Vorwort
Es ist furchtbar dunkel, wenn man in kaltem Wasser ertrinkt, zumindest kam es mir so vor. Ich war klaustrophobisch, weil sich meine Lunge füllte, agoraphobisch wegen der Leere unter mir, und mir war, als beobachtete ich, wie sich meine Asche am Himmel verteilte: ehrfürchtig und einsam. Die Wellen, die mich unter Wasser hielten, waren ziemlich hoch, aber mein nahe bevorstehender Tod hatte eher damit zu tun, dass ich kaum etwas über sie wusste. Ich hatte mein Board losgelassen (die Leash, die Sicherheitsleine, war an mein Fußgelenk gebunden), denn es festzuhalten hätte in etwa bedeutet, ein Segel bei Sturm festhalten zu wollen: zu viel Angriffsfläche. Deshalb hatte ich versucht, ohne das Brett unter den Brechern durchzutauchen, war so tief hinuntergegangen, wie ich konnte, während sich die Wellen über mir donnernd brachen. Als ich zum dritten Mal hochgekommen war und bei jedem Auftauchen mehr Wasser in der Lunge hatte als vorher, befand ich mich über hundert Meter vom Strand entfernt, in einer Strömung, die eine Sandbank vor der Küste umspülte. Der Karotten-Kleie-Muffin und die zur Hälfte mit dunkel geröstetem Celebes Kalosi gefüllte Thermosflasche, die mich im Wagen erwarteten, trösteten mich kaum, während eine Welle nach der anderen aus der Tiefe emporwogte, sich an der Sandbank aufbaute, wieder zurückströmte und mich wie eine Stoffpuppe in das kältere, dunklere Wasser schleuderte. Auch die Strömung zog südwärts, sodass ich bald vor der offenen Steilküste treiben würde, wo ich nirgends an Land klettern konnte. Erneut herumgewirbelt und zurück in der Dunkelheit, griff ich, lange bevor die nächste Welle losbrach, nach der Wasseroberfläche, fuchtelte im Strudel herum und verschwendete Sauerstoff, den ich eigentlich brauchte, um am Leben zu bleiben. Zudem hielt ich die Augen nach diesem ersten Blick in den Abgrund – wozu sollte der auch gut sein? – fest geschlossen, und es dauerte so lange, bis ich wieder hochkam, dass ich schließlich tat, was meine Lunge forderte, und meinen Mund öffnete, um etwas, irgendetwas, einzulassen. Ich schluckte Schaum – teils Wasser, teils Luft – und hustete ihn noch aus meiner Luftröhre, als bereits die nächste Welle brach.
Ich wohnte in Berkeleys wunderbarem Edel-Ghetto, verkaufte Gore-Tex-Jacken und lange Designer-Unterwäsche an einem Stand (besser gesagt: an einem Boutique-Stand) und lebte noch zusammen mit meiner Freundin Susan, mit der ich eigentlich nicht mehr zusammen war (derzeitiger Status: vermutlich ohne feste Beziehung), in einer Einzimmerwohnung mit Holzfußboden und Blick auf die Bucht, im dritten Stock eines Hauses, in dem auch acht meiner ältesten Freunde – alle schrecklich erfolgreich – wohnten. Vielleicht, um diesen Leuten gegenüber das Gesicht zu wahren, hatte ich mich bislang noch nicht dazu hinreißen lassen, mich zum sinnlosen Rauschen des Wetter-Kanals zu betrinken, den Weg der arktischen Unwetter über dem Golf von Alaska zu verfolgen und dreimal täglich im Radio den Seewetterberichten für die Küste zu lauschen, als handele es sich um päpstliche Verkündigungen von den Stufen des Petersdoms – was diese Wettervorhersagen in gewisser Hinsicht allerdings sind. Nur gelegentlich raffte ich mich auf, fuhr über die San Francisco Bay Bridge, vorbei an den kitschig-pastellfarbenen Häuschen von Daly City und Pacifica – tristen kleinen Städtchen an diesem verschandelten Abschnitt der Pazifikküste –, um zu den Stränden zu gelangen, über die ich bis dahin kaum etwas wusste; und noch nie hatte ich je mein Tagewerk im Hinblick auf die Ebbe geplant. Ich brachte es sogar immer noch fertig, T-Shirts zu falten, Zeltstangen zu inventarisieren und Skistiefel zu schnüren, auch wenn ich am Vorabend einen Wetterbericht für Surfer abgefragt hatte. Die kratzige Tonbandaufnahme des San Francisco's Wise Surfboards war im typischen kalifornischen Akzent besprochen, der tief aus der Kehle kommt und bei dem man die letzte Silbe jedes Wortes dehnt: «Also, Jungs, heute geht's da draußen so richtig zur Sache. Sechs, sieben Meter hohe Wellen brechen sich eine halbe Meile vor der Küste – auf jeden Fall ein Tag für sicherere Häfen.» Aber man hört natürlich, was man hören will (das Wort, falls Sie es nicht kennen, lautet Hybris: Hybris: N. übermäßiger Stolz oder Selbstbewusstsein; Arroganz. Syn. Übermut, Unverschämtheit. Ant. Bescheidenheit, Zurückhaltung).
Ich war um fünf Uhr aufgestanden, hatte nichts als billigen Nervenkitzel im Sinn, Kaffee, Scones und besagten Muffin im Auto und fuhr im Scheinwerferlicht und mit den Radionachrichten (Immobilienpreise fallen, Mann bei Unfall im Fahrstuhl getötet, Dow-Jones steigt) über die Brücke, während San Francisco in der Morgendämmerung langsam erwachte. Glücklich, weil kein anderes Auto am Strand war, stand ich splitterfasernackt am Fahrbahnrand und fröstelte im kalten Wind – der höchstwahrscheinlich aus Süden kam, obwohl ich damals noch nicht sagen konnte, aus welcher Richtung Wind kam, und noch überhaupt keine Ahnung hatte, wie sich Luftbewegungen auf Wasser auswirken. Während die Pendler Richtung Norden an mir vorbeisausten und ich mich – eingebildet wie immer – zweifellos dazu beglückwünschte, dass ich mich für einen Morgen der Alltagsmühle entzogen hatte, streifte ich meinen schäbigen 70er-Jahre-Neoprenanzug über, ein Erbstück meines Onkels. Auf dem Weg zum Strand hinunter spürte ich den Schotter unter meinen Füßen und zitterte in der feuchten Nachtluft, die sich dort über dem Flussbett gehalten hatte. Bei hoher Dünung hängt über der Küste ein merkwürdiger Nebel, ein feiner, fast unsichtbarer Dunstschleier, aber das wusste ich damals noch nicht, und ich bemerkte auch nicht, wie die Morgendämmerung das körperlose Meer in weiches, dunstiges Rot tauchte. Es war Anfang Januar, mitten in der Regensaison, dem eigentlichen kalifornischen Frühling. Die ersten Rettich-Blüten gaben den Landstraßen etwas bescheiden Fröhliches: Zierlich, lila und weiß zogen sich die Blüten an den brachliegenden, von Sauerklee, Senfpflanzen und Disteln üppig grün überzogenen Feldern entlang. In einigen Wochen würde die ganze Gegend in hellstem, wogendem Gelb erstrahlen. Aber davon bemerkte ich wahrscheinlich auch nichts.
Vermutlich sah ich jedoch die kleinen Waldkaninchen, wie sie unbeweglich in den Senken des Schotterwegs hockten, dachte vielleicht sogar an ihre Anfälligkeit für Herzinfarkte, wenn man sie jagte, und daran, dass sie offenbar dafür geboren waren, eine kleine Mahlzeit abzugeben. Mit Sicherheit wusste ich aber nichts über die rauchweiße Kornweihe, die jeden Tag in der mit Schilf bewachsenen Lagune jagte und zu dieser kalten Morgenstunde auf einem Hochspannungsmast der Southern Pacific Railroad hockte und darauf wartete, dass die Sonne die aufsteigenden Luftschichten, die sie tragen würden, erwärmte. Als ich auf dem menschenleeren Strand stand, vor einer der höchsten Dünungen des Jahrzehnts, nahm ich wahrscheinlich nur die gewaltige Brandung wahr und dachte verständlicherweise: Was für ein Wahnsinnsleben! Vielleicht kamen mir die Gischtfinger des Meeres, die nach dem trockenen Teil des Strandes griffen – und Hunderte von watschelnden Möwen aufscheuchten –, ein wenig ungewöhnlich vor. Bestimmt aber bemerkte ich nicht, dass eine Zwei-Meter-Brandung bei derart hoher Dünung Brecher auf Brecher hervorbrachte, durch die man nie und nimmer hindurchpaddeln konnte. Weder erkannte ich, dass das sich durch die Sandbank zwischen Lagune und Meer ziehende Flussbett eine Gegenströmung erzeugte, durch die man sicher zur eigentlichen Brandung hinauspaddeln kann, noch, dass die Wellen dort nie brachen, da sie in einem Tiefwasserkanal strömte. Ich wusste nicht mal, dass Wellen in Gruppen kamen, weshalb ich auch nicht die Pause dazwischen abwartete. Und selbst wenn ich bemerkt hätte, wie groß die Wellen vor der Bucht waren, wäre mir bestimmt nicht klar gewesen, dass sie meine Fähigkeiten überstiegen. Und dieses Kapitel sollte ich auch nie lernen, denn wie ein Idiot paddelte ich direkt vom Sand aus los, fiel vom Board, trieb mit vier oder fünf Knoten nach Süden ab und blieb zu lange tief unter Wasser.
Während ich noch das Wasser von meinem letzten Waschgang spuckte, sah ich, wie sich die nächste, von Gischt durchzogene und mit schlickbraunem Schaum aus dem überschwemmten Flussbett umrandete Welle grau-schwarz auftürmte, und mir wurde klar, dass ich ertrinken würde, wenn ich es nicht an Land schaffte. Dieser Gedanke ging mir mit beunruhigender Nüchternheit durch den Kopf: Tja, ich werde ertrinken. Aber Surfboards schwimmen, und Schwimmen war plötzlich eine tolle Idee: Zieh an der Leash, klettere aufs Brett, wende Richtung Land und halt dich fest. Der Kamm brach drei Meter vor der Welle, und die Gischt flog an mir vorbei, bis die Wand aus Weißwasser mich umherwirbelte. Ich übertreibe nicht zu sehr, wenn ich sage, dass sich der Aufprall wie der eines Eisenbahnzuges anfühlte, nur dass Blut spritzt, wenn Metall auf Fleisch prallt. Mal lag ich reglos da, mal flog ich durch die Luft. Das Ganze hatte die unmenschliche Wucht eines über die Ufer tretenden Flusses oder einer Schneelawine. Meine Finger krallten sich in die billige Polyesterhaut meines Boards, während ich unter Wasser umhergeschleudert wurde, doch die Oberfläche kam mir diesmal ziemlich rasch wieder entgegen, ebenso der Strand. Die dritte Welle schwemmte mich dann mitten auf den Sand, einfach so.
Da hockte ich nun also auf Händen und Knien, rot im Gesicht und sabbernd. Eine Weile zitterte und würgte und kotzte ich, dann hyperventilierte ich noch eine längere Weile, bis ich schließlich nur noch dasaß und das Adrenalin allmählich absinken ließ, bis ich die leichte Übelkeit verspürte, die hinterher bleibt. Eine Stunde später ging ich tropfnass den stillen Schotterweg wieder hinauf, während die Kornweihe vermutlich ihre Jagd begonnen hatte und der Tau auf den Weidenbäumen im Sonnenschein verdampfte. Immer noch leicht schwindlig, mit flauem Gefühl im Bauch, verwirrt und ordentlich durchgedroschen, setzte ich mich auf die Heckklappe meines Pick-ups und versuchte, den Surfanzug abzustreifen. Dann spülte ich den kleinen Muffin mit dem letzten Schluck Kaffee hinunter und sah zu, wie ein Surfer nach dem anderen neben dem Highway anhielt, die Böschung hinaufkletterte, um die Wellen zu studieren, den Kopf schüttelte und wieder wegfuhr. Vermutlich dachte ich damals, dass die Jungs Angst hatten. Heute weiß ich, dass die Bedingungen einfach nicht gut waren: die Dünung zu unregelmäßig, die Strömung zu stark, die Wellen durcheinander, der Wind aus falscher Richtung.
Es verging über ein Jahr, bis ich wieder so hohe Brecher sah, aber da hatte ich meinen Job bereits gekündigt und war direkt ans Meer gezogen. Mein Bruch mit der Erwerbsarbeit vollzog sich ungefähr folgendermaßen: Gegen elf Uhr morgens, im Augenblick eines kurz bevorstehenden, von Koffein und persönlicher Angst ausgelösten Zusammenbruchs, mit schwitzigen Füßen, fettigem Haar und zunehmend asozialer Disposition, teilte ich dem stellvertretenden Geschäftsführer Sean, einem prima Typen, mit:
«Sean, ich gehe.»
«Zum Lunch?»
«Hm… eigentlich nicht.»
«Ach.»
«Ja.» Ich nickte bestätigend. «Das war's dann.»
«Hm.» Sean musterte mich eingehend, vielleicht sogar mitleidig, dann zuckte er die Achseln. «Na dann, tschüs?»
«Tschüs.»
In diesem Buch soll es aber nicht darum gehen, wie ich zurückkehrte, um die großen Wellen zu bezwingen – ohnehin ein sinnloses Unterfangen sondern um meine spontane Regung, die, wie ich fand, letzten freien Jahre meiner Jugend (ich habe keine Vorstellung von dem Eingesperrtsein, das danach kommt) zu nutzen und herauszufinden, ob ich tatsächlich am Meer leben konnte, wie ich es mir immer erträumt hatte. Und es geht um das, was dann folgte: meine Beschäftigung mit den tradierten Geschichten und kalifornischen Mythen, die mich hierher gebracht hatten, und meine stürmische Liebesaffäre mit der kalifornischen Küste. Am wichtigsten aber ist: Es geht um die Gründe, warum das Wellenreiten meine Daseinsform in der Welt wurde, eine Möglichkeit, nicht nur Gestalt und Temperament der Wellen, sondern auch das lebendige Wesen dieses großartigen Elements zu erfahren.