfel den Horizont. Als eine kleine Welle Vince anhob, paddelte er darüber hinweg und war außer Sicht. In dem kleinen Wellental vor mir tauchte eine Seegrasknolle von der Größe einer Grapefruit auf – eine medusische Meereshexe, die ihr langes Seegrashaar schüttelte –, und der Otter schwamm rückwärts, eingewickelt in einen Strang Seegras, eine Art Vertäuung gegen die Strömung, die kleinen Ohren gespitzt, damit ihm das Eintauchen eines Pelikans oder das Nahen einer Welle nicht entging. Er schlug etwas auf den flachen Amboss-Stein, der wieder auf seinem Bauch lag, vielleicht eine Miesmuschel. Er hob die Pfote weit hoch und schlug die Muschel mit Wucht auf den Stein, etwa so, wie man eine Nuss öffnet, dann nagte er daran. Ich habe ihn immer nur einen Stein benutzen sehen, aber Otter sollen auch mit Limonadeflaschen Krustentiere aufknacken oder leere Bierdosen aufbrechen, um darin nach Tintenfischen zu fahnden. Ein, zwei Meter entfernt von dem Otter schwamm eine weiße Möwe aufrecht im grauen Wasser und wartete auf Abfälle. Das stille Wasser der Bucht bildete einen überraschenden Kontrast zu den unruhigen Umrissen des Landes, etwa so wie ein Alpensee unter gezackten Berggipfeln. Wasser ist ein Element, dem man – wie Feuer – endlos zusehen kann.

Dann hob eine Welle auch mich empor, und weit weg zu meiner Linken sah ich Vince, der auf der größten Welle des Tages ritt. Anscheinend hatte er ihr Kommen gefühlt, mir aber keinen Tipp geben wollen. Wer wusste schon, wie viele es davon geben würde? Rasch auf den Beinen, zog er einen hohen Bogen, nichts Ausgefallenes. Er surfte nur vom Wellengipfel zum Wellental und wieder zurück, zog im Weißwasser einen Bogen, als die Welle langsamer wurde, trat auf dem Brett weiter vor und steuerte hoch, als sie zulegte – das Board ein Symbol für ein fast beiläufiges Begehren. Viele Shortboarder – Wellenreiter mit spitz zulaufenden Brettern um zwei Meter Länge, im Gegensatz zu Longboardern, Wellenreiter mit gerundeten, über zweieinhalb Meter langen Brettern – surfen, als seien sie zur Salzsäule erstarrt. Vinces Stil hingegen war geprägt von seiner Jugend. Er surfte in den sechziger Jahren auf den großen Longboards und in den siebziger Jahren auf den beweglichen kleinen Brettern mit zwei Finnen; er setzte seine Füße ein und dirigierte das Brett mit den Zehen und durch starke Gewichtsverlagerungen. Ich fror und surfte nicht gut, schätzte den Sog und den Überschlag der Wellen immer wieder falsch ein und wurde kopfüber vom Brett geschleudert. Auf dem Weg die Welle hinunter sah ich Vince, der auf derselben Welle startete, nachdem er erst höflich zugeschaut und abgewartet hatte. Während einer langen Pause zwischen zwei Wellen-Gruppen, in der Surfer häufig einfach still dasitzen, sagte ich beiläufig, wie schön ich es hier fände.

Als er mich daraufhin ein wenig schief ansah, schämte ich mich einen Moment wegen meines sentimentalen Anflugs. Doch dann lächelte er überrascht und drehte sich um, blickte hinüber zu den Klippen und Hügeln.

«Es ist der schönste Ort der Welt», erwiderte er ganz ernsthaft. «Und ich habe viele gesehen.» Keine fünf Minuten später hatte ich herausgefunden, dass er der Erste hier gewesen war, dass er seit dreißig Jahren am Point surfte und das Riff damals ganz anders, noch viel besser gewesen war. Und das Schönste daran war, in der Zeit war niemand sonst jemals hierher gekommen, keine Fischer, keine Sonnenhungrigen am Wochenende, keine Mountainbike-Spinner und – am wichtigsten – keine Surfer. «Wir haben immer eine Meile weiter oben am Highway geparkt», sagte Vince, «und sind zu Fuß hier heruntergekommen, um die Typen aus dem Hinterland abzuschütteln. Nur etwa zehn Leute kannten diesen Strand. Und wenn irgendwelche Idioten zu nahe parkten – das war in meinen wilderen Zeiten haben wir denen die Scheinwerfer eingeschmissen und einen Zettel an die Windschutzscheibe geklemmt, auf dem stand, wo sie gefälligst parken und auf welchem Weg sie herunterkommen sollten. Dadurch behielten wir den Spot noch fünf Jahre länger für uns, fünf weitere Jahre, ehe er schließlich überlaufen war.» (Mir war zwar nicht ganz klar, wo ich mich da einordnen sollte, schließlich war auch ich erst kürzlich aus dem Hinterland zugereist, aber irgendwie nahm sein Tonfall mich ins Lager der Guten auf.) Damals, erzählte Vince, habe der Farmer den Weg durch seine Felder noch gesperrt, aber aus irgendeinem Grund habe er ihn gemocht und oft hinten auf seinem Pick-up mitgenommen.

«Gestern bist du nicht hier gewesen», wechselte er plötzlich das Thema. Die Feststellung bereitete ihm ein diebisches Vergnügen.

Es hatte mir zu durchwachsen ausgesehen, viel zu windig, aber ich war trotzdem rausgegangen, nur zum Lunch und um die Seele baumeln lassen.

«Am Morgen war es perfekt», sagte er grinsend.

«Perfekt?»

«Zum Niederknien.»

«Was?»

«Perfekt.»

Wir unterhielten uns weiter zwischen einzelnen Sets, legten gelegentliche Pausen ein, in denen wir verschiedenen Wellengipfeln nachjagten – einzelne Teile des Riffs verursachten unterschiedliche Brandungen ziemlich nahe beieinander. Meist dümpelten wir nur dahin, glücklich, dass wir ein paar Ansichten teilten. Als ich ihn fragte, wie er mit dem Wellenreiten angefangen habe, erzählte er, was die meisten Surfer erzählen: wie er als Kind zum ersten Mal auf einem Brett gestanden und genau in dem Moment mit absoluter Sicherheit gewusst habe, dass er für den Rest seines Lebens ein Surfer sein würde. Aufgewachsen war er in den fünfziger Jahren in Chico, im nördlichen Teil des Central Valley. Er hatte mit geklauten Autos Spritztouren durch Kirschbaumplantagen unternommen, hatte Seile an die Stoßstangen der gestohlenen Wagen gebunden und war im Schlepptau über Bewässerungskanäle gesurft. Damals war Santa Cruz noch ein Ferienort für Familien mit schmalem Geldbeutel gewesen, die der lähmenden Hitze im Tal entfliehen wollten. Während die High Society aus dem Country Club in San Francisco weiter südlich nach Carmel und Pacific Grove fuhr – wo seinerzeit London und Sterling ihre Zelte aufgeschlagen hatten –, saß das gemeine Volk in Santa Cruz in der Achterbahn und spazierte auf der Uferpromenade auf und ab. Als Vince bei einem Familienurlaub mit dem Surfen angefangen hatte, saugte er zusammen mit ein paar Freunden Benzin aus Autos ab, klaute Alkohol, um mehr Geld für Essen zu haben, und raste an die Küste. Hier und da wurde mal in ein Strandhaus eingebrochen und eine kleine Party gefeiert. Offenbar hatte er 250 Autos gestohlen, bevor er in der Highschool in die Oberstufe kam, allerdings nur zum Vergnügen, nie hatte er auch nur einen Wagen verkauft. Das alles erzählte er mir ohne jede Angeberei, so wie ein mittlerweile trockener Alkoholiker vom Trinken erzählt. Er erklärte mir nur, dass das Surfen auf ihn keinen schlechten Einfluss gehabt, sondern vielmehr seine kriminellen Neigungen begrenzt und ihn auf den richtigen Weg gebracht habe. Inzwischen musste er, wie viele Uni-Lehrer, nicht mehr allzu viele Pflichtstunden unterrichten und besaß einen guten Pick-up. Da kam ein neuer Set herein; und Vince fand wieder zur richtigen Stelle auf der besten Welle, startete mit einem einzigen Schlag. Viele andere Sportarten erfordern, dass man seine ganze Energie sammelt – man starrt auf den reglosen Berg, schnürt seine Laufschuhe –, doch Surfen ist, so anstrengend es auch sein mag, ein System, in das man sich einstöpselt.

Der Otter kam übrigens nie an Land. Otter können ihr ganzes Leben im Wasser verbringen, ohne es ein einziges Mal zu verlassen, da ihr Fell viermal besser isoliert als Fett, wasserdicht ist und ihnen Auftrieb gibt. Und sie sind leise, bellen und brüllen nicht wie Seelöwen oder Robben. Der Otter treibt einfach allein im Wasser, taucht nach Essbarem, bleibt in seinem Heimatrevier, pflegt seinen Garten und hält sich einen guten Futterplatz, um Weibchen den Hof zu machen. Es heißt, Otter schliefen eingerollt auf dem Sand, die Pfoten über die Nase gelegt, aber dieser hier döste höchstens mal zwischen schleimigen grünen Fetzen Seetang an der Wasseroberfläche (es sei denn, er ging woanders an Land, an irgendeinem Kliff, das nicht genug Strand für Sonnenhungrige und keine Wellen für Surfer bot). Er benahm sich wie ein nervöser, verärgerter Wichtigtuer, hatte nicht die träge Neugier der Robbe. Aber bleiben wir fair: Um seine Körpertemperatur konstant zu halten, muss er täglich Nahrung zu sich nehmen, die einem Drittel seines Körpergewichts entspricht.

Dann zog sich der Nebel zurück, und eine Zeit lang glich das Meer einer winterlichen Sturmlandschaft, während es zum Land hin in hellen Blau- und Grüntönen glitzerte und die spätmorgendliche Wärme über dem klarsten Wasser lag, das ich je gesehen habe. In drei Metern Tiefe wedelte das Seegras inmitten von Rotalgen und Seeigeln, und das Wasser schmeckte sauber nach Seetang. Als ein anderer Surfer herausgepaddelt kam, ließ sich Vince ganz davontreiben – vielleicht war er schüchtern oder nicht gesellig genug, seine Zeit mit Aufmerksamkeit zu vergeuden. Der Neuankömmling wirkte ziemlich nordeuropäisch: «Aus Holland», antwortete er, als ich ihn ein wenig abrupt fragte, woher er komme, «aber aufgewachsen bin ich in Liberia.» Er war froh, mit jemandem reden zu können. Sein Vater, so erzählte er, arbeite in der Entwicklungshilfe und lebe noch immer in Afrika. Als er einmal in der Zeitschrift einer Fluggesellschaft ein Foto von einem Surfer sah, habe er sich vorgenommen, so etwas auch einmal mit seinen drei Jungs auszuprobieren; während eines kurzen Aufenthalts in Spanien hatte er dann ein paar gebrauchte Surfbretter gekauft. Plötzlich drehte sich der holländische Surfer um und paddelte davon – eine gute, schulterhohe Welle. Er startete spät, geriet in den vordersten Rand der herabbrechenden Welle und stürzte. Lächelnd kam er wieder hoch und paddelte erneut hinaus. «Na ja», sagte er, während er auf seinem Brett lag, «wir haben nie ein Video gesehen, von richtigem Surfen ganz zu schweigen. Wir wussten nur, dass man irgendwie eine Welle erwischt und am Ende wie die Typen auf den Fotos aufrecht dasteht. Es war absurd.» Durch einen Steward der Pan Am, den sein Flugplan auch nach Kalifornien brachte, hatten sie sich dann bessere Bretter und eine Ausgabe des Surfer besorgt; sie hatten ihn zufällig in einem Café in Monrovia getroffen, ihre Bestellung aufgegeben und gewartet. Drei Monate später machte der Steward sein Versprechen wahr. «Und dann war da noch dieser alte Liberianer», sagte er, «ein Fischer, der direkt am Wasser wohnte und den Swell voraussagen konnte. Nicht die großen Sturmdünungen, sondern die vor Ort. Er hat immer gesagt: ‹Morgen wird's Wellen geben› – und er hatte Recht.» So hatten die Brüder samt Vater also das Surf-Rad neu erfunden, allein in Westafrika. Inzwischen lebten sie über den ganzen Globus verstreut und trafen sich einmal im Jahr – in diesem Jahr an einem Spot in Tansania. Der Bruder, mit dem ich jetzt sprach, lebte mit seiner amerikanischen Frau in San Francisco und wollte wissen, ob ich verheiratet sei. Als ich meine Quasi-Freundin, die Grafikerin, erwähnte, die inzwischen in San Francisco lebte, fragte er, ob sie surfe.

Ich lachte nur – sie hätte auch gelacht.

«Weißt du», sagte er ganz ernsthaft, «wenn sie es mal ausprobieren möchte – ich besitze ein nagelneues, nie benutztes Board und einen Anzug, der ihr passen würde.»

«Noch nie benutzt?»

«Nein.»

«Von deiner Frau?»

«Wie hast du das erraten?»

Eine Stunde später – der holländische Surfer war gegangen, und Vince stand am Strand und zog sich um – paddelte ich an Land. Als ich dem Otter zu nahe kam, hob er seinen Kopf mit den weißen Tupfen aus dem Wasser, um sich umzuschauen, dann klemmte er sich den Stein unter die Achsel und tauchte ab. Während ich mich am Strand anzog, war mir klar, dass meine Zehen in diesem Nieselregen nie trocken werden würden; sogar mein T-Shirt war feucht. Als Vince sich nach vorn beugte, um die Hose anzuziehen, fiel mir eine Tätowierung auf seinem Hintern auf, und als ich mich ein wenig vorbeugte, um sie lesen zu können, sah ich, dass sie einem dieser Heck-Stoßstangen-Aufkleber ähnelte: WER DAS HIER LESEN KANN, IST ZU NAHE DRAN.

«Wenn mich jemand fragt», sagte er plötzlich und richtete sich auf, «was ich mit meinem Leben angefangen habe, was könnte ich antworten? Am Point gesurft und Mathe unterrichtet?» Er schüttelte lachend den Kopf. «Pure Mittelmäßigkeit.» Das fand ich natürlich überhaupt nicht und wollte es ihm sagen, wusste nur nicht, wie. Ich wollte ihn fragen, ob er sich vielleicht irgendwann einmal mit mir zum Surfen verabreden und gemeinsam zu diesem Spot hier herausfahren wollte; aber dafür war es noch zu früh. Inzwischen hatte sich der Nebel weit von der Küste zurückgezogen, und schmale Windböen drückten tiefblaue Flecken auf das hellblaue Meer. Als wir uns auf den Heimweg machten, kam ich ins Grübeln über die Kultur, die Vinces Leben so gezeichnet hatte. Er war ein Mann, der etwas, was er zutiefst liebte, meisterte und ein Naturelement wahrhaftig kennen gelernt hatte. An der Uni, erklärte er, als wir mit unseren Brettern unter dem Arm aufbrachen, müsse er lügen, was die Unregelmäßigkeiten in seinem Lehrplan betraf, und sich unwahre Forschungsprojekte ausdenken, um ein Freisemester zu erhalten; die frivole Aura des Surfens habe jede größere Errungenschaft in seinem Leben vereitelt. Die Gesellschaft hatte ihm kein Gütesiegel verliehen – sie sah in ihm nur jemanden, der nicht erwachsen werden konnte. Und da passierte etwas ganz Merkwürdiges: Etwa hundert Meter entfernt stand ein Puma auf der Straße, dessen langer, geschmeidiger Schwanz ruhig hin- und herschwang. Als wir langsam weitergingen, lief das Tier in die abgestorbenen Hemlocktannen am Straßenrand, steckte den braunen Kopf noch einmal kurz aus dem Gebüsch und verschwand schließlich ganz. Als wir uns der Stelle näherten, wo er ins Gebüsch gelaufen war, sagte Vince, man solle die Streichelzoo-Idee nicht überstrapazieren und dem Tier lieber Raum lassen. In einem großen Bogen gingen wir weiter zur Straße, und als wir gerade auf gleicher Höhe mit dem Büschen waren, sagte er: «Ist er das? Da ist er doch, oder?»

Drei Meter entfernt verharrte der Puma unter einer Weide: eine Raubkatze von der Größe eines sehr großen Hundes, ein wildes Geschöpf, aber in einer anderen Dimension als die großen Raubvögel oder ihre Beute. Wir erstarrten. Und plötzlich verschwand der Puma wie ein Geist – ohne Angst, ohne Hast. Eben lag er noch da, im nächsten Moment war er weg. Er schlich nicht wie ein Koyote; er sprang nicht wie ein Reh. Eine Erscheinung an diesem gottverlassenen Ort, die dazu gehörte wie unsere nasse Haut und unsere salzigen Wimpern, unsere triefenden Nasen und unsere Muskeln, die gelockert waren, wie nur Wasser dies vermag. Wir waren überwältigt, und Vince sagte, er habe in dreißig Jahren noch nie einen Puma gesehen. Große Raubtiere verändern unseren Sinn für Ökologie: Haie im Wasser, Löwen an Land, ein Bussard in der Luft.

«Übrigens», sagte Vince, als wir den Weg wieder hinaufgingen, «solltest du dir ein neues Board besorgen.» Ein paar Hippie-Landarbeiter standen lächelnd auf dem Feld und hatten ihren Spaß – immerhin, ohne bezahlt zu werden.

«Wegen des Pumas?»

«Nein, weil du eins brauchst.» Die Form von Surfbrettern ändert sich ständig, die Gründe sind eine Mischung aus technischem Fortschritt und Mode. Vince legte Wert darauf, jeden aktuellen Trend zu meiden. Im Augenblick waren bei den jungen Profis kleine hauchdünne Boards der letzte Schrei; er riet mir, mich von solchem Humbug fernzuhalten und mir ein Brett mit etwas Gewicht zu kaufen. «Niemand, der ganz bei Trost ist, surft auf einem dieser lächerlichen Kartoffelchips; solange sie das tun, paddeln Leute wie du und ich im Bogen um sie herum, und das ist gut so.» Mit einem letzten Blick aufs Meer sagte er, dass ein Abendsurf außer Frage stünde.

Warum? Woher wollte er das wissen? Der Wind schien mir richtig, hohe Dünung …

«Die Farbe – es wird Seewind geben.» Die Abstufungen im Blau des Meeres zeigten es ihm an. Dazu brauchte er keine geniale Eingebung, sondern nur eine genaue Ortskenntnis und einen Blick, der jede Besonderheit wahrnahm. In den Augen der Öffentlichkeit hatte er in seinem Leben nichts gelernt, erreicht oder verdient, hatte nur seine geheime Disziplin, sein privates Vergnügen.

 

Vinces Vorschlag führte dazu, dass ich eine weitere Besonderheit des Surfens entdeckte: Serienbretter kosten im allgemeinen mehr als Custom Mades. Viele passionierte Surfer kaufen ihre Boards nicht einfach im Laden. Stattdessen knüpfen sie eine Beziehung zu einem bestimmten Shaper in ihrer Stadt und lassen jedes Board ein wenig anders anfertigen, weil sie ständig auf der Suche nach der idealen Mischung der einzelnen Elemente sind. Über das endlose Variieren von Länge, Dicke, Shape Outline, Platzierung der Finne und anderer Erwägungen entwickelt der Surfer mit der Zeit ein phänomenal vielschichtiges Verhältnis zu seinem Gerät. Noch merkwürdiger ist, dass es keine erheblichen Kostenunterschiede zwischen den allerbesten und den allerschlechtesten Brettern gibt: Bei allen werden weitgehend die gleichen Werkstoffe in weitgehend der gleichen Menge verwendet. Longboards sind teurer als Shortboards, aber gute Longboards kosten nicht viel mehr als miserable, und das gleiche gilt für die kleinen, wendigen Fortgeschrittenen-Boards. So etwas wie ein «Anfänger»-Modell und ein «Top»-Modell gibt es nicht; keine Deluxe-Version mit einem Haufen teurer Extras, kein neuestes, kostspieliges High-Tech-Material, keine Hitzebehandlung. Manche Bretter eignen sich besser zum Lernen, andere dagegen besser zum Surfen in Tubes oder auf großen Wellen, aber der Unterschied hinsichtlich der Qualität ist recht subtil und subjektiv.

In seinem 1935 erschienenen Buch Hawaiian Surfriders erläutert Tom Blake, wie damals auf Hawaii gesurft wurde: Das knapp drei Meter lange alaia-Brett für den Mann aus dem Volk wurde für die kakala, die heftig brechende, gefährliche Welle benutzt; das fünfeinhalb Meter lange olo-Brett des feinen Herrn für die opuu, eine sanft brechende Welle. Zuerst wurde ein Baum ausgewählt – Hartholz des Brotfruchtbaums für das alaia, poröses Wiliwili für das olo. Dann legte man die Opfergabe, einen roten kumu-Fisch, an den Stamm, fällte den Baum, grub ein Loch in das Wurzelgeflecht, sprach ein Gebet und ließ den Fisch dort liegen. Danach bearbeitete man den Stamm so lange mit einer Steinaxt, bis ein Surfbrett zum Vorschein kam; mit geriffelten Korallen wurden zunächst die Unebenheiten geglättet, dann verlieh ihm eine aus der mole-ki-Wurzel und verbrannten kukui-Nüssen hergestellte Farbe seinen glänzenden Anstrich. Um die Holzporen zu schließen, legte man das Brett in Schlamm, und zum Schluss rieb man es mit Öl ein als letzte Politur. In den USA war das Surfbrett noch bis in die zwanziger Jahre ein 1,80 bis 2,80 m langes Stück massiven Redwoods mit flachem Boden: Man kaufte eine Planke in einem Sägewerk, schlug sie mit einer Axt in Form und schnitzte sie mit einem Messer zurecht. Das Brett war dreieinhalb Zoll dick und ca. 100 Pfund schwer und hatte weder Finne noch Kiel. 1926 kamen Tom Blakes ausgehöhlte Bretter auf den Markt. Blake, in Wisconsin aufgewachsen, war nach der Highschool jahrelang als Hobo auf Frachtzügen durchs Land gefahren und schließlich in Los Angeles hängengeblieben. Dort stellte er – ohne professionelles Training – den Weltrekord im 10-Meilen-Schwimmen im Meer auf und entwickelte schließlich seine revolutionären Bretter: lange, geschlossene kanuartige Boards, wunderschöne Stücke maritimer Architektur, die überwiegend bei Paddelrennen in offenen Gewässern Einsatz fanden. Dann, im Jahr 1934, waren zwei Südkalifornier es leid, auf dem «Arsch zu rutschen», wenn sie schnellere Turns zu fahren versuchten. C. R. Stecyk schreibt im Surfer's Journal, dass die beiden Männer nach einer enttäuschenden Surfsession nach Hause zurückkehrten, das hintere Ende der Planke in V-Form hackten und mit Sandpapier glätteten. Bald darauf verwandelten sie ihre Holzplanken in wunderbar organische, geschwungene Rümpfe mit Kielen, die sie in die Bodenform schnitzten.

Die nächsten Entwicklungssprünge vollzog das Surfbrett, so Stecyk weiter, während des Zweiten Weltkriegs. Die Anstöße hierzu kamen von einem jungen Mann namens Bob Simmons, der für den Militärdienst untauglich war, weil er sich bei einem Fahrradunfall den linken Arm verletzt hatte. Simmons ist bis heute einer der interessantesten Helden des Surfsports: Er war der Bruder eines überaus erfolgreichen Erfinders, hatte ein absolutes Erinnerungsvermögen und wurde, obwohl er die Highschool abgebrochen hatte, zum Studium an der Caltech zugelassen, wo er herausragende akademische Leistungen zeigte. Später arbeitete er zunächst als Mechaniker und dann als Mathematiker für Douglas Aircraft. Während der mageren Kriegsjahre – nur wenige Leute gingen an den Strand, Benzin und Autoreifen waren strikt rationiert – sprang auch Simmons in Pasadena auf Frachtzüge auf und fuhr die Küste entlang, auf der Suche nach Wellen. Wenn die Surfsaison anfing, kündigte er seine Stelle als Mathematiker, wenn sie zu Ende ging, wurde er wieder eingestellt. Schließlich schlachtete er einen 1937er Ford-Pick-up aus, legte eine Matratze und Campingvorräte darauf und mischte etwas Kerosin in das Benzin im Tank, damit es länger reichte. Mittlerweile bauten Surfer Boards aus Balsaholz, doch erst der Mathematiker und ausgebildete Ingenieur Simmons begriff, welch große technische Fortschritte die militärische Forschung während des Krieges bereithielt. Er verwendete einen Bericht der US-Marine zur Planung von Schiffskörpern und übertrug die Forschungsergebnisse zu den Größenverhältnissen – das ideale Verhältnis von Länge zu Breite, das man bei der Konstruktion von Tragflächen herausgefunden hatte – auf Surfbretter. Zudem nahm er die Empfehlung des Berichts sehr ernst, verstärkt zu erforschen, wie sich Schiffskörper mit Fiberglas verstärken ließen. Auch Styropor war während des Krieges verwendet worden für die Kuppeln des Flugzeugradars; 1947 goss Simmons das Styropor in seiner eigenen Werkstatt in eine Gussform und laminierte es mit Fiberglas. Simmons habe die neuen Materialien und Entwürfe von Schiffskörpern mit den militärischen Forschungen zur Dynamik von Wellenbewegungen verknüpft, die ursprünglich helfen sollten, die Landung von Amphibienfahrzeugen zu berechnen, schreibt Stecyk. Das Ergebnis war das, was Simmons als «hydrodynamische Schlichtkörper» bezeichnete, Bretter, die schneller und sehr viel leichter zu beherrschen waren als ihre Vorläufer. 1954 kam er in einer Brandung in Windansea ums Leben, doch seine Boards sind noch heute begehrte Sammlerobjekte.

Bis weit in die sechziger Jahre waren Surfbretter drei bis dreieinhalb Meter lang und vier Zoll dick; zu Beginn der siebziger Jahre betrug die Länge dann etwa 2,20m. Der alte Longboard-Stil ist wunderbar elegant: Auf dem stabilen, schweren Brett bewegen sich die Füße in einem ständigen Spiel auf der gesamten Länge hin und her, treten zurück, um das Tempo zu verringern, vor, um es zu steigern; ein Fuß steht hinten, wenn man einen Turn fährt, dann wieder eilen die Füße so weit nach vorn, dass die Zehen über das vordere Ende hängen. Bei den großen alten Manövern auf dem Longboard war zum einen die klassische Haltung wichtig – statische Eleganz – und zum anderen die lockere, lässige, beiläufige Coolness des Nose-Riding, des Abreitens der Welle, indem man so lässig wie möglich ganz vorne auf dem Brett steht. Der neue Shortboard-Stil ist eher auf schnelle, scharfe Turns ausgerichtet, eine Art aggressiver Gymnastik. Auch die Variationen im Design des Surfbretts werden immer präziser und feiner. Die offensichtlichsten Überlegungen werden dabei zu Länge und Breite angestellt, die sich beide auf das Volumen und damit auf die Schwimmeigenschaften auswirken. Je besser das Board im Wasser gleitet, desto schneller lässt es sich anpaddeln, und je schneller es sich anpaddeln lässt, desto besser erwischt es die Wellen. Bei höherer Geschwindigkeit bewirkt zusätzliche Masse allerdings, dass das Brett auf dem Wasser gleitet, anstatt es zu teilen, was das Steuern erschwert. Weitere Unterschiede liegen in der Form des Seitenrands (wo und in welchem Maße die Brettkante sich wölbt), wo die breiteste Stelle des Bretts zu sein hat und welches Ausmaß die flachste Stelle in der Länge haben soll. Auch in welcher Form das Shape ausläuft, ist entscheidend: Ein spitz zulaufendes Tail hält den Schwerpunkt des Bretts nahe an der Welle und ermöglicht eine hohe, schnelle Fahrt auf einer steilen Welle; ein breites, abgerundetes Tail verleiht dem Brett einen losen, breiten Drehpunkt und ermöglicht skateboardähnliche plötzliche Kehrtwenden. Noch feinere Unterschiede liegen in den Konturen der Brettunterseite – Abweichungen, die sich mit bloßem Auge kaum erkennen lassen. Ein Surfboardbauer kann sehr feine konvexe oder konkave Bereiche formen, die sich über die ganze Länge des Bretts ziehen, den Strom des Wassers kanalisieren und auf diese Weise eine besondere Wirkung erzielen.

Die Beach Lifestyle Industry Group berichtete, dass 1994 in den USA 310 000 Surfboards verkauft wurden. Dennoch beherrscht nicht ein einzelner großer Hersteller den Markt. Zwar verkaufen einige australische und südkalifornische Hersteller ihre Bretter weltweit, doch in erster Linie handelt es sich um eine Art Heimindustrie, wobei es in jeder kleinen Surfer-Stadt ein oder zwei einheimische Surfbrettbauer mit Werkstattverkauf und einer treuen Kundschaft gibt. Also folgte ich Vinces Rat und verabredete mich mit seinem Surfbrettbauer auf der anderen Seite der Stadt im Ocean Grove Surfboards – einer alten Werkstatt an einer schattigen, von kleinen Häusern gesäumten Straße mit Redwoods und duftenden Eukalyptusbäumen. Jack Bence, von Beruf Tischler, der sich schließlich auf das Surfbrettbauen spezialisiert hatte, war ein ortsbekannter Surfer; er surfte an der Lane seit zwanzig Jahren, kannte sich aber auch an der Pipeline, Crajagan und Jeffreys's Bay aus. Vince hatte ihn mir wärmstens empfohlen. Jack hatte sein Haus gekauft, bevor die Immobilienpreise in die Höhe schossen, gelbe Rosen gepflanzt und einen japanischen Steingarten angelegt. Er stand lässig in Jeans und einer alten Wolljacke, die Haare voller Schleifstaub, bei offener Tür in seiner Werkstatt, neben sich eine geöffnete Bierflasche, im Radio eine Sportübertragung. Als ich parkte und in den windstillen Nebel trat, zog er die Schutzmaske vom Gesicht, schüttelte mir die Hand und nahm dann ein Blatt Papier aus einer Schachtel. Er stellte Fragen wie ein Therapeut, der einen neuen Patienten empfängt. «Wie surfst du?»

«Keine Ahnung», antwortete ich. «Ich meine, ich surfe erst seit ein paar Jahren, aber ich möchte sportlicher surfen, weißt du? Nicht mehr so gemütlich.»

«Wo surfst du?» Als er mir direkt ins Gesicht sah, bemerkte ich die tiefen Krähenfüße und die Lachfältchen um den Mund, die aus der Zeit stammten, die er in Sonne und Salzwasser verbracht hatte. Seine Hände sahen überraschend schmal und zart aus.

«Weiter oben im Norden», sagte ich und versuchte, gelangweilt zu klingen, «in der Stadt, wenn die Wellen hoch sind.»

Er notierte sich etwas und schien eine schwierige Entscheidung zu treffen. An der Wand hingen Fotos von schönen Frauen und tiefen, saugenden Tubes.

«Du gehst also nicht raus, wenn's dicke kommt?»

«He?» Was für eine Frage! «Ahhh … nein, ich meine, bei ziemlich großen schon. Doppelt über Kopf hoch, schätz ich mal. Vielleicht noch größer, manchmal.»

Er nickte und notierte sich ein paar Zahlen.

«Was sind deine Ziele beim Surfen?»

«Floaters, Aerials … ich meine, ich bin 27, und klar, das ist alt, aber früher war ich ein ziemlich guter Skateboarder, und dasselbe will ich jetzt in den Wellen machen.»

Er nickte, als wollte er sagen: Ja, mein Sohn, das ist schon richtig. «Also viel Tail Rocker.»

Von einem Gestell hingen drei Surfbretter, die noch nicht mit Fiberglas überzogen waren, jedes mit einem Airbrush-Muster darauf, das trocknete: Flammen, eine Sonne, die hinter Wolken hervorkam, eine nackte Frau mit übertriebenen Proportionen.

«Rocker? Ja, mein jetziges Board bringt mich immer zu parallel zur Welle. Ich brauche etwas, mit dem ich richtig in die Welle reingehen kann. Deshalb …»

«Willst du zusehen, wenn ich anfange?»

Wir gingen durch seinen Laden, vorbei an den Rohlingen – unbearbeitete Bretter, die an den Wänden gestapelt waren – und kamen in einen abgeteilten Raum hinten in der Werkstatt. In dem kleinen, schwarz gestrichenen Raum lag ein 2,20-m-Rohling auf einem Gestell. An den Wänden hingen hüfthohe fluoreszierende Streifen. Mit einer elektrischen Schleifmaschine mit Staubsaugerschlauch brachte Jack den Rohling schnell in eine ausgeprägte, markante Form. In seinen teuren Basketballschuhen ging er auf dem Brett auf und ab wie ein alter Eintänzer. Dann nahm er ein langes Stück Sperrholz in die Hand, eine Schablone, die die Wölbung des Brettrandes festlegen sollte. Er zog einen Strich über das hintere Ende des Bretts, einen anderen an der Spitze, dann schnitt er es mit einer Handsäge aus und ging anschließend wieder über das Brett. Die Feinheiten der Bodenform und der Randwölbung legte er fest, indem er mit Streifen Schmirgelpapier über jeden Teil des Bretts strich, wobei er nie eine Änderung vornahm, die er nicht auf das ganze Brett übertrug. Obwohl er oft Maß nahm, den Linien, Markierungen und Mustern folgte, hielt er auch mehrmals inne, stellte das Brett aufrecht hin und fuhr mit den Händen daran entlang. Dann legte er es erneut auf das Gestell, glättete etwas, behob eine Unregelmäßigkeit. Hin und her vom Gemessenen zum Gefühlten, in einer schnellen, physischen Wiedergabe eines Komplexes aus Theorien und Wünschen, vollzog er in schneller Abfolge Handgriffe, aus denen eine einzigartige, funktionelle Skulptur mit einem Eigenleben entstand.

Schließlich legte er eine Pause ein und sagte, er habe jetzt den groben Umriss fertig und werde die Detailarbeiten später ausführen. Also gingen wir in die Werkstatt zurück, und ich fragte ihn noch einmal nach der Gesamtform des Bretts.

«Ach, ganz normal», sagte er. «Genug Tail Rocker am unteren Ende, damit du wirklich aus dem Wellental hochschießen kannst. Eine ziemlich hochgebogene Spitze ist ganz nett bei späten Drops, außerdem hab ich dir ein gerundetes Tail gemacht, damit sich das Brett ganz locker anfühlt, aber es sollte auch einen weiten Turn ganz gut verkraften. Durch das bisschen Extradicke unter deiner Brust kannst du gut paddeln, aber ich hab das zum Rand hin abgeflacht, damit sich das Brett nicht wie ein Korken anfühlt. Außerdem mache ich im Allgemeinen einen einfachen oder doppelten Hohlschliff in den Boden, der aber kaum zu spüren ist.»

Klang gut.

Als Kunde, der den vollen Preis zahlte – somit also erkennbar kein Insider war –, konnte ich sicher sein, dass die Lieferung meines Bretts auf Jacks Zeitplan ganz unten rangierte. Aber ein Surfer, der nicht surft und nicht arbeitet, hat eine Menge, worüber er nachdenken kann, beispielweise Haie: Natürlich interessiert man sich für sie, studiert die Fotos ihrer klaffenden, blutigen Mäuler, wie sie auf den Decks von Fischerbooten oder Kais liegen. Weiße Haie erscheinen immer wie ein gespenstischer und nackter Fleck aus dreieckigen Zähnen und blassem, dickem Zahnfleisch. Und wenn man einen Weißen Hai einen ganzen Nachmittag lang anstarrt, beispielsweise den ausgestopften im San Francisco Aquarium – weit über vier Meter lang, aber in seinem Kasten irgendwie kleiner wirkend, wird er zu einem Symbol für das eigene Verhältnis zum Schicksal: Man weiß, dass es diese Tiere dort draußen gibt, sogar, dass sie an bestimmten Orten häufiger sind als an anderen, aber trotzdem stehen die eigenen Chancen nicht schlecht. Entweder man hört mit dem Surfen auf (undenkbar), oder man akzeptiert die unter Surfern weit verbreitete Haltung: «Na ja, wenn mich ein Hai fressen will, dann frisst er mich halt.» Klingt ganz vernünftig, obwohl sich sofort die Frage aufdrängt, wie viele andere Lebensformen in Amerika die Möglichkeit einschließen, von einem zweitausend Pfund schweren Raubtier mit rasiermesserscharfen Zähnen verschlungen zu werden. Ein Mitschüler auf der Highschool hatte einmal die Polizei-Fotos eines Surfers aus Monterey gesehen, der fast entzweigebissen worden war – er erzählte mir wiederholt, dass der Großteil des Brustkorbs des Mannes weg war und sich seine inneren Organe über den Tisch im Leichenschauhaus ergossen. Das Brett wurde als erstes angeschwemmt und wies einen klassischen Bissrand auf – wie wenn ein Kind in einen Keks beißt. Der Leichnam war beinahe zwei Wochen in den kalten Strömungen getrieben, bis er gefunden wurde. Jahre später vergnügte sich ein anderer einheimischer Surfer an einem abgelegenen Riff, als er plötzlich das Gefühl hatte, jemand habe ihm einen VW auf den Rücken geworfen – auf einmal war er unter Wasser und blickte in ein Riesenauge. Und in Oregon biss ein Hai einem Surfer, der dasaß und auf eine Welle wartete, von unten ins Brett; das furchtbare Maul stieg aus dem Wasser, dann schlugen die Zähne in das Fiberglas zwischen seinen Beinen. Der Hai vollführte einen Sprung, das Brett zwischen den Zähnen, und zerrte den Surfer an der Leine um seinen Knöchel mit sich; als sich der Hai umdrehte, um anzugreifen, packte der Surfer ihn beim Schwanz – zwei Surfer können das bezeugen –, und so schossen sie zusammen im Kreis herum, bis der Hai losließ.

Es gab in jenem Herbst ganze Wochen, in denen es keinen Sinn hatte, am Point zu surfen. Ich war sogar mehrmals im Regen den Sandweg zum Strand gegangen, als besuchte ich eine Geliebte, die nie richtig in Stimmung war. Aus irgendeinem Grund machten sich Vince und sein Freund Willie Gonzales in jenen Tagen nicht einmal die Mühe, nachzusehen, da sie die dort herrschenden Bedingungen offenbar aus der Ferne vorhersagen konnten. Aber das ist ja eines der Geheimnisse dieses Sports: Man muss bereit sein, flexibel, immer in Form. Einen Tag lang kann ein Sturm wüten und die tollsten vier Stunden hervorbringen, die dein Riff in zehn Jahren erlebt hat, um gleich am nächsten Tag erneut aufzufrischen und die Wellen auseinander zu treiben. Irgendwann nimmt man den Zufall in das Muster des Alltags auf, akzeptiert das flüchtige Wesen von Glückseligkeit und vermeidet alle unnötigen zeitlichen Einschränkungen. Doch selbst wenn ich gute Wellen fand, erschien mir die Kälte als eine Art drückende Pflicht; manchmal wollte ich mich nur im Haus verkriechen und heißen Tee trinken. An einem solchen stürmischen Nachmittag ging ich mit einem Kaffee und einem großen Toll House Cookie (mein absolutes Lieblingsgebäck) zum Santa Cruz Surf Museum am Leuchtturm, um mir das obligatorische zermalmte Surfboard anzusehen. In einem kleinen Raum mit der Atmosphäre eines Tempels zeigte das Museum an den Wänden aufgereihte historische Surfbretter, angefangen von Redwood-Planken bis hin zu den neuesten «guns» für extrem große Wellen. Alte Schwarzweißfotos aus einer Zeit, als alles noch einfacher war, zeigten grinsende Jungen; ein älterer Herr in einem Satin-Sakko, das ihn als Mitglied der Santa Cruz Longboarders Association auswies, bekundete, dass der Winter 41 wunderschön gewesen sei. Und dann sah ich es: Riesige Zähne hatten das Fiberglas wie einen Kartoffelchip zermalmt. Es war der handfeste Beweis, den ein Phantom-Mörder hinterläßt, wie die Fußabdrücke eines Yeti oder die Filmaufnahme eines Gespensts. In einer Glasvitrine waren Fotos von Erik Larsen ausgestellt, wie er als überlebendes Opfer mit stark bandagierten Armen im Bett liegt; handgeschriebene Berichte von Ärzten attestieren die tiefen Fleischwunden und den hohen Blutverlust. Fetzen seines Surfanzugs, die ebenfalls hinter Glas ausgestellt werden, sahen aus, als hätte man sie durch eine Häckselmaschine gelassen. Eine der Bildunterschriften verglich Bisse zur Verteidigung des Reviers mit solchen zur Nahrungsaufnahme und bewiesen, dass Larsen als Abendessen gedacht war. Haie rechnen mit fettem Robbenfleisch, nicht mit Fiberglas und Neopren, fettlosen Muskeln und Knochen, und spucken Surfer daher meistens wieder aus. Doch der Hai, der Larsen erwischt hatte, war zurückgekommen, um sich einen Nachschlag zu holen.

Na, jedenfalls war Ebbe, ein schwerer Sturm zog auf, und ich vertrödelte meine Zeit damit, meine Mantras herunterzubeten – «es ist wahrscheinlicher, von einem betrunkenen Autofahrer getötet oder vom Blitz erschlagen zu werden» –, und fuhr dann Richtung Norden. Auf der ganzen Fahrt entlang der Küste spürte ich die Bedrohung durch die wahre Wildnis, die Angst, in der Nahrungskette jemanden vor mir zu finden. Das hatte der Mensch stets mit aller Kraft vermieden, ebenso wie schutzlos den Elementen ausgesetzt zu sein oder Sex zum alleinigen Zweck der Fortpflanzung. Zu den Klängen eines Reggae aus meinem Kassettenrecorder: «Bringt ihn um, den weißen Mann, bringt ihn um …», stieg ich in meine Surfermontur. Auf dem Weg huschten verschreckte Waldkaninchen unter die abgestorbenen Hemlocktannen, als ich vorbeiging. Ich paddelte in schiefergrauem und enttäuschend flachem Wasser hinaus und erwischte ein kleines Nichts von einer knöchelhohen Welle, dann trieb ich umher und tröstete mich mit dem trüben Wasser; konzentrierte mich auf die Oberfläche, ignorierte, dass meine Beine in dem milchigen Grün versanken; roch den Salzgeruch, beobachtete das granitfarbene Licht über dem Meer weiter draußen. An bewölkten Tagen bilden Sonne und Schatten seltene dramatische Kontraste wie in einem Schwarzweißfilm. Sonnenstrahlen trafen grell auf ein Fleckchen Meer und hoben das Wasser so hell gegen den schwarzen Hintergrund ab, dass es aussah, als fröstele es und wolle dem Licht entgegenspritzen. Vince war nirgends zu sehen, war seit Tagen nicht mehr hier gewesen. Ich dümpelte ein wenig auf und ab, lag da, die Augen auf Höhe des Wasserspiegels. Noch einmal Ishmael: «Das sind Zeiten träumerischer Stille … wenn man die ruhige Schönheit und den Glanz der Haut des Meeres gewahrt, vergisst man das Tigerherz, das darunter schlägt; und man ist nicht gewillt, sich daran zu erinnern, dass die samtige Pfote unbarmherzige Krallen birgt.» Weit draußen trieb Willie Gonzales, mit gekreuzten Armen beobachtete er das Spiel der Schatten und hielt sich an einem Seegrasstrang als Treibanker gegen die Strömung fest. Hinter ihm tauchte leise und unbemerkt der glänzende Kopf einer Robbe auf. Eine Minute lang beobachtete sie Willies Rücken, dann sprang sie aus dem Wasser und platschte laut wieder hinein. Willie fuhr blitzartig auf seinem Brett herum, fuchtelte mit den Armen, trat um sich mit den Füßen und schrie furchtbar hysterisch und mit bleichem Gesicht: «Was war das?! Was zum Teufel war das!?»

Ich konnte es ihm nicht verdenken: Da glaubst du, du könntest einfach nur über den klasse Hühnchen-Burrito nachdenken, den du zu Mittag essen willst, streifst mit dem Bein einen dicken Seegrasstrang und wirst plötzlich wahnsinnig vor Angst, als dir klar wird, dass der Tod durch Verschlingen direkt unter der Oberfläche deines Verstands lauert. Hai-igkeit: Bewusstseinszustand, der sich im Zustand lokaler Befindlichkeit äußert – «Wird'n bisschen hai-ig hier draußen, findste nich?» –; eine Kombination aus Surfspothistorie, Wassertiefe und offenem Meer, dem man ausgesetzt ist, vielleicht noch Surferandrang, Dichte des Nebels und die schlichte Entfernung zum Highway. Ich paddelte zu einer Stelle voller Seegras, um mich vor der Tiefe zu verstecken, dachte an den Typ, der hin und her gezerrt worden war, und setzte mich gerade auf, damit mir keiner den Kopf abriss. Erst kürzlich hatte mein Nachbar an dieser Stelle auf seinem Brett gesessen und gedacht, was für ein Scheiß es wäre, wenn jetzt ein Hai auftauchte. Es waren so wenig Wellen da gewesen, dass er zurückpaddeln musste. Genau in diesem Augenblick bemerkte er, wie in drei Meter Entfernung eine über einen Meter hohe Rückenflosse samt breitem, strudelndem Kielwasser langsam an ihm vorbeizog. Seine Augen hätten das Gesehene zuerst gar nicht verarbeiten können, erzählte er mir, und weiter versucht, eine Robbe oder einen Seelöwen zu erkennen; aber dann hatte sich ein anderer Surfer über die Flosse gebeugt und hektisch genickt mit einem Gesichtsausdruck, der besagte: Jawohl, das da ist genau das, was du denkst! Als sie zum Strand paddelten, drehte sich mein Nachbar einmal um und sah, dass die Flosse langsam folgte; sofort beschloss er, sich nicht noch mal umzuschauen. Sie schrien, alle Surfer sollten sofort an Land gehen, aber ein ganz Hartgesottener blieb skeptisch im Wasser. Ich hatte tatsächlich einmal die Flosse eines Seelöwen für eine Haiflosse gehalten und dabei eine merkwürdige Dynamik entdeckt: Die Jungs machen sich über deine törichte Angst lustig und würden gerne den auslachen, der vor einer Gefahr warnt, tun es dann aber meist doch nicht. Die Gefahr ist einfach zu allgegenwärtig, um jemanden damit aufzuziehen. Fast jeder, egal wie schroff und grimmig, wird wahnsinnig vor Angst beim Gedanken daran, er könne bei vollem Bewusstsein zerfetzt werden und müsse mit ansehen, wie sich sein eigenes Blut im Wasser ausbreitet. Skinny war davon überzeugt, einmal einen Weißen Hai in einer Welle gesehen zu haben: Er war zurück an Land gepaddelt und gegangen, ohne einem der anderen zehn Surfer im Wasser etwas davon zu sagen, um nicht verhöhnt zu werden. Aber immerhin kommen Weiße Haie nirgends häufiger vor als an dieser Küste. Der Teil des Pazifiks vor Monterey, genau südlich von der Stelle, wo ich gerade trieb, bis zu den Farallon Islands vor San Francisco und nach Norden zur Bodega Bay nördlich des Golden Gate wird herrlich schräg «das Rote Dreieck» genannt. Und tatsächlich war ich eines Morgens genau zu der Zeit allein draußen am Point, als mehrere Surfer knapp eine Meile weiter nördlich einen Weißen Hai sichteten.

Beschäftigt man sich erst einmal näher mit dem Thema, birgt es viel Beunruhigendes, und deshalb schlich ich jetzt voll etwas morbider Neugier in der Universitätsbibliothek herum; ein luftiges neues Gebäude aus heimischen Baumaterialien, eine selbstbewusste Hymne an die Redwoods der Umgebung, erfüllt von der rationalen und keimfreien Ruhe allzu vieler Verstandesmenschen, die leise über die dicken Teppichböden der Flure huschen. Hier sind einige Kostproben meiner Lektüre: Haie sind die einzigen auf der Welt bekannten Tiere, die sich im Mutterleib gegenseitig fressen; wenn die noch ungeborenen Haie im Uterus aus dem Ei schlüpfen, fressen sie einander gegenseitig auf, bis das räuberischste Tier übrig bleibt. (Wenn schon der Mutterleib ein Schlachtfeld ist, was ist dann erst das Meer?) Anders als andere Fische, verfügen Haie nicht über Schwimmblasen, die ihnen Auftrieb verleihen, und sinken, sobald sie zu schwimmen aufhören. Das erklärt auch, warum sie gern am Meeresboden lauern, ähnlich einer sieben Meter langen, über 2000 Kilogramm schweren Mine mit 100 Jahren Lebensdauer. Die harte, mit winzigen kleinen Zacken versehene Haut des Hais umhüllt sein biegsames Knorpelskelett, das keinerlei Knochen hat. Kegelförmige Schnauzen, schwarze Augen ohne sichtbare Pupillen, Brustflossen mit schwarzer Spitze. Die gezackten Zähne, die nachwachsen, wenn sie ausgerissen werden, haben bis zu 28 übereinander angeordnete Ersatzzähne (ein Haibiss übt einen Druck von 3000 Kilogramm pro Quadratzentimeter aus). Folgendes wurde schon in Haimägen gefunden: eine Ziege, ein Kater, drei Vögel, ein Regenmantel, weitere Mäntel, ein Nummernschild, Gras, Blechbüchsen, ein Kuhkopf, Schuhe, Strümpfe, Knöpfe, Gürtel, Hennen, Hähne, ein fast komplettes Rentier, sogar ein Mensch ohne Kopf in einer Ritterrüstung. Weiße Haie schwimmen mit offenem Maul und recyceln unterschiedslos alles Organische. Mein empfindsames Wesen, meine liebevolle Familie, meine Liebe zum Leben, mein ordentlicher Pick-up, mein Zimmer voller Bücher, meine Vorliebe für Schokolade am Nachmittag und meine Neigung, die Dinge persönlich zu nehmen – alles bedeutungslos, verglichen mit meinem Status als Proteinlieferant.

Haie sind Überbleibsel aus der Zeit, bevor es Säugetiere gab, Überlebende aus der Ära der Dinosaurier, und sie entwickelten sich die ganze Zeit über im Meer, nie in Süßwasser. Sie traten erstmals vor 350 Millionen Jahren auf, stammten von 20 Meter langen, 50 Tonnen schweren prähistorischen Monstern ab, zu allem entschlossene Raubtiere. Es gibt ein Foto, auf dem eine Gruppe Wissenschaftler bequem in einem versteinerten Gebiss steht. Der Weiße Hai ist zu einer Geschwindigkeit von 40 bis 70 Knoten imstande – errechnet mittels Ultraschall. Angeblich wurde im Mittelmeer ein Taucher mit so großer Wucht getroffen, dass er explodierte. Ein anderer erwähnt, wie ein Weißer Hai einmal vollständig aus dem Wasser sprang, um eine Robbe von einem Felsen zu zerren, und schreibt, dass «die Augenzeugen der meisten Attacken weder Seehund noch Hai sehen, sondern nur eine plötzliche Explosion, fünf Meter hoch spritzende Gischt und einen Blutfilm auf der Wasseroberfläche». Nie sieht man den Weißen Hai, bevor er zuschlägt, nie eine heranschießende Flosse: Mit weit aufgerissenem Maul taucht er aus dem Hinterhalt auf und reißt 50 Pfund schwere Fleischbrocken aus seiner Beute. Der Tod trifft das Opfer wirklich wie ein Blitzschlag. In der dreidimensionalen Weite des Meeres ist die Welt des Surfers eher zweidimensional, ganz Oberfläche und Küste, ohne Tiefe. Der List des Hais kommen die mit Gallert gefüllten, unter der Haut verlaufenden Kanäle am Kopf und an den Seiten zu Hilfe; diese sind gesäumt von Neuromasten, den Lorenzini'schen Ampullen, einer Art Beuteradar, das schwache elektromagnetische Felder auffängt. (Wenn ein Surfer auf eine Welle wartet, pulsiert seine Lebenskraft gewissermaßen wie ein Funkfeuer.) Die Augen des Hais – mit Sehnerven dick wie Taue – können Details nur schwer erkennen und sind nur darauf angelegt, die Beute vom Hintergrund zu trennen. Der Weiße Hai, der zu den effektivsten Raubtieren der Welt gehört, hat eine Tötungsquote von über 90 Prozent, während Bussarde einen ganzen Tag über kein Jagdglück haben können.

Ich ließ gerade eine Seegrasknolle aufplatzen, da steckte eine Robbe ihren Kopf aus dem Wasser, sah mich an und bemühte sich, meine Gegenwart zu verarbeiten. Vielleicht wunderte sie sich, warum ich so blöd gewesen war, in dieser Gegend das Gleiche anzuziehen wie sie.

«Gefällt mir nicht, diese Seehunde hier», sagte ein Surfer in der Nähe.

Jetzt wurde ich nervös, hatte ich Seehunde doch immer für ein gutes Zeichen gehalten.

«Bin nur etwas paranoid», antwortete der Surfer, als ich ihn fragte, warum, «ich bin nämlich Erik Larsen.» Fast klang er so, als wolle er sich entschuldigen.

Ich sah ihn genauer an und bemerkte die Ähnlichkeit mit dem bandagierten Mann auf den Fotos. Er rollte einen Ärmel seines Surfanzugs hoch und zeigte mir die tiefen Narben auf dem Unterarm; ich verpaßte eine kleine Welle – und dann musste ich ihn einfach fragen.

«War ziemlich neblig da draußen», sagte er und erzählte mir die Geschichte, die er schon so oft erzählt hatte. «Mein Bruder war gerade ins Wasser gegangen. Plötzlich hatte ich das merkwürdige Gefühl, dass da ein großes Tier unter mir war, und hoffte inständig, es sei ein Seelöwe. Dann sah ich die Zähne, die direkt auf mich zukamen.»

Willie ließ sich herantreiben, um zuzuhören.

«Und plötzlich steckte mein ganzes Bein im Maul von dem Viech», sagte Larsen und hing auf seinem Brett wie ein erschöpfter Kriegsveteran. «Es biss meinen Oberschenkel durch samt Arterie.» Er blickte übers Meer auf drei heranrollende Wellen; die Wolken nach wie vor ein graues Kontinuum. Wird die Oberschenkelarterie durchtrennt, verblutet man, erklärte Willie.

«Ja, wenn man sie aufschlitzt», antwortete Larsen, «aber man kann sie mit einem Gummiband vergleichen: Wenn man sie glatt durchtrennt wie bei mir, schnellt sie zurück und schließt sich ein wenig.»

Ein Unterschied, den ich mir nicht gerne vor Augen führte. Willie blickte zum Strand.

Larsen erzählte, wie der Hai ihn losließ, um ihn herumschwamm und ihn erneut attackierte, diesmal seinen Kopf. «Ich habe die Arme hochgerissen», sagte er und kreuzte sie vor dem Kopf, «und er hat alle Adduktorensehnen und die Arterie meines rechten Oberarms durchgebissen – die richtig dicke unter dem Bizeps. Meine Arme hingen schlaff in seinem Maul. Ich weiß noch genau, wie ich dachte, Mensch, ist da viel Platz drin, da passe ich ja ganz rein. Aber dann habe ich einen Arm herausgezogen und dem Viech eins aufs Auge gegeben.»

Er holte tief Luft. Ich war wie betäubt, konnte nicht abwarten – und dann?

«Hat er losgelassen. Und ich bin auf mein Brett gekrabbelt. Kein Scheiß. Und das Wunder ist – ich konnte sogar paddeln, ich hatte ja noch die Sehnen zum Strecken, auch wenn er die zum Beugen durchgebissen hatte. Ich habe dann tatsächlich noch eine Welle erwischt», er lachte kurz auf, «na ja, eine kleine. Bin auf dem Bauch an den Strand gesurft, und da kam eine Frau mit ihrem Kind, und ich erklärte ihnen, wie man einen Druckverband anlegt. Als der Helikopter eintraf, hatte ich ein Drittel meines Bluts verloren.»

Bedrücktes Schweigen: Was sollte man sagen? Larsen glitt eine höhere Welle von rechts hinunter, surfte ganz lässig, tat, was die Welle wollte. Ich trieb eine Weile allein im Wasser, kriegte eine zum Land – irgendwie kleine Wellen, nicht wirklich interessant.

Fast eine Woche lang wütete der Sturm an der Küste im Norden, ließ die Flüsse zu schokoladebraunen Sturzbächen voll entwurzelter Bäume, faulender Matratzen und den unsichtbaren Gefahren einer Wasserverseuchung anschwellen. Was in Ordnung war, denn ich brauchte Zeit, um den Weißen Hai, den alten Carcharodon charcharias mit der großen Flosse, da draußen zu vergessen. Selbst im Regen ging ich jeden Morgen zum Kliff neben meinem Haus, um mir alles anzusehen, und bemerkte gewöhnlich, dass Vince dasselbe tat. Wie sich herausstellte, wohnte er im selben Viertel wie ich und fuhr täglich im Morgengrauen mit dem Rad zur Steilküste. Dort positionierte er sich mit einem Fernglas, während seine Frau noch schlief, verglich die Farbe des Wassers weiter draußen in der Bucht mit der Richtung von Wind und Wellen, den Gezeitenwechsel mit seinem Stundenplan, und suchte nach einer Lösung. Ich unternahm jetzt meine Spaziergänge zur Klippe um dieselbe Zeit wie er und hielt häufig aus meinem Schlafzimmerfenster nach Vince Ausschau; sah ich ihn vorbeiradeln, streifte ich mir mein Sweatshirt mit Kapuze über, schnappte die Thermosflasche mit dem nervenberuhigenden Kräutertee und lief los, um mit ihm zu plaudern. Er hatte geradezu enzyklopädische Kenntnisse über die Surfspots im gesamten County, hatte 30 Jahre lang Erfahrungen zu mehr als 100 Brandungen unter allen erdenklichen Wetterbedingungen gesammelt. Außerdem hasste er Menschenmengen und tat alles in seiner Macht Stehende, um nicht im Gedränge surfen zu müssen. Oft wünschte er mir viel Glück für meine Suche an diesem Tag und führ dann still lächelnd wieder los, offenbar zu einem versteckten Surfspot, den er mir noch nicht verraten wollte.

Das geschah beispielsweise am zweiten Tag des Sturms, also fuhr ich allein zum Point, was Besseres fiel mir nicht ein. Die Sonne stand niedrig, der Himmel war durchsetzt von schwarzen und weißen Wolken, der Horizont im Norden pechschwarz. Als ich langsamer fuhr, um zu parken, sah ich Willie aus seinem alten El Camino springen – gerade rechtzeitig, um einen halbblinden kleinen Hund vor einem Gemüselaster zu retten. Wir kannten den Hund, er gehörte hierher, und nahmen ihn mit den durchweichten Weg hinunter zwischen den triefenden, abgestorbenen Hemlocktannen und dem Sauerklee, der in leeren Ackerfurchen sproß. Willie und ich hatten bislang noch nicht viel miteinander gesprochen, hatten uns im Wasser immer nur mit «Hallo» begrüßt. Seine Gesten und seine Art zu sprechen hatten etwas Kultiviertes, und Surferjargon benutzte er mit spielerischer Freude. Ein gut betuchter Freund, so erzählte er mir im Gehen, habe kürzlich einen Service namens Wave Fax abonniert, der ihm tägliche Analysen jedes nur erdenklichen weltweiten Sturmtiefs zuschickte, das uns unter Umständen eine Brandung bringen konnte; das heutige Fax wies offenbar auf eine große nordwestliche Dünung in den nächsten Tagen hin, auf einen Sturm, der über British Columbia festsaß. Ich hatte fast täglich am Point gesurft – sogar als es fast nicht möglich war –, nur aus Freude daran, dort zu sein. Abgesehen von Vince, traf ich dort niemanden häufiger als Willie. Mittelgroß, sehr dünn und gelenkig, wie er war, mit seinen hohen Wangenknochen, der kräftigen Kinnpartie und den dunklen Augen, kam mir Willie immer leicht amüsiert vor; seine Krähenfüße deuteten eher auf ein Leben nachdenklicher Belustigung als auf andauerndes Leid hin. Er hatte etwas Kluges und zugleich Leutseliges an sich, blieb aber dennoch recht distanziert, sodass man ihm keine aufdringlichen Fragen stellte. Zwar wirkte er mit seiner schicken Windjacke von Patagonia, der Ray-Ban-Sonnenbrille, den Jeans und den gelben Gummistiefeln eher wie ein typischer Yuppie-Surfer, wohnte aber offenbar ziemlich in der Nähe, in einer gemieteten Einzimmerwohnung auf einer Farm oben in den Hügeln. Auf dem Weg, auf dem wir gingen, sprossen Grashalme und Senfpflanzen; ein paar Schwalben kamen zwitschernd im Sturzflug aus dem Himmel gesaust – wichtig ist letztlich, die Umgebung wahrzunehmen. Nicht etwa, dass es sich um eine makellos unberührte Natur handelte – nicht einmal der wilde Senf kann für sich in Anspruch nehmen, wirklich hier heimisch zu sein –, trotzdem klammerte ich mich an die Beharrlichkeit der Transzendentalisten, derzufolge das goldene Zeitalter jetzt anbrechen und die Welt für ihre Zuschauer da sein müsse. Andernfalls, na… Sie wissen schon. So mussten Reihen des Chaos, wie der kleine grüne Streifen oben am Feldweg, die Streifen unkultivierter Erde zwischen den Feldern und entlang der Eisenbahngleise, genug Wandel verkünden, um übergebührliche Aufmerksamkeit zu verdienen.

Von der Klippe aus sahen wir zwanzig Delphine, die in zwei Schwärmen zwischen den Brechern schwammen – unzählige scharfe kleine schwarze Flossen, die in hohem Bogen aus dem Wasser sprangen und wieder eintauchten. In dem Blau gen Westen schoss eine Gischtfontäne in die Höhe, winzig aus dieser Entfernung. Während wir uns umzogen, brach über der gläsernen, sturmgepeitschten See klares Licht durch die Wolken. Obwohl der Wind nicht blies, war seine Wirkung allgegenwärtig; die Wellen des arktischen Tiefdruckgebiets hatten sich noch nicht aufgebaut; die See spiegelte noch das Chaos des Unwetters wider ohne die ordnende Zugkraft von Oberflächenspannung, Schwerkraft und Zeit. Die Wellen wirkten organisch verzerrt, wie entfesselt von den Anforderungen des Riffs und der Dünung. Kalte, über drei Meter hohe Wellengipfel rollten an die Küste und brachen sich in unvorhersehbarer Weise. Sie ermöglichten lange, gewagte Drops mit weit hinten aufgesetztem Fuß. Damit die Brettspitze oben blieb, riss ich hoch oben rum, glitt schräg vor der brechenden Welle über eine schaumbedeckte Wasseroberfläche, beugte die Knie über kleinen Unebenheiten. Es war schon merkwürdig, die pastorale Ruhe zu verlassen, um sich einer dröhnenden, unirdischen Wildnis auszusetzen und um dann, in der Stille zwischen den Wellensets, wieder hinauszupaddeln; das Brett auf und ab, über und durch die glitzernden Gewässer, die Augen knapp über dem Wasser, im Hin und Her der sanft abrollenden Wellen und einzelnen kleinen Wellenkämme. Der Horizont tauchte auf, verschwand, neigte sich, sank; der granitfarbene Pazifik und ein dräuender Himmel, grau und reglos. Weit draußen trieben vier schwarze Gestalten mit schwarzen Kapuzen, gebeugte Bettelmönche, die in dem stetigen Regen noch vor der hellgrauen Weite kauerten.

Ein kleiner Blondschopf namens Steve, auch er sozusagen Stammgast, erzählte laut zwischen den einzelnen Sets, dass er arbeitslos und ganz verzweifelt sei und vielleicht zurück nach New York zog. Er hatte einen guten Job beim Ölbohren für einen besseren in einer Parfümfabrik gekündigt. Wie sich herausstellte, vertrug er den Duft nicht und war eine Woche lang krank, und dann war es zu spät, um zum Ölbohren zurückzukehren. Jetzt stellten die Firmen überhaupt niemanden mehr ein; seit einem Monat suchte er schon auf Baustellen nach Arbeit. Seine Frau hatte die Geduld verloren und war es leid, ihn zu unterstützen. Hauptsächlich sprach er mit Willie, obwohl die beiden einander nie offiziell vorgestellt worden waren. Die Bucht war für Steve gewissermaßen so etwas wie eine Eckkneipe und Willie unser aller Barkeeper. Steve wirkte ziemlich verstört. Er hatte irgendwie eigentlich auch mit dem Surfen aufgehört und erzählte, dass er nicht mehr wisse, was er noch tun sollte. Das Amt für Veteranen würde seinen Lohn bezuschussen, aber den Arbeitgebern war das egal. Willies Mitgefühl wirkte echt, als habe er genug Zeit verloren, um die Siege der letzten Zeit nicht persönlich zu nehmen.

Wieder hingen Gewitterwolken über uns, ein Regenschauer kam herunter: dicke, sichtbare Tropfen, die einzeln ins Wasser platschten und die ölige Oberfläche kräuselten und wieder abklangen; dann goss es in Strömen, und das Wasser wurde zu einem vibrierenden Gesumme und Gebrumme, die ganze Oberfläche zitterte, bebte lebendig, jetzt eine organische Verbindung von fallendem und bereits gefallenem Wasser. Das Meer spiegelte nicht mehr, vielmehr schien der Regen es niederzuhalten, es in eine Form pressen zu wollen. Ich bibberte in meinem Surfanzug – dieser durchlässigen zweiten Haut zwischen mir und dem Salzwasser –, hockte mich hin und wartete; blickte über diese Wüste aus wogenden, verschwommenen grünen Wasserdünen und sah plötzlich einen ungeheuren Wachtposten, einen massigen, stumpfen schwarzen Kopf mitten in einem Wellenberg. Das große, dunkle Gesicht eines Seelöwen jagte mir einen solchen Schrecken ein, dass ich fast vom Brett gefallen wäre; es war ein weit über zwei Meter langer, 600 Pfund schweres Exemplar mit Mähne, der allein in dem Küstengewässer schwamm, zwischen Paarung und Haarwechsel, weit nördlich von der Kolonie, in der sich die Weibchen und Jungtiere aufhielten, und der nach Futter suchte: Tintenfisch, Heilbutt. Die Bewohner der Aleuten, hatte ich einmal gelesen, hätten viel Verwendung für diese Tiere, die Häute wurden zu Bootsplanen und wasserdichter Kleidung verarbeitet, das Fleisch diente als Nahrungsmittel, das Fett als Brennstoff. Seelöwen sollen verspielt sein, zum Vergnügen die eigenen Luftblasen jagen, und sie sind die klassischen Zirkustiere; balancieren Weingläser auf der Nase, gehen Stufen hinauf, beklatschten ihre eigenen Darbietungen. Dieser aber war derart jäh vor mir aufgetaucht und so über alle Maßen groß, dass er den unsichtbaren Raum in der Tiefe vor Augen führte, diese Welt riesiger Kreaturen, die ganz nah und doch unsichtbar waren. Dann richtete er seine schwarzen, pupillenlosen Augen lange auf meine Sicherheitsleuchte und tauchte.

Ein jäher, heftiger Wind blies die Nebelfäden wirbelnd von den Wellenrücken wie Schneewehen in einem Blizzard. Ich fror, der Kopf tat mir weh, und meine Schulter schmerzte vor Überanstrengung, als ich eine Welle anpaddelte, spritzte mir die Gischt wie aus einem Feuerwehrschlauch ins Gesicht, und der Wellenritt war wie eine Querfeldeinfahrt über Stock und Stein. Dann ließ der Regen nach, und die Klippen wurden wieder sichtbar. Der Farmer hatte den Rosenkohl untergepflügt, und der – nach diesen windigen Tagen blassere – Boden war nun wieder durchweicht und schwarz. Während der Verschnaufpause erzählte ein zurückhaltender, rothaariger Surfer von seiner Rucksacktour an Kaliforniens Lost Coast, oben an der Grenze nach Oregon. Sie seien auf vier Meter hohen Wellen geritten, rundherum umgeben von Seehunden und gelegentlich sogar von einem Mörderwal. Der Surfer kam aus Malibu und war erst kürzlich in diese Gegend gezogen, um mal richtig zünftig zu surfen, wollte sich im Laufe der Jahre einfach weiter nach Norden treiben lassen, wollte Raum für seine Ellbogen finden. Er studierte, und die Miete sparte er, weil er in einem Zelt in einem Waldstück hinter dem Unigelände hauste; zusammen mit seiner burschikosen Freundin, einer hübschen, schlaksigen Surferin und Skateboarderin, mit der er die letzten zwei Jahre zusammen ohne Unterbrechung im Wald gelebt hatte. Auch die Regenzeit über, und zwar ohne Probleme.

Und da war er wieder, dieser absurd große Seelöwe. Ein Schiffskapitän des 19. Jahrhunderts schilderte, auf welche Weise man in der Zeit des Goldrauschs an dieser Küste Seelöwen gejagt hatte – wie die Matrosen der Herde am Strand den Zugang zum Wasser abschnitten, herumschrien und mit den Waffen fuchtelten, um Panik auszulösen. Einer der Bullen wehrte sich und bekam eine Musketenkugel in den Kopf, eine Lanze ins Maul. Dann griffen die Seeleute an. In ihrer Panik kletterten die Seelöwen übereinander, während sie abgeschlachtet wurden und ihr bekanntermaßen reichlich vorhandenes Blut vergossen (durch die exzessive Menge sind sie imstande, lange zu tauchen, ohne Luft zu holen). Anschließend zogen die Seeleute den Tieren auf dem blutgetränkten Strand die Haut ab, schälten die dicke Speckschicht ab und schleppten sie zum Schiff, wo sie gekocht wurde. Und da tauchte dieser besondere Seelöwe mit seinem langen, stromlinienförmigen Rücken wieder unter in die schäumende, tosende See. Ein wahrhaft amphibisches Leben, das die Seelöwen da führten: Meist meiden sie die offene See, liegen am steilen, felsigen Ufer, sind imstande, aus den Wellen heraus auf hohe Felsvorsprünge zu springen und das zurückströmende Wasser zu nutzen, um wieder ins Meer zu kommen. Mit ihren schlampigen Lebensgewohnheiten sind sie zudem noch nachlässig: Sie teilen sich ihre Paarungsplätze mit Kormoranen, sogar wenn Raben und Füchse sich die Essensreste holen. Es heißt, Möwen könnten sich an den Stränden frei zwischen Seelöwen bewegen, sogar Exkremente aus dem After eines Jungtieres picken oder im Schwarm vom Himmel herabstoßen und sich um eine frische Nachgeburt streiten.

Trotzdem waren Größe und Schnelligkeit des Seelöwen, den ich heute gesehen hatte, beunruhigend; eine schwarze Gestalt, die durch das schaumige Grün einer Welle schoss, ehe sie brach. Einen kurzen Moment lang glitt die geisterhafte Form noch ins Innere der Welle, dann verschwand sie. Vielleicht hatte der Seelöwe unser Spiel bemerkt, es als sein eigenes erkannt; wie man weiß, bodysurfen Seelöwen in Gruppen und kehren immer wieder zu einem guten Surfspot zurück. Selbst ihr Liebesleben kommt einem zugleich vertraut und fremdartig vor, denn die territorialen Bullen kämpfen um die guten Paarungsplätze am Wasser, breiten sich zwischen den Felsen aus, die von Wellen überspült und so von Unrat gereinigt werden. Die Weibchen sind den Männchen zahlenmäßig weit überlegen, drängen sich um die Bullen und sind ausgesprochen gesellig. Und bei allem Wegbeißen und Imponiergehabe der Bullen ignorieren die Weibchen – die sich ohnehin selbst ihren Sexualpartner aussuchen – deren Territorien und bewegen sich frei am Strand. Wenn ein paar Wochen nach der Niederkunft die Vulva erneut anschwillt und sich rötet, legt sich das Weibchen zu dem von ihm auserwählten Bullen und windet und reckt sich, um ihn anzusehen, oder rutscht ihm über den Buckel, als wolle es ihn besteigen. Daraufhin brüllt er ein wenig, reibt seine Barthaare am Körper des Weibchens und beißt es zärtlich; das Weibchen wölbt dann den Rücken und spreizt die Hinterflossen. Mal dauert der Geschlechtsakt ein paar Minuten, mal eine Stunde. Genau wie der Otter besteigt der Seelöwenbulle das Weibchen, steigt wieder ab, schläft ein wenig und macht sich wieder heran. Hat das Weibchen genug, steht es auf, beißt ihn heftig, macht sich los und watschelt davon, während er ins Leere stößt.

Als die Sonne unterging, zog auch das Gewitter ab, und es wurde rasch dunkel in der Bucht. Willie und ich kamen gleichzeitig an Land und streiften noch am Meeressaum unsere Surfanzüge ab. Die Wellen umspülten fast unsere Füße, und plötzlich war der Himmel magentafarben und violett, mit riesigen Wolkenblöcken, die sich schwarz und flach am Horizont abzeichneten. Von den Klippen herab wehte der süße Duft kleiner gelber Blumen, und ich sagte, wie schön ich dieses Leben fand und wie schlimm es wäre, all das aufgeben zu müssen. Willie wusste genau, was ich meinte, und entgegnete, er habe sein Leben lang gearbeitet, um sich diese Freiheit zu bewahren. Steve kam als Letzter, genau bei Einbruch der Dunkelheit, aus dem Wasser, noch immer etwas einsam und verloren; und Willie fiel die halbblinde Hündin ein, die wir am Highway gefunden hatten, und fragte, ob sie ihm gehöre. Ja, es war seine, und Steve wurde blass, als er hörte, wo sie gewesen war, bedankte sich ein paar Mal zu oft und sagte, er wolle sie einfach jetzt nicht verlieren, das sei alles.

 

Als 1883 in Indonesien der Krakatau ausbrach und eine Detonation auslöste, die noch 5000 Kilometer entfernt auf Madagaskar zu hören war, zerstörte eine verheerende, zwischen 20 und 40 Meter hohe Flutwelle – ein Tsunami – Hunderte Städte und tötete über 36 000 Menschen. Seismische Erschütterungen des Meeresbodens können die gleichen Auswirkungen haben: 1960 löste ein Erdbeben von der Stärke 8,5 auf der Richterskala in Chile einen Tsunami aus, der quer über den Pazifik lief und die Stadt Hilo auf Hawaii dem Erdboden gleichmachte. Dann gibt es da natürlich noch die Monsterwellen, gelegentlich vorkommende, über alle Maßen große Wogen. Sie werden von den zusammenströmenden Dünungen geformt, die einen davon abhalten sollten, an ansonsten windstillen Tagen auf vorgestreckten Landzungen spazieren zu gehen. Ein Beispiel ist die 40 Meter hohe Welle, auf die am 7. Februar 1933 die USS Ramapo im Nordpazifik traf; ein Seemann besaß offenbar die Kaltblütigkeit, die Wellenhöhe zu messen, indem er von einem hohen Punkt mittschiffs aus triangulierte. Doch so unterhaltsam solche Geschichten auch sein mögen, Surfer leben mit viel prosaischeren Phänomenen: Windwellen, sogar Gezeiten, die eigentlich ebenfalls Wellen vom Umfang der halben Erde und einen halben Tag voneinander entfernt sind. Die Flut ist folglich ein weltweiter Wellengipfel, die Ebbe dagegen ein globales Wellental. Und man surft auf den abklingenden Impulsen ferner Stürme: Sonnenwärme und globale Winde erzeugen Hoch- und Tiefdrucksysteme, stürmische und windstille Gebiete; ein Hochdruckgebiet über Oregon, ein Tiefdruckgebiet vor Anchorage. Wind aus dem wärmeren Hoch strömt in das kältere Tief und holt sich Luft aus einem Abschnitt über dem Meer, wo dann die Wellen entstehen: Die Reibungsenergie des Windes kräuselt zuerst das Wasser, drückt dann die kleinen Wellen weiter vor und produziert eine Kabbelsee. Durch das Voranschieben der unebenen Wasseroberfläche entsteht ein beständiger Seegang, der die Sturmregion verlässt und übers offene Meer zieht, wobei er sich festigt, verdichtet und zu klaren Dünungslinien, Wellenkolonnen, verbindet. In diesen Kolonnen weicht die vordere Welle ständig der hinter ihr liegenden, hinter denen immer neue auftauchen – ein Kreislauf von Formen, die eine Makrokräuselung erzeugen, der sich drehende Teil einer Sinuskurve.

So hat die Dünung, die an die Küste rollt, sauber und weit entfernt vom Sturm, Hunderte, ja Tausende Meilen ruhigen Wassers zurückgelegt. Treffen die Wellen auf flacheres Wasser, verlangsamen sie sich und passen sich der Untiefe an. Dadurch wird die Wellenenergie winklig vom Boden abgelenkt und gestaut, bis die Welle bricht. Dann treibt man dahin und wartet auf einen Impuls der Sonne: Die Form der Welle, die man reitet, ist Ausdruck des fernen Sturms, der Form des Meeresbodens, über den man gerade treibt, der präzisen Richtung, aus der eine Dünung auf den Meeresboden trifft, sowie der örtlichen Winde. Der Druck von Landwind auf die Wellenrücken lässt diese zu schnell brechen; ablandiger Wind auf ihre Vorderseite macht sie schön steil und schnell. Und der Meeresboden, den man selten sieht, aber genau kennt: Form und Schaum sich brechender Wellen geben dem Boden in einer Art flüssiger Modellierkunst sein Relief. Ein Surfer lernt die Topographie des Meeresbodens durch den Ausdruck in den Wellen kennen; durch die Löcher, in denen die Wellen verschwinden, und durch die Riffe, über denen sie sich auftürmen. Während der Regenfälle der vorausgegangenen Wochen hatten sich fast ständig am äußeren Ende der Klippe neben meinem Haus Zuschauer versammelt, um die Mündung des San Lorenzo River zu beobachten. Jeden Abend standen schaulustige Kerle am Holzgeländer und sahen zu, wie tonnenweise Schlamm in die Bucht geschwemmt wurde und durch die braunen Brecher schwappte. Die Mützen im strömenden Regen tief ins Gesicht gezogen, standen sie schwatzend da und spekulierten darüber, ob dies das Jahr war, auf das alle gewartet hatten, das Jahr, in dem die Sandbank vor der Flussmündung endlich ihre Form wiedergewann, die sie im legendären Winter 1983 gehabt hatte. In dem Jahr hatten ähnliche, sehr nasse pazifische Stürme, «Ananas-Express» genannt, so viel Schlamm und Sand aus den Bergen in genau der richtigen Form angespült, dass sich auf einer Länge von fast hundert Metern eine makellos hohle Welle brach. Seither waren die Bedingungen zwar nicht entfernt wieder so gewesen, aber jedes Jahr – zumal in einem so nassen wie diesem – keimte wieder Hoffnung auf.

Und doch fragt man sich, was dieses gewisse Etwas einer Welle ausmacht, sucht man nach einem Hinweis auf die «Quelle», auf ein fundamentales Medium der Energieübertragung, das auf die im Wesentlichen energetische Natur der Materie hindeutet. Also rief ich einen guten Freund und Physiker an.

«Unsere Daten sagen, dass wir's geschafft haben», erklärte er, als ich ihn nach dem Experiment für seine Doktorarbeit fragte.

Was geschafft?

«Eine Uhr gebaut, die rückwärts läuft, wenn sich die Zeit im Universum umkehrt.» Er klangt gereizt. «Unsere Daten sagen, wir haben's geschafft.»

Was – die Zeit umgekehrt oder die Uhr gebaut?

«Die Uhr gebaut, aber das Ganze kann nicht stimmen, denn sonst müsste ich den Nobelpreis bekommen.»

Ich sah seine ernsten blauen Augen mit der Hornbrille und die feinen, etwas jungenhaften Gesichtszüge buchstäblich vor mir. Dann wechselte ich das Thema, stellte die große Frage: Was zum Teufel sind eigentlich Wellen?

Er überlegte einen Augenblick – ein beredtes Schweigen in der Leitung zwischen München und Kalifornien sagte dann: «Ob Strahlungs-, Licht- oder Schallwellen, alle sind verlängerte sinusähnliche Schwingungen. Soll ich dir das wirklich erklären? Hol dir einen Stift. Die Frequenz ist die Entfernung zwischen den Wellengipfeln. Der Wellengipfel der Sinus und das Wellental der Kosinus; stell dir die Amplitude als die Wellenhöhe vor, die im Prinzip die senkrechte Entfernung vom Wellental zum Wellengipfel ist. Die Wellenlänge ist die horizontale Distanz vom Wellental bis zur Wellenspitze und die Zeit, die ein Wellenkamm braucht, um eine Wellenlänge zurückzulegen. Wenn du also dort draußen sitzt, bewegt sich zwar eine Welle auf dich zu, das Wasser aber nicht; du bewegst dich also wahrscheinlich in einer Art Kreis, wenn die betreffende Welle unter dir hindurchläuft.»

Aber sie hat doch Energie?

«Sicher. Dasselbe wie bei Schallwellen. Energie ist Energie. Und, äh … ich glaube, ein Kubikzentimeter Wasser hat bei Zimmertemperatur ungefähr vierhundert Joule Energie, was … bedeutet, dass die Energiemenge eines Quantums einer Wasserwelle ungefähr …» – er hielt inne, ich hörte Tippgeräusche –, «null Komma, oh, etwa 33 Nullen 6 Joule beträgt. Aber eine Welle hat jede Menge Quanten. Joule pro Sekunde ist gleich Energie, richtig? Wie die Watt in einer Glühbirne. Folglich haben Wellen Energie.»

Na klar. Ich bin in naturwissenschaftlichen Dingen ein wenig unsicher; mein Freund und Physiker bringt mich bei solchen Gesprächen immer wieder in Verlegenheit, und ich klammere mich an meinen Glauben an die große Vielfalt menschlicher Intelligenz.

«Wie auch immer», sagte er, «du musst ein paar Dinge über das Wassermolekül verstehen – es ist unglaublich hart und will sich unter keinen Umständen beugen oder strecken. Stell dir Wasser also folgendermaßen vor. Nimm deinen Stift.» Er ließ mich eine kleine Skizze zeichnen, ein Zeichen nach dem anderen:

 

«Und weil die Verbindung der Moleküle wirklich fest ist», sagte er, «stapeln sie sich gern endlos übereinander – das ist so eine Art ausgewachsener Gruppensex für den größten Teil der Weltmeere. Diese Stapel bewegen sich auf zweierlei Art: erstens als Kollektiv und zweitens einzeln. Anders ausgedrückt: die Moleküle können entweder aufeinander prallen oder einfach allein vibrieren.» Er hustete in die Leitung, beklagte sich über das schlechte Wetter in Nordeuropa. «Nehmen wir an, das Meer ist gefroren», sagte er, «steinhart und mit nichts, was als Welle durchgehen würde. Man schlägt mit einem Hammer drauf, und es klirrt ein bisschen, oder? Einige Geräusche werden durch Eis weitergeleitet, im Prinzip die wirklich hohen Frequenzen. Schmilzt das Eis, lockert sich die Bindung der Moleküle wieder. Jetzt, wo sie weiter voneinander entfernt sind, dauert es länger, bis sie aufeinander prallen, was eine niedrigere Klangfrequenz ergibt – das sind die großen, ausgewachsenen Wellen. Das, worauf du surfst», sagte er und änderte plötzlich seinen Tonfall, «ist also eine riesige kollektive Schwingung gestapelter Wassermoleküle … Ist es das, was du wissen wolltest?»

Wahrscheinlich. Und so plauderten wir noch kurz über die North America Wall, die grandiose fünftägige Klettertour, die er im Vormonat am El Capitan im Yosemite-Nationalpark unternommen hatte. Seine Hände müssten noch abheilen, sagte er, er könne noch immer keine richtige Faust ballen. Dann beklagte er noch, dass er zunehmend befürchte, doch kein echtes Physikgenie zu sein; normalerweise hätten Physiker in seinem Alter ihren Zenit erreicht, irgendein fundamentales Problem gelöst oder bestimmte Begriffe neu definiert. Nach dem Telefonat rief mich ein Freund an und lud mich zu seiner Hochzeit oben in der Stadt ein. Dann ging ich aus dem Haus. Um die Interpretation des Physikers zu überprüfen, schlenderte ich zum Strand hinunter, wollte mir die Wellen ansehen. Es war wie für andere ein Spaziergang im Park, durch das örtliche Wäldchen oder über den Feldweg. Diesen Weg ging ich inzwischen jeden Abend und sah dabei sogar einige vertraute Gesichter. Ich freute mich auf den bevorstehenden Weihnachts-Umzug im Yachthafen: Segelboote voller farbiger Lichter, elektrischer Weihnachtsmänner und Krippen würden am Abend die Kais entlangfahren. Spaziergänger mit Hunden, Nachdenkliche, die barfuß im Wasser wateten, unzertrennliche Liebespaare. Tieforange ging die Sonne auf der Westseite der Stadt unter. Darüber die schwarzen Silhouetten der Eukalyptusbäume und Palmen, während die zunächst flammend roten Streifen erst einem tropischen Violett, dann dem Kobaltblau der Nacht wichen. Die regelmäßige westliche Dünung in den letzten Tagen war zu einem Gemurmel, einem sinnlosen Gebrabbel verklungen. Man hört Surfer häufig in diesen Begriffen über Wellen reden, besonders an Tagen, an denen die Wellenbänder durchbrochen und die Intervalle zu kurz sind, wenn das Meer eher einer kabbeligen Gischt als einer Ordnung hereinrollender Energie ähnelt. «Alles ist durcheinander», sagt dann immer jemand, um das Bild zu beschreiben. Ich erinnere mich, dass ich selbst mal zu Willie ohne einen Hauch von Ironie über das Wasser sagte: «Mann, es ergibt echt keinen Sinn.» Mir gefiel die implizite Bedeutung, dass in Zeiten sauberer Dünung das Meer tatsächlich einen Sinn ergab, als habe es eine Botschaft zu verkünden, als spreche es eine Sprache. In Zeiten wahrhaftig bemerkenswerter Brandung, wenn alle Vektoren von Dünung und Wind mit genau der richtigen Tide zusammenfallen, sodass dein lokaler Surfspot vor Leben geradezu vibriert, ist es so, als habe ein Freund, dessen Gestammel du wochen- oder monatelang ertragen hast, endlich gelernt, die pulsierende Welt zu besingen. Als habe jemand plötzlich eine Rede, die normalerweise schwer zu verstehen und etwas unartikuliert ist, nicht nur gut vorgetragen, sondern auch noch in einer unmissverständlichen und nur an dich addressierten Sprache. Endlich ist das Chaos reduziert auf eine einzelne Idee. Wenn Vince allmorgendlich zur Klippe radelte, um die optimale Verbindung der Elemente für den Tag zu berechnen, suchte er gewissermaßen nach dem Augenblick, in dem die Welt genau das Lied anstimmte, das er – und ich – am liebsten hörte.

Natürlich gibt es zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Lieder: getragen-kriegerische Wagner-Opern zu mächtigen Nordwestwinden oder, wenn das Licht durch die Sturmwolken dringt und eine südliche Dünung frontal auf den Point trifft, die mystische Klarheit eines Gedichts von Wallace Stevens. (Es gibt also wohl doch ziemlich gute Belege dafür, dass eine göttliche Hand im Spiel ist.) Ein ähnliches Gefühl hatte ich einmal an der letzten Steilwand am El Capitan. Als wir die Vorderkante eines großen Vorsprungs überwunden hatten, sahen wir über 30 Meter glatten, überhängenden Granits. Inmitten dieser Fläche, die man im Grunde nicht erklettern konnte, verlief eine einzelne, perfekte Spalte. In dem Moment schien die Welt nach einem menschlichen Entwurf gemacht; oder anders ausgedrückt, endlich war meine eigene Beziehung zur Welt so klar, dass ich die Fähigkeit der Natur erkannte, sich präzise auszudrücken. Immerhin sind Wellen überwältigend komplex. Skinny hatte mich damit aufgezogen, dass ich erst dann ein echter Surfer wäre, wenn ich mir einen Receiver zum Empfang der Wetterberichte und -vorhersagen gekauft hätte, und da ich einen ziemlichen Authentizitäts-Tick habe, ging ich sofort los und kaufte mir einen. Ich ließ ihn ständig leise laufen. Wie wir alle wissen, kann ein Übermaß an Information von Übel sein. So wie die Nonstop-Berichterstattung im Fernsehen über einen Krieg oder einen Mordprozess einen Menschen geradezu tyrannisieren kann, so tyrannisierten mich die stündlichen Wind-Updates, die dreistündlichen Seewetterberichte samt Intervallen. Letztere Zahl, die durchschnittliche Zeit, die zwischen dem Passieren einzelner Wellenberge verstreicht, wurde in vielerlei Hinsicht für mich zur primären Obsession: eine 2,80 m hohe Dünung mit einem 9 Sekunden langen Intervall kommt am Strand möglicherweise nur auf schlappe sechzig bis neunzig Zentimeter; eine 2,80-m-Dünung in einem 19-Sekunden-Intervall kann unter Umständen 2,80m hoch bleiben und sehr stark sein. Wenn ich also brav dasaß und las, hörte ich gelegentlich von einem plötzlichen Anstieg der durchschnittlichen Wellenhöhe oder einer Verlängerung der Intervalle – Hinweise auf neue Dünungen und meine Arbeitsleistung sank. Meine Quasi-Freundin fand meinen Surftalk, den sie zum großen Teil am Telefon über sich ergehen lassen musste, allmählich schrecklich langweilig – das Unglück einer Wochenendbeziehung. Für Vögel und Otter konnte sie sich begeistern und legte sogar ein Vogelbestimmungsbuch in ihren Toyota Celica, was ich als eine schöne Geste der Solidarität empfand. Aber Wellen? Die fand sie kategorisch uninteressant, obwohl sie mir zu Weihnachten einen prachtvollen Bildband mit dem Titel The Book of Waves geschenkt hatte. Sie fand Wellen irgendwie leblos. Nicht lebendig. Ungefähr so interessant wie Felsen. Geschlechtsspezifische Interessen? Mag sein.

Die Malerin, die weiter unten in der Straße wohnte, trank gerade ihren abendlichen Scotch auf einer Beton-Bank, als ich vorbeiging; sie war über einen Meter achtzig groß und schlaksig und hatte ein schönes, schmales Gesicht. Obwohl wir uns nie richtig kennen gelernt hatten, lächelten wir uns immer etwas matt zu. Ein verdrießlicher Mann mit großem rotem Vollbart saß wie gewöhnlich auf seiner Bank und las; er hatte nie einen Freund oder eine Freundin dabei, immer nur ein Buch und eine Tüte Walnüsse. Er kam auch jeden Morgen vor Tagesanbruch, um «Zeitung zu lesen und die Fischerboote rausfahren zu sehen», wie er sagte.

Am nächsten Tag stellte ich fest, dass er zwar Zeitung las, sich jedoch immer die einzige Bank aussuchte, die keinen Blick auf die auslaufenden Boote bot. Zwei paddelnde Surfer waren draußen, nahe der Pier, aber im Großen und Ganzen blieben die Schwimmer unweit der Pequod in Strandnähe. Am Südende der Bucht warf eine Sandbank eine kräuselnde Linie auf; die Bretter unterm Arm geklemmt, hielten vier Bodysurfer in kurzärmeligen Anzügen Ausschau, ohne einander anzusehen oder miteinander zu reden. Schließlich trottete einer ans Wasser und hielt dabei sein Sperrholzbrett ohne Finnen seitwärts vor sich. Er drehte sich noch einmal um, brachte sich in Position, dann rannte er los. Er ließ das Brett auf den zentimetertiefen Film aus stehendem Wasser fallen, wand sich vorwärts und rutschte in die schlammig grüne Welle; legte sich in den Turn, duckte sich unter der Brechungskante und sauste Richtung Strand, in einer Röhre. Eine Sekunde des Triumphs, bevor er auf den Sand geworfen wurde. Die anderen drei Jungs sahen gelangweilt weg.

Ein Schoner segelte langsam vorbei, ein Besucher aus der Vergangenheit, umgeben von modernen Segelbooten. Ich versuchte, Juan Cabrillo, George Vancouver oder Sir Francis Drake heraufzubeschwören, wollte mir vorstellen, wer vor mir an einem Strand wie diesem gestanden hatte, aber es klappte nicht. Im Westen sah man den Lighthouse Point, der in die Bucht hineinragte, und den großartigen Surf bei Steamer Lane. Hauptsächlich wegen dieses Blicks pilgerten eine Menge Leute hierher, parkten ihre Pick-ups auf dem Weg zur Arbeit und blieben einen Augenblick lang bei laufendem Motor stehen. Einige fuhren große Ford-Trucks, das waren die kleineren Bauunternehmer, die meisten aber das übliche Surfer-Auto, einen leichten japanischen Pick-up mit Camperaufbau aus Fiberglas; Vierradantrieb hatten nur diejenigen, die an der Baja surften. Sie hielten Ausschau nach der Dünung an der Lane und dem Wind über der Bucht. Manche kamen jeden Tag in der Mittagspause, kurbelten ein Fenster herunter und aßen hier schweigend ihre Sandwiches – der Ozean hielt einen Teil ihres Lebens gefangen und ihr sich immer wieder erneuerndes Ich zusammen.

Die Leuchtturmbake drehte sich sinnlos, und kleine Wellen schwappten an die Pfeiler der Pier unmittelbar nördlich davon, dumpf, ohne brachiale Gewalt. Im Südosten hing der Dreiviertelmond wie eine flache Scheibe am dunstigen Himmel über Sahnas, im Süden schimmerte der Lichterkranz von Monterey und tauchte die andere Seite der Bucht in abendliches Licht. Ein weißes Segelschiff trieb in der ablandigen, erdig duftenden Brise, unweit der Pier lag ein großes Fischerboot. Das Land und die Gerüche trockener Gräser ließen das Meer nicht so ungezügelt wild, sondern gezähmter erscheinen. Schwimmer, die es nicht eilig hatten, aus dem Wasser zu kommen – ein später Hauch von Altweibersommer, ohne die grellen Kontraste des Hochsommers, ohne kalte Morgennebel oder brütende Mittagshitze. Ich saß auf der Bank in einer warmen, sanften Brise, kein drohender Sturm, keine zermürbende Dürre oder lastender Nebel; einfach ein herrlicher Abend an einem schönen Ort. Die Silhouette eines Hundes jagte vor dem blauem Wasser, das im Licht der untergehenden Sonne karmesinrot glitzerte, einem Stöckchen hinterher. Eine Welle hob sich dunkel über den Sand, ihre Schwärze nahm der Abenddämmerung das Licht, und im Augenblick, bevor sie brach – eine Pause wie das Innehalten zwischen zwei Atemzügen, die Stille zwischen Worten –, schoss ein Streifen aufgehenden Mondlichts auf ihrer dunklen Vorderseite entlang.

Später, als die Seelöwen unter der Pier brüllten und die Nacht hereingebrochen war, kam die Brise aus einer anderen Richtung, blies kühl vom Pazifik und wehte Meeresgerüche durch mein offenes Fenster. Ich habe einmal von einer Frau gelesen, die nachts alle Fenster zum Meer hin schloss, um die verlorenen Seelen, die über das weite Meer wandern, nicht einzulassen.

 

Niemand hat Verständnis dafür. Bei der Hochzeit eines meiner ältesten Freunde setzte ich mich mit meinem vollen Teller in einem eleganten Haus in Oakland Hills an einen weiß gedeckten Tisch. Aus irgendeinem Grund ist Surfen komisch. Hätte man die «Was machen Sie denn so?»-Frage mit «Ich trainiere für einen Marathon» oder «Ich spiele Basketball» beantwortet, hätte da etwa jemand gekichert? Würde irgendwer so tun, als habe man gerade behauptet, man durchlebe zurzeit seine Kindheit aufs Neue? Versuchen Sie das mal mit Surfen, Sie werden sich wundern. Der Bräutigam wollte zum Beispiel wissen, wie oft genau ich denn surfte.

«Oh», antwortete ich und schob den Kartoffelsalat auf dem Teller mit dem maritimen Dekor herum, «viel». Zwar war ich erleichtert, nicht der mit Reis Beworfene zu sein, sah mich aber doch im Zimmer um und überlegte, wie begehrenswert ich als ein Partner sein mochte, der ziemlich wenig vorzuweisen hatte: kein Geld, keine Liebesbeziehung. Als ich ankam, war ich doch etwas erstaunt gewesen, denn nach meiner Fahrt im Pick-up entlang der böigen spätherbstlichen Küste voller weißer Schaumkronen und nebelverhangener Wellen, die in die felsigen Buchten donnerten, wurde mir plötzlich etwas vor Augen geführt, das einen fast so erstaunt wie die Entdeckung der ersten Falten im Spiegel. Als Student lebt man mehr oder weniger wie seine Freunde; vielleicht gehen sie etwas öfter Sushi essen oder setzen erstaunlich oft ihre Kreditkarten bei Benetton ein, aber alle sind Studenten, wohnen in Studentenbuden, schreiben ihre Hausarbeiten, trinken billiges Bier. Je länger man das Studium hinter sich hat, desto deutlicher werden die materiellen Unterschiede, besonders, wenn die Leute anfangen zu heiraten. Als ich meinen Pick-up parkte, begegnete ich einem meiner ältesten Freunde. Er trug einen teuren italienischen Anzug und stieg aus einem nagelneuen schwarzen BMW. Zunächst bemerkte er mich gar nicht, sodass ich irgendwie das Gefühl hatte, im falschen Film zu sein.

«Du surfst also viel», sagte der Bräutigam und ahmte dabei spöttisch meine schleppende Surfersprache nach. «Was meinst du mit ‹viel›?»

«Welchen Partyservice hast du eigentlich?», wollte ich plötzlich wissen. Thema war offenbar »Americana», amerikanische Klischees schlechthin, hübsch abgewandelt: Gourmet-New-Mexico-Hühnchen/Puten-Hotdogs, mit Oregano gewürzte Truthahn-Burger, Pommes Frites aus Süßkartoffeln, rot-weiß-blaue Servietten und Tischtücher. In der Küche und auf der Terrasse tummelten sich die Eltern, überwiegend Rechtsanwälte und Ärzte; manche waren vielleicht etwas wehmütig, weil der «Kinder»-Tisch, an dem wir alle saßen, so viel Optimismus verbreitete, andere zweifellos dankbar, diese Illusionen hinter sich zu haben. Die Antiquitäten und Reproduktionen – eine lackierte alte Eistruhe, bemalt mit verblichenem Sternenbanner, ein mit dem amerikanischen Adler gerahmter Spiegel – gaben dem Zimmer eine beruhigende Ausstrahlung aus gesundem Patriotismus und polierter Eleganz. Wie der Salon eines Schiffskapitäns der Oberklasse im 19. Jahrhundert.

«Keine Ausflüchte», beharrte der Bräutigam lächelnd. Er war wie geschaffen für das Familienleben, bereits Staatsanwalt und hatte viel Talent zum Kreuzverhör. «Mehr als einmal in der Woche?»

«Sharon», sagte ich zu seiner hübschen und witzigen Braut, «willst du bei der kirchlichen Trauung wirklich das Hochzeitskleid deiner Mutter tragen?» Ich hatte mitbekommen, wie peinlich ihr die drei Meter lange Schleppe war.

«Mehr als einmal am Tag?», wollte der Bräutigam wissen; jetzt war er auf einer heißen Fährte.

Sosehr mich die Braut auch mochte und sie mit meinem Leben einverstanden zu sein schien – so wenig dachte sie daran, mir zur Seite zu springen. «Naja… Hallo, Orin», sprach ich einen der Gäste an, einen ehemaligen Schwimmer aus dem College-Team, der soeben von einem Trainee-Programm bei einer Investmentbank an der Wall Street zurückgekehrt war; ein gut aussehender, freundlicher Typ, dem aber das letzte Quäntchen Kaltschnäuzigkeit fehlte. «Wie war's denn so in New York? Hat auch mal die Sonne geschienen?»

«Du gehst also wirklich mehr als einmal täglich surfen», tönte der Bräutigam und nickte erstaunt. Er legte den dick belegten Hotdog (geröstete Paprika, Honigsenf, gegrillte Zwiebeln) aus der Hand und wischte sich den Mund mit einer Serviette ab: «Das ist ja unglaublich!»

«Ich finde das toll», sagte Orin, der Schwimmer. «Also, ich würde unheimlich gern …»

«Einen Moment, Orin», unterbrach ihn der Bräutigam. «Ich bin mit diesem Mistkerl noch nicht ganz fertig. Gehst du auch mehr als zweimal täglich surfen?»

Wie gesagt, niemand versteht mich. Surfen ist ein Fulltime-Job, ist es immer gewesen. Bereits 1886 schrieb ein Autor im Hawaiian Annual über hawaiianische Surfer, was einem heute jeder Einheimische sagen kann, dass nämlich «die notwendigen Arbeiten für den Unterhalt der Familie, wie beispielsweise Ackerbau und Fischfang, die Herstellung von Matten und Tapas und ähnliche Pflichten im Haushalt, die von den Männern verlangt werden und der Aufmerksamkeit bedürfen… oft vernachlässigt werden, um diesen Sport ausüben zu können». Und wenn alte hawaiianische Inschriften auf Steinen irgendwelche Schlussfolgerungen zulassen, dann hat dieses schreckliche Verhalten eine lange, bedeutende Tradition. So berichtet der hawaiianische Historiker Kepelino Keauokalani, dass «erfahrene Surfer, die zu ihren höher gelegenen Felder gehen, um sie zu bestellen, auf halbem Weg stehen bleiben … sich umschauen, um zu sehen, wie die Brecher auf den Strand donnern, ihr Arbeitsgerät aus der Hand fallen lassen und nach Hause eilen, ihr Brett holen und wieder aus dem Haus gehen. Alle Gedanken an Arbeit sind wie weggeblasen. Die Ehefrau, die Kinder, die ganze Familie, sie alle mögen hungern, aber dem Hausherrn ist das völlig egal. Ihn interessiert nur sein Sport, er ist seine Nahrung. Den ganzen Tag gibt es nichts als Surfen.» Meine Freundin Susan, die sich immer weniger an mich gebunden fühlte, sah mich sicherlich genauso. In seinem 1847 erschienenen Buch Residence of Twenty-one Years in the Sandwich Islands – «ein Bericht über die Mühe, die es bereitet, die Hawaiianer aus ihrer Erniedrigung und Barbarei herauszuheben und sie von ihren Götzen, ihrem grausamen Aberglauben und ihren ungezügelten Lüsten zu befreien» – erklärt der nordamerikanische Missionar Hiram Bingham den Niedergang des hawaiianischen Wellenreitens mit ähnlichen Worten: «Die Übernahme unserer Bekleidung beeinträchtigt stark ihr Umhertollen in den Wellen, da sie im Wasser nicht so bequem ist wie der einheimische kurze Rock, der zudem weniger schicklich ist, weil sie ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit mühelos ablegen können, um ins Wasser zu springen, zu schwimmen oder ein Rennen auf den Wellenbrettern zu veranstalten.» Die Hawaiianer hatten wahrhaftig im Garten Eden gelebt – doch nachdem sie ihre Blöße bedeckt hatten, entdeckten sie die Scham; nachdem sie ihre Scham entdeckt hatten, hörten sie auf zu surfen.

«Zudem haben diejenigen», schreibt Bingham weiter, «die sich selbst Kleidungsstücke herstellen oder sich Geld dafür verdienen, wie es in den Kulturnationen üblich ist, weniger Zeit für Amüsement.» Wenn also Bekleidung für Zivilisation steht und ehrliche Arbeit der Weg ist, um dies zu erreichen, dann ist die Konsequenz daraus, dass der Surfer nicht mehr dauernd am Strand herumhängt, sondern sich bekleidet und arbeiten geht – zumindest theoretisch. Das ist zwar alles lange her, klingt aber sehr vertraut. Überdies steht der Inselbewohner beim kolonialen Kapitalismus in der Pflicht: «In der Tat», erklärt Bingham, «erforderte der Kauf ausländischer Schiffe, dass man dem Sammeln und Liefern von 450 000 Pfund Sandelholz Beachtung schenkte, was diejenigen, die auf das Holz warteten, natürlich zu der Annahme veranlasste, dass diese Tätigkeit vorübergehend an Stelle der Vergnügungen treten würde.» Natürlich – jetzt, wo der Südseeinsulaner Liefertermine einhalten musste, hatte er keine Zeit mehr. Die Schule, auch eine Ablenkung für jeden passionierten Surfer, leistete ebenfalls ihren Beitrag: «Der heidnische Sport der Nation verschwand fast völlig», so Bingham, und zwar mit dem Aufkommen «des elementaren Unterrichts in Lesen, Schreiben, Moral, Religion, Arithmetik, Geographie, geistlicher Musik und christlicher Geschichte.» Man wundert sich, was genau am Surfen «heidnisch» sein soll, aber ja, gewiss hat dieser Sport etwas Unchristliches, Nichtlineares, sogar Nichtwestliches an sich. Liegt es vielleicht daran, dass es kein Ziel gibt? Keinen bezifferbaren Erfolg? Und man muss auch die Hybris von Binghams kausaler Kette bewundern – als wolle man das Massaker an den Lakota-Indianern mit der zeitgleich stattfindenden Gründung der ersten professionellen Baseball-Liga in den USA verknüpfen.

Ein paar Tage nach der Hochzeit kam Orin, der Schwimmer, aus San Francisco herunter. Er wollte mit mir surfen. Nachdem er in den letzten Jahren ein Vermögen gemacht hatte, war er zurück an die Westküste gezogen, auf der Suche nach seinen Wurzeln und nach Authentizität – er wollte entweder das Surfen oder eine Kampfsportart erlernen. Ein enger gemeinsamer Freund war im vorigen Herbst an einem Herzinfarkt gestorben, und Orin hatte sein gigantisches Gehalt und einen Platz in einem MBA-Programm aufgegeben, um die gemeinnützige Organisation des Freundes zu übernehmen, wobei er Praktiken der Unternehmensfinanzierung dazu nutzte, Menschen tatsächlich zu helfen. Dass er die Fahrt hierher gemacht hatte, war eine Geste der Freundschaft: Ausgiebig schwärmte er von der Ruhe und Gelassenheit meines Lebens und davon, dass ich einfach nur schrieb und surfte. Normalerweise ist mir gar nicht wohl, wenn jemand ein Leben preist, das er für sich selbst nicht in Betracht ziehen würde – wichtige Entscheidungen im Leben gründen auf Wertvorstellungen, die durch Geschwafel manchmal verdunkelt werden können –, aber Orin war so höflich und humorvoll und begeisterte sich für die Lebensweise anderer auf eine Art, dass man sich mit der eigenen wohl fühlte. Zudem vermied er sorgfältig alle unseligen Vergleiche mit seinem eigenen großen Erfolg.

Gemeinsam gingen wir den Weg zum Point hinunter, der nach den schweren Regenfällen schlammig und glitschig war. Die verbliebenen Kohlstrünke wirkten in ihren dunklen salbeigrünen Furchen wie Miniwälder. Das abgeerntete Feld lag jetzt schwarz und nass unter dem bewölkten Himmel. Die Hemlocktannen am Feldweg waren durch den Regen verschimmelt, die ersten neuen Grashalme und Disteltriebe zeigten sich, ein optimistisches kleines chi-Fest der Sonne nach dem Regen. Nachdem wir den ausgewaschenen Weg hinabgerutscht waren, zogen wir uns auf dem Felsen unter der Klippe um. Bald schon waren wir von großen, vom Sturm noch unordentlichen Wellen umgeben. Im Normalfall hält es ein Anfänger zwischen 30 und 40 Minuten in kaltem Wasser aus. Orin aber war schon auf der Highschool und an der Uni ein so guter Schwimmer gewesen, dass er mehrere Stunden mit mir im Wasser bleiben konnte, ohne sich zu erschöpfen – er lächelte und freute sich die ganze Zeit, obwohl er von einer Welle nach der anderen grob umgestoßen wurde, und war schier aus dem Häuschen, wenn es ihm tatsächlich gelang, auf einer bis zum Strand zu surfen. Vince paddelte allein nach draußen, gerade als Orin und ich übereinkamen, aus dem Wasser zu gehen. Freudlos lächelnd grüßte er, was seinen Ärger über mich verriet. Ich hatte einen völlig ungeübten Außenseiter in seinen Garten mitgebracht; und so ungesellig sein Verhalten auch sein mochte, ich sollte ihn bald verstehen. Denn sobald ein Surfspot bekannt wird, gerät er nie wieder in Vergessenheit. Eine einzige unachtsame Bemerkung in einem abendlichen Gespräch kann für die restliche Saison den Unterschied zwischen einem schönen Morgen unter Freunden und einem Kampf auf engstem Raum in der Horde bedeuten.

Dennoch taute Vince Orin gegenüber rasch auf, hauptsächlich weil dieser nicht ausreichend über den Surferkodex der Coolness informiert war und gar nicht anders konnte, als offen und freundlich wie immer zu sein. Als die beiden aber zwischen den Wellen miteinander plauderten, konnte ich doch aus Vinces Tonfall eine gewisse Reserviertheit heraushören. Offenbar hatte er den Eindruck, dass Orins Freundlichkeit der ähnelte, die man im Ausland an den Tag legt, wenn man das einfache Leben der Einheimischen toll findet und dies für echte Geistesverwandtschaft hält. Vielleicht hatte Vince sogar Recht, aber, wie gesagt, Orin meinte es gut, und außerdem war er an einem Wochentag meinetwegen hier herausgefahren; zudem besaß er die Höflichkeit und Offenheit, mit Vince ein Gespräch zu führen und somit dessen Status als Herr im Haus und Gastgeber anzuerkennen.

Während Orin sich auf einem abgestorbenen Grasstück unter den Bäumen trocknen ließ, rief er per Mobiltelefon bei der First Boston in Manhattan an, um sich nach einem potenziellen Investor zu erkundigen. Sein Tonfall schlug mühelos in den eines professionellen Finanzmanagers um; und während er sprach, ließ er Vince nicht aus den Augen, Vince, den Erwachsenen, der immer noch im Wasser war, allein, an einem abgelegenen Strand, an einem späten Montagmorgen. Alle Welt arbeitete, während dieser gebildete, erwachsene Vertreter der Mittelklasse auf einer sauberen Eineinhalb-Meter-Welle hinunterfuhr, zur Brechungskante zurück carvte und sich in die Luft katapultierte, während Orins kleines Mobiltelefon ihn via Satellit mit dem fernen Büro eines fernen Analysten verband. Sichtlich zufrieden mit dem Anruf, steckte Orin sein Telefon wieder ein und geriet ins Grübeln: die Brauen gerunzelt, die Hände zu Fäusten geballt – er befand sich in einem Augenblick des Übergangs, erwog die Alternativen blickte er immer wieder zu Vince hinaus, der allein im Wasser geblieben war und dem es offenbar überhaupt nichts ausmachte, bald kein Publikum mehr zu haben.

«Arbeitet er irgendwas?», fragte Orin. Dann ließ er den Blick übers Meer schweifen, hinauf zu den mittlerweile grünen Hügeln und wieder zurück: auf einen Surfspot und einen Sport, den Vince nun seit dreißig Jahren praktizierte und dessen ganzes Berufs- und Privatleben um die Anforderungen dieser Sportart herum organisiert waren. Verpasste Beförderungen, eine Professur völlig ausgeschlossen, keine Altersversorgung, kein sicherer Arbeitsplatz. Jeden Tag aufs Neue verbrauchte er seine Kräfte auf dem Wasser. «Unfassbar, dass noch niemand auf die Idee gekommen ist, das hier zu besteuern», sagte Orin vergnügt. «Ich meine … es ist umsonst!»

 

Zeitschriften sagen viel über einen Menschen aus: Nachdem ich zwei Monate ein fast anonymes Leben geführt hatte, in dem sich alles ums Wasser drehte, nur einmal nach zehn Uhr abends noch wach gewesen war und nur zwei-, dreimal länger als bis sechs Uhr morgens geschlafen hatte und zu befangen war, um online nach virtuellen Freunden zu suchen, hatte ich, fast ohne es zu bemerken, auf dem Postweg Gesellschaft gesucht: Outside, eine bunte Mischung aus Fun und aufregendem Sport; Sierra, Nebenprodukt meiner Mitgliedschaft im Sierra Club, erworben in einem Augenblick, als mein schlechtes Gewissen mir eine gute Tat abverlangte und eine attraktive Vertreterin an meiner Tür erschien; Surfing, dessen Zielgruppe offenbar die 14- bis 16-Jährigen waren, aber voll gepackt mit klasse Fotos, gut für etwa zwei allein verbrachte Mittagessen und ein bis zwei Wochen Klositzungen; Surfer, für die 18- bis 20-Jährigen, aber mit ein wenig Text, der Höhepunkt meines Monats; The Surfer's Journal, mit neun Dollar pro Ausgabe ein kostspieliges Abo, aber die vierteljährlich erscheinenden, langen, nachdenklichen Artikel reichten für fast eine Woche Solo-Abendessen und Surfnostalgie, und die prächtigen Fotos hatten fast Sammlerwert; Climbing, nur um mich zu erinnern, wer ich einmal gewesen war, was meine früheren Ambitionen gewesen waren; Rolling Stone, als Ersatz für ein echtes Leben unter Menschen; und schließlich The New Yorker, ein Geschenk meiner Eltern, nachdem in dem Magazin ein sehr schön geschriebener zweiteiliger Artikel über das Surfen am Ocean Beach in San Franciso erschienen war – das Heft war freilich nicht fleißig genug in seiner Berichterstattung über den Sport, aber dennoch interessant.

Die Zeitschriften lagen wöchentlich in unserem verrosteten Briefkasten mitten auf der Veranda, auf der zwei fabelhafte alte Polstersessel vor sich hin moderten, Sitzmöbel, die bei einem Spiel von Kindern ideale Throne abgegeben hätten. Ich glaube, meine Mitbewohner sahen die Zeitschriften als Ausdruck eines lasterhaften Geistes, vor allem wegen der Anzeigen für Reef-Brazil-Sandalen, die in allen Surf-Magazinen erschienen; Auf der ersten oder zweiten Seite jeder Ausgabe stand irgendein sonnengebräuntes Inselmädchen in knappem Tanga-Bikini. Der Blick auf dieses Motiv war dabei natürlich der, der dem Leser offensichtlich am vertrautesten war: unbemerkt und von hinten. Ich hatte der Versuchung widerstanden, auch noch Longboarder's Journal, Longboarding und Australian Surfing Life zu abonnieren, aus Angst, ich könnte meine Identität in einer Collage aus Surf-Postern an den Wänden meines Badezimmers verlieren oder bei den täglichen Besuchen im Surfshop, wo ich stets Gefahr lief, die Bretter zu streicheln und mir die endlosen Videos anzusehen. Mein Lieblingsgeschäft war mittlerweile Pacific Wave Surf & Snow, weil der Laden so neu war, dass man ältere Sonderlinge wie mich mit Respekt behandelte. Ich rasierte mich nicht mehr regelmäßig, legte mir eine weniger intellektuelle Brille zu und trug inzwischen sogar Flip-Flops und dunkle Sweatshirts, wobei ich auch im Haus die Kapuze aufbehielt. Ich habe es nie geschafft, mir den ganz echten Look zuzulegen, aber den Jungs im Pacific Wave schien es nichts auszumachen, dass ich Stunden in ihrem Laden verbrachte, auf die Videomonitore starrte und kein Geld ausgab, nur wie hypnotisiert dastand und die mühelose Eleganz der Jugendlichen aus L.A. auf ihren wahnsinnigen, von der Industrie gesponsorten Südsee-Surfaris beneidete.

Außerdem war der Point durch das schlechte Wetter und den starken Wind immer weniger zugänglich geworden, sodass ich mich gezwungen sah, am menschlichen Drama teilzuhaben und an den ziemlich überfüllten Spots in der Stadt zu surfen. Wenn die Dünung zu wild für die offene Küste am Point wurde, musste man eben in die Stadt fahren und dorthin gehen, wo der Bogen der Bucht und die Mauer der Santa Cruz Mountains die Riffe vor wütenden Nordwinden schützten. Nirgendwo auf der Welt ist das Gefühl herrlicher als beim Urbanen Treiben an der Steamer Lane, einer Reihe von Surfspots, die sich an den Klippen im Stadtzentrum von Santa Cruz entlangziehen. Eine fabelhafte öffentliche Arena und Promenade, auf der man sich an warmen Tagen mit seinem Lunch und an kalten mit Kaffee auf die Bank setzen, Richtung Süden über das diamantene Blau der Bucht blicken und mitten auf eine gekonnt berittene Brandung blicken kann, eine menschliche Ordnung aus geschäftigem Treiben, effektvollen Darbietungen und Urbanen Vergnügungen für alle. Strahlende Männer und Frauen gehen vor Wasser triefend auf den Bürgersteigen umher, erfüllt von der Freude am eigenen körperlichen Wohlbefinden und dem Stolz der Zugehörigkeit, etwa so, wie man in Chamonix eine Bergsteigerausrüstung trägt. Man ist eindeutig selbst Teil des Spektakels. «Ja, ich gehöre tatsächlich dazu.»

Wenn Richard Henry Danas hawaiianische Freunde um 1830 nie in San Diego surften, dann waren höchstwahrscheinlich die hawaiianischen Prinzen David, Cupid und Edward Kawananakoa die ersten Festlandsurfer am Seabright Beach neben meinem Haus. Sie gingen in den 1880er Jahren in San Mateo zur Schule, sahen die sich sanft brechenden Wellen an der Mündung des San Lorenzo River und beschlossen, auf ihnen zu surfen. Sie kauften Redwood-Bretter in einem örtlichen Sägewerk, ließen sie fachkundig glätten und bescherten Santa Cruz das, was die Stadt später unter anderem auszeichnen sollte. Duke Kahanamoku selbst, der weltweite Botschafter des Surfens und Goldmedaillengewinner im Schwimmen bei den Olympischen Spielen, den Hollywood schließlich als gut aussehenden, männlichen Polynesier unter Vertrag nahm und für alle dunkelhäutigen Typen – vom Indianerhäuptling bis zum Araber – einsetzte, zeigte sich bei den Wasserspektakeln in den 1930er Jahren auf der Seebrücke von Santa Cruz. Im Santa Cruz Surf Museum gibt es Schwarzweißfotos des damaligen Surf-Clubhauses – eine kleine weiße Hütte am Strand –, davor einige lächelnde Jungen, gesund und unkompliziert, irgendwie adrett. Das war in den 1950er Jahren, als man sein 3,40m langes, 100 Pfund schweres Board aus Redwoodholz noch in einer Tischlerei anfertigen ließ. Fred Van Dyke erinnert sich noch an die gute alte Zeit, als man an der Steamer Lane und am Pleasure Point in Autos und in Höhlen an der Flussmündung campierte. «Es war ein geruhsames Leben damals, an einem sauberen Strand», erinnert er sich, «es roch nach den Fischen, die man als Köder benutzte, und dem Nebel, der über der Bucht hing; das Wasser war nicht so kabbelig wie an der Steamer Lane. Es war unser nördliches Malibu.» Neoprenanzüge gab's auch nicht: mit einem Second-Hand-Wollhemd für 15 Cent und auf den Knien paddelnd konnte man eine halbe Stunde im Wasser bleiben, bevor man seinen unterkühlten Körper an einem Feuer aus Treibholz aufwärmen musste. Van Dyke erinnert sich, wie er einmal gerade auf einer Welle ritt, auf der ein Freund bodysurfte; vor ihm sprang ein Königslachs aus dem Wasser, und hinter ihm schwamm ein Seelöwe. Er erinnert sich sogar, dass er sich damals mit einem Seehund anfreundete, der sein Brett zurückholte, wenn es abtrieb.

An einem Herbstnachmittag mit strahlend blauem Himmel wühlten Seewinde auf ihrem Weg die Küste hinab den Point auf, umgingen aber die Buchtmündung, wirbelten die Santa Cruz Mountains hoch und drehten am Leuchtturm von der Küste ab, wobei sie eine saubere, gerade Brandung erzeugten. Ungefähr sechzig Surfer waren draußen, Radfahrer fuhren im herbstlichen Sonnenschein, ein Rollschuhfahrer vollführte seinen täglichen Tanz auf alten, zweiachsigen Rollschuhen; der archetypische Golden-Age-Surfer stand in Bronze gegossen in einer Blumenrabatte: ein Mann von mittlerer Größe mit Bürstenschnitt und ausgeprägter Muskulatur, der Shorts (!) trug und ein riesiges Longboard auf alte Art umfasst hielt: senkrecht an den Rücken gepresst, mit beiden Händen von hinten gehalten. Um den Hals trug er eine frische Blumenkette, eine Bank ganz in der Nähe trug die Widmung «Zum Andenken an alle Surfer, die ihre letzte Welle geritten haben». (Die Städte Santa Cruz und Huntington Beach sind unlängst vor Gericht gezogen wegen des alleinigen Rechts, die Bezeichnung «Surf City» führen zu dürfen). Ich schlüpfte gerade in meinen Neoprenanzug, als eine Reihe tropfnasser Surfer vorbeimarschierte – weil die Ritte so lang und die hereinkommende Strömung so stark war, gab es nur einen vernünftigen Weg, wieder rauszukommen: den zu Fuß an der Klippe entlang. Von unberührter Natur keine Spur; am Fuß der Treppe bot ein grauhaariger Kiffer mit verspiegelter Sonnenbrille gratis «Verbesserungen der Lebenseinstellung» an. Weit draußen donnerten richtige Klopper, während sich entlang der Klippe kleine, schnelle Wellen brachen. Ich blieb bei Letzteren, tauchte und wartete, bis ich eine lange Welle bekam, verlor mich in ihrem Rhythmus, ihrer Richtung und ihrer Dynamik. Sie wollte gerade am Kamm brechen – der Teil, in den du reingehst, den du rippst –, und ich fuhr leichtfüßig ihren Rücken: ein herrlicher Moment der Schwerelosigkeit, bevor die Schaumwalze dich an Land trägt.

Wieder draußen: Überbevölkerung, begrenzte Ressourcen, kein Augenkontakt. Ich paddelte mit durchgedrücktem Rücken, um Haltung, Aggressivität zu signalisieren; das Schlimmste, was man tun kann, ist, schlaff auf dem Brett liegen, weil das auf mangelhafte Anpassungsfähigkeit und fehlende Entschlusskraft hindeutet. Also hält man den Kopf in der Menge hoch und krault kräftig in einen strikt zivilisierten Raum: strenge Verkehrsregeln, die zu befolgen sind, ein ganz klarer Kodex, der bestimmt, wer die Wellen für sich beanspruchen darf. Doch dann bekam ich mühelos eine schöne Welle, und niemand anderer als Apollo schob sich vor mich, womit er eindeutig gegen die Vorschriften verstieß. Plötzlich kam er mir so klein und jung vor, dass ich ihn die Welle hinabkurven ließ, bis ich ihm einen leichten Stubs von der Welle hinunter geben konnte. Als ich an ihm vorbeisurfte, blickte er wütend hoch und versuchte, mich zu rammen. Als das misslang, schrie er irgendwas wie, er habe nicht übel Lust, sein Brett gegen meinen Kopf zu donnern. Als ich die Welle abgeritten hatte und zurückpaddelte, kam ich in die ideale Lage, Apollo den Dienst, den er mir erwiesen hatte, heimzuzahlen:

«Was machst du denn?», kreischte er, als ich mich vordrängte.

«Dich ärgern», erwiderte ich lächelnd, «so wie du mich geärgert hast.» Ich ließ mich wieder zurück zur Brechungskante fallen und zwang ihn dadurch ins Weißwasser und aus der Welle heraus. Hinterher paddelte ich zu ihm und fragte ihn, was er eigentlich erwartet habe.

«Du weißt ja gar nicht, was du tust», antwortete er völlig angewidert. Mehrere seiner Freunde hatten sich umgedreht und sahen zu.

«Mal ganz ehrlich», sagte ich, «du kennst die Regeln doch, oder, du kleiner Scheißer? Du hast mich geschnitten, hast mich gesehen und bist nicht ausgewichen, stimmt's?» Als er merkte, wie wütend ich war, lachte er nervös, und dann verlor ich die Beherrschung und schiss ihn lauthals zusammen, bis ich mich an die Lektion des Longboarders erinnerte und ihm eine Ich-bin-doch-sehr-enttäuscht-von-dir-Strafpredigt hielt, um Schuldgefühle bei ihm zu wecken. Als ich fertig war, wirkte Apollo eher wie ein eingeschüchtertes Kind als wie ein echter Gegner, und ich kam mir wie ein Schuft vor. Beschämt und gequält lächelnd drehte er sich zu einem bärtigen Mann um, der neben mir auf dem Wasser trieb. «He, Dad», sagte er kleinlaut, «wollen wir noch eine nehmen und dann aufhören?» Interessant: Dad war ein kräftiger Surfer, der nicht im Entferntesten von mir hätte eingeschüchtert werden können, aber er hatte während meiner Schimpftirade keinen Ton gesagt. Er dachte wohl, dass der kleine Mistkerl sie verdient hatte.

Doch dann, obwohl ich mich ganz im Recht fühlte, kam ein Kajak hinter mir geschickt auf einer großen Welle, und da konnte ich nicht anders, schnitt ihm den Weg ab und verletzte damit dieselbe Regel wie Apollo. Wir sausten die Welle hoch und runter, berührten uns fast ein paar Mal, bis er in den Schaum geriet und zurückfiel. Später paddelte der Geschnittene mit seinem sternengesprenkelten Kajak herüber und sagte mit hochrotem Gesicht und wohlwissend, dass er den Kürzeren ziehen würde: «Wenn du noch mal so 'ne Show abziehst, fahr ich glatt über dich drüber.»

Starke Worte. «Pack dein billiges Spielzeug ein und scher dich weg», hörte ich mich sagen, «oder lern surfen.» Danach gab es nur noch die Flucht: die Betontreppe rauf, zwischen den Spaziergängern und Joggern hindurch und runter zum Ende des Strands. Der ungesellige Außenseiter scheut die menschliche Gesellschaft, und so glitt ich die ausgetretenen Stufen hinunter, warf das Brett ins Wasser und sprang hinterher. Plötzlich tauchte ein Seetaucher aus einer Welle heraus auf, und drei Seelöwen steckten die Köpfe aus dem Wasser und blickten sich um – auf einem vorgelagerten Felsen unterhielten sie eine lautstarke Kolonie. Ein voller Regenbogen reichte bis ins Wasser herab und verband die dunstigen grünen Hügel mit der glitzernd weißen Pier, goldgeränderte Gewitterwolken zogen am Himmel vorbei: Regen, dann Aufheiterungen, dann Schauer, dann Sonnenschein. Und dann, während ich tief atmete und mein letztes Gespräch rekapitulierte, ging mir auf, dass ich zu dem geworden war, was ich am meisten verachtete. Also ließ ich mich treiben und sah mir eine Weile alles an, blickte auf die dicht gedrängte Gruppe der einheimischen Surfer, die das Riff so aus dem Effeff kannten, dass jedes schwierige Manöver, jeder Aerial, jeder scharfe Turn völlig intuitiv und flüssig aussahen. Auch ein paar ältere Longboarder waren da, sie kannten die Wellen so gut, dass sie auf dem Brett standen, bevor diese brachen, und zwei ältere Shortboarder waren offenbar alternde Schwergewichte, deren Status als Alpha-Männchen unangefochten war. Zählte man den Rest der etwa hundert Personen hinzu, die jetzt im Wasser waren, erlebte man an der Lane die gemeinschaftliche Surfsession einer ganzen Stadt: Hippies mit Salzwasser-Dreadlocks, Typen mit kurz geschorenem, gebleichtem Haar, die in den 1980ern stecken geblieben waren, Studenten, die dazugehören wollten, ohne den Einheimischen den Respekt zu verweigern.

«Soll ich dir mal was erzählen?», fragte mich ein Typ. der in der Nähe trieb. Er hatte eine rote Nase und trug einen blauweißen Anzug.

«Klar», sagte ich.

«Gestern bei Ebbe bin ich hier mit ein paar Jungs im Wasser, und da kommt ein Otter auf dem Rücken vorbeigeschwommen und hält eine Bierdose in den Pfoten, als wollte er daraus trinken. Also frag ich den Typ neben mir: ‹He, was der wohl für 'ne Sorte trinkt?› Antwortet der Typ: ‹Wieso willste das wissen?› Gut, was?»

Bevor ich antworten musste, kam glücklicherweise eine Welle angewalzt: Sie krümmte sich in der Brise, wurde immer höher, und ich kam ungehindert bis ins Innere der Bucht. Und gerade als ich vom Board rutschte, sah ich den Kajak und damit den einzigen Menschen, der mir vergeben und mich von meinen Sünden befreien konnte. Während ich zu ihm paddelte, sah ich seine zusammengebissenen Zähne und seinen unruhigen Blick. Er war aufs Schlimmste gefasst.

«Sieh mal», sagte ich und setzte mich auf, «ich brauch wohl einen Psychiater. Ich hab mich vorhin wie ein echtes Arschloch benommen, und es tut mir wirklich Leid.»

Der Kajaker war so überrascht, dass es einen Augenblick dauerte, bis er verstand, was ich meinte. Als er es begriffen hatte, lächelte er breit (und hat mich seitdem immer freundlich gegrüßt, wenn sich unsere Wege kreuzten). Während ich schwerfällig die Betontreppe hinaufstieg, hatte ich ein Gefühl, als laste das Gewicht der ganzen Welt auf mir und als brauchte ich eine Pause, da hörte ich einen kleinen Flachskopf mit Fistelstimmchen fragen, ob die Wellen gut seien. «Der Wahn», erwiderte ich, worauf er an mir vorbeimarschierte und sagte: «Na hoffentlich! Ich bin mit dem Rad quer durch die ganze Stadt gefahren!»

Da sah ich Vince auf dem Bürgersteig neben dem Denkmal des Unbekannten Surfers; er trug eine saubere Jeans, ein strahlend weißes T-Shirt, Sandalen und eine Baseballmütze, saß auf seinem rostigen Tourenrad und lehnte am Klippen-Geländer, zugleich aufmerksam wie ein Habicht und doch jungenhaft; als sei er so lange der Perfektion nachgejagt, bis er in einen angenehm selbstzufriedenen Hedonismus hineingewachsen war; als bestimme er, welche Dinge es wert waren, sie sich zu holen, und als bekäme er sie auch.

«Na, Spaß gehabt?», fragte er.

«Ja, hab ein paar erwischt.»

«Echt? Hab ich gar nicht gesehen.»

«Na ja, ja, klar, ist schon etwas her. Du warst gestern gar nicht am Point.»

«War ziemlich beschissen, was?»

«Ja», sagte ich, keuchend und tropfend, und klagte über meine dreistündige Suche im gesamten County. «Schließlich bin ich am Point gelandet, war aber nichts.»

«Hätte ich dir gleich sagen können», sagte er, immer ganz darauf aus, Punkte zu sammeln, während man selbst schwächelte. Dann blickte er aufs Wasser und erklärte mir: «Der Point ist nie gut bei Nordswell, außerdem hat er schon seinen ganzen Sand auf dem Riff gelassen.»

Genau was ich bemerkt hatte, aber nicht benennen konnte: Vor dem Riff war das Wasser tiefer gewesen, es ließ die Wellen unter mir verschwinden.

«Schon dein neues Board geholt?»

Nein.

Er grinste vielsagend und bemerkte dann: «Schön, was?» Wehmütig blickte er auf das Bild vor uns, saß immer noch auf seinem Fahrrad, die Sandalen auf den Pedalen.

Ich sah mich um, versuchte nachzuvollziehen, was er sah: ein ziemlich schöner Tag, tiefblaues Wasser und ein strahlend blauer Himmel – wenn man die vielen Leute vergessen konnte, die das Bild störten, all die unvermeidliche Hässlichkeit des Kampfes um Ressourcen.

«Es ist alles so … so klar.» Er war wie hypnotisiert von den Wellen, die vorbeikamen, und sah nicht einmal die Horden, die darauf ritten. Er war ein verzückter Kenner und hatte zeit seines Lebens einen Geschmack kultiviert, vergleichbar etwa der rein ästhetischen Würdigung der Frau eines anderen Mannes. Noch nach dreißig Jahren gehörte sein Herz dem Juwel seiner Heimatstadt. Und von der Klippe hier oben aus gesehen, hatte das Meer heute tatsächlich eine besondere Ausstrahlung, wenn man die Massen einmal außer Acht ließ. Ruhige, glänzende Wellen ohne Unebenheiten glitten durch das glatte Wasser wie gelassene Bögen aus Energie. Nichts Chaotisches, nichts Heftiges, nur ein grünes, gläsernes Pulsieren, das sich sanft in Weiß ergoß. Die Surfer brachen mühelos auf, kraulten, kamen auf die Beine, glitten ihre Strecken hinab und nahmen teil am ruhigen Schieben einer gutmütigen See. Genug für einen Mann, der – wie ich erfahren hatte – irrsinnige indonesische Tubes geritten und allein auf den Kanarischen Inseln gelebt hatte, um an einem wenig spektakulären Tag an einem städtischen Surfspot ein seltenes und heiteres Bild zu erleben: den exakt richtigen Zeitpunkt zwischen Ebbe und Flut, eine kräftige, aber nicht zu hohe Dünung, die im genau richtigen Winkel aus dem westlichen Pazifik kam, bei leicht ablandigem Wind, der die Wellen steil hielt, ehe sie brachen, fast ohne Kabbelungen drum herum. Dieser Augenblick war umso kostbarer, wenn man wußte, dass er morgen, vielleicht schon in einer Stunde, vorüber sein würde.

Während mein schwarzer Surfanzug in der Sonne wärmer wurde und ich die tiefe Verletzung meines inneren wa vergaß, überlegte ich, wie eine brechende Welle zum Ideal von Vollkommenheit, zum Objekt der Surferbegierde, zum Wesen aller Kurzlebigkeit werden kann; weder ist sie etwas, das man besitzen, noch ein Ziel, das man erreichen kann – nur ein flüchtiger Zustand fürs Bewusstsein. Einen viel größeren Teil meiner Zeit verbrachte ich schließlich im Zustand des Träumens und Suchens als mit dem tatsächlichen Wellenreiten; sehr viel mehr Zeit ging dabei drauf, die Küste hinaufzufahren und zwischen den Wellen umherzutreiben. Von einem ganzen Jahr voller Hingabe hatte ich zusammengenommen vermutlich nicht mehr als einen Tag wirklich stehend auf dem Surfboard verbracht, und deshalb konnte ich einen Augenblick wie diesen nicht ohne ein glühendes, frustriertes Begehren, eine beinahe religiöse Sehnsucht nach Ganzheit betrachten. Im Unterschied zu so vielen anderen Leidenschaften gilt: Während wir wohl wünschen können, dass eine Blume immer weiter blüht und eine reife Weinbeere für immer am Rebstock hängt – Sehnsüchte nach flüchtiger Schönheit und Jugend, die sich John Keats zu Eigen machte, diese nachvollziehbar hoffnungslose Hoffnung, wir könnten die schöneren Momente unserer Welt festhalten liegt die Vollkommenheit der Welle eher im Abfallen der Blütenblätter, in der schieren Bewegung der fallenden Frucht.

 

Dunkler, heftiger Regen auf dem Highway, während ich an einem platt gewalzten Stinktier und einer zerfetzten Hauskatze vorbeifuhr. Ich war übers Wochenende bei Susan in Berkeley gewesen; ein hervorragender Lendenbraten, dazu Zinfandel, ein paar Videos und die Sonntagszeitung. Nur weil Susan billige Strandhütten in verschlafenen Provinzstädtchen nicht sentimental machten, waren ihre Wünsche und Bedürfnisse keineswegs krass materialistisch. Sie wollte einfach eine gute, ruhige Beziehung, vielleicht hin und wieder ein Gespräch über eine gemeinsame Zukunft. Sie tat sogar so, als mache es ihr nichts aus, dass ich noch am selben Morgen – obwohl es regnete und ich für mein Seminar am Tag darauf noch keine einzige Zeile gelesen hatte – ihre Wohnung in aller Frühe verließ, um an die Küste zu fahren. Ich musste einfach das Wasser in dieser winterlichen Stimmung sehen.

Und jetzt, einige Meilen nördlich von Santa Cruz, stand da ein Vogel von der Größe eines großen Truthahns in meinem Scheinwerferlicht: ein großer Reiher, ruhig, gefasst und fast unsichtbar auf seinen langen Beinen mit den knubbeligen Knien und breiten Füßen mit Schwimmhäuten. Neugierig spähte er die Route 1 auf und ab, während die Reihen der Scheinwerferlichter aus beiden Richtungen näher kamen – ein Bild hilfloser Eleganz. Als ich hupte, breitete er die Flügel aus, erhob sich schwerfällig vom Asphalt und war mit einigen Flügelschlägen hoch oben in der regenschweren Luft. Ich fuhr rechts ran, sah zu, wie er landete und langsam einen Sandweg entlangstakste. Allein in diesem strömenden Regen (der ganze Staat war praktisch überflutet, der Russian River schwemmte Häuser davon, der San Lorenzo färbte das Wasser der Bucht braun, ganze Strände wurden fortgespült) stolzierte der Reiher, graziös und doch ungelenk, zu einem schlammigen Bach, in den das Wasser von einem mit Weiden bestandenen Hügel floss, unter einem Aluminiumzaun hindurch und einen Feldweg entlang. Der Vogel stand in diesem Scheinbild einer Lagune und dehnte den Hals wie eine Bogensehne, dann steckte er ihn in das zentimeterflache Wasser; pickte ein Schlammklümpchen auf und spuckte es wieder aus, als handele es sich um eine Sandkrabbe in einem Priel (sogar ich in meinem Pick-up bei laufender Heizung und Scheibenwischern konnte sehen, dass es bloß ein Matschklumpen war).

Am nächsten Abend wieder Reiher. Der Sturm war vorüber, die Wolken hoch oben. Ich hatte mein Fenster geöffnet und las vor dem Abendessen; eine Brise bauschte die Vorhänge, und auch die Palme raschelte (ich hatte sie am vorangegangenen Samstag ziemlich zugerichtet – wussten Sie, dass Palmholz butterweich ist? Ich hackte die kleinen Triebe mit jeweils sechs Beilhieben durch). Der Ahorn schwankte leicht im Fallwind, genau wie der einzige Baum, an den ich mich aus meinen vier Jahren im Staat New York erinnere. Zwar konnte ich mich an ganze Hänge voll davon erinnern, aber es gab nur einen einzigen Baum, der mir um seiner selbst willen in Erinnerung geblieben war. Es war auch ein Ahorn, und er stand da, alle Blätter ausnahmslos strahlend gelb wie beleuchtet, am Rand einer Felsschlucht. So schrill künden die Farben in Neuengland vom Übergang, dass sie eine indirekte Studie über die Vergänglichkeit der Schönheit abgeben. Im Gegensatz dazu war der Ahorn hier nur ein zarter Hinweis auf ein kleines Unglück, so wie man vielleicht inmitten der kühlen, sonnigen Klarheit eines mediterranen Herbstes allen Verlust und Wechsel vergisst.

Von der Atlantic Street scholl ein krächzendes, gereiztes «Caw!» herüber: «Caw!», mit lauter, kehliger Stimme. Zwei große Reiher liefen direkt vor mein weit offenes Fenster. Was für ein Geschenk! Ihre fast rechteckigen Flügel wirkten derart überdimensional im Vergleich zu ihren schlanken Hälsen und den Leibern, die sich bei jedem Flügelschlag wie Fische im Wasser schlängelten. Der eine Reiher hielt den Hals gerade, den Kopf fast einen halben Meter vor der Schulter, der dünne Hals gab nach, krümmte sich zwischen schlagendem Körper und atmendem Schnabel – eine schlanke, schöne Seele auf einem viel zu großen Leib. Der Hals des anderen war nach hinten gebogen wie der eines Pelikans, der winzige Kopf inmitten des Gefieders sah aus wie das Cockpit einer Cessna auf einer Boeing 747. Die Flügel der Reiher schlugen ungefähr so schnell wie mein Herz – gleichmäßig und ohne das Drängende der Jagd oder die hektische Suche nach Aas –, während sie auf meinem ungemähten Rasen zwischen den Kunstwerken umherstolzierten, vorbei an der weiblichen Bronzestatue ohne Kopf, deren Halsstumpf sich keusch dem Feigenbaum zuneigte.

Als ich nach draußen ging, waren die Reiher verschwunden. Aber es war sowieso höchste Zeit für meinen Abendspaziergang. Ich setzte mich auf eine Bank und sah einem Lagerfeuer am Strand zu, das von einer großen Familie umgeben war, die italienische Lieder sang. Der ganze Strand war übersät mit Treibgut, ein älteres osteuropäisches Ehepaar in graubrauner Kleidung ging von sandiger Brandung umspült vorüber, lachte und umarmte sich. Der Mann mit dem Pferdeschwanz – ein Architekt –, der weiter oben an der Straße wohnte, stand in der Nähe am Geländer und starrte vor sich hin. Er war groß, weißhaarig und gut aussehend und kam zweimal täglich herunter, normalerweise allein: einmal zur Morgen-, einmal zur Abenddämmerung, sah sich um und dachte über irgendwelche Dinge nach. Wir hatten schon ein paar Mal miteinander geplaudert, und inzwischen mochte ich ihn: Ausschweifend erging er sich in Zen-Begriffen über Malerei und Dichtung, Meditation und die Tugenden des stillen Lebens; Dinge, die auch auf meiner Liste ganz oben standen. Seine beiden Kinder waren erwachsen und aus dem Haus, er wohnte mit seiner zweiten Frau in einer kleinen Einzimmerwohnung im zweiten Stock neben einem unbebauten Grundstück voller hoher Gräser und Blumen. Möwen kreisten in der warmen Luft, ich erkundigte mich nach seiner Frau, einer Indianerin, mit der er seit zwanzig Jahren zusammenlebte. Sie lese an diesem Abend aus ihrem Manuskript, sagte er, bei einer Sun-Dance-Benefizveranstaltung in der Veterans Hall.

«Es gibt nicht viel Arbeit für Architekten in letzter Zeit», sagte er, «aber, Herrgott, sie ist großartig; die großen New Yorker Verlage reißen sich um die Geschichte einer richtigen Indianerin.» Dann erzählte er mir, dass die meisten Texte in der indianischen Literatur von Mischlingen geschrieben sind, und die Texte seiner Frau bedeuteten einen echten Schritt nach vorn. Ich hatte ihn schon ein paar Tage zuvor gesehen. In einem Café in der Nachbarschaft hatte er am späten Vormittag koffeinfreien Kaffee getrunken und die Stellenanzeigen in den Zeitungen weit entfernter Städte gelesen: Chicago Sun-Times, Detroit Free Press, Seattle Times.

Klarer Himmel, das tiefe Blau des Winters über uns und der blassere Dunst des Spätsommers noch immer am Horizont, während eine sanfte Brise vom Land her die Strandbrecher zu grünen, hohlen Wellen hob; das Wasser weiter draußen in der Bucht hatte Schaumkronen, die See war noch nicht windgetrieben, zeigte nur weiße Flecken auf Blau. Die Vorgärten leuchteten vor Blumen: Calla, Iris, Mohn, Lupinen, süß duftendes Steinkraut. Das Viertel mit seinen Strandhäuschen, seinen engen Gassen und Bürgersteigen aus Erde und Gras, den verwilderten Gärten und entzückenden kleinen Blumenrabatten, mit seinen Holzschindeln und Buntglasfenstern, den alten Autos und Hundehütten hatte etwas sehr menschlichheimeliges und stand in krassem Kontrast zu den astronomischen Preisen der örtlichen Immobilien.

Weißes Haar wehte ihm über die gebräunte Stirn, der Architekt wirkte schlank und kräftig; seine Jeans und sein Pullover waren von der Sonne gebleicht, die Haut gefleckt und ein wenig schlaff, die Lider hingen über blauen Augen. Etwas Verstohlenes lag darin, dass er mich nie direkt ansah.

«Und Sie?», fragte ich.

«Ach», sagte er, als geniere er sich, «ich sehe mich nur am Strand um.»

«Ein herrlicher Ort, um aufs Wasser zu sehen, oder?»

«Ja, ja», stimmte er rasch zu und nickte, «ständig ändert es sich, nie ist es gleich, durch das Licht, den Wind und all das.»

Ich erzählte ihm, dass es in dieser Woche eine fette westliche Dünung gegeben habe, und er nickte nachdenklich. «Kommt alles von der Sonne», sagte er, schob die Hände in die Hosentaschen, wippte auf den Hacken, «sie kühlt und wärmt die Erde, völlig klar.» Er sah aufs Meer hinaus, schaute mich dann von der Seite an. Ich war tatsächlich interessiert. «Sonnenenergie, wissen Sie, verursacht unterschiedliche Dichte in der Atmosphäre.» Er formte mit seinen Händen die Erdkugel und führte sein Argument näher aus. «Erst ist da der Wind, dann die Reibung auf dem Wasser und schließlich die Wellen. Die werden dann von der Schwerkraft um die Erde gezogen, wobei sie allmählich kleiner werden. Da draußen auf Ihrem Brett reiten Sie Sonne, Wind, Schwerkraft, Verschiebung der kontinentalen Platten und der Platten vor der Küste – alles zugleich.»

Profund. Ich dachte, der Bursche sei Architekt.

Wir standen da und lehnten einen Augenblick am Geländer, genossen die Brise und sahen dem wogenden verdörrten Gras zu.

«Außerdem», sagte er, «ist die Sonne unsere einzige Zufuhr von Energie, weshalb jede Welle ein Ausdruck des schieren astralen Geschenks des Lebens an unseren Planeten ist.» Dann hüstelte er, und sein Tonfall änderte sich, als er mir erzählte, er habe in letzter Zeit Aquarelle gemalt, diverse Richtungen der Dünungen auf einem Blatt Papier extrapoliert, um zu sehen, was für eine «See» sie erzeugten – offenbar hatte er viel freie Zeit in seiner sonnendurchfluteten Wohnung. So redete er eine Weile weiter, neben einem efeubewachsenen Zaun, und erklärte mittels vieler Gesten, wie seine Zeichnungen aussahen: «Sagen wir mal, man hat viel Swell aus dieser Richtung, das Kielwasser eines Boots, das Spritzwasser deines Surfboards, etwas Swell von der anderen Seite des Globus, den Wind vor Ort, ein wenig Rückströmung … all das erzeugt das Muster und die Bedeutung an Ort und Stelle.» Und der Mann surfte noch nicht einmal, ging nur gelegentlich schwimmen.

«Aber das Wichtigste jetzt in meinem Leben», sagte er und nickte mit der praktischem Selbstgewissheit eines Menschen, der seinen Entschluss verkündet, Investmentfonds zu kaufen, «ist der Horizont.»

Der Horizont. Ehrlich?

Er blickte hinaus zum Einzigen, der dafür in Frage kam. «Ja», sagte er und nickte noch einmal, «diese Linie, die einem deutlich macht, dass man in einem Raum lebt.» Die Abendbrise hatte sauber eine scharfe, absolute Grenze zwischen dem dunklen Wasser und dem hellen Himmel gezogen.

«Direkt hinter dem Rand der Erde», sagte er, «krümmt sich der ganze Planet in dein tägliches Leben; lässt dich wissen, dass du dich in einem Raumschiff befindest.»

«Wie dem auch sei», sagte er plötzlich und wandte sich zum Gehen, «man sieht nicht einfach nur eine Zeit lang hin und sagt sich: ‹Gut, das hab ich jetzt begriffen.›»

 

Vince hingegen hatte tatsächlich alles begriffen: «Schöne Spritztour», sagte er gut gelaunt, als wir zum ersten Mal zusammen nach Norden hochfuhren, an einem Spot nach dem anderen vorbei. «Die Gegend checken. Mindestens einmal am Tag muss ich raus, mir alles ansehen – wie ein Landadliger auf seinen Ländereien; wenn du auch nicht mit einem Fasan zum Abendessen zurückkommst, hast du immerhin einen Spaziergang durch den Wald gemacht.» Wir fuhren zu den heiligen Stätten unseres Kults, überprüften ihre feinen Unterschiede und ordneten die Welt ganz allgemein in bequeme kleine Schubladen. Vince besaß einen japanischen Pick-up ohne jede Beule oder Kratzer am Lack, innen alles pieksauber; ein ziemlicher Kontrast zu meinem verbeulten, ungepflegten, in jeder Hinsicht misshandelten Auto gleichen Typs. Der Gezeitenkalender steckte ordentlich im sauberen Ascher, eine Büroklammer hielt die Kalenderseite des aktuellen Monats offen, hinten saubere Schaumstoffpolster zum Schutz der Surfbretter, keine Aufkleber, kein Rückspiegelbehang, kein Riss in den Polstern. Ein sauberes Auto, das zu Vinces gebügeltem Hemd, der glatten Rasur und den weißen Zähnen passte.

Endlich, nach fast einem Monat, hatte ich mein Board bekommen: Jack hatte es am Vorabend in einem Anfall schlechten Gewissens vorbeigebracht. Er schien sich nicht nur für seine Saumseligkeit entschuldigen zu wollen, aber in meinen Augen sah das Brett phantastisch aus, nicht zuletzt deshalb, weil unter dem Fiberglas, direkt neben den Angaben zum Design, die Worte standen «Shaped for Dan». Vince schien nicht beeindruckt und meinte, er könne erkennen, wie gut ein Board funktioniere, sobald er es in Händen halte; dreißig Jahre an aufgesogenen Informationen und Daten, gespeichert in den Fingerspitzen. Ein Brett musste sich bei der ersten Berührung lebendig anfühlen, oder er wollte nichts damit zu tun haben. Eine weitere Besonderheit: Wie viele Surfer behauptete Vince, dass manche Boards einfach «nicht funktionierten» und andere, ganz ähnliche, absolut magisch seien. Angesichts der Tatsache, dass diese Unterschiede für einen Nichtsurfer viel zu fein sind und Surfbretter keine beweglichen Teile haben, leuchtete mir die Idee, ein Brett könne «nicht funktionieren», nicht ganz ein. Wahrscheinlich würde sich das im Wasser erweisen.

Vince hatte mich kurz nach Sonnenaufgang abgeholt, und wir hatten bereits dreißig Meilen Strand südlich von Santa Cruz inspiziert. Da aber keine einzige Sandbank nach seinem Geschmack war, fuhren wir zu Willie, der weiter oben an der Küste wohnte.

«Übrigens – wovon lebt Willie eigentlich?», fragte ich Vince, als wir uns der Farm näherten, auf der Willie wohnte. Die Frage ließ mir schon seit langem keine Ruhe: anständiges Auto, gute Kleidung, guter Zahnarzt, keine offensichtlichen Verpflichtungen.

Vince musste laut lachen, als habe er schon auf diese Frage gewartet. «Unklar», sagte er, sah mich von der Seite an und hob die Augenbrauen. Ein großer Sattelschlepper kam uns entgegen, beladen mit Kisten voller Rosenkohl.

«Du hast keinerlei Vorstellung?» Ich hatte so eine Ahnung, dass Willie unser Gespräch, könnte er es hören, bestimmt nicht gutheißen würde. Außerdem hatte Vince nebenbei erwähnt, es könne Willie missfallen, wenn wir einfach hereingeschneit kämen, ohne vorher bei ihm anzurufen; da er aber alle Anrufe erstmal auf dem Anrufbeantworter speichert, ist es schwierig, sich spontan mit ihm zu verabreden.

«Er behauptet, auf der Farm zu arbeiten», sagte Vince, «aber in zehn Jahren habe ich noch nie erlebt, dass er je eine Dünung ausgelassen hätte. Und seine Reisen? Kein Problem. Im vorigen Sommer sechs Wochen in Chile, in diesem Sommer Costa Rica… Hast du gewusst, dass er in Indo gelebt hat?»

«Wo?»

Vince bremste, als ein anderer Wagen signalisierte, dass er nach links über den Highway abbiegen wollte. «Indonesien», sagte Vince. «Aber das ist der Teil, über den ich mir nicht im Klaren bin. Offenbar hat er sein Studium in Harvard in den Siebzigern abgebrochen, aber ansonsten … misterioso.» Er bog rechts ab auf eine unbefestigte Straße und folgte ihr fast eine Meile den Hügel hinauf unter dichten Eichen; die Straße beschrieb mehrere Kurven, bis sie auf einen breiten Hof voller verrosteter Autos mündete. Ich sah kein Haus, und die beiden langen, fensterlosen braunen Gebäude am Rand des Hofs sahen aus wie zugenagelte Baracken oder Geräteschuppen. Ein einstmals gelber Grubber rostete neben einem feinmaschig verkleideten Verhau voller Hausmüll vor sich hin; ein paar weiße T-Shirts und rosa Damenunterwäsche hingen auf einer Wäscheleine. Dahinter gaben weite Felder einen unverbauten Blick frei auf die Hügel, das gedämpfte Grün der Artischockenfelder gegenüber vom Highway sowie das grellweiße Meer. Der ganze Ort hier wirkte wie eine luftige Ebene voller Grün auf brauner Erde, ein aus all dem windgepeitschten Wasser in den überwältigenden Himmel aufsteigendes Stück Land fern der Stadt; die reglose Stille auf dem Highway war fast körperlich spürbar. Im Gras neben einem weißen Plymouth ohne Reifen döste ein großer Labrador; ein silberhaariger Mann mit hellbraunen Augen und weicher, rosiger Gesichtshaut saß auf einem Stuhl neben einem der Schuppen und begrüßte uns lächelnd – glücklich und zufrieden an seinem kleinen Platz an der Sonne. «Ein Experte für Basilikum», sagte Vince leise; ein Teil seines Lebens sei dem Müßiggang, ein anderer dem Pesto gewidmet. Das Grundstück gehöre dem Basilikum-Burschen, und Willie zahle offenbar keine Miete, sagte Vince.

«Coño», sagte Vince und lächelte.

«Ja, gleich», antwortete Willie. Er würde sehr gern nach Wellen Ausschau halten, habe gerade selbst ans Meer fahren wollen. Dann lud er uns ein, ins Haus zu gehen, während er sein Brett und den Anzug holen wollte. Was für eine Offenbarung! Gewachste Zedernböden und -schränke, ein riesiges Bücherregal, drei akustische Konzertgitarren. Die gesamte Front nach Westen hin bestand aus Fenstern bis zum Boden. Draußen, hinter der verwitterten Veranda und einem kleinen Garten mit Küchenkräutern und Salatbeeten (eine zu schlichter Schönheit bearbeitete Wildnis), strahlte der Pazifische Ozean seine überwältigende Ruhe in jeden Winkel von Willies häuslichem Leben. Seine hübsche Frau, Pascale, saß an einem selbst getischlerten Esstisch, trank Espresso und las die New York Times. Pascale war eine liebenswerte Mischung aus europäischer femme fatale und gutmütiger New-Age-Femininistin; sie schien irritiert und amüsiert zugleich von diesem Truppenaufmarsch; angestachelt von einem Leben, das mit derartiger Pflichtvergessenheit einherging.

«Ich habe vier Tage frei», sagte sie zu Vincent, den sie zweifellos gut kannte, und imitierte dabei einen Brooklyner Akzent. «Vier Tage! Und macht er mir vielleicht Vorschläge, was man unternehmen könnte? Höre ich vielleicht so etwas wie; ‹He, Liebling, wollen wir nicht mal zusammen wegfahren?› Aber nein! Bloß» – hier fiel sie in einen makellos modulierten, nicht übertriebenen Surfer-Tonfall – «‹tut mir Leid, ich weiß noch nicht, wie die Wellen aussehen.›» Dann wandte sie sich wieder ihrer Zeitung zu und murmelte: «Einfach erbärmlich.» Aber die Art, wie sie sich beklagte, hatte etwas herrlich Gutmütiges, auch wenn hinter jedem Scherz etwas Ernstes steckte. Während sie sich mit Vince unterhielt, sah ich mir die Bücher an: überwiegend amerikanische Lyrik und Romane von Minderheiten-Autorinnen, ein paar Stretching-Handbücher und ein Frauen-Gesundheitsbuch. Willie kam mit seinem Brett ins Haus und bat Pascale um ein paar Dollar. Sie deutete auf ihre Handtasche, grinste und las die Sport-Seiten – wie sich herausstellte, war sie Baseball-Fan. Offensichtlich hatte sie die nörgelnde Ehefrau nur für mich und Vince gespielt, als seien ihr all die kleinen Unabhängigkeitsphantasien der Männer völlig klar und als habe sie diese nur ein wenig veralbern wollen.

Wir zwängten uns in Vinces Pick-up und fuhren zurück auf den Highway, dann weiter nach Norden, hielten an etlichen Wasserscheiden; dort, wo die kleinen Bäche ins Meer flössen, kletterten wir die Böschungen hinauf oder an den Rand der Klippen und inspizierten das Wasser. Da kein Riff die Dünung so ganz richtig traf, fuhren wir noch weiter Richtung Norden, unterhielten uns über dies und das und spielten endlos mit den Variablen herum: An dem Spot ist die Dünung zwar höher, aber die Ebbe wird bald zu stark sein, vielleicht brechen die Wellen nach einer Weile sauberer, aber der Wind kann schlimmer werden, und vermutlich tauchen auch bald die Massen auf; man könnte ja auf die Ebbe warten und einen anderen Spot ausprobieren, aber was ist mit der Sturmfront, die da heraufzieht?

«Chummies?», schlug Vince vor, womit er einen Surfstrand meinte, an dem ein Tauchlehrer angefangen hatte, tonnenweise «Chum» – Schweineblut und Tierabfälle – ins Wasser zu werfen, um Weiße Haie anzulocken.

«Haste Lust?», fragte Willie.

«Könnte ideal sein.»

«Es gibt keine Garantien im Leben, aber was soll's. Wir sind unterwegs, die Fahrerei macht Spaß und mit euch dabei sowieso. Vielleicht lohnt sich das Ganze so richtig, vielleicht werden wir aber auch bloß nass.»

«Klar, wie sollte es auch anders sein …», erwiderte Vince. Während sich Willie dafür aussprach, einfach einen Surfspot auszusuchen und damit zufrieden zu sein, war Vince immer auf der Suche nach dem Gras, das anderswo grüner sein könnte. Außerdem beanspruchte er eine unbestreitbare Autorität im Hinblick auf jede Variable aller Surfspots im gesamten County, wodurch sich die Verhandlungen etwas schwierig gestalteten. Doch nach fast einer weiteren Stunde, in der wir herumfeilschten und durch unsere Fahrerei zum Treibhauseffekt beitrugen, einigten wir uns – eigentlich sie sich – auf «Chums», sehr zu meinem Entsetzen. Also parkten wir an einem kleinen Bach, der über den Strand ins Meer floß, kraxelten zwischen Schrott herum, der früher mal ein spektakuläres Autowrack gewesen sein musste – eine verbeulte Karosserie, eine Kurbelwelle, ein Kühler-, gingen weiter, vorbei an weißen Ranchgebäuden, Knobcone- und Montereykiefern und Sträuchern, zwischen denen ein Milan jagte.

Ein Wolkenstreifen erstreckte sich über den ganzen Horizont und sah aus wie ein menschliches Rückgrat im Nebel. Die pulverisierten Muschelschalen, gemischt mit schwarzen Kieseln, gaben dem knirschenden Sand Glanz. Aber auch Spuren eines Gemetzels waren zu sehen: ein großer See-Elefant, dessen Hinterteil halb abgebissen war, ein hellrotes inneres Organ quoll aus seinem Leib, hellrosa und weiße Muskelstränge hingen schlaff herab. Zwei Flossen lagen am Körper an wie brandige Hände; in der Nähe stand seelenruhig eine Möwe und schaute vom Gegenstand ihres Interesses weg – wie Möwen das so tun –, ließ den Blick in die Ferne schweifen. Nachdem uns die Möwe geduldig und ohne Angst vorbeigelassen hatte, hackte sie dem See-Elefanten die Augen aus. Wir setzten diesen Ausflug fort, wobei die Wellen fast zu einer Chimäre geworden waren, die rechtfertigte, dass ich Tag für Tag über obskure Strände wanderte und das Verhältnis eines Riffbodens zu den vorherrschenden Winden und diversen Dünungsrichtungen erkundete; dann überquerten wir einen weiteren Bach, der aus den Bergen herabfloss und über Kieselsteine strömte, die wie Holz gemasert waren. Und da, noch ein Gemetzel: ein enthaupteter Otter; seine gesplitterten Knochen ragten durch die ersteifte Haut, das Rückgrat stand in die Höhe wie ein gebrochener Flaggenmast. Offenbar fressen Weiße Haie keine Otter, sondern reißen ihnen lediglich den Kopf ab. Während wir uns unter der tief liegenden Wolke näherten, hockten zwei sehr große Geier ganz in der Nähe auf einem Baumstamm und ließen den Kadaver nicht aus den Augen; geduldig plusterten sie ihre dunklen Gefieder im Tempo unseres Schlendergangs, ihre knochigen Nüstern atmeten dieselbe seetanghaltige Brise wie unsere Nasen. Als wir näher kamen, erwiesen uns die Raubvögel den gebührenden Respekt und schwangen sich mit ihren breiten, schweren Flügeln zu ihrem Ausguck auf der bröckeligen Klippe empor.

Vince unterhielt sich mit Willie über eine erfolgreiche Fotojournalistin, die er kürzlich auf einer Dinnerparty getroffen hatte. Diese Frau hat enorm viel Power, sagte Vince, echte Kraft und echten Ehrgeiz. Während er Steinchen aufhob und über das Wasser hüpfen ließ, erzählte er, dass sie die ganze Welt bereist habe, in Nepal, Tibet, abgelegenen Orten im Südpazifik, in ganz Afrika gewesen sei. Offenbar hatte sie Vince des Öfteren gescholten, weil er immer wieder zu einer Inselgruppe vor der Westküste Afrikas zurückgekehrt war und nie andere interessante Orte im Inneren Afrikas besucht hatte. Seit nunmehr zwanzig Jahren flog er zu dem kleinen Archipel im Atlantik, wo ihm das Bevölkerungsgemisch aus Abkömmlingen maurischer Piraten, afrikanischer Sklaven und spanischer Seeleute gefiel. «Ich habe einfach keine Lust auf Afrika», sagte er. «Andere haben auch überlebt, ohne dort gewesen zu sein, stimmt's?» Irgendwie schien ihn der Gedanke doch zu wurmen, forderte ihn heraus, seine Einstellung in Frage zu stellen, dass nämlich mit den täglichen Spaziergängen, die er unternahm, aller Reiselust genüge getan war. Natürlich stimmte ich dem zu und Willie wohl auch; aber Vince fühlte sich offenbar unter Druck gesetzt.

Als wir endlich einen guten Blick auf das Riff hatten, bemerkte Willie, wie Vince es genauestens unter die Lupe nahm. «Lass mich raten», witzelte er, «gestern war es fünfmal besser.»

Vince lächelte und schwieg. Wir zogen uns an einer Stelle um, an der ein paar große Brocken Sandstein aus dem Strand ragten, streiften die Neoprenanzüge über und paddelten zu einer Welle hinaus, die von einer Unebenheit unter Wasser geformt worden war. Brandungen spiegeln meist exakt den Umriss des Kontinents und die Strömungen der Wasserscheide wider – von den Gezeiten gebogene Sandbänke, die unter Wasser liegende Rundung einer Bucht –, aber diese Wellen brachen direkt über dem Strand, ihr Riff war das Überbleibsel einer Küstenlinie, die nicht mehr existierte. Reffen bezeichnet im Segelsport die Verringerung der Segelfläche – und sicherlich «refft» auch ein Felsenriff in gewisser Hinsicht die Welle. Der Name «Chums» verstärkte die ohnehin schon düstere Aura, die dieser Ort besaß: Ein paar Jahre zuvor hatte ein Hai einen Mann zerfleischt und das ganze «Chumming», also das Ausschütten von Blut, Eingeweiden und Tierkadavern zum Anlocken von Haien für gut zahlende Ökotouristen, hatte unter den Anwohnern ziemliche Kontroversen ausgelöst; der Tauchlehrer hatte anonyme Briefe erhalten, deren Absender schworen, sie würden ihm, sollte er noch einmal Fleisch ins Wasser werfen, beide Beine abhacken – was ziemlich gut zum Ausdruck brachte, warum sie solche Angst vor Haien hatten. Der Zweck fand meine Zustimmung, nicht die Mittel. Immerhin flössen die Abfälle mit den Strömungen davon, erzeugten eine Blutspur, der die Haie tagelang folgten, deren Appetit dann zwar geweckt, aber nicht gestillt wurde. Später fanden wir heraus, dass ein von einer Filmproduktionsfirma gechartertes Boot genau an diesem Tag vor der Küste große blutige Köder ausgeworfen hatte.

Diffuses Sonnenlicht drang durch die hohen Wolken und beschien das Meer wie eine Straßenlaterne, deren Schein auf einen Fluss fällt. Die Wellen hatten verblüffend viel Kraft; sie kamen aus sehr tiefem Wasser und waren nicht höher als etwa einen Meter, bis sie schließlich auf das Riff trafen. Dann richteten sie sich auf doppelte Höhe auf, und noch während der vorderste Rand brach, bildete sich ein zweiter Rand unterhalb des ersten auf der Vorderseite der Welle, woraufhin die ganze Spitze der Welle abbrach, ein Phänomen, das als »Doubling-up» bekannt ist. Nach dem steilen Drop, den ich gerade noch schaffte, musste ich attackieren, um in die Hohlwand zu gelangen; das neue Board fühlte sich schnell und lebendig unter meinen Füßen an. Willie und Vince erwischten mehrere hohl brechende Wellen, dann kamen sie, von einem Ohr zum anderen grinsend, über den Wellenkamm herangeflogen.

«Formidable, non?», rief Vince und wendete, um eine weitere große Welle zu reiten.

«Erschröckliche Höhlen», fügte Willie noch hinzu und meinte damit die Hohlräume, die sich zwischen der herabbrechenden Front und der eigentlichen Welle bildeten.

«Ziemlich hohl das alles», schrie Vince zurück. «Hier kommt das Hohlschoi-Ballett!»

Es gelang mir nicht, meinen Weg in die Röhre zu finden, und Willie erklärte mir, dass man praktisch von hinten in sie hinein musste, dann lossausen, während der Wellenkamm über dir in weitem Bogen nach vorn geworfen wird – in einem Satz ausgedrückt: «Du musst von hinten in die Welle rein, so bleibst du in Deckung.» Das Schlimme war nur: Wenn man dieses Hineinkommen verpasste, geriet man in den Wellenkamm und machte unliebsame Bekanntschaft mit dem flachen Riff. Trotzdem, wir entwickelten einen Rhythmus, wechselten uns ab, redeten nicht viel, surften rein und paddelten raus, und der ruhige Wasserspiegel ließ einen die feinen Abstufungen von Wasserdichte und Widerstand spüren. Vince war im siebten Himmel, er war nicht der Kletterer, der für die größte Wand lebte, der Surfer, der sich nach der ultimativen Mega-Welle sehnte – er strebte einfach nach täglicher Perfektion, freute sich über einen Nachmittag mit guten Wellen. Er träumte nicht von den Drachen, die er da draußen töten mußte. Auf eine wunderbare Art fällt Surfen aus den Erzählungen über Tod und Veränderung heraus – es ergibt im Grunde keine Geschichte. In Gesprächen und Texten darüber hört man selten etwas über das eigentliche Surfen. Drei Stunden mit der tollsten Brandung in deinem Leben sind einfach nur das – nichts, worüber man etwas erzählen könnte. Man geht raus, kommt rein, surft und verbringt den größten Teil der Zeit mit Treibenlassen, Warten, Herumfahren. Man kann zwar das aufregende Gefühl beschreiben, wenn man nach dem Anpaddeln die Welle runtersaust, wird aber in Not geraten, wenn man schildern will, wie sich das Wasser bewegt, wie sich verschiedene Bewegungsvektoren anfühlen, die wilde Vitalität des Ganzen. Man kann drüber reden, dass man radikal carvt oder auf der Lippe reitet. Doch selbst dann, wenn sich der Zuhörer das Pulsieren der Welle tatsächlich vorstellen kann und sich ausmalt, wie aufregend es ist, auf dieses übernatürliche Strömen der Wellen zu reagieren und sich ihnen wieder zu entziehen, während sie donnernd auf ein Riff brechen, ergibt das noch immer keine Geschichte. Die gebrochene Achse eines Lkw und der sechsstündige Gewaltmarsch durch die Baja-Wüste, um Hilfe zu holen, all das kann noch Jahre später wiederholt werden; viel eher als ein «Ich hatte noch diesen superspäten Drop geschafft, und dann baute sich die Welle zu einer irren Tube auf, bevor sie einfach zumachte».

Eine Surfsession ist also ein unbedeutendes Ereignis außerhalb der linearen Zeit. Sicher, du kannst deine letzte Welle erwischen, doch wird das weniger der natürliche Schlusspunkt einer intensiv erlebten Erzählung sein als eher der Moment, an dem der Kreis durchtrennt wird. Anstelle von Bedingungen – beispielsweise einer guten Westdünung oder einem leicht ablandigen Wind – erzählt man sich von entspannten Zweimeterwellen nahe am Ufer. Kein Konflikt, keine Krise und keine Lösung; kein schwer zu erreichendes Ziel, kein Kampf zwischen Mannschaften oder zumindest gegen den eigenen Schweinehund. Kein Hindernis, das man gegen große Widerstände überwindet – ja, das Schwierigste beim Surfen geschieht, bevor man auf dem Board auf die Füße kommt. Deshalb sind Gespräche mit Nichtsurfern etwa so, als erzählte man: «Ich bin heute rausgegangen und habe masturbiert, und es war toll.» Wen schert's? In der reichen Tradition der Geschichten über das Wellenreiten geht es eher darum, was man davor und danach gemacht hat, weniger um das Surfen selbst – außer vielleicht im Fall einer enorm großen, gefährlichen Welle. Gewiss, jeder kann die Freude nachempfinden, die das Meer bietet – Vögel, Fische, Delphine, Seehunde und Otter und vielleicht Haie und Seetangstränge, die in der Dünung umhertreiben und hier und da ihre Meereshexenköpfe herausstrecken – möglicherweise kann man sich sogar ausmalen, wie sich der kristallene Vorhang ringsherum senkt, oder sich die unbändige Freiheit vorstellen, wenn man in den goldenen Ball einer sinkenden Sonne gleitet. Trotzdem ergibt es keine Geschichte. Und deshalb ist die Haltung, selbstgefällig mit einem «Wenn du schon fragst …» zu antworten, die mangelnde Artikuliertheit als Elitebewusstsein auszugeben, weit verbreitet: «Nur ein Surfer kennt dieses Gefühl.» Man hört oft den Vergleich von Surfen mit Sex; eine ziemlich gewagte Analogie, außer vielleicht, was das selbstvergessene Teilhaben an einem energiegeladenen Geschehen betrifft, das ständige körperliche Reagieren auf ein sich änderndes Medium, was – bestenfalls – alle Gedanken an Vergangenheit und Zukunft auslöscht. Willie drückte es später einmal so aus, dass Surfen für ihn einem japanischen Tanz auf Reispapier ähnele, bei dem der Tänzer so vorsichtig auftritt, dass das Papier nicht zerreißt. Er meinte, dass jede Welle alles, was zuvor geschehen sei, fortspüle. Und an jenem Tag am «Chums», während ich aus einer Welle rauspaddelte und im Gefühl eines grandiosen Wellenritts schwelgte, bemerkte ich, dass ich mich an nichts Besonderes erinnern konnte, nicht einmal an die ungebrochene Wellenwand, die hereinrollte.

Als es dämmerte, waren wir alle erschöpft und doch aufgekratzt. Die Sonne glitzerte hinter den Wolken wie eine blutige Muschelschale in einem grauen Teich. Im Norden, oberhalb der Insel vor der Küste rahmte ein erster Flecken Blau ein Stück Regenbogen, dann klarte der Himmel über uns auf, und ein riesiges Bollwerk aus weißem Nebel erglühte hell-rosa. Willie erwischte eine letzte Welle. Und während ich auf meine wartete, dachte ich, wie furchtbar es wäre, entzweigebissen zu werden, nachdem man sich schon zum Gehen entschlossen hatte – wie ein Polizist, der am Tag seiner Pensionierung erschossen wird. Doch dann erschien meine letzte Welle, ein stilles Geschenk, schimmernd und silbrig-weich, ohne Gebrüll, Gebell oder Gebeiße; hob mich auf einer hundert Meter langen Wand, die ich kaum sah. Als wir auf dem Schieferplateau standen und unsere klammen Neoprenanzüge auszogen, am nassen Gummi zerrten und fuchtelten, um alle Gliedmaßen freizubekommen, wehte eine laue Brise von den Klippen herunter. Plötzlich spürte ich Gewissensbisse, auch wenn ich keine Ahnung hatte, warum. Weil ich nicht weiterkam im Leben? Zeit verlor? Den Zug des Lebens verpasste? «Wir werden am Himmelstor bestraft werden, nicht wahr?»

«Nein», sagte Willie. «Gott interessiert sich nicht für so was.» Leider klang diese Versicherung nicht ganz überzeugend in seinem Alter. Was immer er sich im Leben beweisen musste, hatte er anscheinend bereits bewiesen.

Besorgt blickte ich mich nach Vince um. Er blies die Backen auf, als wollte er sagen: Lass mich da bloß raus. Damit erklärte er sein unveräußerliches Recht, sein frei gewähltes Leben zu genießen. Über uns auf der Klippe hockte ein großer Habicht mit goldfarbener Brust auf einem runden Felsen. Er hatte sich niedergelassen, um in die letzten Strahlen der untergehenden Sonne zu sehen, war aus den Wäldern zurückgekehrt, um einen irdischen Augenblick wahrzunehmen; und so sah er aufs Meer, wo das sanfte Blau am äußersten Rand der Welt verschwamm. Ich konnte dem Habicht seine Verzückung nicht verdenken. Schließlich ist das Gefühl der Leere abhängig davon, ob man (un)fähig war, dem betreffenden Raum einen Sinn abzugewinnen. Später dann, als wir nach Hause fuhren, ging der violette Vollmond über der Bucht auf, die wie eine japanische Berglandschaft in nebligen, waldigen Gestaden verblasste. Die Farbe, ja selbst die Wasseroberfläche schienen nicht mehr und nicht weniger als Wind zu sein: Manche Winde sind prächtig, andere aggressiv, chaotisch oder schwächlich, aber an jenem Abend war der ablandige Wind reine Kunst. Und während sich Vince und Willie darüber unterhielten, wie es vor zwanzig Jahren hier oben gewesen war, als nur eine Hand voll Surfer diesen Spot kannten, dachte ich mir, dass etwas von der Liebe des Neuengländers zum Herbst in der des Kaliforniers zum Surfen liegt – ein amerikanisches Gefühl für Ort und Region. Die Altvorderen schwelgten immer in der Erinnerung an die vielen Sommer, die sie unter der inzwischen verschandelten Pier verbracht hatten, an die Abende als Teenager an Stränden, die nun unter Wohnkomplexen begraben liegen, an die Art, wie sie tatsächlich aufgewachsen waren an einem heute berühmten Surfstrand – so als wollten sie sagen, ich bin mehr ein Teil dieses Lebens, als die meisten Amerikaner Teil des Lebens irgendwo sind. Ein tiefgründendes Beharren auf Authentizität, der Glaube an eine Identität, die die amerikanische Kultur nicht belohnt, und die Bitte um Verständnis für all die Werte und Disziplinen, die keine Antwort daraufgeben, ob das, was wir mit dem Leben anstellen, einen Sinn hat.