Robert Ludlum Philip Shelby
Der CassandraPlan
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Das Pockenvirus scheint besiegt. Nur in zwei Geheimlabors in Russland und den USA werden noch Restproben verwahrt, doch Unbekannte versuchen, die tödlichen Viren zu stehlen. Lt. Colonel Jon Smith muss den Diebstahl um jeden Preis verhindern, denn ein Ausbruch der Seuche würde die ganze Menschheit bedrohen …
Originalausgabe The
Cassandra Compact 2003 by Ullstein Heyne List
Umschlagillustration: Corbis/Royalty - Free
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München ISBN:
3-453-19898-0
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Vorwort
THE NEW YORK TIMES Dienstag, 25. Mai 1999 Sektion D: Wissenschaft Seite D-3 Von Lawrence K. Altmann, MD
Vor zwanzig Jahren wurden die Pocken, jene uralte Geißel der Menschheit, endgültig besiegt. Das Pockenvirus befindet sich sozusagen in der Todeszelle, in zwei streng bewachten Labors in den Vereinigten Staaten und Russland eingefroren…
Gestern hat die Weltgesundheitsbehörde mit Unterstützung Russlands und anderer Regierungen dem Virus in aller Form einen weiteren Hinrichtungsaufschub gewährt…
… Forschungsarbeiten zur Entwicklung von Medikamenten gegen die Krankheit oder von verbesserten Impfstoffen hätten praktisch keinen Sinn; es sei denn, irgendein Schurkenstaat würde seine geheimen Bestände an Pockenviren bei einem biologischen Terrorangriff einsetzen, eine Vorstellung, die inzwischen keineswegs mehr als absurd gilt.
Auf Ersuchen der Weltgesundheitsorganisation haben russische und amerikanische Wissenschaftler die kompletten DNS-Daten von Variola aufgezeichnet. Die Weltgesundheitsorganisation war der Ansicht, damit über hinreichende Informationen für künftige Forschungsvorhaben und für den Vergleich mit Viren zu verfügen, die etwa von Terroristen freigesetzt würden…
Aber dann hat sich eine Anzahl von Wissenschaftlern gegen diese Vorstellung ausgesprochen und erklärt, dass sich mit solchen Sequenzen allein keineswegs bestimmen ließe, in welchem Maße ein Virus durch bestimmte Heilmittel unschädlich gemacht werden könnte.
Dr. Fauci vom Staatlichen Institut für Allergien und Infektionskrankheiten meinte dazu: »Es mag ja sein, dass dieses Virus nie aus dem Kühlschrank geholt wird, aber zumindest ist es vorhanden.«
1
Der Wärter blickte auf, als er das Knirschen von Autoreifen auf dem Kies hörte. Es war schon beinahe völlig dunkel, und er hatte sich gerade Kaffee gekocht und eigentlich keine Lust, aufzustehen. Aber dann überwog doch seine Neugierde. Besucher, die nach Alexandria kamen, suchten nur selten den Friedhof von Ivy Hill auf; in der historischen Stadt am Potomac gab es eine ganze Menge anderer attraktiverer Sehenswürdigkeiten für die Lebenden. Und Ortsansässige kamen an den Wochentagen nur sehr selten heraus; ganz besonders nicht an einem Spätnachmittag im April, wenn es zu allem Überfluss noch regnete.
Er spähte durch das kleine Fenster seiner Wachstube hinaus und sah einen Mann, der aus einem unauffälligen Wagen stieg. Staatsbeamter? Seiner Schätzung nach war der Besucher Anfang der Vierzig, groß und sichtlich durchtrainiert. Der herrschenden Witterung gemäß trug er eine wasserdichte Jacke, dunkle Hosen und derbe Stiefel. Der Wärter beobachtete, wie der Mann sich ein paar Schritte von dem Wagen entfernte und sich umsah, sich ein Bild von seiner Umgebung verschaffte. Nicht Staatsbeamter - Militär. Er öffnete die Tür, trat unter das Vordach und beobachtete den Besucher, wie der dastand, durch die Friedhofstore hereinsah und dabei offenbar den Regen, der ihm das dunkle Haar durchnässte, überhaupt nicht zur Kenntnis nahm.
Vielleicht ist er das erste Mal hier, dachte der Wärter. Beim ersten Mal wirkten sie alle ein wenig verstört und scheuten davor zurück, einen Ort zu betreten, der mit Schmerz, Leid und Verlust verbunden war. Er sah auf die linke Hand des Mannes und entdeckte dort keinen Ring. Ein Witwer? Er versuchte sich zu erinnern, ob hier in letzter Zeit eine junge Frau beerdigt worden war.
»Hallo.«
Die Stimme verblüffte den Wärter. Für einen Mann dieser Größe war sie erstaunlich sanft und weich, gerade so als hätte da ein Bauchredner gesprochen.
»Tag. Wenn Sie reinkommen wollen, kann ich Ihnen einen Schirm geben.«
»Das wäre sehr nett, vielen Dank«, sagte der Mann, bewegte sich aber nicht von der Stelle.
Der Wärter griff hinter sich in eine n Schirmständer, der früher einmal eine Gießkanne gewesen war. Er nahm den Regenschirm, ging auf den Mann zu und musterte dabei sein Gesicht mit den hohen Backenknochen und den auffallend blauen Augen.
»Ich heiße Barnes und bin hier der Wärter. Wenn Sie mir sagen, wen Sie aufsuchen wollen, kann ich Ihnen die Mühe ersparen, in dem Matsch hier herumzustapfen.«
»Sophia Russell.«
»Russell haben Sie gesagt? Kann mich im Augenblick nicht erinnern.
Lassen Sie mich nachsehen. Es dauert bloß einen Moment.«
»Machen Sie sich keine Umstände. Ich finde mich schon
zurecht.«
»Ich muss Sie trotzdem ins Besucherbuch eintragen.«
Der Mann spannte den Regenschirm auf. »Jon Smith. Dr. Jon Smith.
Ich weiß schon, wo ich sie finden kann. Vielen Dank.«
Der Wärter glaubte eine kurze Unsicherheit in der Stimme des
anderen zu hören. Er hob den Arm und wollte ihm schon etwas
nachrufen, aber der Mann hatte sich bereits mit langen,
zielstrebigen Schritten in Bewegung gesetzt, ging so, wie Soldaten
das tun, und war gleich darauf in den grauen Regenschwaden
verschwunden.
Der Wärter starrte ihm nach. Ein kalter Schauder lief ihm über den
Rücken und ließ ihn zusammenzucken. Er kehrte in das kleine
Wachhäuschen zurück, schloss die Tür ab und verriegelte sie
fest.
Dann holte er das Besucherbuch von seinem Schreibtisch, klappte es
auf und trug bedächtig den Namen des Mannes und den Zeitpunkt
seiner Ankunft ein. Einem plötzlichen Impuls folgend klappte er die
hintere Hälfte des Buches auf, wo die Begrabenen in alphabetischer
Reihenfolge aufgelistet waren.
Russell… Sophia Russell. Da ist sie: Reihe 17,
Platz 12. Beerdigt… vor genau einem Jahr!
Drei Trauergäste hatten damals im Register unterschrieben, und
einer davon war Jon Smith, M.D. Warum haben
Sie dann keine Blumen mitgebracht?
Smith war für den Regen dankbar, als er auf dem gewundenen Weg Ivy Hill durchquerte. Er war wie ein Grabtuch, spannte sich über Erinnerungen, die immer noch wehtaten, Erinnerungen, die ihn das ganze letzte Jahr nicht losgelassen, die ihm nachts zugeflüstert, seine Tränen verspottet und ihn gezwungen hatten, jenen schrecklichen Augenblick immer wieder aufs Neue zu durchleben.
Er sieht den kalten, weißen Raum in dem Krankenhaus des Militärischen Forschungsinstituts für Infektionskrankheiten in Frederick, Maryland, vor sich. Sophia liegt vor ihm, die Frau, die er liebt, die Frau, die er heiraten will. Er sieht, wie sie sich unter dem Sauerstoffzelt windet, keuchend um Atem kämpft. Nur wenige Schritte ist er von ihr entfernt, und ist doch machtlos, kann ihr nicht helfen. Er schreit auf das Krankenhauspersonal ein, aber seine Schreie hallen von den Wänden wider, als wollten sie ihn verspotten. Sie wissen nicht, was ihr fehlt. Sie sind ebenso machtlos wie er.
Plötzlich stößt sie einen Schrei aus - Smith hört ihn immer noch in seinen Albträumen und betet darum, ihn nie wieder hören zu müssen. Ihr Rücken, angespannt wie ein Bogen, bäumt sich in einem unmöglichen Winkel auf; Schweiß strömt ihr aus allen Poren, wie um ihren Körper von dem Toxin zu reinigen. Ihr Gesicht ist vom Fieber gerötet. Einen Augenblick lang ist sie wie erstarrt. Dann bricht sie zusammen. Blut strömt ihr aus Mund und Nase, und tief aus ihrem Inneren ertönt das Rasseln des Todes, gefolgt von einem sanften Seufzer, als ihre Seele endlich befreit aus dem gemarterten Körper entflieht…
Smith fröstelte und sah sich schnell um. Ihm wurde gar nicht bewusst, dass er stehen geblieben war. Der Regen trommelte immer noch auf seinen Schirm, schien jetzt aber wie in Zeitlupe zu fallen. Er hatte das Gefühl, jeden einzelnen Tropfen hören zu können, der auf den Nylonstoff klatschte.
Er wusste nicht genau, wie lange er so dastand, einer verlassenen, vergessenen Statue gleich, oder was ihn schließlich dazu veranlasste, weiterzugehen. Er wusste nicht, wie er schließlich den Weg erreicht e, der ihn zu ihrem Grab führte oder wie es dazu kam, dass er plötzlich davor stand.
SOPHIA RUSSELL
JETZT IM SCHUTZ DES HERRN Smith beugte sich vor und strich mit den
Fingerkuppen über den glatten, weißrosa Granit des Grabsteins.
»Ich weiß, ich hätte öfter kommen sollen«, flüsterte er. »Aber ich hab es einfach nicht fertig gebracht. Ich dachte, wenn ich hierher komme, müsste ich mir eingestehen, dass ich dich für immer verloren habe. Und das konnte ich nicht… bis heute nicht.
Den ›Hades Faktor‹, so haben sie es genannt, Sophia, dieses Entsetzliche, das dich mir weggenommen hat. Du hast nie die Gesichter der Männer gesehen, die damit zu tun hatten; wenigstens das hat Gott dir erspart. Aber du sollst wissen, dass sie für ihre Verbrechen bezahlen mussten.
Ich habe meine Rache ausgekostet, meine Liebste, und ich dachte immer, das würde mir Frieden bringen. Aber das tat es nicht. Seit Monaten habe ich mir immer wieder die Frage gestellt, wie ich diesen Frieden endlich finden könnte, doch am Ende war die Antwort immer dieselbe.«
Smith holte ein kleines Etui aus der Jackentasche, ein Etui wie Juweliere es benutzen. Er klappte es auf und musterte den in Platin gefassten sechskarätigen Diamanten, den er bei Van Cleef & Arpel in London gekauft hatte. Es war der Ehering, bestimmt für den Finger der Frau, die er hatte heiraten wollen.
Smith kauerte sich nieder und drückte den Ring in die weiche Erde am Fuße des Grabsteins. »Ich liebe dich, Sophia. Ich werde dich immer lieben. Du wirst immer das strahlende Licht meines Lebens sein. Aber für mich ist jetzt die Zeit gekommen, um weiterzuziehen. Ich weiß nicht, wohin mich mein Weg führt oder wie ich dorthin kommen werde. Aber ich muss gehen.«
Smith führte seine Fingerspitzen an die Lippen
und berührte dann den kalten Stein.
»Möge Gott dich segnen und dich stets behüten.« Er hob den
Regenschirm auf, trat einen Schritt zurück
und betrachtete den Grabstein, als müsse er sich das Bild für alle Zeiten tief in sein Gedächtnis einprägen. Dann hörte er die leisen Schritte hinter sich und drehte sich schnell um.
Die Frau mit dem schwarzen Regenschirm war Mitte dreißig, groß, mit leuchtend rotem Haar, das ihr schräg in die Stirn fiel. Ihre Nase und ihre Backenpartie waren von Sommersprossen gesprenkelt. Ihre Augen, so grün wie die Brandung an einem Riff, weiteten sich, als sie Smith ins Gesicht sah.
»Jon? Jon Smith?«
»Megan…?«
Megan Olson trat schnell auf ihn zu, nahm seinen Arm
und drückte ihn.
»Bist du das wirklich? Mein Gott, das sind ja…« »Es war eine lange
Zeit.«
Megan sah an ihm vorbei auf Sophias Grab. »Es tut mir
so Leid, Jon. Ich wusste nicht, dass jemand hier sein würde. Ich wollte nicht stören.«
»Ist schon gut. Ich habe das getan, was ich
hier tun wollte.«
»Ich denke, wir sind beide aus demselben Grund hier«, sagte sie
leise. Sie zog ihn unter die schützenden Äste einer mächtigen Eiche
und sah ihn an. Die Linien und Falten in seinem Gesicht waren
tiefer als sie das in Erinnerung hatte, und eine ganze Menge neue
waren dazugekommen. Sie konnte sich ausmalen wie das Jahr gewesen
war, das Jon Smith hinter sich hatte. »Das war ein schwerer Verlust
für dich, Jon«, sagte sie. »Ich kann es dir nachfühlen und
wünschte, ich hätte dir das früher sagen können.«
Sie zögerte. »Ich wünschte, ich wäre hier gewesen, als du Beistand
gebraucht hast.«
»Ich habe versucht, dich anzurufen, aber du warst nicht da«,
erwiderte er. »Deine Arbeit…«
Megan nickte bedrückt. »Ich war nicht da«, sagte sie
vage.
Sophia Russell und Megan Olson waren beide in Santa Barbara
aufgewachsen, waren dort gemeinsam zur Schule gegangen und dann
später auf die UCLA. Nach dem College hatten sich ihre Wege
getrennt. Sophia hatte ihren Doktor in Zell- und Molekularbiologie
gemacht und war beim Militärischen Institut für Seuchenerkrankungen
eingetreten, USAMRIID (US Army Medical Re search Institute of
Infectious Diseases) in der Kürzelsprache des Pentagon. Nach ihrem
Diplomabschluss in Biochemie hatte Megan eine Stelle bei der
Staatlichen Gesundheitsbehörde angenommen. Aber nach nur drei
Jahren der Tätigkeit dort war sie von der ärzt lichen
Forschungsabteilung der Weltgesundheitsorganisation angestellt
worden. Sophia hatte von ihr Postkarten aus der ganzen Welt
erhalten und sie in einem Album gesammelt, um wenigstens auf diese
Weise mit ihrer Freundin Verbindung zu halten, die der Beruf zur
Globetrotterin gemacht hatte. Und jetzt war Megan ohne jede
Vorankündigung plötzlich zurückgekehrt.
»NASA«, sagte Megan, um damit Smith’ unausgesprochene Frage zu
beantworten. »Ich bin des Zigeunerlebens müde geworden und habe
mich zur Schulung für das Space Shuttle gemeldet. Man hat mich
angenommen. Jetzt stehe ich auf Platz eins der Warteliste für die
nächste Weltraummission.«
Smith hatte Mühe, seine Überraschung zu verbergen. »Sophie hat
immer gesagt, sie wüsste nie, womit du einen als Nächstes
überraschst. Gratuliere.«
Megan lächelte schwach. »Danke. Wahrscheinlich weiß niemand von
uns, was einem bevorsteht. Bist du immer noch bei der Army, bei
USAMRIID?«
»Ich weiß im Augenblick nicht so recht, wo ich eigentlich
hingehöre«, erwiderte Smith. »Ich bin sozusagen zwischen den
Einsätzen.«
Das war nicht die ganze Wahrheit, kam ihr aber nahe genug. Er
wechselte das Thema. »Wirst du eine Weile in Washington bleiben?
Vielleicht könnten wir uns mal treffen.«
Megan schüttelte den Kopf. »Das würde ich gerne tun, aber ich muss
noch heute Abend zurück nach Houston. Trotzdem möchte ich den
Kontakt mit dir nicht verlieren, Jon. Wohnst du immer noch in
Thurmont?«
»Nein, ich habe das Anwesen verkauft. Da hingen zu viele
Erinnerungen dran.«
Er kritzelte ihr seine Adresse in Bethesda auf die Rückseite einer
Visitenkarte und schrieb seine Telefonnummer daneben.
»Sieh zu, dass wir einander nicht fremd werden«, meinte er, als er
ihr die Karte reichte.
»Bestimmt nicht«, versprach Megan. »Pass gut auf dich auf,
Jon.«
»Du auch. War nett, dich zu sehen, Megan. Viel Glück bei all deinen
Vorhaben.«
Sie sah ihm nach, wie er unter dem schützenden Ast hervortrat und
im strömenden Regen verschwand.
»Ich weiß im Augenblick nicht so recht, wo ich eigentlich hingehöre…«
In Megans Vorstellung war Smith nie ein Mann ohne Ziel und Zweck gewesen. Sie dachte immer noch über seine geheimnisvolle Bemerkung nach, als sie zu Sophias Grab hinüberging, während der Regen auf ihren Schirm herunterprasselte.
2
Das Pentagon beschäftigt mehr als 23000 Mitarbeiter Zivilisten und Militärs - und hat diese in einem recht einmaligen Gebäude von beinahe 40000 Quadratmetern untergebracht. Auf der Suche nach Sicherheit, Anonymität und Zugang zu modernsten Kommunikationsanlagen und den Machtzentren Washingtons könnte man sich wohl kaum einen perfekteren Ort vorstellen.
Die Abteilung für Liegenschaften beansprucht für sich einen winzigen Teil der Büros im E-Block des Pentagons. Wie ihr Name besagt, ist diese Abteilung mit der Beschaffung, der Verwaltung und der Sicherheit militärischer Gebäude und Liegenschaften befasst und damit zuständig für den Immobilienbestand auf der ganzen Welt, angefangen bei Lagerhäusern in St. Louis bis hin zu den ausgedehnten Erprobungsarealen der Luftwaffe in der Wüste von Nevada. In Anbetracht der alles andere als ruhmreichen Arbeit, die in dieser Abteilung geleistet wird, neigen die dort tätigen Männer und Frauen eher zur zivilen als zur militärischen Wesensart. Sie treffen um neun Uhr morgens an ihren Schreibtischen ein, leisten ihre Arbeit und verlassen die Büros um siebzehn Uhr wieder. Weltereignisse, die ihre Kollegen in anderen Bereichen manchmal Tag und Nacht an ihren Schreibtischen festhalten, haben keinen Einfluss auf sie. Den meisten von ihnen gefällt das durchaus.
Auch Natha niel Fredrick Klein gefiel es - freilich aus völlig anderen Gründen. Kleins Büro befand sich am Ende eines Korridors und war dort zwischen zwei Türen eingezwängt, von denen die eine die Aufschrift STROMVERSORGUNG und die andere HAUSVERWALTUNG trug. Nur dass sich hinter diesen Türen keine derartigen Räume befanden und die Türschlösser sich nicht einmal mit den kompliziertesten Schlüsselkarten öffnen ließen. Die dahinter liegenden Räume waren Teil von Kleins geheimen Büros.
Die Tür Kleins selbst trug kein Namensschild, nur eine interne Pentagonbezeichnung: 2E377. Die wenigen Kollegen, die ihn je zu Gesicht bekommen hatten, beschrieben ihn als einen mittelgroßen Mann Anfang der sechzig, an dem mit Ausnahme seiner ziemlich langen Nase und seiner Stahlbrille wenig Auffälliges war. Möglicherweise erinnerten sie sich auch an seine konservativ geschnittenen und immer irgendwie zerknittert aussehenden Anzüge, und vielleicht auch an sein beiläufiges Lächeln, wenn man ihm im Flur begegnete. Möglicherweise hatten sie auc h gehört, dass Klein gelegentlich zu den Vereinigten Stabchefs oder vor einen Kongressausschuss bestellt wurde. Aber das stand durchaus in Einklang mit seinem Dienstrang. Vielleicht wussten sie auch, dass er für die Sicherheitsvorkehrungen sämtlicher dem Pentagon unterstellten Anlagen in der ganzen Welt verantwortlich war. Was wiederum die Tatsache erklärte, dass man ihn nur höchst selten zu Gesicht bekam. Tatsächlich war es manchmal recht schwierig mit Sicherheit zu sagen, wer oder was Nathaniel Klein eigentlich war.
Um acht Uhr abends saß Klein immer noch hinter seinem Schreibtisch in dem bescheidenen Büro, das sich durch nichts von all den anderen in diesem Gebäudeflügel unterschied. Er hatte nur ganz wenige persönliche Gegenstände darin untergebracht: ein paar eingerahmte Drucke, die die Welt so zeigten, wie die Kartographen des 16. Jahrhunderts sie sich vorgestellt hatten; einen altmodischen Globus auf einem Piedestal und eine große, vom Space Shuttle aus aufgenommene gerahmte Fotografie der Erde.
Obwohl das nur wenigen Menschen bewusst war, stand Kleins Neigung für die globale Sicht durchaus im Einklang mit seinem eigentlichen Auftrag: Er war Auge und Ohr des Präsidenten. Von seinem unauffälligen Büro aus führte Klein eine Organisation, die die Bezeichnung Covert-One trug. Der Präsident hatte Covert-One nach der schrecklichen Hades Seuche als eine Art Frühwarnsystem mit geheimen Reaktionsmöglichkeiten ins Leben gerufen.
Da Covert-One außerhalb der üblichen Militär- und Geheimdienstbürokratie operierte und damit auch nicht der Überwachung durch den Kongress unterstand, besaß es keine formelle Organisation und auch keine Zentrale. Anstelle akkreditierter Agenten rekrutierte Klein Männer und Frauen, die er als »große Unbekannte« bezeichnete alle waren sie in ihren jeweiligen Tätigkeitsbereichen angesehene Experten, die aber irgendwie, sei es nun durch die Umstände bedingt oder weil sie das so wollten, außerhalb der normalen Gesellschaft standen. Die meisten von ihnen - aber ganz bestimmt nicht alle - hatten eine militärische Karriere hinter sich, waren hoch dekoriert, hatten sich aber mit den etablierten Kommandostrukturen nicht zurechtfinden können und hatten deshalb den Dienst quittiert. Andere kamen aus dem zivilen Leben: ehemalige Ermittler - auf nationaler ebenso wie auf bundesstaatlicher Ebene; Menschen, die sich in einem Dutzend Sprachen fließend verständigen konnten; Ärzte, die die ganze Welt bereist hatten und damit auch den unwirtlichsten Klimabedingungen gewachsen waren. Und die Besten von ihnen, wie Colonel Jon Smith, waren in vielen Welten zu Hause.
Allen war ein Faktor gemeinsam, dessen Fehlen die meisten Kandidaten disqualifizierte, die Klein sich ansah: Ihr Leben gehörte ausschließlich ihnen allein. Sie hatten kaum oder gar keine Familie, wenige Bindungen und erfreuten sich einer professionellen Reputation, die selbst der schärfsten Untersuchung standhalten konnte. Für jemanden, der sich Tausende Meilen von Zuhause entfernt im Dienste seines Landes größten Gefahren aussetzen musste, waren dies Eigenschaften von unschätzbarem Wert.
Klein klappte den Aktendeckel mit dem Bericht zu, den er gelesen hatte, nahm die Brille ab und rieb sich die müden Augen. Er freute sich darauf, jetzt nach Hause zu fahren, dort von seinem Cocker Spaniel Buck begrüßt zu werden und vor dem Abendessen, das seine Haushälterin ihm im Ofen bereitgestellt hatte, einen Fingerbreit Single Malt Scotch zu genießen. Er war gerade im Begriff aufzustehen, als die Verbindungstür zum Nebenzimmer geöffnet wurde.
»Nathaniel?«
Eine schlanke Frau, Anfang der Fünfzig mit leuchtend blauen Augen und mit in einem lockeren Twist hochgestecktem, leicht angegrautem blondem Haar stand unter der Tür. Sie trug ein konservativ geschnittenes blaues Kostüm, dessen schlichte Eleganz eine schmale Perlenkette und ein goldenes Filigranarmband betonten.
»Ich dachte, du wärst schon nach Hause gegangen, Maggie.«
Maggie Templeton, die Klein in seinen zehn Jahren bei der National Security Agency als Assistentin zugearbeitet hatte, hob die fein gezeichneten Brauen.
»Wann bin ich eigentlich das letzte Mal vor dir weggegangen? Und das ist, denke ich, heute auch ganz gut so. Denn du solltest dir das einmal ansehen.«
Klein folgte Maggie in den nebenan gelegenen Raum, der fast völlig von Computern und sonstigem elektronischem Gerät beherrscht wurde. Drei Bildschirme waren nebeneinander aufgereiht, dazu kam eine Unzahl von Servern und externen Speichern, alle mit der modernsten Software ausgestattet, die der Regierung zur Verfügung stand. Klein blieb stehen und bewunderte wieder einmal die Fingerfertigkeit und Eleganz, mit der Maggie ihre Tastatur bearbeitete.
Mit Ausnahme des Präsidenten war Maggie Templeton der einzige Mensch, der Funktion und Arbeitsweise von Covert-One wirklich in allen Details durchblickte. Klein hatte von Anfang an gewusst, dass er als rechte Hand jemanden brauchen würde, dem er hundertprozentig vertrauen konnte, und hatte daher darauf bestanden, dass Maggie in alle Details eingeweiht wurde. Abgesehen von der Tatsache, dass sie schon bei der NSA für ihn tätig gewesen war, verfügte sie über mehr als zwanzig Jahre Erfahrung in der gehobenen Hierarchie der CIA. Am Allerwichtigsten war für Klein freilich, dass sie ein Mitglied seiner Familie war. Maggies Schwester Judith war Kleins Frau gewesen, bis sie vor Jahren eine heimtückische Krebserkrankung dahingerafft hatte.
Auch Maggie hatte Tragisches erlebt: Ihr Mann, ein CIA-Geheimagent, war von einem Auslandseinsatz nicht zurückgekehrt. Das Schicksal hatte es so gewollt, dass Maggie und Klein die einzig Übriggebliebenen ihrer jeweiligen Familien waren.
Maggie hatte inzwischen aufgehört die Tasten zu bearbeiten und tippte jetzt mit einem elegant manikürten Fingernagel an den Bildschirm.
VECTOR SIX.
Die zwei Worte pulsierten in der Mitte des Bildschirms wie eine blinkende Verkehrsampel über der leeren Kreuzung einer Kleinstadt. Klein spürte, wie sich die feinen Härchen auf seinem Unterarm aufrichteten. Er wusste genau, wer Vector Six war; er sah sein Gesicht so deutlich vor sich, als ob der Mann neben ihm stünde. Vector Six: Eine Codebezeichnung, die für Klein, wenn sie je auftauchte, ein Paniksignal bedeutete.
»Soll ich die Mitteilung aufrufen?«, fragte
Maggie leise. »Ja, bitte…«
Sie schlug ein paar Tasten an, und die verschlüsselte
Nachricht erschien als ein Gemenge von Buchstaben, Symbolen und Ziffern auf dem Bildschirm. Dann tippte sie auf ein paar weitere Tasten, um die EntschlüsselungsSoftware aufzurufen. Sekunden später erschien die Nachricht in Klartext:
Diner - Prix fixe - 8 EURO Spécialités: Fruits de mer Spécialités du bar: Bellini Fermé entre 2-4 heures
Selbst wenn ein Dritter es irgendwie geschafft hätte, die Nachricht zu decodieren, wäre dieses Menü eines namenlosen französischen Restaurants ebenso unschuldig wie irreführend gewesen.
Klein hatte den einfachen Code festgelegt, als er Vector Six das letzte Mal persönlich begegnet war. Der Inhalt der Nachricht hatte natürlich nicht das Geringste mit französischer Cuisine zu tun. Vielmehr handelte es sich um einen Notschrei, eine flehentliche Bitte, ihn sofort herauszuholen.
Klein zögerte keine Sekunde. »Bitte antworte folgendermaßen: ›Réservations pour deux.‹«
Maggies Finger flogen über die Tasten, tippten die Antwort. Der kurze Text wurde von zwei Militärsatelliten reflektiert, bevor er zurück zur Erde geschickt wurde. Klein wusste nicht, wo Vector Six sich in diesem Augenblick aufhielt, aber so lange er Zugang zu dem Laptop fand, den Klein ihm gegeben hatte, konnte er die Antwort herunterladen und entschlüsseln.
»Sofort melden!«
Klein warf einen Blick auf den Zeitstempel der Nachricht: Sie war vor acht Stunden abgesetzt worden. Wie war das möglich?
Zeitdifferenz! Vector Six war acht Zeitzonen östlich von ihm eingesetzt. Klein sah auf seine Uhr: In Realzeit war die Nachricht weniger als zwei Minuten alt.
Eine Antwort huschte über den Bildschirm:
»Réservations confirmées.«
Klein atmete tief durch, als der Bildschirm schwarz wurde. Vector
Six würde nicht länger online bleiben als unbedingt notwendig war.
Der Kontakt war hergestellt, ein Treffpunkt vorgeschlagen,
akzeptiert und bestätigt worden. Vector Six würde diesen
Kommunikationskanal nicht ein zweites Mal benutzen.
Als Maggie offline ging, ließ Klein sich auf den einzigen anderen
Sessel im Raum sinken und fragte sich, was für außergewöhnliche
Umstände Vector Six wohl dazu veranlasst haben mochten, ihn zu
kontaktieren.
Im Gegensatz zur CIA und anderen Geheimdienststellen verfügte
Covert-One über keine Kette von Auslandsagenten. Trotzdem hatte
Klein eine Anzahl ausländischer Kontakte geknüpft. Einige davon
hatte er sich während seiner Zeit bei der NSA aufgebaut, andere
gingen auf zufällige Begegnungen zurück, die sich zu einer auf
Vertrauen und wechselseitigem Eigennutz basierenden Beziehung
entwickelt hatten.
Es war eine recht vielschichtige Gruppe: Ein Arzt in Ägypten, der
den größten Teil der herrschenden Elite seines Landes zu seinen
Patienten zählte; ein Computerunternehmer in New Delhi, der für
seine Regierung tätig war; ein Banker in Malaysia, der sich wie
kaum ein anderer darauf verstand, Devisenbeträge überall auf der
Welt zu bewegen, zu verbergen oder aufzuspüren. Untereinander
kannten sich diese Leute nicht. Sie hatten mit Ausnahme ihrer
Freundschaft mit Klein und dem Computer Notebook, das er jedem von
ihnen gegeben hatte, nichts gemeinsam. Für sie war Klein ein
Bürokrat mittleren Ranges, von dem sie wussten, dass er insgeheim
eine wesentlich wichtigere Funktion ausübte. Sie hatten sich nicht
nur aus Freundschaft und weil sie an das glaubten, was er
repräsentierte, bereit erklärt, ihm als Augen und Ohren zu dienen,
sondern auch weil sie darauf vertrauten, dass er ihnen helfen
würde, sollte ihnen aus irgendeinem Grund der Boden in ihrer
jeweiligen Heimat unter den Füßen zu heiß werden.
Vector Six war einer aus dieser Hand voll Freunde.
»Nate?«
Klein blickte zu Maggie auf.
»Wer bekommt den Auftrag?«, fragte sie.
Gute
Frage…
Auf Auslandsreisen bediente Klein sich immer seiner
Pentagonpapiere. Falls er sich mit einer Kontaktperson traf, sorgte
er dafür, dass dies in der Öffentlichkeit und an einem sicheren Ort
geschah. Offizielle Veranstaltungen in einem Botschaftsgebäude der
Vereinigten Staaten eigneten sich dafür am besten. Aber Vector Six
war weit von jeder Botschaft entfernt. Er befand sich auf der
Flucht. »Smith«, sagte Klein schließlich. »Hol ihn mir bitte ans
Telefon, Maggie.«
Smith träumte von Sophia, als das hartnäckige Klingeln des Telefons ihn störte. Er sah sie beide an einem Flussufer sitzen, im Schatten riesiger dreieckiger Bauwerke. In der Ferne dehnte sich die Silhouette einer Großstadt. Die Luft war heiß, erfüllt von dem Duft von Rosen und von Sophia. Kairo… sie befanden sich in der Nähe der Pyramiden von Gizeh außerhalb von Kairo.
Die spezielle
Leitung…
Smith war, nachdem er vom Friedhof nach Hause zurückgekommen war,
in den Kleidern auf der Couch eingeschlafen; jetzt fuhr er in die
Höhe. Der Regen prasselte gegen die Fenster, der Wind heulte und
trieb dichte Wolken über den Himmel. In seiner Zeit als Soldat
hatte Smith sich die Fähigkeit angeeignet, sofort hellwach zu sein,
wenn er geweckt wurde. Bei USAMRIID, wo man sich den Schlaf
gewöhnlich zwischen Stunden endloser strapaziöser Arbeit stehlen
musste, war ihm diese Fähigkeit zustatten gekommen. Und das tat sie
jetzt auch.
Smith warf einen Blick auf die Zeitangabe in der rechten unteren
Ecke des Bildschirms: fast neun Uhr. Er hatte zwei Stunden
geschlafen. Emotional ausgepumpt und Sophias Bild vor Augen war er
nach Hause gefahren, hatte sich dort etwas Suppe angewärmt und sich
dann auf die Couch fallen lassen und dem Prasseln des Regens
zugehört. Er hatte nicht vorgehabt einzuschlafen, war aber jetzt
dankbar, dass es dazu gekommen war. Es gab nur einen Mann, der
berechtigt war, ihn auf dieser ganz speziellen Leitung anzurufen.
Und die Nachricht, die er jetzt gleich zu hören bekommen würde,
konnte den Anfang eines endlosen Tages bedeuten.
»Guten Abend, Mr. Klein.«
»Auch Ihnen einen guten Abend, Jon. Ich hoffe, ich störe nicht beim
Abendessen.«
»Nein, Sir, ich habe schon früher gegessen.«
»Wie schnell können Sie zum Luftwaffenstützpunkt Andrews
kommen?«
Smith atmete tief durch. Gewöhnlich gab Klein sich geschäftsmäßig
höflich. Kurz angebunden hatte Smith ihn bisher noch selten
erlebt.
Und das bedeutet, dass es Ärger gibt -
ziemlich großen Ärger, »Etwa eine Dreiviertelstunde,
Sir.«
»Gut. Und, Jon… packen Sie für ein paar Tage.«
Smith starrte das inzwischen wieder verstummte Telefon an, das er
in der Hand hielt. »Ja, Sir.«
Was jetzt ablief, war Smith so in Fleisch und Blut übergegangen,
dass ihm kaum bewusst wurde, was da eigentlich geschah. Drei
Minuten um zu duschen und sich zu rasieren; zwei Minuten zum
Anziehen, zwei weitere, um den Inhalt der in einem begehbaren
Schrank bereitstehenden Tasche noch einmal zu überprüfen und ein
paar Dinge dazuzulegen. Beim Hinausgehen schaltete er die
Alarmanlage für das Haus ein; als er den Wagen in der Einfahrt
stehen hatte, aktivierte er den Alarm für die Garage mit der
Fernbedienung.
Infolge des Regens dauerte die Fahrt zum Andrews
Luftwaffenstützpunkt etwas länger als gewöhnlich. Smith vermied es
den Haupteingang zu benutzen und fuhr am Lieferanteneingang vor.
Ein in einen Poncho gehüllter Wachposten musterte seinen in
Plastikfolie eingeschweißten Ausweis, suchte dann seinen Namen auf
der Liste der zugangsberechtigten Personen und winkte ihn
durch.
Smith war schon oft genug von Andrews abgeflogen, um sich
auszukennen. Er hatte keine Mühe, den Hangar der Jets zu finden,
mit denen die meiste Zeit hohe Offiziere unterwegs waren. Er
stellte den Wagen auf einem abgesperrten Parkplatz abseits der
Piste ab, holte seine Reisetasche aus dem Kofferraum und platschte
zu dem riesigen Hangar hinüber.
»Guten Abend, Jon«, sagte Klein. »Beschissenes Wetter.
Wahrscheinlich wird es noch schlimmer.«
Smith stellte seine Tasche ab. »Ja, Sir. Aber bloß für die
Navy.«
Diesmal nötigte er Klein mit dem abgedroschenen Witz kein Lächeln
ab. »Tut mir Leid, Sie in einer solchen Nacht aufzuscheuchen. Es
hat sich etwas ergeben. Kommen Sie mit.«
Smith sah sich um, ehe er Klein zu dem Tisch mit der Kaffeemaschine
folgte. In dem Hangar standen vier Gulfstream Jets, aber es war
keinerlei Wartungspersonal zu sehen. Smith nahm an, dass Klein sie
weggeschickt hatte, um ungestört zu sein.
»Die tanken einen Vogel mit Langstreckentanks auf«, sagte Klein und
sah auf die Uhr. »Sollte in zehn Minuten fertig sein.« Er reichte
Smith einen Styroporbecher mit dampfendem schwarzem Kaffee und
musterte ihn dann nachdenklich. »Jon, es handelt sich um eine
Extraktion. Deshalb die Eile.«
Und deshalb braucht man einen großen
Unbekannten.
Dank seiner Militärverga ngenheit war Smith mit dem Begriff
»Extraktion«, so wie Klein ihn benutzt hatte, vertraut. Man
verstand darunter, jemanden oder etwas so schnell und so lautlos
wie möglich von einem bestimmten Ort oder aus einer bestimmten
Situation zu entfernen gewöhnlich unter widrigen Umständen und in
höchster Eile.
Aber Smith wusste auch, dass es für solche Aufträge gewöhnlich
Spezialisten gab - militärische wie zivile.
Als er sich in diesem Sinne äußerte, erwiderte Klein: »Im
vorliegenden Fall haben wir es mit besonderen Umständen zu tun. Ich
möchte keine anderen Stellen einschalten - zumindest jetzt noch
nicht. Außerdem kenne ich den Betreffenden - und Sie kennen ihn
auch.«
Smith zuckte zusammen. »Wie bitte, Sir?«
»Der Mann, mit dem Sie sich treffen und den Sie herausholen sollen,
ist Juri Danko.«
»Danko…«
Vor seinem inneren Auge sah Smith einen Mann wie einen Bären, ein
paar Jahre älter als er, mit einem sanften Mondgesicht, das ein
paar Aknenarben aus seiner Kinderzeit verunzierten. Juri Danko, der
Sohn eines Kohlebergmanns aus Dobnez, mit einem von Geburt an
verkrüppelten Bein, hatte es in der Abteilung für medizinische
Ermittlungen der russischen Armee zum Oberst gebracht.
Smith konnte seine Überraschung nicht verhehlen. Er wusste, dass
Klein, bevor er die Sicherhe itsvereinbarung unterzeichnet hatte,
mit der Smith Mitglied von CovertOne geworden war, sein ganzes
Leben unter das Mikroskop genommen hatte. Klein war also klar, dass
Smith Danko kannte, er hatte aber in keiner ihrer Besprechungen
auch nur angedeutet, dass er selbst eine Beziehung zu dem Russen
unterhielt.
»Gehört Danko zu…?«
»Covert-One? Nein, und Sie werden ihm gegenüber auch nicht
erwähnen, dass Sie dazu gehören. Aus Dankos Sicht schicke ich
einfach jemanden, den er kennt, um ihn herauszuholen. Das ist
alles.«
Daran hatte Smith starke Zweifel. So schlicht und einfach war bei
Klein nie etwas. Aber eines stand für ihn fest: Klein würde nie
einen Agenten in Gefahr bringen, nur weil er ihm nicht alles gesagt
hätte, was er wissen musste.
»Als Danko und ich uns das letzte Mal begegnet sind«, meinte Klein,
»haben wir einen einfachen Code verabredet, der nur im Falle
größter Not angewendet werden sollte. Der Code war eine
Speisekarte. Der Preis acht Euros - weist auf das Datum hin, 8.
April, zwei Tage von heute an gerechnet. Einer nach europäischer
Zeit.
Die Spezialität sind Meeresfrüchte, und das deutet an, dass Danko
auf dem Seeweg kommen wird. Bei dem Bellini handelt es sich um
einen Cocktail, der das erste Mal in Harry’s Bar in Venedig gemixt
wurde. Dass das Restaurant zwischen zwei und vier Uhr nachmittags
geschlossen ist, weist auf den Zeitpunkt hin, an dem der Kontakt am
Treffpunkt stattfinden soll.«
Klein hielt kurz inne. »Ein einfacher, aber sehr wirksamer Code.
Selbst wenn der Schlüssel geknackt und die Nachricht abgefangen
worden ist, wäre es immer noch unmöglich, mit dem Menü etwas
anzufangen.«
»Da Danko erst in frühestens vierundzwanzig Stunden eintreffen
wird, weshalb dann das Alarmsignal?«, fragte Smith.
»Danko hielt es für richtig, es sofort auszulösen«, erwiderte Klein
sichtlich besorgt. »Er könnte vorzeitig nach Venedig kommen; er
könnte sich verspäten. In letzterem Fall möchte ich nicht, dass er
in der Luft hängt.«
Smith nickte und nahm dann einen Schluck von seinem Kaffee.
»Verstanden. Jetzt zur VierundsechzigtausendDollar-Frage: Weshalb
zieht Danko Leine?«
»Das wird nur er uns sagen können. Und glauben Sie mir, ich will
diese Gründe kennen. Danko befindet sich in einer einmaligen
Position. Die hätte er nie gefährdet…«
Smith hob eine Augenbraue. »Es sei denn?«
»Es sei denn, er ist im Begriff aufzufliegen.«
Klein stellte seinen Kaffeebecher ab. »Ich kann das nicht mit
Sicherheit sagen, Jon, aber ich glaube, Danko hat Informationen.
Und wenn das der Fall ist, dann ist er der Ansicht, dass ich die se
Informationen erhalten muss.«
Klein blickte über Smith’ Schulter auf einen Sergeant der
Air-Police, der gerade den Hangar betreten hatte.
»Die Maschine ist startbereit, Sir«, meldete der Sergeant
zackig.
Klein tippte Smith an den Ellbogen, und die beiden gingen zu den
Hangartoren.
»Fliegen Sie nach Venedig«, sagte er leise. »Holen Sie Danko ab und
finden Sie heraus, über welche Informationen er verfügt. Und zwar
schnell.«
»Das werde ich, Sir. Aber da gibt’s etwas, das ich in Venedig
brauchen werde.«
Smith hätte seine Stimme nicht zu senken brauchen, als sie ins
Freie traten. Das Prasseln des Regens übertönte seine Worte. Nur
Kleins Nicken ließ erkennen, dass er Smith überhaupt verstand.
3
Im katholischen Teil Europas ist Ostern eine Zeit familiärer Begegnungen und Pilgerfahrten. Firmen und Schulen schließen ihre Tore, Züge und Hotels sind überbucht, und in Städten und Dörfern bereiten die Menschen sich auf eine Flut von Besuchern vor. In Italien ist Venedig eines der beliebtesten Ziele für jene, die das Nützliche mit dem Angenehmen und die Religion mit der Kultur verbinden wollen. Die Serenissima mit ihrer Vielzahl von Kirchen und Kathedralen erfüllt die Bedürfnisse auch noch so beflissener Pilger. Zugleich ist die Lagunenstadt jedoch auch seit tausend Jahren Tummelplatz der Reichen und Schönen. Ihre schmalen Straßen und die mit Kopfstein gepflasterten Gassen bieten ein ganzes Spektrum irdischer Vergnügungen.
Um Punkt 13 Uhr 45 bahnte sich Smith, so wie er das auch an den beiden vorangegangenen Tagen getan hatte, seinen Weg durch die dicht nebeneinander aufgereihten Tische vor dem Cafe Florian an der Piazza San Marco. Er nahm jedes Mal denselben Tisch dicht an einer kleinen Plattform, auf der ein Flügel stand. In ein paar Minuten würde der Pianist eintreffen, und pünktlich um halb drei würden sich die Tonfolgen Mozarts oder Bachs in den Hall der Stimmen und Schritte der Hunderte von Touristen mischen, die sich auf dem Platz drängten.
Der Kellner, der Smith an den beiden letzten Tagen bedient hatte, eilte an den Tisch seines Kunden. Der Amerikaner - der Akzent, mit dem er Italienisch sprach, wies ihn eindeutig als solchen aus - war ein guter Kunde; will sagen einer, der schlechten Service nicht als solchen erkannte und dennoch reichlich Trinkgeld gab. Dem gut geschnittenen anthrazitfarbenen Anzug und den sichtlich handgefertigten Schuhen nach zu schließen hielt der Kellner Smith für einen wohlhabenden Geschäftsmann, der irgendwelche Transaktionen abgeschlossen hatte und jetzt noch auf Firmenspesen ein paar Tage das Touristendasein genoss.
Smith lächelte dem Kellner zu, bestellte seinen üblichen Caffe Latte und dazu ein Prosciutto Sandwich und schlug dann den Wirtschaftsteil der International Harald Tribune auf.
Sein Imbiss traf genau in dem Augenblick ein, in dem der Pianist die ersten Akkorde eines Bach-Konzerts anschlug. Smith warf zwei Würfel Zucker in seinen Kaffee und ließ sich mit dem Rühren Zeit. Dann musterte er im Schutz der aufgeschlagenen Zeitung den Platz zwischen seinem Tisch und dem Dogenpalast.
Der stets überfüllte Markusplatz eignete sich geradezu ideal dazu, sich mit jemandem zu treffen, der sich auf der Flucht befand. Aber der Flüchtling hatte sich bereits einen Tag verspätet, und Smith fragte sich, ob Juri Danko es überhaupt geschafft hatte, Russland zu verlassen.
Smith war für USAMRIID tätig gewesen, als er die Bekanntschaft Dankos gemacht hatte, der im medizinischen Geheimdienst der russischen Armee so etwas wie sein Pendant gewesen war. Der Treffpunkt war das luxuriöse Victoria-Jungfrau Grand Hotel in der Nähe von Bern gewesen. Vertreter der beiden Länder waren sich dort in gelockerter Atmosphäre begegnet, um sich gegenseitig zusätzlich zu den formellen internationalen Inspektionen über die Fortschritte im stufenweisen Abbau ihrer jeweiligen biologischen Waffensysteme zu informieren.
Smith war nie damit befasst gewesen, Agenten zu rekrutieren, war aber wie alle anderen Angehörigen des US-Teams von Mitarbeitern der CIA gründlich darüber informiert worden, wie die andere Seite möglicherweise an ihn herantreten könnte. An den beiden ersten Konferenztagen war Danko sein Gesprächspartner gewesen, und obwohl Smith stets vorsichtig blieb, war ihm der große, vierschrötige Russe doch unwillkürlich sympathisch geworden. Danko machte aus seiner patriotischen Gesinnung kein Hehl, ließ aber Smith zugleich wissen, dass ihm seine Arbeit deshalb so wichtig war, weil er nicht ständig Angst haben wollte, dass seine Kinder mit der Gefahr heranwuchsen, dass irgendein Verrückter eine Bio-Waffe auf die Menschheit losließ, sei es nun um sie zu terrorisieren oder um Rache zu nehmen.
Smith war sehr wohl bewusst, dass für ein solches Szenario nicht nur die Möglichkeit, sondern sogar durchaus eine beängstigende Wahrscheinlichkeit bestand. Russland wurde augenblicklich von Krisen und Unsicherheit geplagt, verfügte aber nach wie vor über ein gewaltiges Lager an Bio-Waffen, die in vor sich hinrostenden Behältern halbherzig von Forschern, Wissenschaftlern und Militärs überwacht wurden, deren Einkommen in den meisten Fällen kaum dazu ausreichte, ihre Familien zu ernähren. Unter solchen Umständen konnte die Versuchung, irgendwelche Nebengeschäfte zu machen, geradezu überwältigende Ausmaße annehmen.
Smith und Danko fingen an, sich außerhalb der regulären Konferenzstunden zu treffen. Als sich dann die beiden Delegationen schließlich anschickten, in ihre Heimatländer zurückzukehren, war zwischen den beiden Männern eine auf wechselseitigem Respekt und Vertrauen basierende Freund schaft entstanden.
Im Laufe der darauf folgenden zwei Jahre kamen sie mehrmals zusammen - in Sankt Petersburg, Atlanta, Paris und Hongkong -, immer im Rahmen irgendeiner Konferenz. Dabei fiel Smith auf, dass Danko von Mal zu Mal unruhiger wirkte. Obwohl er den Alkohol mied, beklagte er sich manchmal überschäumend bitter und wortreich über die Unredlichkeit seiner militärischen Vorgesetzten. Russland, so ließ er durchblicken, verletzte die Vereinbarungen, die es mit den Vereinigten Staaten und der ganzen Welt geschlossen hatte. Es erweckte äußerlich den Anschein, seine Bio-Waffenprogramme abzubauen, hatte aber in Wirklichkeit seine Forschungsarbeiten sogar verstärkt. Und was das Schlimmste war, russische Wissenschaftler und Techniker verschwanden und tauchten in China, Indien und dem Irak wieder auf, wo ihr Wissen in hohem Maße gefragt war und wo für ihre Arbeit schier unbegrenzte Mittel zur Verfügung standen.
Smith war ein guter Menschenkenner, und so kam es, dass er am Ende einer der gequälten Geständnisse Dankos gesagt hatte: »Ich werde mit dir zusammenarbeiten, Juri. Falls es das ist, was du möchtest.«
Dankos Reaktion darauf erinnerte an die eines reuigen Sünders, den man endlich von der Last seiner Sünde befreit hat. Er erklärte sich bereit, Smith Informationen zu liefern, von denen er glaubte, dass die Vereinigten Staaten sie bekommen sollten. Dabei äußerte er nur zwei Vorbehalte: Erstens würde er nur mit Smith verhandeln, mit niemandem sonst von den amerikanischen Nachrichtendiensten. Und zum Zweiten wollte er Smith’ Ehrenwort, dass dieser sich um seine Familie kümmern würde, falls ihm etwas zustoßen sollte.
»Dir wird nichts zustoßen, Juri«, hatte Smith ihm versichert. »Du wirst eines Tages in deinem eigenen Bett sterben, umgeben von deinen Enkelkindern.«
Während er jetzt auf die Menschenmenge blickte, die aus dem Dogenpalast drängte, grübelte Smith über diese Worte nach. Sie waren damals aus aufrichtiger Überzeugung über seine Lippen gekommen, schmeckten aber jetzt, wo Danko sich bereits um vierundzwanzig Stunden verspätet hatte, in seinem Mund wie Asche.
Aber Klein hast du kein einziges Mal erwähnt, dachte Smith. Auch nicht, dass du bereits einen Kontakt in den Vereinigten Staaten hattest. Warum, Juri? Ist Klein dein versteckter Trumpf?
Aus den Gondeln und Motorbooten in der Lagune strömten immer neue Menschenmassen und drängten sich auf dem Platz vor der eindrucksvollen Basilika. Smith beobachtete sie - die jungen, Händchen haltenden Paare, die Väter und Mütter, die ihre Kinder nicht aus den Augen ließen, die Touristengruppen, die sich um ihre Reiseführer scharten, die in einem Dutzend verschiedener Sprachen die Sehenswürdigkeiten erklärten. Er hielt seine Zeitung in Augenhöhe, aber sein Blick schweifte unablässig über den Rand des Blattes, musterte Gesichter und versuchte jenes eine zu entdecken, das er kannte.
Wo bist du? Was hast du gefunden, das so schrecklich ist, dass du dein Leben riskieren musst, um es aus Russland herauszubringen?
Die Fragen nagten an Smith. Da Danko alle Kontakte abgebrochen hatte, gab es keine Antwort darauf. Wie Klein es geschildert hatte, würde der Russe durch das vom Krieg zerrissene Jugoslawien reisen, sich im Schutz des Chaos und des Elends halten, das in jener Region herrschte, bis er schließlich die Küste erreichte. Und dort würde er ein Schiff finden, das ihn über die Adria nach Venedig brachte.
Komm hierher, dann wirst
du sicher sein.
Die Gulfstream stand auf dem Marco Polo Flughafen von Venedig
bereit; an dem Steg neben dem Palazzo delle Prigioni am Rio di
Palazzo war ein schnelles Motorboot vertäut. Sobald Smith Danko
entdeckte, würde es keine drei Minuten dauern, bis er ihn auf dem
Boot hatte. Und eine Stunde später würden sie sich bereits in der
Luft
befinden.
Wo bist du?
Smith griff gerade nach seiner Tasse, als er aus dem Augenwinkel etwas bemerkte: einen kräftig gebauten Mann, der sich am Rand einer Touristengruppe hielt. Vielleicht gehörte er zu ihr, vielleicht auch nicht. Er trug einen Nylonanorak und eine Golfmütze; ein dichter Bart und eine große Sonnenbrille verbargen sein Gesicht. Aber da war etwas an ihm…
Smith fuhr fort den Mann zu beobachten, und dann sah er es der Mann zog das linke Bein etwas nach. Juri Danko war mit einem linken Bein zur Welt gekommen, das zwei Zentimeter kürzer als das rechte war. Selbst maßgefertigte orthopädische Schuhe konnten nicht ganz verhindern, dass er hinkte.
Smith rutschte auf seinem Stuhl etwas zur Seite und senkte die Zeitung ein Stück, um Dankos Näherkommen verfolgen zu können. Der Russe nutzte die Touristengruppe sehr geschickt, hielt sich immer an ihrem Rand auf, nahe genug, um den Eindruck zu erwecken, er würde dazugehören, und doch nicht so nahe, um dem Reiseführer aufzufallen.
Langsam wandte die Gruppe sich von der Basilika ab und bewegte sich in Richtung auf die andere Seite des Markusplatzes. Ehe eine Minute verstrichen war, hatte sie die äußerste Tischreihe des Cafe Florian erreicht. Ein paar Touristen lösten sich aus der
Gruppe und strebten auf eine kleine Snackbar dicht neben dem Cafe zu. Smith regte sich nicht von der Stelle, als die Touristen laut miteinander plaudernd an seinem Tisch vorbeikamen. Erst als Danko dicht vor dem Tisch stand, blickte er auf.
»Der Stuhl ist frei.«
Smith beobachtete, wie Danko sich umdrehte, als
er eindeutig Smith’ Stimme erkannte.
»Jon?«
»Ja, ich bin’s, Juri. Komm, setz dich.«
Der Russe ließ sich auf den Stuhl sinken. Man konnte ihm die
Verblüffung ansehen. »Aber, Mr. Klein… er hat dich geschickt? Arbeitest du…?«
»Nicht hier, Juri. Ich bin gekommen, um dich
rüberzuholen.«
Danko schüttelte den Kopf, winkte einem vorbeieilenden Kellner zu
und bestellte Kaffee. Er holte ein Päckchen Zigaretten heraus,
entnahm ihm eine und zündete sie an. Smith stellte fest, dass nicht
einmal der Bart verbergen konnte, wie hohlwangig Danko geworden
war. Seine Finger zitterten, als er die Zigarette anzündete. »Ich
kann es immer noch nicht glauben, dass du das bist…«
»Juri…«
»Ist schon gut, Jon. Man ist mir nicht gefolgt. Ich bin
sauber.«
Danko lehnte sich in seinem Stuhl zurück und starrte zu dem
Pianisten hinüber. »Wunderbar, nicht wahr? Die Musik, meine
ich.«
Smith beugte sich vor. »Alles in Ordnung bei dir?«
Danko nickte. »Ja, jetzt schon. Hierher zu kommen war nicht leicht,
aber…«
Er verstummte, als der Kellner seinen Kaffee brachte. »In
Jugoslawien war es sehr schwierig. Die Serben sind ein einziger
paranoider Haufen. Ich hatte einen ukrainischen Pass, aber selbst
den hat man gründlich überprüft.«
Smith gab sich alle Mühe, die hundert Fragen zu verdrängen, die ihm
durch den Kopf wirbelten, und versuchte sich ganz auf das zu
konzentrieren, was jetzt geschehen musste.
»Gibt es etwas, was du mir sagen oder mir geben willst ich meine
jetzt gleich?«
Allem Anschein nach hatte Danko ihn nicht gehört. Er konzentrierte
sich ganz auf zwei Carabinieri, die sich langsam, die
Maschinenpistolen vor der Brust hängend, durch die Touristenmassen
bewegten. »Eine Menge Polizei«, murmelte er.
»Das liegt an den Feiertagen«, meinte Smith. »Da setzen die immer
zusätzliche Streifen ein. Juri…«
»Ich habe Mr. Klein etwas zu sagen, Jon.«
Danko lehnte sich über den Tisch. »Was die vorhaben ich hätte das
nie geglaubt. Das ist heller Wahnsinn!«
»Was haben sie vor?«, wollte Smith
wissen und hatte Mühe, dabei nicht laut zu werden. »Und wer sind
diese sie?«
Danko sah sich nervös um. »Hast du Vorkehrungen getroffen? Kannst
du mich hier wegbringen?«
»Wir können sofort abreisen.«
Als Smith in die Tasche griff, um seine Brieftasche herauszuholen,
bemerkte er, dass die beiden Carabinieri jetzt zwischen den Tischen
des Cafes näher kamen. Einer lachte, als ob der andere gerade einen
Witz gemacht hätte, und deutete dann auf die
Sandwich-Bar.
Smith zählte ein paar Lire-Scheine ab, beschwerte sie mit einem
Teller und war gerade im Begriff, seinen Stuhl nach hinten zu
schieben, als die ganze Welt um ihn herum explodierte.
»Jon!«
Der brutale Lärm von in unmittelbarer Nähe abgefeuerter
Automatikwaffen übertönte seinen Schrei. Die beiden Carabinieri
waren an ihrem Tisch vorbeigegangen, waren herumgewirbelt und dann
hatten ihre Waffen zu knattern begonnen. Die beiden
Maschinenpistolen spieen den Tod, zerfetzten Dankos Körper; mit
solcher Wucht trafen die Geschosse auf, dass sie ihn vom Stuhl
rissen und den Stuhl umkippten.
Smith hechtete bereits in Richtung des kleinen Podiums, noch bevor
er den Überfall ganz registriert hatte. Kugeln prallten rings um
ihn auf das Steinpflaster und fetzten in die hölzernen Balken. Der
Pianist machte den tödlichen Fehler aufzuspringen, und eine Garbe
von Schüssen riss ihn förmlich in Stücke. Die Sekunden schienen
sich wie in zähem Leim gefangen dahinzuschleppen. Smith schien es
unglaublich, dass die Killer sich so viel Zeit nehmen und
ungestraft ihr tödliches Werk verrichten konnten. Was er nicht
wusste war, dass der Flügel, dessen glänzend schwarzes Gestell und
dessen weiße Tasten auf schreckliche Weise zerschmettert wurden,
ihm das Leben rettete und einen Feuerstoß nach dem anderen auffing,
der für ihn bestimmt war.
Die Killer waren Profis; sie wussten, wann es Zeit war zu
verschwinden. Plötzlich ließen sie die Waffen fallen, duckten sich
hinter einen umgekippten Tisch und rissen ihre Uniformjacken
herunter. Darunter trugen sie unauffällige Windjacken in Grau und
Beige. Sie zogen Fischermützen aus den Taschen, rannten ins Cafe
Florian und nutzten die Panik der sie umgebenden Touristen als
Deckung. Als sie durch die Eingangstür hasteten, schrie einer von
ihnen: »Assassini! Die bringen alle um!
Um Himmels willen, ruft die Polizia!«
Smith hob den Kopf und konnte gerade noch sehen, wie die Killer
zwischen den Gästen des Cafes untertauchten. Er sah sich nach Danko
um, der mit zerfetzter Brust auf dem Rücken lag. Ein leises,
animalisches Knurren kam aus Smith’ Kehle, als er von dem Podest
sprang und sich mit den Ellbogen den Weg ins Cafe bahnte. Die
Menschenherde riss ihn mit durch die Küche und nach draußen in die
schmale Gasse hinter dem Cafe. Keuchend sah Smith in beide
Richtungen. Zur Linken verschwand gerade eine graue Windjacke um
die Ecke.
Die Killer waren mit der Gegend vertraut. Sie rannten durch das
Gewirr von Gassen und erreichten schließlich einen schmalen Kanal,
wo eine Gondel an eine m Pfosten angebunden war. Einer sprang
hinein und griff nach der Ruderstange, der andere löste das Tau vom
Pfosten. Sekunden später trieben sie auf dem Kanal.
Der Killer, der die Ruderstange hielt, zündete sich eine Zigarette
an.
»Einfache Arbeit«, sagte er zu seinem Partner.
»Für zwanzigtausend Dollar war das fast zu einfach«, erwiderte der
Zweite. »Aber wir hätten den anderen auch umlegen sollen. Der
Schweizer Gnom hat das eindeutig gesagt: Die Zielperson und jeden,
der mit ihm Kontakt hat.«
»Basta! Wir haben unseren Auftrag
erfüllt. Wenn der Schweizer Gnom möchte…«
Ein Ausruf des Ruderers unterbrach ihn. »Zum Teufel!«
Der zweite Killer schaute in die Richtung, in die sein Freund
zeigte. Der Mund blieb ihm offen stehen, als er sah, wie der
Partner ihres Opfers auf dem Fußweg neben dem Kanal
heranhetzte.
»Leg denfiglio di putana um!«, schrie
er.
Der Ruderer zog eine großkalibrige Pistole aus dem Hosenbund. »Mit
dem größten Vergnügen.«
Smith sah, wie die Hand des Ruderers sich hob, sah die Pistole
zittern, als die Gondel schwankte. Ihm war klar, wie verrückt das
war, was er da tat - bewaffnete Killer verfolgen, ohne auch nur ein
Messer zu haben, mit dem er sich verteidigen konnte. Aber das Bild
des ermordeten Danko hielt ihn in Schwung. Er war jetzt keine zehn
Meter mehr von der Gondel entfernt, und der Abstand wurde schnell
kleiner, weil der Ruderer immer noch sein Gleichgewicht zu finden
versuchte, um besser zielen zu können.
Acht Meter.
»Tommaso…«
Der Ruderer, Tommaso, wünschte sich, sein Partner würde endlich den
Mund halten. Er konnte schließlich selbst sehen, dass der Verrückte
näher kam, aber was hatte das schon zu besagen? Er war ja
offensichtlich unbewaffnet, sonst hätte er schon längst seine Waffe
gezogen.
Und dann sah er etwas anderes, halb von den Planken am Boden der
Gondel verborgen: eine Batterie, mehrfarbige Drähte… etwas, was er
selbst schon oft genug benutzt hatte.
Tommasos Schrei wurde von der Explosion übertönt. Ein Feuerball
hüllte die Gondel ein, schleuderte sie zehn Meter hoch in die Luft.
Einen Augenblick lang war nur noch schwarzer, beißender Rauch zu
sehen. Smith wurde gegen die Ziegelmauer einer Glasfabrik
geschleudert und sah nach dem Blitz nichts mehr, roch aber
brennendes Holz und verkohltes Fleisch, als die Trümmer aus dem
Himmel herunterregneten.
In dieser Szenerie des Entsetzens, die den ganzen Platz
beherrschte, blieb ein Mann, der sich hinter einem der Granitlöwen
von St. Markus versteckt hatte, absolut ruhig. Auf den ersten Blick
sah er aus, als wäre er Anfang fünfzig, aber möglicherweise ließen
ihn sein Schnurrbart und sein Backenbart auch älter erscheinen. Er
trug ein großkariertes Sportsakko im französischen Schnitt mit
einer gelben Rosette im Revers und hatte ein paisley gemustertes
Halstuch in den Kragen gesteckt. Jemand, der ihn beiläufig sah,
würde ihn für einen Dandy halten, vielleicht einen
Universitätsprofessor oder einen gut situierten Rentner.
Allerdings bewegte er sich sehr schnell. Während noch das Echo der
Schüsse über den Platz hallte, eilte er bereits in die Richtung,
die die fliehenden Killer genommen hatten. Er musste sich
entscheiden, ob er ihnen und dem Amerikaner folgen sollte, der
hinter ihnen herrannte, oder ob es besser wäre, zu dem Verwundeten
zu eilen. Er zögerte keinen Augenblick.
»Dottore! Lassen Sie mich durch! Ich
bin Arzt!«
Die Touristen reagierten sofort auf sein akzentfreies Italienisch.
Sekunden später kniete er neben der von den Geschossgarben
durchsiebten Leiche Juri Dankos. Er erkannte auf den ersten Blick,
dass für Danko jede Hilfe zu spät kam, presste aber trotzdem zwei
Finger gegen den Hals des Mannes, als würde er nach dem Puls
suchen. Gleichzeitig suchte seine andere Hand in der Jacketttasche
Dankos.
Die Leute an den Tischen waren aufgesprungen und sahen sich um.
Sahen ihn an. Einige kamen auf ihn zu. So benommen sie auch waren,
würden sie trotzdem Fragen stellen, denen er lieber aus dem Weg
gehen wollte.
»Sie dort!«, sagte der Arzt mit scharfer Stimme zu einem jungen
Mann, der wie ein Student wirkte. »Kommen Sie her, helfen Sie
mir.«
Er packte den Studenten und zwang ihn, Dankos Hand zu halten. »So,
und jetzt drücken… drücken, habe ich gesagt!«
»Aber er ist tot!«, protestierte der Student.
»Idiot!«, brauste der Arzt auf. »Er lebt noch. Aber wenn er keinen
menschlichen Kontakt spürt, stirbt er!«
»Können Sie nicht…«
»Ich muss Hilfe holen. Sie bleiben da!«
Der Arzt bahnte sich einen Weg durch die Menge, die sich inzwischen
um die Toten gesammelt hatte. Die Augen, die ihm folgten, kümmerten
ihn nicht. Die meisten Zeugen waren selbst unter günstigen
Voraussetzungen alles andere als verlässlich. Und unter diesen
Bedingungen hier würde ihn niemand genau beschreiben
können.
Jetzt waren die ersten Polizeisirenen zu hören. In wenigen Minuten
würde der ganze Platz von Carabinieri wimmeln und abgesperrt
werden. Man würde potenzielle Zeugen festhalten; die Verhöre würden
mehrere Tage in Anspruch nehmen. Der Arzt konnte sich nicht
leisten, in dieses Netz zu geraten.
Ohne den Eindruck zu erwecken als wolle er flüchten, rannte er
schnell auf die Seufzerbrücke zu, eilte die Treppe hinauf und auf
der anderen Seite wieder hinunter. Vorbei an den Buden mit Andenken
und T-Shirts hastete er durch die Drehtür des Danieli Hotels in
dessen Halle.
»Guten Tag, Herr Dr. Humboldt«, sagte der Concierge.
»Auch Ihnen einen guten Tag«, erwiderte der Mann, der weder Arzt
war noch Humboldt hieß. Für die wenigen, die das wissen mussten,
war sein Name Peter Howell.
Howell war nicht überrascht, dass die Kunde von dem Massaker die
Oase der Stille, die das Danieli darstellte, noch nicht erreicht
hatte. In diesen Palast aus dem 14. Jahrhundert, der für den Dogen
Dandolo errichtet worden war, drang nur wenig von der
Außenwelt.
Er steuerte nach links auf die kleine Bar in der Ecke zu, bestellte
sich einen Brandy und schloss kurz die Augen, als der Barmann ihm
den Rücken zuwandte. Howell hatte schon genug Tote gesehen, Gewalt
war ihm nicht fremd, im passiven Sinne ebenso wenig wie im aktiven.
Aber was er da gerade auf dem Markusplatz miterlebt hatte,
bereitete ihm Übelkeit.
Er leerte das Glas mit einem einzigen Schluck zur Hälfte. Als der
starke Brandy seinen Kreislauf belebte und er spürte, wie sich
seine Muskeln entspannten, griff er in seine
Jacketttasche.
Jahrzehnte waren verstrichen, seit man Howell die Kunst der
Taschendiebe gelehrt hatte, und als er jetzt den Zettel aus Dankos
Tasche zwischen seinen Fingern spürte, war er froh, dass er nichts
davon verlernt hatte.
Er las den Satz einmal, und dann ein zweites Mal. Obwohl er es
besser wusste, hatte er gehofft, dass irgendetwas auf diesem Blatt
ihm einen Hinweis dafür liefern würde, weshalb Danko so
hingemetzelt worden war. Und dass sich vielleicht auch ein Hinweis
auf den Schuldigen finden würde. Aber nichts, was er las, ergab
einen Sinn, mit Ausnahme eines Wortes: Bioaparat.
Howell faltete das Papier wieder zusammen und steckte es ein. Er
leerte sein Glas und bedeutete dem Barmann, dass er ihm
nachschenken solle.
»Alles in Ordnung, Signore?«, fragte
der Mann beflissen, als er ihm das Glas hinstellte.
»Ja, danke.«
»Wenn Sie irgendetwas brauchen, sagen Sie es mir bitte.«
Howells eisiger Blick veranlasste den Barmann, eilig den Rückzug
anzutreten.
Von dir brauche ich gar nichts, alter Junge.
Ich brauche etwas ganz anderes.
Als Smith die Augen aufschlug, sah er sich verblüfft einer Anzahl
grotesker Gesichter gegenüber, die auf ihn herunterstarrten. Er
fuhr unwillkürlich zurück, bis er dann feststellte, dass er im
Eingang zu einem Geschäft zusammengesunken war, in dem Masken und
Kostüme verkauft wurden. Taumelnd richtete er sich auf und tastete
sich instinktiv nach irgendwelchen Verletzungen ab. Nichts schien
gebrochen, aber sein Gesicht brannte. Er strich sich mit der Hand
über die Wange und sah, dass seine Finger blutig waren.
Zumindest bin ich am Leben.
Von den Killern, die in der Gondel zu ent fliehen versucht hatten,
konnte man das nicht behaupten. Die Explosion des Bootes hatte auch
die Identität seiner Insassen mit in die Ewigkeit befördert. Selbst
wenn die Polizei Augenzeugen auftreiben konnte, würden sie wertlos
sein: Professionelle Killer waren häufig Meister der
Maske.
Der Gedanke an die Polizei machte Smith Beine. Wegen der Feiertage
waren sämtliche Läden am Kanal geschlossen, und man sah kaum Leute.
Aber die Sirene der Polizeibarkasse wurde immer lauter. Die
Behörden hatten mit Sicherheit eine Verbindung zwischen dem
Massaker auf dem Markusplatz und der Explosion im Kanal
hergestellt. Die Zeugen würden ihnen sagen, dass die Mörder in
diese Richtung gerannt waren.
Man könnte mich finden… dieselben Zeugen
werden aussagen, dass ich bei Danko gesessen bin…
Die Polizei würde wissen wollen, welche Beziehung zwischen Smith und dem Toten bestand, weshalb sie sich getroffen und worüber sie geredet hatten. Sie würden sich daran festklammern, dass Smith dem amerikanischen Militär angehörte, und das Verhör würde noch eindringlicher werden. Und doch konnte Smith ihnen am Ende nichts sagen, was geeignet gewesen wäre, das Massaker zu erklären.
Smith richtete sich auf, wischte sich das Gesicht so gut er konnte ab und klopfte sich den Staub vom Anzug. Er machte ein paar vorsichtige Schritte und ging dann so schnell er konnte ans Ende der kurzen Gasse, überquerte eine Brücke und begab sich in den Schatten einer mit Brettern vernagelten Sequero, einer Werkstätte, in der Gondeln gebaut wurden. Einen halben Block weiter betrat er eine kleine Kirche, durchquerte lautlos den schattigen Innenraum und verließ sie durch eine Nebentür. Einige Minuten später tauchte er auf der Promenade neben dem Canale Grande in der dort ständig wogenden Menschenmenge unter.
Als Smith schließlich den Markusplatz erreichte, war der bereits abgeriegelt. Finster blickende Carabinieri mit Maschinenpistolen bildeten eine menschliche Barriere zwischen den Granitlöwen. Europäer, insbesondere Italiener, verstanden sich auf das, was nach einem offenkundigen Terroristenanschlag zu tun war: Sie blickten starr nach vorn und schoben sich am Schauplatz des Geschehens vorbei. Und das tat Smith auch.
Er ging über die Seufzerbrücke, passierte die Drehtür des Danieli Hotels und begab sich sofort in die Herrentoilette. Dort spritzte er sich kaltes Wasser ins Gesicht und atmete ein paarmal tief durch. Er schaute in den Spiegel über dem Waschbecken, sah dort aber nur Dankos Körper, sah ihn unter dem Aufprall der Kugeln zusammenzucken. Er hörte die Schreie der Passanten, die Rufe der Killer, als sie merkten, dass er auf sie zurannte. Und dann die schreckliche Explosion, die sie zerfetzt hatte…
All das in einer Stadt, die als eine der sichersten in ganz Europa galt. Was in Gottes Namen hatte Danko bei sich geführt, das dieses Massaker rechtfertigte?
Smith verweilte noch ein paar Augenblicke und verließ dann die Toilette. Die Hotelhalle war leer, mit Ausnahme von Peter Howell, der an einem kleinen Tisch hinter einer Marmorsäule saß. Smith griff wortlos nach dem CognacSchwenker und leerte ihn. Howell schien dafür Verständnis zu haben.
»Ich hatte mich schon gefragt, was aus dir geworden ist.
Du hast diese Mistkerle verfolgt, nicht
wahr?«
»Die Killer liefen zu einer Gondel, die auf sie wartete«,
erwiderte Smith. »Ich glaube, sie hatten vor, einfach in
der
Umgebung zu verschwinden. Niemand achtet hier
sonderlich auf eine Gondel.«
»Abgesehen davon?«
»Abgesehen davon, dass derjenige, der sie engagiert hat,
um Danko zu töten, sich nicht darauf verlassen hat, dass
sie den Mund halten. In der Gondel war C-12 und ein
Zünder.«
»Das also war der Knall, den ich auf dem Platz gehört
habe.«
Smith beugte sich vor. »Danko?«
»Die haben perfekte Arbeit geleistet«, erwiderte Howell.
»Es tut mir Leid, Jon. Ich war so schnell es ging bei
ihm,
aber…«
»Du hast getan, wozu ich dich hergeholt habe - mir
Deckung zu geben, während ich Danko hinausschleuse.
Mehr hättest du nicht tun können. Danko hat mir gesagt, er sei
sauber, und ich habe ihm geglaubt. Er war nervös, aber nicht weil
er dachte, dass jemand ihn verfolgt. Da war
etwas anderes. Hast du nichts gefunden?«
Howell reichte ihm das Blatt Papier, das so aussah, als
ob man es aus einem billigen Heft gerissen habe. Er
musterte Smith dabei, ohne mit der Wimper zu zucken. »Was gibt’s?«,
fragte Smith.
»Ich wollte ja nicht schnüffeln«, sagte Howell. »Und
mein Russisch ist ein wenig eingerostet. Trotzdem ist mir
ein Wort in die Augen gesprungen.«
Er hielt inne. »Du hattest wirklich keine Ahnung, was
Danko möglicherweise mitgebracht haben könnte?« Smith überflog die
wenigen Worte. Ein Wort stach ihm
dabei ebenso schnell in die Augen wie vorher Peter
Howell: Bioaparat. Russlands Zentrum
für biologische
Waffenforschung, -entwicklung und -herstellung. Danko
hatte oft davon gesprochen, aber so weit Smith wusste,
war er dort nie tätig gewesen. Oder
doch? Konnte es sein,
dass er zu Bioaparat versetzt worden war? Hatte er etwas
so Schreckliches entdeckt, dass er geglaubt hatte, es nur
auf dem Fluchtweg aus dem Lande schaffen zu können? Howell
studierte Smith’ Reaktion. »Das kann einem ja
richtig Angst machen. Möchtest du mir etwas sagen, Jon?« Smith
blickte auf und sah den schweigsamen Engländer
an. Peter Howell hatte sein ganzes Leben in der Welt des
britischen Militärs und der Geheimdienste verbracht,
zuerst beim Special Air Service und dann bei M-16. Ein
tödliches Chamäleon, dessen Taten stets unbesungen
blieben, war er schließlich »in Pension« gegangen, hatte
aber seinem Beruf nie ganz den Rücken gekehrt. Für
Männer mit Howells Erfahrung gab es immer Bedarf, und
diejenigen, die diesen Bedarf hatten - Regierungen oder
Individuen - wussten, wo sie ihn finden konnten. Howell konnte es
sich leisten, sich seine Einsätze selbst auszuwählen, aber wenn
seine Freunde ihn brauchten, hatte das immer Vorrang. Das war für
ihn eine eiserne Regel. Er hatte wesentlichen Anteil daran gehabt,
dass Smith die Hintermänner des Hades-Programms zur Strecke
gebracht hatte. Und als Smith ihn gebeten hatte, ihm in Venedig
Deckung zu geben, hatte er keine Sekunde gezögert, sein Refugium in
der Sierra von Kalifornien zu verlassen. Manchmal belasteten Smith
die Zwänge, die Klein ihm auferlegte. So konnte er beispielsweise
Howell nichts von Covert-One sagen, weder von seiner Existenz noch
dass er der Organisation angehörte. Er zweifelte nicht daran, dass
Peter einen Verdacht hatte. Aber als
Profi behielt er diesen Verdacht für sich.
»Das könnte eine ganz große Sache sein, Peter«, sagte
Smith leise. »Ich muss in die Staaten zurück, aber ich
möchte mehr über diese beiden Killer wissen; wer sie
waren und - ebenso wichtig für wen sie tätig waren.« Howell
musterte Smith nachdenklich. »Ich sage es ja.
Selbst der kleinste Hinweis auf Bioaparat macht mir
schlaflose Nächte. Ich habe ein paar Freunde in Venedig.
Lass mich sehen, was ich herausbekommen kann.« Er zögerte kurz.
»Dein Freund Danko - hatte er
Familie?«
Smith erinnerte sich an ein Foto mit einer hübschen
dunkelhaarigen Frau und einem Kind, das Danko ihm
einmal gezeigt hatte. »Ja.«
»Dann tu, was du tun musst. Ich weiß, wie ich dich
finden kann, wenn es nötig sein sollte. Und nur für alle
Fälle - hier ist eine Adresse außerhalb von Washington.
Ich benutze sie gelegentlich. Sie ist mit allen Schikanen
ausgestattet. Man weiß ja nie, wann man so etwas
braucht.«
4
Die neue Ausbildungsstätte der NASA am Stadtrand von Houston umfasste unter anderem vier riesige Hangars, jeder von der Größe eines Fußballplatzes. Außen überwachten Straßenfahrzeuge der Air Force Police das Gelände; innerhalb des Maschendrahtzauns waren zusätzliche Bewegungssensoren und Kameras installiert worden.
In dem mit G3 bezeichneten Gebäude befand sich eine komplette Attrappe der neuesten Generation des Space Shuttle. Sie war ähnlich wie die von den Fluggesellschaften für die Pilotenausbildung benutzten Flugsimulatoren gebaut, und verschaffte damit der Mannschaft des Shuttle praktische Erfahrungen, die sie mit in den Weltraum nehmen konnten.
Megan Olson befand sich in dem langen Tunnel, der vom mittleren Deck des Shuttle nach hinten in die Ladebucht führte. Mit weiten blauen Hosen und einem locker anliegenden Baumwollhemd bekleidet, schwebte sie sanft wie eine fallende Feder in der fast schwerkraftfreien Umgebung.
Eine Stimme tönte knisternd in ihrem Kopfhörer: »Sie sehen so aus, als würden Sie da drinnen zu viel Spaß haben.«
Megan griff nach einem der in die Tunnelwand eingelassenen Gummihandgriffe und drehte sich herum, um das Gesicht der Kamera zuzuwenden. Ihr rotes Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, wehte ihr vors Gesicht; sie wischte es weg.
»Das gefällt mir an der ganzen Geschichte auch am besten«, lachte sie. »Es ist wie Tauchen - ohne Fische.«
Megan schwebte zu einem Bildschirm, aus dem ihr das Gesicht von Dr. Dylan Reed, dem Leiter des biomedizinischen Forschungsprogramms der NASA, entgegenlächelte.
»Die Labortüren öffnen sich in zehn Sekunden«, warnte Reed.
»Bin schon unterwegs.«
Megan arbeitete sich zu einer Position vor, wo sie im fünfundvierzig Grad Winkel vor der kreisförmigen Lukentür hing. In dem Augenblick, in dem sie den Türgriff berührte, zeigte ihr das Zischen von Pressluft an, dass die Verriegelung gelöst worden war. Sie drückte gegen die Tür, die sich mühelos öffnen ließ.
»Ich bin drin.«
Gleich darauf stand sie auf dem mit Klettstoff ausgekleideten Boden und spürte, wie ihre Schuhsohlen sich darin verkrallten. Jetzt hatte sie festen Boden unter den Füßen. Sie schloss die Tür und tippte einen Code in den alphanumerischen Schließmechanismus ein. Die Verriegelung rastete ein.
Sich umdrehend blickte sie auf die Arbeitsfläche des Weltraumlabors, die in ein Dutzend Module aufgeteilt war, jedes etwa so groß wie ein Besenschrank und jedes für eine unterschiedliche Funktion oder ein Experiment bestimmt. Vorsichtig ging sie den Mittelgang hinunter, der gerade breit genug war, um ihren Schultern Platz zu lassen, vorbei an der Critical-Point-Anlage und dem SPE (Space Physiology Experiment), bis sie ihre Station, das so genannte Biorack, erreicht hatte.
Ähnlich den anderen Stationen war das Biorack von einer einen Meter zwanzig hohen und zwei Meter breiten Titanverschalung umgeben, die an einen etwas groß geratenen Schacht einer Klimaanlage erinnerte und deren oberes Drittel im dreißig Grad Winkel dem Benutzer zugeneigt war. Diese Anordnung war erforderlich, weil das ganze Labor sich in einem großen Zylinder befand.
»Heute haben wir ein chinesisches Menü«, verkündete Reed vergnügt. »Wählen Sie eines aus Spalte A und eines aus Spalte B.«
Megan trat vor das Biorack und legte den
Stromschalter um.
Das oberste Modul, das Gefrierfach, erwachte als Erstes summend zum
Leben; dann, von oben nach unten, Kühler, Inkubator A,
Handschuhkasten und Inkubator B. Sie warf einen prüfenden Blick auf
die Zugangs- und Steuertafel und schließlich in Kniehöhe auf die
Energieversorgung. Das Biorack - oder Bernie, wie der allgemein
benutzte Spitzname lautete - funktionierte einwandfrei.
Megan warf einen Blick auf die Monitoranzeige mit den
durchzuführenden Experimenten. Wie Reed angekündigt hatte,
erinnerte die Menütafel an die Speisekarte eines China
Restaurants.
»Ich glaube, ich nehme Grippe und füge ein wenig Würze hinzu - vielleicht Legionärskrankheit.«
Reed schmunzelte. »Klingt nicht übel. Ich
starte die Uhr, sobald sie im Handschuhkasten sind.«
Der Handschuhkasten war eine Einheit von der Größe einer
Schuhschachtel, die etwa fünfundzwanzig Zentimeter aus dem Biorack
ragte. Sie war nach dem Modell der wesentlich größeren
Eindämmungseinheiten gebaut, wie sie die meisten Labors besaßen,
und völlig sicher. Im Gegensatz zu ihren erdgebundenen Verwandten
war diese Box freilich für den Einsatz in MikroSchwerkraft gebaut.
Das verschaffte Megan und ihren Kollegen die Möglichkeit,
Organismen auf eine Art und Weise zu studieren, wie das in keiner
anderen Umgebung möglich war.
Sie schob die Hände in dicke Gummihandschuhe, die in die Box
hineinreichten. Die Abdichtung zwischen den Handschuhen und der Box
bestand aus fünf Zentimeter massivem Gummi, Metall und Keflex -
einem dicken, praktisch unzerbrechlichen Glas. Selbst wenn
irgendwelche gefährlichen Organismen austraten, würden sie in der
Box eingedämmt bleiben.
Und das ist auch ganz gut so, dachte
sie in Anbetracht der Tatsache, dass sie es mit dem Erreger der
Legionärskrankheit zu tun hatte.
Obwohl die Handschuhe dick und schwerfällig aussahen, waren sie
äußerst feinfühlig. Megan tippte an eine Leiste des
Kontrollbildschirms in der Box und tastete eine Kombination aus
drei Ziffern ein. Fast im gleichen Augenblick schob sich eine von
fünfzig Scheiben vor nicht größer als die Hülle einer CD. Statt
einer CD enthielt sie allerdings eine etwa einen halben Zentimeter
dicke Glasschale mit einem Durchmesser von acht Zentimetern. Auch
ohne Mikroskop konnte Megan die grünlich graue Flüssigkeit in der
Schale deutlich erkennen: Erreger der Legionärskrankheit.
Im Verlauf ihrer wissenschaftlichen Ausbildung und später dann bei
der praktischen Arbeit in der biochemischen Forschung hatte sie
sich ausgeprägten Respekt im Hinblick auf die Kulturen angewöhnt,
mit denen sie hier arbeitete. Selbst unter noch so sicheren
Umweltbedingungen vergaß sie nie, womit sie es zu tun hatte. Sie
setzte äußerst vorsichtig die Glasschale auf die Arbeitsplatte und
nahm dann den Deckel ab, sodass die Bakterien freigelegt
waren.
Reeds Stimme ertönte in ihrem Kopfhörer: »Die Uhr läuft. Vergessen
Sie nie: Bei Teilschwerkraft haben Sie nur dreißig Minuten für
jedes Experiment. Auf dem Shuttle werden Sie sich Zeit lassen
können.«
Megan wusste seine Professionalität zu schätzen. Reed lenkte seine
Wissenschaftler nie von der Arbeit ab, indem er während eines
Experiments mit ihnen redete. Sobald sie die Probe geöffnet hatte,
war sie ganz auf sich selbst gestellt.
Megan schob sich das oben an der Schuhschachtel angebrachte
Mikroskop zurecht und atmete tief durch. Dann musterte sie die
Probe, die vor ihr lag. Sie hatte schon früher mit
Legionärskrankheit gearbeitet; es war also so, als hätte sie einen
alten Freund vor sich.
»Na schön, Kumpel«, sagte sie laut. »Mal sehen, was du zustande
bringst, wenn du nicht so viel wiegst.«
Sie drückte den Knopf, der den Videorecorder einschaltete, und machte sich an die Arbeit.
Zwei Stunden später schwebte Megan Olson aus dem Space Lab zurück ins mittlere Deck, wo die Schlafstationen, die Behälter mit den Nahrungsvorräten, die Waschräume und die sonstigen Vorratsbehälter untergebracht waren. Von dort kle tterte sie die Leiter zu dem jetzt verlassenen Flugdeck hinauf und arbeitete sich zur Sprechanlage vor.
»Okay, Leute, lasst mich raus.«
Sie wartete, während der Luftdruck in der Attrappe angeglichen wurde. Nach einem halben Tag teilweiser Schwerelosigkeit fühlte sie sich sehr unbeholfen. An dieses Gefühl hatte sie sich bis jetzt nie ganz gewöhnen können. Sie musste sich immer wieder bewusst machen, dass sie kompakte dreiundfünfzig Kilo wog, und fast alles perfekt durchtrainierte Muskeln.
Als der Druckausgle ich abgeschlossen war, klappte die Cockpitluke auf. Die kühle klimatisierte Brise, die ihr entgegenwehte, klebte ihr die Kleidung an die Haut. Ihr erster Gedanke nach einem Ausbildungsgang war immer der Gleiche: Gott sei Dank kann ich jetzt richtig duschen. An Bord der Attrappe hatte sie auch geübt, sich nur mit einem feuchten Lappen zu reinigen.
Wenn du überhaupt zum Einsatz kommst, wirst du dich schon mit Schwammbädern abfinden, rief sie sich in Erinnerung.
»Sie haben das sehr gut gemacht.«
Dylan Reed, ein großer, distinguiert wirkender Mann Ende der Vierzig begrüßte Megan, als sie aus der Luke kam.
»Haben wir einen Ausdruck von den Ergebnissen?«, fragte sie.
»Die Computer laufen bereits, während wir uns hier unterhalten.«
»Das ist der dritte Test, den wir jetzt mit Legionärskrankheit durchgeführt haben. Ich wette um ein Abendessen bei Sherlock’s, dass diese Resultate genau wie die beiden ersten sein werden: Legionärskrankheit vermehrt sich wie wild, selbst in der jetzt leicht angepassten Schwerkraft. Ich bin wirklich gespannt darauf, was da unter Mikro-Schwerkraft heraus kommen könnte.«
»Glauben Sie ernsthaft, dass ich gegen Sie wetten würde?«, lachte Reed.
Megan folgte ihm über die Plattform zu dem Lift, der sie nach unten trug. Als sie ausstieg, blieb sie kurz stehen und blickte auf die im Licht von tausend Scheinwerfern majestätisch aufragende Attrappe. »Ich wette, die wird im Weltraum genauso ausschauen«, sagte sie leise.
»Eines Tages werden Sie einen Weltraumspaziergang machen und das selbst sehen«, versicherte ihr Reed. Megans Stimme wurde leiser. »Eines Tages…«
Als eines der Ersatzmitglieder der Crew wusste Megan, dass ihre Chancen an der Mission teilzunehmen, die in sieben Tagen geplant war, gering bis nicht vorhanden waren. Die Gruppe von Wissenschaftlern, die Reed ausgewählt hatte, war in Höchstform. Einer von ihnen würde sich buchstäblich ein Bein brechen müssen, damit sie seine Stelle einnehmen könnte.
»Der Weltraumspaziergang kann warten«, sagte Megan, während sie gemeinsam zu den Unterkünften hinübergingen. »Im Augenblick brauche ich eine heiße Dusche.«
»Jetzt hätte ich’s beinahe vergessen«, sagte
Reed. »Hier ist jemand, den Sie glaube ich kennen.«
Ihre Stirn runzelte sich. »Ich habe niemanden erwartet.« »Es
handelt sich um Jon Smith. Er ist vor kurzem hier
eingetroffen.«
Nachdem die Gulfstream vom Marco Polo Flughafen Venedigs gestartet war, kam der Pilot mit einer Nachricht von Klein in die Kabine. »Wollen Sie antworten, Sir?«, fragte er seinen Passagier.
Smith schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Die Kursänderung von Andrews nach Houston verlängert unsere Flugzeit um zwei Stunden. Wenn Sie wollen, können Sie ein wenig schlafen.«
Smith dankte dem Piloten und zwang sich dann dazu, etwas kalten Braten und Obst aus der Kombüse zu sich zu nehmen. Die Mitteilung von Klein war kurz und lakonisch gewesen. In Anbetracht der blutigen Ereignisse in Venedig und des Materials, das Danko aus Russland mitgebracht hatte, wollte Klein seinen Bericht persönlich entgegennehmen. Außerdem wollte er in der Nähe des Präsidenten bleiben, der, um seine Unterstützung für das Weltraumprogramm zu dokumentieren, Houston einen Besuch abstattete - für den Fall, dass Smith’ Information ihm sofort zur Kenntnis gebracht werden musste.
Nach dem kleinen Imbiss bereitete Smith seinen Bericht für Klein vor, überlegte, welche nächsten Schritte jetzt erforderlich waren und formulierte Argumente für seinen Plan. Ehe er bemerkte, wie viel Zeit darüber vergangen war, schwebte die Maschine bereits über dem Golf von Mexiko und befand sich im Anflug auf den NASAFlughafen.
Als die gewaltigen Anlagen unter ihm sichtbar wurden, erinnerte Smith sich plötzlich an Megan Olson. Der Gedanke an sie ließ ein Lächeln über seine Lippen huschen, und plötzlich wünschte er sich sehr, sie wiederzusehen. Nach den blutigen Ereignissen der letzten vierundzwanzig Stunden sehnte er sich nach Frieden, wenigstens für einen Augenblick.
Der Pilot ließ die Maschine ausrollen und steuerte dann auf die Sicherheitszone zu, wo die Air Force One parkte. Smith stieg die Gangway hinunter und wurde auf dem Rollfeld von einem bewaffneten Sergeant der Air Police empfangen, der ihn zum Besucherzentrum fuhr. In der Ferne sah Smith die Tribüne mit den NASA-Angestellten, die der Rede des Präsidenten zuhörten. Er zweifelte stark daran, dass sich Klein auch unter den Zuhörern aufhielt.
Der Sergeant geleitete ihn in ein kleines Büro
abseits der Ausstellungsräume. Abgesehen von einem schlichten
Schreibtisch und ein paar Stühlen war der Raum völlig leer. Klein
klappte den Laptop zu, an dem er gearbeitet hatte, stand auf und
ging Smith entgegen.
»Gott sei Dank sind Sie am Leben, Jon.«
»Danke, Sir. Glauben Sie mir, ich bin ebenso dankbar.« Klein
verblüffte ihn immer wieder. Jedes Mal, wenn
Smith dachte, der Chef von Covert-One hätte Eiswasser in seinen Adern, legte dieser echte Sorge für den »großen Unbekannten« an den Tag, den er tödlicher Gefahr ausgesetzt hatte.
»Der Präsident wird in einer knappen Stunde abfliegen, Jon«, ließ Klein ihn wissen. »Sagen Sie mir, was vorgefallen ist, damit ich entscheiden kann, ob ich ihm berichten muss.«
Als er bemerkte, wie Smith sich umsah, fügte er hinzu: »Der Geheimdienst hat den Raum nach Wanzen abgesucht. Sie können ungehindert sprechen.«
Smith schilderte Minute für Minute, was von dem Augenblick an geschehen war, in dem er Danko auf dem Markusplatz entdeckt hatte. Es entging ihm nicht, dass Klein zusammenzuckte, während Smith von der Schießerei berichtete. Als er dann Bioaparat erwähnte, war Klein sichtlich erschüttert.
»Konnte Danko Ihnen vor seinem Tod noch etwas sagen?«, fragte Klein.
»Dazu hatte er keine Chance mehr. Aber er hatte
das bei sich.«
Er reichte Klein das Blatt mit Dankos Handschrift darauf.
Bioaparat ist nicht in der Lage, von Stadium eins auf Stadium zwei überzugehen. Das ist keine Frage des Geldes, vielmehr fehlen notwendige Einrichtungen. Trotzdem hält sich das Gerücht, dass man Stadium Zwei abschließen wird, aber nicht hier. Ein Kurier soll Bioaparat spätestens am 9.4. mit der Ladung verlassen.
Klein sah Smith an. »Wer ist der Kurier? Ein
Mann oder eine Frau? Für wen ist er tätig? Das ist alles zum
wahnsinnig werden lückenhaft! Und was bedeutet das die Stadien eins
und zwei?«
»Das bezieht sich üblicherweise auf Viren, Sir«, erwiderte Smith
und fügte dann hinzu: »Ich würde auch gern wissen, was dieser
Kurier herausbringen soll. Und wo sein Zielort ist.«
Klein trat ans Fenster, von dem aus man auf ein Treibstoffdepot blicken konnte. »Das alles ergibt keinen Sinn. Warum entschloss sich Danko dazu, wegzulaufen, wenn er nicht mehr als das hatte?«
»Das ist genau die Frage, die ich mir auch
gestellt habe, Sir. Was halten Sie von folgender Theorie? Danko
stößt während seiner Tätigkeit bei Bioaparat auf Informationen über
den Kurier. Er beginnt Nachforschungen anzustellen
- und erweckt damit Verdacht und sieht sich genötigt, zu fliehen.
Aber er hat keine Chance - oder wagt es nicht -, das, was er
möglicherweise sonst noch erfahren hat, schriftlich festzuhalten.
Wenn Danko je die Identität des Kuriers, das, was er überbringen
sollte oder sein Ziel in Erfahrung gebracht hat, dann hat er diese
Informationen mit in den Tod genommen.«
»Ich kann einfach nicht glauben, dass er umsonst gestorben sein soll«, sagte Klein leise.
»Und ich will das nicht glauben«, fuhr Smith auf. »Ich glaube, dass Danko deshalb so scharf darauf war, zu uns zu kommen, weil das, was da aus Russland herausgeschafft wird, in unsere Richtung unterwegs ist.«
»Wollen Sie sagen, dass jemand dabei ist, eine russische Biowaffe in dieses Land zu bringen?«, rief Klein.
»So wie die Umstände liege n, würde ich sagen, dass das sehr wahrscheinlich ist. Was sonst könnte Danko solche Angst eingejagt haben?«
Klein rieb sich die Nasenwurzel. »Falls das zutrifft oder auch nur zutreffen könnte -, muss ich den Präsidenten darauf aufmerksam machen. Dann müssen Schritte ergriffen werden.«
Er hielt inne, überlegte kurz. »Das Problem ist nur, wie sollen wir uns schützen, wenn wir gar nicht wissen, wovor? Danko hat uns keinerlei Hinweise gegeben.«
Smith überlegte. »Das stimmt vielleicht nicht, Sir. Darf ich?«
Er deutete auf den DELL Computer auf dem
Schreibtisch.
Smith loggte sich bei USAMRIID ein und arbeitete sich durch die
zahlreichen Sicherheitsvorkehrungen, bis er die Bibliothek erreicht
hatte, das größte und umfangreichste Kompendium über biologische
Kriegführung, das die Welt kannte. Er drang zu Stadium eins und
Stadium zwei vor und ließ sich von dem Computer die Namen aller
Viren anzeigen, die zwei ausgeprägte Entwicklungsstadien
hatten.
Der Bildschirm bot ihm dreizehn Wahlmöglichkeiten an. Daraufhin
wies Smith den Computer an, diese dreizehn Varianten mit Viren zu
vergleichen, von denen bekannt war, dass Bioaparat sie entwickelt,
hergestellt und gelagert hatte.
»Das könnte Marburg oder Ebola sein«, sagte Klein, der ihm über die
Schulter sah. »So ziemlich die tödlichsten Biester, die es auf der
Welt gibt.«
»Stadium zwei deutet auf Re-Konfigurierung, GenSpleißung oder eine andere Form der Veränderung«, erklärte Smith. »Marburg, Ebola und andere können nicht ›entwickelt‹ werden. Sie existieren in der Natur - und natürlich auch in biologischen Waffenlabors. Bei diesen Biestern kommt es eher darauf an, effektive Systeme für den Kampfeinsatz zu installieren.«
Plötzlich stöhnte Smith auf. »Nichts ist unmöglich… Wir wissen, dass die Russen jahrelang daran herumgebastelt und versucht haben, das Virus zu verändern, eine virulentere Linie zu entwickeln. Es war vereinbart, dass sie diese Labors schließen, aber…« Klein hörte zu, blickte aber dabei unverwandt auf den Bildschirm, wo große schwarze Lettern wie Totenköpfe vor einem weißen Hintergrund flackerten: POCKEN.
Das Wort Virus ist von dem lateinischen Wort für Gift abgeleitet. Viren sind so winzig klein, dass ihre Existenz noch Ende des 19. Jahrhunderts unbekannt war, bis schließlich Dimitri Ivanovski, ein russischer Mikrobiologe, auf sie stieß, als er den Ausbruch einer Seuche bei Tabakpflanzen untersuchte. Die Pocken, auch als Blattern bezeichnet, sind ein Teil der unter dem Sammelbegriff Pocken zusammengefassten Virenfamilie, die zum ersten Mal geschichtlich in China im Jahre 1122 v. Chr. erwähnt wurde. Seitdem haben sie den Lauf der menschlichen Geschichte verändert, die Bevölkerung Europas im 18. Jahrhundert und die der Eingeborenenbevölkerung in Nord- und Südamerika dezimiert.
Variola major greift die Atemwege an. Nach einer Inkubationszeit von fünf bis zehn Tagen erzeugt die Seuche hohes Fieber, Erbrechen, Kopfschmerzen und Gelenkversteifung. Eine Woche später tritt zunächst an einzelnen Stellen ein Ausschlag auf, der sich dann schnell über den ganzen Körper ausbreitet und Pusteln erzeugt. Es bildet sich Schorf, der nach einer Weile abfällt und Narben hinterlässt, die Ansatzpunkte für weiteren Befall darstellen. Der Tod kann innerhalb von zwei bis drei Wochen, oder im Falle der Roten oder Schwarzen Pocken binnen weniger Tage, eintreten.
Erst im Jahre 1796 wurden ernsthafte Versuche unternommen, der Seuche Herr zu werden. Ein britischer Arzt, Edward Jenner, machte die Entdeckung, dass Milchmädchen, die sich mit einer schwachen Form der Pocken von Kühen angesteckt hatten, den Blattern gegenüber immun waren. Jenner entnahm Proben aus Hautverletzungen eines Milchmädchens und impfte damit einen kleinen Jungen, der daraufhin die Epidemie überlebte. Jenner nannte seine Entdeckung Vakzinia Vakzine oder Impfstoff.
Zuletzt brach die Seuche 1977 in Somalia aus und wurde erfolgreich bekämpft. Im Mai 1980 hatte die Weltgesundheitsorganisation die Pocken für besiegt erklärt und daraufhin veranlasst, dass alle Immunisierungsprogramme eingestellt wurden, da es keinen Bedarf mehr gäbe, Menschen in Verbindung mit der Impfung auch nur dem geringsten Risiko auszusetzen. Ende der achtziger Jahre gab es nur noch zwei Orte auf der Welt, wo Variola major gelagert wurde: Im Zentrum für Seuchenkontrolle in Atlanta und am Ivanovski Institut für Virologie in Moskau. In letzterem Fall wurde das Virus später an Bioaparat übergeben, eine Institution, die sich in der Nähe der Stadt Vladimir 350 Kilometer südöstlich von Moskau befindet.
Nach einem internationalen sowohl von den Vereinigten Staaten wie auch Russland unterzeichneten Abkommen sollten die Proben in hoch sicheren und einer internationalen Inspektion unterliegenden Laboratorien untergebracht werden. Eine Verwendung der Proben für irgendwelche nicht von Inspektoren der Weltgesundheitsorganisation überwachten Experimente wurde generell verboten.
So lautete zumindest die Theorie.
»Theoretisch hätten Inspektoren anwesend sein müssen«, sagte Smith. Er sah Klein an. »Sie und ich wissen es besser.«
Klein schnaubte durch die Nase. »Die Russen haben den Bürokraten von der WHO ein Märchen von moderneren Anlagen in Vladimir aufgetischt, und die Idioten erlaubten natürlich, dass die das Pockenvirus verlegen. Was ihnen nie klar geworden ist, war, dass die Russen ihnen nur die Teile von Bioaparat geze igt haben, die sie ihnen zeigen wollten.«
Das entsprach den Tatsachen. Aus den Aussagen von Überläufern und ortsansässigen Quellen hatten sich die Vereinigten Staaten im Lauf der Jahre ein ziemlich klares Bild von den tatsächlichen Vorgängen bei Bioaparat zusammensetzen können. Die internationalen Inspektoren hatten nur die Spitze des Eisbergs zu sehen bekommen die Variola-Lager, die daraufhin genehmigt wurden. Aber es gab andere Gebäude, die als Saatgut- und Düngemittellabors getarnt waren und die vor der Welt verborgen blieben. Klein besaß genügend Beweismaterial, das er der WHO hätte vorlegen können und das für die Forderung ausgereicht hätte, Bioaparat den Inspektoren ohne jede Einschränkung zugänglich zu machen. Aber da war Politik im Spiel. Die auge nblickliche Administration wollte nicht riskieren, Russland zu verärgern, das in den Kommunismus zurückzufallen drohte. Außerdem war eine Anzahl der WHO-Inspektoren nicht geneigt, dem von amerikanischer Seite beigebrachten Beweismaterial ohne Weiteres zu vertrauen. Darüber hinaus konnte man sich auch nicht auf ihre Diskretion verlassen. Die amerikanischen Geheimdienststellen waren um das Leben der Leute besorgt, die ihnen die Informationen geliefert hatten, und befürchteten, die Russen könnten, falls sie erfuhren, über welche Informationen der Westen verfügte, daraus Schlüsse hinsichtlich der undichten Stellen in ihrem System ziehen.
»Ich habe keine Wahl«, sagte Klein mit düsterer
Miene. »Ich muss den Präsidenten verständigen.«
»Damit könnte eine Regierungsangelegenheit daraus werden«, gab
Smith zu bedenken. »Und in diesem Zusammenhang stellt sich die
Frage: Vertrauen wir den Russen genug, dass sie dem Leck und dem
Kurier nachgehen? Wir wissen nicht, mit wem wir es bei Bioaparat zu
tun haben, wie weit oben der Betreffende angesiedelt ist und wer
ihm seine Anweisungen erteilt hat. Möglicherweise handelt es sich
gar nicht um einen abtrünnigen Wissenschaftler oder Forscher, der
bloß auf das schnelle Geld aus ist, indem er ein Päckchen nach New
York liefert. Ebenso gut könnte die ganze Geschichte bis in den
Kreml hineinreichen.«
»Sie wollen sagen, wenn der Präsident seinen Amtskollegen in Moskau
anspricht, könnten wir damit die falschen Leute in unsere Karten
sehen lassen. Da bin ich ganz Ihrer Meinung - aber was für eine
Wahl habe ich denn sonst?«
Smith brauchte drei Minuten, um Klein die Alternative darzulegen,
die er sich während des Flugs überlegt hatte. Die skeptische Miene
seines Gegenüber entging ihm nicht, und er war schon darauf
vorbereitet, weitere Argumente bringen zu müssen, aber Klein
verblüffte ihn, indem er nach kurzer Überlegung erklärte: »Ich bin
einverstanden. Das ist der einzige Weg, der uns übrig bleibt, wenn
wir sofort handeln wollen - und der auch Erfolgschancen bietet.
Aber eines muss ich Ihne n sagen: Der Präsident wird uns nicht viel
Zeit lassen. Wenn Sie nicht schnell Resultate bringen, wird ihm
keine andere Wahl bleiben, als mit den Russen Fraktur zu
reden.«
Smith atmete tief durch. »Geben Sie mir zwei Tage. Ich werde mich
alle zwölf Stunden melden. Wenn mein Signal länger als sechzig
Minuten ausbleibt, sollten Sie davon ausgehen, dass ich mich
überhaupt nicht mehr melden kann.«
Klein schüttelte den Kopf. »Das ist verdammt riskant, Jon. Mir ist
es wirklich zuwider, Leute einfach auf Verdacht hin solchen
Gefahren auszusetzen.«
»Wir haben aber wahrscheinlich im Augenblick gar keine andere Wahl,
Sir«, meinte Smith ernst. »Sie sollten dem Präsidenten vielleicht
noch etwas sagen. Wir haben vor Jahren aufgehört, Pockenimpfstoff
herzustellen. Im Augenblick besitzen wir Impfstoff für gerade mal
hunderttausend Impfungen - die bei USAM-RIID lagern und
ausschließlich für militärische Einsätze bestimmt sind. Wir könnten
nicht einmal einen verschwindend geringen Teil unserer Bevölkerung
impfen.«
Er hielt kurz inne. »Und da ist noch etwas, und das macht mir noch
mehr Sorge: Wenn jemand Pockenviren stiehlt, weil die in Russland
nicht in der Lage sind, Stadium zwei zu
entwickeln, dann bringen sie sie hierher, weil es hier geht also wartet bereits jemand auf dieser
Seite auf den Kurier. Wenn das der Fall ist und das Ziel der ganzen
Aktion nicht nur darin besteht, eine mutierte Linie zu schaffen
sondern das Virus in diesem Land zu verbreiten, dann besitzen wir
keinerlei Verteidigungsmöglichkeiten. Wir könnten tonnenweise
Impfstoff herstellen, aber gegen eine neue Variola Variante hätte der nicht die geringste
Chance.«
Kleins Augen bohrten sich in die von Smith. Seine Stimme klang
leise und schroff. »Gehen Sie und finden Sie heraus, was für eine
Teufelei die Russen da im Schilde führen. Finden Sie es schnell
heraus!«
5
Megans Absätze klapperten auf dem polierten Betonboden, als sie durch den riesigen Hangar schritt und schließlich ins Freie trat. Obwohl sie sich jetzt schon seit beinahe zwei Monaten in Houston aufhielt, hatte sie sich immer noch nicht an das texanische Klima gewöhnen können. Es war April, aber bereits drückend schwül. Sie war froh, dass ihre Ausbildung nicht bis zum Sommer dauern würde.
Das neue Besucherzentrum war zwischen Gebäude G3 und G4 erbaut worden. Megan ging an der kleinen Flotte von NASA-Bussen vorbei, die die Gäste von den Toren aufs Gelände brachten, und betrat die atriumähnliche Eingangshalle. Von den Deckenträgern hing eine Attrappe des Shuttle im halben natürlichen Maßstab herunter.
Sie umrundete einige Gruppen von Schulkindern, die die Attrappe mit aufgerissenen Augen bestaunten und ging auf die Empfangstheke zu. Jeder Besucher der NASA wurde dort ebenso wie der Teil der Anlage, den er besuchte, in einem Computer registriert. Als Megan noch überlegte, wo sie Jon Smith finden könnte, entdeckte sie ihn, wie er gerade unter der Attrappe durchging.
»Jon!«
Smith zuckte zusammen, als er seinen Namen hörte, aber als er dann Megan sah, flog ein Lächeln über sein Gesicht. »Megan… wie schön, dich zu sehen.«
Megan ging auf ihn zu und nahm seinen Arm. »Du wirkst wie jemand, der etwas Wichtiges zu erledigen hat so ernst. Sag mir bloß nicht, dass du gar nicht vorgehabt hast, mich zu besuchen.«
Smith zögerte. Er hatte tatsächlich an Megan Olson gedacht, aber er war nicht darauf vorbereitet gewesen, ihr hier zu begegnen. »Ich hätte keine Ahnung gehabt, wo ich nach dir suchen müsste«, erwiderte er der Wahrheit gemäß.
»Dabei bist du doch ein Mann, der sich überall zurechtfindet«, lachte sie. »Was machst du hier? Bist du mit dem Präsidenten gekommen?«
»Wohl kaum. Ich hatte eine Besprechung, etwas, was sich in allerletzter Minute ergeben hatte.«
»Aha. Und jetzt möchtest du möglichst schnell wieder hier wegkommen. Hast du wenigstens Zeit, mit mir einen Schluck zu trinken oder vielleicht eine Tasse Kaffee?«
Obwohl er es eilig hatte, nach Washington zurückzukehren, wollte Smith nicht irgendwelchen Argwohn aufkommen lassen, ganz besonders wo Megan allem Anschein nach seinen vagen Vorwand für seine Anwesenheit akzeptiert hatte.
»Ein Drink wäre fein«, meinte er und setzte dann hinzu: »Du hast mich anscheinend gesucht - oder bilde ich mir das nur ein?«
»Doch, das habe ich«, erwiderte Megan und steuerte ihn zu den Fahrstühlen hinüber. »Ein Freund von dir, Dylan Reed, hat erwähnt, dass du hier bist.«
»Dylan… verstehe.«
»Woher kennst du ihn denn?«
»Dylan und ich waren Kollegen, als die NASA und USAMRIID das Biochemie-Programm für das Shuttle Projekt neu überarbeitet haben. Das ist jetzt schon eine Weile her. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.«
Was die Frage aufwirft, wieso Reed oder sonst jemand eigentlich Bescheid weiß, dass ich hier bin? Da der
Luftraum um das NASA-Gelände nicht allgemein zugänglich war, hatte der Pilot der Gulfstream sich ohne Zweifel bei der NASA-Luftüberwachung gemeldet, und die hatte die Information an die Sicherheitsabteilung weitergegeben. Aber die hätte sie vertraulich behandeln müssen - es sei denn, es gab jemanden, der ankommende Flüge ausspionierte.
Megan schob eine Schlüsselkarte in den Schlitz des rundum verglasten Aufzugs, der in den Speisesaal führte. Oben angelangt, ging sie mit Smith an den bis zum Boden reichenden Fenstern vorbei, die einen Panoramaausblick auf die ganze Anlage boten.
Megan musste unwillkürlich lächeln, als sie sah, wie eine KC-135, ein umgebauter Lufttanker, über die Piste polterte.
»Angenehme Erinnerungen?«, wollte Smith wissen.
Megan lachte. »Nur im Rückblick. Die Hundertfünfunddreißig ist speziell für Vorab-Untersuchungen an verschiedenen Experimenten und Geräten für den Niederschwerkraftbereich von Shuttle Flügen umgebaut worden. Sie steigt steil auf, bis die Beschleunigung zwei G erreicht hat, geht dann in den freien Fall über und erzeugt damit für zwanzig oder dreißig Sekunden eine gewichtslose Umgebung. Als ich das das erste Mal mitgemacht habe, hatte ich keine Ahnung, wie sehr reduzierte Schwerkraft bestimmte Körperfunktionen belastet.«
Sie grinste. »Und dann war mir plötzlich klar,
warum die Einsfünfunddreißig so viele Emesisbeutel an Bord
hat.«
»Und warum man sie als den Kotz-Kometen bezeichnet«, fügte Smith
ebenfalls grinsend hinzu.
Megan sah ihn überrascht an. »Bist du je in dem Ding geflogen?«,
fragte sie.
»Das würde ich mir ja nicht einmal im Traum einfallen
lassen.«
Sie setzten sich an einen Fenstertisch. Megan bestellte ein Bier,
Smith, der in Kürze wieder ins Flugzeug steigen würde, entschied
sich für Orangensaft. Als ihre Getränke gebracht wurden, hob er
sein Glas. »Auf deinen Flug zu den Sternen.«
Megan sah ihm in die Augen. »Das wünsche ich mir.«
»Das weiß ich.«
Smith und Megan blickten auf und sahen, dass Dr. Dylan Reed neben
ihrem Tisch stand.
»Jon, freut mich, Sie wiederzusehen. Ich erwarte jemand, der
ebenfalls per Flugzeug eintreffen sollte, und da habe ich Ihren
Namen auf der Ankunftsliste entdeckt.«
Smith erwiderte Reeds kräftigen Händedruck und forderte ihn auf,
Platz zu nehmen.
»Sind Sie immer noch bei der USAMRIID?«, wollte Reed
wissen.
»Ja. Und Sie sind jetzt, lassen Sie mich nachdenken, seit drei
Jahren hier?«
»Vier.«
»Und nehmen an der nächsten Mission teil?«
Reed grinste. »Die haben’s nicht geschafft, mich da
rauszuhalten. Ich bin so etwas wie ein Shuttle Fan geworden.«
Smith hob erneut sein Glas. »Auf einen sicheren und erfolgreichen Flug.«
Reed sah Megan an. »Sie haben mir nie erzählt,
wie Sie beide einander kennen gelernt haben.«
Megans Lächeln verblasste. »Sophia Russell und ich waren als Kinder
miteinander befreundet.«
»Oh«, seufzte Reed. »Ich habe von Sophias Tod gehört, Jon. Mein
Beileid.«
Smith hörte zu, wie Reed und Megan sich über die morgendliche Übung
in der Shuttle-Attrappe unterhielten, wobei ihm nicht entging,
welche Zuneigung Reed für Megan an den Tag legte. Ob da wohl mehr
als eine kollegiale Beziehung bestand?
Aber selbst wenn das der Fall ist, geht es
mich nichts an.
Smith spürte trotz der getönten Scheiben, wie ihm die Sonne auf den
Nacken brannte. Er drehte sich etwas zur Seite, sodass er jetzt den
ganzen Raum im Spiegel der Fensterscheiben sehen konnte. Am Pult
der jungen Frau, die die Plätze zuwies, stand ein leicht
übergewichtiger, mittelgroßer Mann Anfang der Vierzig. Sein Kopf
war kahl rasiert, sodass seine Kopfhaut die Deckenbeleuchtung
widerspiegelte. Selbst auf diese Distanz konnte Smith erkennen,
dass der Mann ihn mit halb offen stehendem Mund musterte.
Ich kenne dich nicht, weshalb interessierst du
dich also so für mich?
»Dylan?«
Smith deutete unauffällig auf den Mann, dem die Bewegung aber nicht
entging und der unwillkürlich versuchte, sich
wegzuducken.
»Erwarten Sie jemand?«
Reed sah sich um. »Ja. Das ist Adam Treloar, der leitende medizinische Offizier der Mission.«
Er winkte ihm zu. »Adam!«
Smith beobachtete Treloar, wie dieser widerstrebend näher kam, wie ein Kind, das man zwingt, am Esstisch Platz zu nehmen.
»Adam, ich möchte Sie mit Dr. Jon Smith von der
USAMRIID bekannt machen«, stellte Reed vor.
»Sehr angenehm«, nickte Smith.
»Ja, ganz meinerseits«, murmelte Treloar und ließ dabei
den Hauch eines britischen Akzents
erkennen.
»Sind wir einander schon einmal begegnet?«, erkundigte
sich Smith höflich.
Er wunderte sich, weshalb Treloar bei der harmlosen
Frage die Augen so aufriss. »Oh, das glaube ich nicht.
Sonst würde ich mich ganz bestimmt erinnern.«
Treloar wandte sich hastig Reed zu. »Wir müssen uns
die letzten Untersuchungsdaten der Crew ansehen. Und
ich muss noch mit Stone
sprechen.«
Reed schüttelte den Kopf. »Je näher der Startzeitpunkt
rückt, umso hektischer wird es hier«, entschuldigte er
sich
bei Smith. »Tut mir Leid, aber ich muss mich
verabschieden. Jon, war nett, Sie zu sehen. Hoffentlich
dauert es bis zum nächsten Mal nicht wieder so lang,
okay?«
»Ja, hoffentlich.«
»Megan, wir sehen uns dann um drei im Biolabor.« Smith sah den
beiden Männern nach, als sie in einer
Nische im hinteren Teil des Saals Platz nahmen. »Treloar ist ein
wenig seltsam«, meinte er. Ganz
besonders, wo er doch über
Untersuchungsergebnisse
sprechen wollte und keinerlei Papiere bei sich
hatte. »Ja, das ist er«, pflichtete Megan ihm bei. »Aber
als
Wissenschaftler ist Adam große Klasse. Dylan hat ihn
Bauer-Zermatt abgeworben. Tatsächlich ist er schon ein
wenig exzentrisch.«
Smith zuckte die Schultern. »Reden wir über Dylan. Wie
lässt es sich denn mit ihm arbeiten? So wie ich ihn in
Erinnerung habe, muss bei ihm alles genau nach
Vorschrift laufen.«
»Wenn du damit sagen willst, dass er seine Arbeit sehr
ernst nimmt, hast du Recht. Aber er versteht es, einem
ständig neue Herausforderungen vorzulegen, einen zum
Nachdenken zu bringen und alles noch besser zu machen.« »Freut
mich, dass du jemanden gefunden hast, mit dem
du so gut zusammenarbeitest.«
Er sah auf die Uhr. »Ich muss jetzt gehen.«
Megan stand mit ihm auf. »Ich auch.«
Als sie im Erdgeschoss den Aufzug verließen, tippte sie
ihn am Arm an. »War schön, dich wiederzusehen, Jon.« »Ganz
meinerseits, Megan. Wenn du das nächste Mal
nach Washington kommst, lade ich zu den Drinks ein.« Sie grinste.
»Darauf lege ich Wert.«
»Starren Sie sie nicht so an!«
Adam Treloars Kopf ruckte herum, Reeds schroffer Befehl hatte ihn verblüfft. Er konnte einfach nicht glauben, wie Reed mit einem Lächeln um die Mundwinkeln so eiskalt sein konnte.
Aus dem Augenwinkel beobachtete Treloar Jon Smith und Megan Olson, die zu den Fahrstühlen gingen. Er hörte den leisen Gong, als die Kabine eintraf und atmete erst jetzt aus. Dann griff er nach einer Serviette und tupfte sich Gesicht und Kopfhaut ab.
»Wissen Sie wer Smith ist?«, fragte er heiser.
»Allerdings«, antwortete Reed ruhig. »Ich kenne ihn seit Jahren.«
Er lehnte sich auf der Sitzbank zurück, um möglichst weit von dem säuerlichen Geruch abzurücken, der Treloar offenbar überallhin begleitete. Dass die Bewegung auffiel und offenkundig unhöflich war, machte ihm nichts aus; er hatte aus der Verachtung, die er für den medizinischen Offizier der Shuttle-Mission empfand, nie ein Geheimnis gemacht.
»Wenn Sie wissen, wer er ist, dann sagen Sie mir, was er hier macht«, forderte Treloar. »Der war doch mit Danko in Venedig zusammen!«
Reeds Hand schoss vor wie eine Kobra, packte Treloars linkes Handgelenk und presste es gnadenlos. Treloar verdrehte die Augen und stöhnte auf.
»Was wissen Sie über Venedig?«, forschte Reed leise.
»Ich… habe gehört, wie Sie darüber geredet
haben!«, brachte Treloar schließlich hervor.
»Dann vergessen Sie das wieder, verstanden?«, sagte Reed, immer
noch mit seidenweicher, leiser Stimme. »Venedig geht Sie nichts an.
Und Smith auch nicht.«
Er ließ Treloars Handgelenk los und registrierte erfreut den
Schmerz in den Augen des anderen.
»Ich kann es einfach nicht als Zufall abtun, dass Smith zuerst in
Venedig war und jetzt hier ist«, erwiderte Treloar.
»Glauben Sie mir, Smith weiß nichts. Gar nichts. Danko wurde
erledigt, bevor er etwas sagen konnte. Und für seine Anwesenheit in
Venedig gibt es eine einfache Erklärung. Danko und Smith kannten
einander von verschiedenen internationalen Konferenzen. Offenbar
waren sie Freunde. Als Danko sich zur Flucht entschloss, war Smith
derjenige, den er sich als Vertrauten ausgewählt hat. Daran ist
nichts Kompliziertes oder Gefährliches.«
»Dann kann ich also unbesorgt reisen?«
»Ja, ganz unbesorgt«, versicherte ihm Reed. »Ich schlage vor, wir trinken jetzt einen Schluck und besprechen alles noch einmal.«
Peter Howell ließ einige Stunden verstreichen, bevor er das Hotel Danieli verließ und zu der Stelle am Rio del San Moese schlenderte, wo die beiden Attentäter ihr Ende in den Flammen gefunden hatten. Wie zu erwarten war, gab es dort nur eine Hand voll Carabinieri, die darauf achteten, dass keiner der zahlreichen Touristen die Absperrung durchbrach.
Der Mann, den er anzutreffen erwartet hatte, war damit beschäftigt, die angekohlten Überreste der Gondel zu untersuchen.
Hinter ihm waren Taucher damit beschäftigt, den
Kanal nach weiteren Beweisstücken abzusuchen.
Ein Carabinieri versperrte Howell den Weg.
»Ich möchte Inspektor Dionetti sprechen«, sagte der Engländer in fließendem Italienisch.
Howell wartete ab, während der Polizist zu dem gepflegt wirkenden schmächtigen Mann ging, der sich nachdenklich seinen Backenbart strich, während er ein verkohltes Stück Holz musterte.
Marco Dionetti, ein Inspektor der Polizia Statale, blickte auf, und seine Augen weiteten sich, als er Howell erkannte. Er streifte seine Gummihandschuhe ab, wischte sich imaginäre Staubpartikeln vom Revers seines maßgeschneiderten Anzugs, ging dann auf Howell zu und umarmte ihn so wie Italiener das tun.
»Pietro! Welche Freude, Sie wiederzusehen.«
Dionetti musterte Howell vom Kopf bis zu den Fußspitzen. »Wenigstens hoffe ich, dass es eine Freude sein wird.«
»Die Freude ist ganz meinerseits, Marco.«
In der Hochblüte des Terrorismus, Mitte der achtziger Jahre, hatte Peter Howell sozusagen als Leihgabe der SAS in einigen Entführungsfällen, bei denen es um britische Staatsangehörige ging, mit hochrangigen italienischen Polizeibeamten zusammengearbeitet. Insbesondere ein höchst dezent auftretender, aber stahlharter Aristokrat namens Marco Dionetti, dessen Stern damals gerade am Aufgehen gewesen war, hatte seine Bewunderung und seinen Respekt erworben. Die beiden Männer waren über die Jahre miteinander in Verbindung geblieben, und Howell war eingeladen worden, jederzeit, wenn er sich in Venedig aufhielt, in Dionettis Palazzo zu wohnen, den dieser von seinen adeligen Vorfahren geerbt hatte.
»Da sind Sie jetzt hier in der Serenissima und haben mich nicht einmal angerufen, geschweige denn mir die Freude gemacht, Ihr Gastgeber zu sein«, tadelte ihn Dionetti. »Wo wohnen Sie denn? I Danieli würde ich wetten.«
»Ich muss um Nachsicht bitten, Marco«, erwiderte Howell. »Ich bin erst gestern eingetroffen, und alles war ein wenig hektisch.«
Dionetti sah sich nach den Wrackteilen um, die hinter ihm am Ufer verstreut lagen. »Hektisch? Das ist natürlich wieder einmal klassisches britisches Understatement. Darf ich mir die Frage erlauben, ob Sie über diese schreckliche Geschichte hier etwas wissen?«
»Sie dürfen. Und ich werde Ihre Frage mit dem
größten Vergnügen beantworten. Aber nicht hier.«
Dionetti stieß einen scharfen Pfiff aus. Fast im gleichen
Augenblick legte eine blauweiß lackierte Polizeibarkasse an den
Stufen an.
»Wir können ja unterwegs darüber reden«, sagte Dionetti.
»Unterwegs wohin?«
»Aber Pietro! Wir fahren in die Questura. Es wäre doch
ausgesprochen unhöflich von mir, Antwort auf meine Fragen zu
erwarten, wenn ich nicht auch die Ihren beantworten würde.«
Howell folgte dem Inspektor zum Heck des Bootes. Die beiden Männer warteten, bis das Boot die Anlegestelle am Rio del San Moese verlassen und mit Vollgas den Canale Grande erreicht hatte.
»Sagen Sie, Pietro«, fragte der Inspektor dann gerade laut genug, um das Dröhnen des Dieselaggregats zu übertönen, »was wissen Sie über diese schreckliche Geschichte, die da in unserer schönen Stadt passiert ist?«
»Ich bin nicht dienstlich hier«, versicherte ihm Howell. »Aber ein Freund von mir war in die Sache verwickelt.«
»Und Ihr Freund ist nicht zufälligerweise der geheimnisvolle Herr von der Piazza San Marco?«, fragte Dionetti. »Der, den man mit dem Opfer gesehen hat? Der, der Jagd auf die Killer gemacht hat und dann verschwunden ist?«
»Genau der.«
Dionetti seufzte theatralisch. »Sagen Sie mir,
dass das nichts mit Terrorismus zu tun hat, Pietro.«
»Das hat es tatsächlich nicht.«
»Wir haben bei dem Opfer einen ukrainischen Pass gefunden - Beruf
Landwirt -, aber sonst nicht viel mehr. Er sieht so aus, als ob er
eine anstrengende Reise hinter sich gehabt hätte. Sollte Italien
sich Gedanken darüber machen, weshalb er hierher gekommen
ist?«
»Italien braucht sich keine Gedanken zu machen. Er war nur auf der
Durchreise.«
Dionetti beobachtete den Verkehr auf dem Canale Grande, die
Wassertaxis und Wasserbusse, die Abfallkähne und die eleganten Go
ndeln, die im Kielwasser der größeren Schiffe auf und ab wippten.
Der Canale Grande war die Hauptverkehrsader seiner geliebten
Venezia, und er spürte seinen Pulsschlag.
»Ich will hier keinen Ärger haben, Pietro«, sagte er.
»Dann solltest du mir helfen«, antwortete
Howell. »Ich werde dafür sorgen, dass es keinen Ärger
gibt.«
Er machte eine kurze Pause und fragte dann: »Haben Sie genug
gefunden, um die Killer identifizieren zu können und auch
herauszubekommen, wie sie ermordet wurden?«
»Eine Bombe«, erklärte Dionetti mit ruhiger Stimme. »Wesentlich
wirksamer als nötig gewesen wäre. Jemand wollte keine Spuren
hinterlassen. Aber wenn das die Absicht war, dann ist ihnen das
nicht ganz geglückt. Wir haben genug Hinweise zur Identifizierung
gefunden - immer vorausgesetzt, dass wir etwas über diese beiden in
unseren Akten haben. Und das werden wir in Kürze wissen.«
Das Motorboot verlangsamte seine Fahrt, als es den Rio di Ca Gazoni
erreichte, und legte dann langsam und polternd an dem Steg vor der
Questura an, der Ze ntrale der Polizia Statale.
Dionetti führte seinen Besucher an den bewaffneten Wachen vorbei,
die vor dem Palazzo aus dem 17. Jahrhundert postiert waren. »Das
war früher einmal das Haus einer stolzen Familie«, sagte Dionetti
mit einer leichten Kopfbewegung. »Wegen Steuerrückständen
beschlagnahmt. Als der Staat den Palazzo übernommen hat, ist daraus
eine noble Polizeistation geworden.«
Er schüttelte den Kopf.
Howell folgte ihm durch einen breiten Flur in einen Raum, der
vielleicht früher einmal ein Salon gewesen war. Vor den Fenstern
konnte man einen nicht sonderlich
gepflegten Garten sehen.
Dionetti ging um seinen Schreibtisch herum und schlug ein paar Tasten auf seinem Computer an. Ein Drucker erwachte summend zum Leben.
»Die Rocca-Brüder - Tommaso und Luigi«, sagte er und reichte Howell die Ausdrucke.
Howell betrachtete die Fotos von zwei finster
blickenden Männern Ende der Zwanzig. »Sizilianer?«
»Stimmt genau. Söldner. Wir hatten schon lange den Verdacht, dass
sie diejenigen sind, die einen Staatsanwalt in Palermo und einen
Richter in Rom erschossen haben.«
»Wie teuer waren sie?«
»Sehr teuer. Warum fragen Sie?«
»Weil nur jemand mit Geld und Beziehungen Männer wie sie engagieren
würde. Das sind Profis. Die brauchen nicht zu inserieren, um Arbeit
zu bekommen.«
»Aber weshalb einen ukrainischen Bauern töten - wenn er tatsächlich
einer war?«
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Howell der Wahrheit gemäß. »Aber
ich muss es herausbekommen. Haben Sie eine Ahnung, wo die beiden zu
Hause waren?«
»Palermo. Wo sie auch zur Welt gekommen sind.«
Howell nickte. »Und der Sprengstoff?«
Dionetti wandte sich wieder seinem Computer zu. »Ja… nach dem
vorläufigen Bericht der Spurensicherung war es C-Zwölf, etwa ein
halbes Kilo.«
Howell sah ihn scharf an. »C-Zwölf? Sind Sie da sicher?«
Dionetti hob die Schultern. »Sie erinnern sich vielleicht, dass
unser Labor nur Qualitätsarbeit liefert, Pietro. Ich würde keine
Sekunde an den Ergebnissen zweifeln.«
»Ich auch nicht«, nickte Howell nachdenklich.
Aber wie war der Mörder der beiden Sizilianer
an den neuesten Sprengstoff der US Army herangekommen?
Marco Dionetti bewohnte einen vierstöckigen Palazzo aus dem 16. Jahrhundert am Canale Grande, höchstens einen Steinwurf von der Academia entfernt. In dem großen Speisesaal, den ein von Moretta geschaffener offener Kamin dominierte, blickten die strengen Gesichter von Dionettis Vorfahren aus den Portraits von RenaissanceMeistern herab.
Peter Howell führte gerade den letzten Bissen Seppioline zum Munde und lehnte sich dann zurück, während ein alter Bediensteter seinen Teller abtrug.
»Mein Kompliment für Maria. Der Kuttelfisch war ausgezeichnet - genauso wie ich ihn in Erinnerung hatte.«
»Das werde ich ihr sagen«, erwiderte Dionetti, während ein Tablett mit Bussolai gereicht wurde. Er nahm einen der mit Zimt gewürzten Kekse und knabberte nachdenklich daran.
»Pietro, ich verstehe, dass Sie diskret sein müssen. Aber ich habe Vorgesetzte, denen ich berichten muss. Können Sie mir denn gar nichts über den Ukrainer sagen?«
»Mein Auftrag bestand lediglich darin, den Kontakt zu überwachen«, erwiderte Howell. »Es gab keinen Hinweis darauf, dass es zu Blutvergießen kommen würde.«
Dionetti legte die Fingerspitzen aneinander. »Ich denke, ich könnte es so darstellen, dass die Rocca-Brüder einen Kontrakt hatten und ihn an dem Falschen ausgeführt haben, dass also der Mann, den man von der Piazza fliehen sah, die eigentliche Zielperson war.«
»Das würde aber nicht ganz erklären, weshalb man die Roccas in die Luft gejagt hat«, gab Howell zu bedenken.
Dionetti tat das mit einem Fingerschnippen ab. »Die Brüder hatten viele Feinde. Wer will schon sagen, ob nicht einer von denen es schließlich geschafft hat, eine alte Rechnung zu begleichen?«
Howell trank seinen Kaffee aus. »Wenn Sie das so hindrehen könnten, Marco, fände ich das nicht schlecht. So, und jetzt will ich ganz bestimmt nicht unhöflich sein, aber ich muss die Maschine nach Palermo bekommen.«
»Mein Boot steht Ihnen zur Verfügung«, sagte Dionetti und stand auf, um Howell nach draußen zu begleiten. »Ich nehme dort Verbindung mit Ihnen auf, falls es weitere Entwicklungen geben sollte. Aber Sie müssen mir versprechen, dass Sie auf der Rückreise, wenn Sie alles erledigt haben, noch einmal hier Station machen. Dann gehen wir ins La Fenice.«
Howell lächelte. »Das wäre schön. Vielen Dank
für Ihre Unterstützung, Marco.«
Dionetti sah dem Engländer nach, als dieser an Bord ging, und hob
die Hand, als das Boot auf dem Canale Grande Fahrt aufnahm. Erst
als er ganz sicher war, dass Howell ihn nicht mehr sehen konnte,
verblasste sein Lächeln.
»Du hättest mir mehr sagen sollen, alter Freund«, sagte er leise.
»Dann hätte ich es vielleicht so einrichten können, dass du am
Leben bleibst.«
6
Achttausend Meilen westlich, auf der Hawaii Insel Oahu, lag Pearl Harbor gelassen und träge im Schein der heißen Tropensonne. Die Verwaltungsgebäude der Navy und ihr Kommandohauptquartier überblickten den Hafen. Am heutigen Morgen war der Zugang zum Nimitz-Building ausschließlich autorisiertem Personal gestattet. Bewaffnete Einheiten der Hafenpatrouille hielten auf den langen, klimatisierten Korridoren und vor den verschlossenen Türen des Konferenzgebäudes Wache.
Das Konferenzgebäude hatte die Größe einer Turnhalle und fasste mühelos dreihundert Menschen. Heute waren nur dreißig dort versammelt, die alle in den ersten Reihen vor dem Podium Platz genommen hatten. Dass die Sicherheitsvorkehrungen so streng waren, konnte man an den Orden und Rangabzeichen der im Saal vertretenen Uniformen ablesen. Es waren die ranghöchsten Offizier sämtlicher Waffengattunge n des pazifischen Raums vertreten, die Verantwortlichen für die Sicherheit von San Diego bis zur Meerenge von Taiwan in Südostasien. Jeder Einzelne von ihnen war ein kampferprobter Veteran, und keiner von ihnen hatte sonderlich viel für Politiker oder Theoretiker übrig oder, wie sie es vielleicht ausdrücken würden, für irgendwelche unfähigen Idioten. Sie verließen sich auf ihre Erfahrung und ihren Instinkt und respektierten nur diejenigen, die ihre Fähigkeiten im Kampf mit der Waffe unter Beweis gestellt ha tten. Deshalb hingen auch alle Augen wie gebannt an der Gestalt hinter dem Rednerpult, General Frank Richardson, einem Veteranen der Kriege in Vietnam und am Persischen Golf und einem Dutzend anderer Einsätze, die die Bevölkerung Amerikas größtenteils bereits vergessen hatte. Nicht aber diese Männer. Für sie war Richardson als der Vertreter der Army bei den Vereinigten Stabchefs ein echter Krieger. Wenn er etwas zu sagen hatte, hörte jeder zu.
Richardson hielt das Rednerpult mit beiden Händen umfasst; ein großer, kräftig gebauter Mann, der seit seiner Zeit in West Point, wo er Mitglied des Baseball Teams gewesen war, kein Gramm Fett angesetzt hatte. Mit seinem graumelierten Bürstenhaarschnitt, den kühl blickenden grünen Augen und dem kantigen Kinn verkörperte er das Idealbild des kampferprobten Offiziers, wie es sich eine Public-Relations-Agentur nicht besser hätte wünschen können. Tatsächlich verachtete Richardson jeden, der nicht für sein Land geblutet hatte.
»Gentlemen, lassen Sie mich zusammenfassen«, sagte Richardson und ließ den Blick über seine Zuhörer schweifen. »Ich mache mir nicht wegen der Russen Sorgen. Die meiste Zeit hat man ja Mühe, herauszufinden, wer eigentlich dieses verdammte Land führt - die Politiker oder die Mafia. Wenn man da nicht höllisch aufpasst, weiß man nie, wer gerade das Sagen hat.«
Richardson legte eine kurze Pause ein, um das Gelächter seiner Zuschauer als einen Tribut für seinen kleinen Witz entgegenzunehmen.
»Aber während Mütterchen Russland auf der Toilette sitzt«, fuhr er fort, »kann man das von den Chinesen keineswegs behaupten. Frühere Regierungen waren so scharf darauf, mit denen ins Bett zu steigen, dass sie nie die wahren Absichten von Beijing durchschaut haben. Wir verkauften denen unsere modernste Computer- und Satellitentechnik, ohne uns darüber klar zu sein, dass sie schon lange unsere wichtigsten Atomforschungsanlagen infiltriert hatten. Los Alamos war für diese Burschen so etwas wie ein Selbstbedienungsladen. Deswegen sage ich unserer Regierung immer wieder - so wie ich es der letzten auch gesagt habe -, dass man China unmöglich mit atomarer Macht alleine eindämmen kann.«
Richardsons Blick wanderte in den hinteren Bereich des Saals. Ein dunkelblonder Mann Anfang der Vierzig in Zivilkleidung lehnte mit vor der Brust verschränkten Armen an der Wand. Der General registrierte das kaum wahrnehmbare Nicken des Zivilisten und schaltete in den nächsten Gang.
»Aber ebenso wenig können die Chinesen uns damit unter Druck setzen, dass sie die atomare Karte ausspielen. Das Problem ist, dass sie über eine zusätzliche Option verfügen: chemisch biologische Kriegführung. Die brauchen bloß einen Bazillus in eine unserer Großstädte und in unser Kommandosystem einzuschmuggeln, und schon stehen wir vor dem Chaos. Wobei sie das natürlich jederzeit und völlig plausibel weit von sich weisen könnten. Und deshalb ist es unerlässlich, Gentlemen, dass Sie bei Ihren Patrouillen und Ihren Überwachungseinsätzen so viel Informationen wie nur gerade möglich über das Bio-Waffen-Programm Chinas sammeln. Die Schlachten des nächsten Krieges werden weder auf dem Schlachtfeld noch auf hoher See gewonnen oder verloren - zumindest nicht am Anfang. Sie werden in den Labors geführt, wo der Feind Trillionen von Bataillonen aufmarschieren lassen kann, Bataillone, die man alle auf einer Nadelspitze versammeln könnte. Erst wenn wir wissen, wo diese Bataillone geschaffen und von wo aus sie eingesetzt werden, können wir unsere Ressourcen einsetzen, um sie auszuschalten.«
Richardson machte, eine Pause. »Ich danke Ihnen
für Ihre Zeit und Ihre Aufmerksamkeit, Gentlemen.«
Der Mann hinten im Saal schloss sich dem lebhaften Applaus nicht
an. Er rührte sich auch nicht von der Stelle, als die anderen den
General umringten, ihm gratulierten und ihn mit Fragen überhäuften.
Antho ny Price, der Leiter der National Security Agency, sparte
sich seine Kommentare immer für das Vier-Augen-Gespräch auf.
Als die Offiziere schließlich den Saal verließen, ging Richardson auf Price zu, der sich dabei des Gedankens nicht erwehren konnte, dass der General in seinem Auftreten an einen Gockel erinnerte.
»Herrgott, wie ich diese Jungs doch mag! Sie
riechen förmlich nach Krieg!«
»Was ich rieche ist, dass Sie beinahe Mist gebaut hätten, Frank«,
erwiderte Price trocken. »Wenn ich Ihnen kein Zeichen ge geben
hätte, dann hätten Sie denen die ganze Story auf den Tisch
gelegt.«
Richardson warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Für völlig
verblödet sollten Sie mich aber nicht halten, ja?«
Er stieß die Tür auf. »Kommen Sie. Wir sind schon spät
dran.«
Sie traten in den strahlend blauen Tag hinaus und gingen mit
schnellen Schritten den Kiesweg entlang, der um das Auditorium
herumführte.
»Eines Tages werden die Politiker das auch begreifen müssen, Tony«,
sagte Richardson mit finsterer Miene. »Dass die das Land mit
Meinungsumfragen führen wollen, bringt uns eines Tages noch um. Der
leiseste Hinweis, dass wir Anthrax oder Ebola einlagern möchten,
und schon sinken die Beliebtheitswerte. Was für ein
Unfug!«
»Aber nicht neu, Frank«, erwiderte Price. »Sie erinnern sich
vielleicht, dass unser größtes Problem die Inspektionen sind. Wir
haben uns ebenso wie die Russen einverstanden erklärt, unsere
biochemischen Waffenlager von internationalen Inspektoren
überprüfen zu lassen. Unsere Labors, die Forschungs- und
Produktionsanlagen und die Einsatzsysteme - alles lag offen da.
Also brauchen sich die Politiker um gar nichts zu kümmern. Soweit
es die betrifft, ist das Thema Bio-Waffen Schnee von
gestern.«
»Nur dann nicht, wenn sie wieder auftauchen und sie in den Hintern
beißen«, sagte Richardson zynisch. »Dann erheben sie ein großes
Geschrei: ›Und wo sind die unseren?‹«
»Und das werden Sie ihnen dann sagen können, nicht wahr?«,
erwiderte Price. »Mit ein wenig Unterstützung des lieben Dr.
Bauer.«
»Dem Himmel sei Dank, dass es Leute wie ihn gibt«, stieß Richardson
zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Hinter dem Auditorium gab es eine kleine kreisförmige Landefläche.
Ein Jet Ranger Helikopter mit ziviler Markierung wartete mit träge
kreisenden Rotorflügeln. Als der Pilot seine Passagiere sah, fing
er an, die Turbinen warmlaufen zu lassen.
Price wollte sich gerade ducken, um einzusteigen, als Richardson
ihn zurückhielt.
»Diese Geschichte in Venedig«, sagte er gerade laut genug, um das
anschwellende Brausen der Rotoren zu übertöne n. »Ist das schief
gelaufen?«
Price schüttelte den Kopf. »Nein, alles nach Plan. Aber dann ist
etwas Unerwartetes dazwischen gekommen. Ich rechne in Kürze mit
zusätzlichen Informationen.«
Richardson brummte unverständlich vor sich hin, folgte Price in die
Kabine und schnallte sich auf seinem Platz an. Bei allem Respekt,
den er für Bauer und Price empfand, es waren trotz allem
Zivilisten. Und nur ein Soldat weiß, dass man immer mit
unerwarteten Dingen zu rechnen hat. Der Anblick der Hauptinsel der
Hawaii- Gruppe, Big Island, wie die Hawaiianer sie nennen,
verfehlte nie seinen Eindruck auf Richardson. In der Ferne war die
üppige Kona-Küste zu sehen, mit ihren Luxushotels, eines neben dem
anderen wie große Ozeanliner an ihren Piers. Ein Stück landeinwärts
dehnten sich die schwarzen Lavafelder, eine unwirtliche Wüste,
ähnlich einer Mondlandschaft. Und in der Mitte der Öde der Quell
des Lebens: der Vulkan Kilauea, dessen Krater im Widerschein des
tief im Kern der Erde kochenden Magma rot leuchtete. Der Vulkan war
im Augenblick nicht aktiv, aber Richardson hatte ihn bei Ausbrüchen
erlebt. Die Schöpfung, das Entstehen jungfräulichen Landes auf dem
Planeten, war ein Anblick, den er nie vergessen hatte.
Als der Helikopter über dem Rand des Lavafeldes einschwebte,
tauchte am Horizont das ehemalige Fort Howard auf. Die mehrere
tausend Hektar große Anlage zwischen dem Lavafeld und dem Meer war
früher einmal die wichtigste medizinische Forschungsstätte der Army
gewesen und hatte sich auf Tropenkrankheiten, darunter auch Lepra,
spezialisiert. Vor mehreren Jahren hatte Richardson mit seinen
Bemühungen begonnen, den Stützpunkt schließen zu lassen. Er hatte
einen opportunistischen Senator aus Hawaii ausfindig gemacht und es
unter Einsatz seiner Beziehungen geschafft, das Lieblingsprojekt
des Politikers im Kongress durchzupauken: eine nagelneue
medizinische Forschungsanlage auf Oahu. Als Gegenleistung hatte der
Senator, der Mitglied im Bewilligungsausschuss für
Verteidigungsausgaben war, dafür gesorgt, dass Richardsons Antrag
genehmigt wurde, Fort Howard zu schließen und die Anlage an einen
Interessenten aus der Privatwirtschaft zu veräußern.
Dieser Interessent wartete bereits: die Biochemie Firma
Bauer-Zermatt AG, die ihre Zentrale in Zürich hatte. Nachdem
zweihunderttausend Aktien der Firma im Safe des Senators deponiert
worden waren, sorgte der Politiker dafür, dass von seinem
Kongressausschuss keine weiteren Angebote mehr auf die Liegenschaft
in Betracht gezogen wurden.
»Fliegen Sie einen Bogen über dem Gelände«, forderte Richardson
seinen Piloten auf.
Der Hubschrauber kippte leicht zur Seite und ermöglichte dem
General einen Panoramaausblick auf das unter ihnen vorbeiziehende
Areal. Selbst aus dieser Höhe war zu erkennen, dass der Schutzzaun
um die Anlage neu und massiv war - ein drei Meter hoher oben mit
Stacheldraht gesicherter Maschendrahtzaun. Uniformiertes Personal
hielt die vier Wachportale besetzt. Der Eindruck einer
Militäranlage wurde durch die neben den jeweiligen Wachhäuschen
parkenden Humvees noch verstärkt.
Das Gelände selbst wirkte verblüffend leer. Die Wellblechhütten,
-kasernen und -lagerhäuser standen in der prallen Tropensonne, um
sie herum war keinerlei Aktivität zu erkennen. Nur das alte, aber
frisch getünchte Kommandogebäude, neben dem ein paar Jeeps parkten,
sah so aus, als ob es in Benutzung wäre. Insgesamt wirkte die ganze
Anlage genau so wie sie das tun sollte: ein »eingemottetes«
Militärgelände, zu dem der Zugang immer noch verboten war -
abgesehen von ein paar Einheimischen, die Servicedienste
leisteten.
Der Eindruck täuschte. In Wahrheit lag das, was einmal Fort Howard
gewesen war, jetzt drei Stockwerke unter der Erde.
»Wir haben Landefreigabe, General«, meldete der Pilot.
Richardson warf einen letzten Blick durchs Fenster und sah eine
Gestalt, die wie eine Spielzeugfigur wirkte; sie verfolgte den Flug
des Hubschraubers. »Landen Sie«, erwiderte er.
Er war klein und muskulös, ein Mann Anfang der Sechzig mit nach hinten gekämmtem silbergrauem Haar und sorgfältig gestutztem Backenbart. Er stand breitbeinig da, aufrecht, als hätte er einen Ladestock verschluckt, die Hände hinter dem Rücken verschränkt - ein Offizier der alten Schule.
Dr. Karl Bauer sah zu, wie der Hubschrauber tiefer sank, über die grasbedeckte Landfläche schwebte und schließlich aufsetzte. Er wusste, dass seine Besucher ihm einige dringliche Fragen stellen würden. Während die Rotorblätter langsam ausschwangen, ließ er sich noch einmal durch den Kopf gehen, wie viel er ihnen sagen würde. Herr Doktor Bauer schätzte es nicht sehr, Erklärungen abgeben oder gar sich entschuldigen zu müssen. Die von Bauers Urgroßvater gegründete Firma hatte über hundert Jahre lang eine Spitzenposition im Bereich der Chemie und der Biologie eingenommen. Die Bauer-Zermatt AG verfügte über eine Vielzahl von Patenten, die auch heute noch für lukrative Erträge sorgten. Ihre Wissenschaftler und Forscher hatten ein Arsenal von Pillen und Salben entwickelt, die praktisch in jedem Haushalt zu finden waren, gleichzeitig hatten sie aber auch eine Fülle von Heilmitteln auf den Markt gebracht, die der Firma namhafte Preise und hohe Anerkennung für ihre humanitären Leistungen verschafft hatte.
Aber neben all den Heilmitteln und Impfstoffen, die der Konzern in die Dritte Welt lieferte, gab es auch eine finstere Seite von Bauer-Zermatt, die weder in den Hochglanzbroschüren der Gesellschaft noch von ihren hoch bezahlten Publicity-Experten je erwähnt wurde. Im Ersten Weltkrieg hatte die Firma eine besonders heimtückische Art von Senfgas entwickelt, das für den qualvollen Tod Tausender alliierter Soldaten verantwortlich gewesen war. Ein Vierteljahrhundert später hatte sie deutsche Firmen mit bestimmten Chemikalien beliefert, die in entsprechender Mischung dazu dienten, das Gas herzustellen, das in den Todeskammern in ganz Osteuropa eingesetzt wurde. Darüber hinaus hatte das Unternehmen die unmenschlichen Experimente von Dr. Josef Mengele und anderen Nazi-Ärzten aufmerksam verfolgt. Bei Kriegsende, als andere Übeltäter und ihre Komplizen gefangen genommen und der gerechten Strafe zugeführt wurden, zog Bauer-Zermatt sich hinter den schützenden Mantel Schweizer Anonymität zurück und nutzte dort in aller Stille die Produkte der Nazi-Forschung. Die Großaktionäre und Vorstände der Gesellschaft stellten dabei stets entschieden in Abrede, irgendwelche Kenntnisse über die weitere Verwendung der Produkte ihrer Firmengruppe zu besitzen, sobald diese einmal die Grenzen des Alpenlandes verlassen hatten.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte Dr. Karl Bauer nicht nur dafür gesorgt, dass die Familienfirma an der vordersten Front der pharmazeutischen Forschung tätig war, sondern zugleich auch ihr geheimes Programm der Entwicklung biochemischer Waffen ausgebaut. Wie eine Heuschrecke suchte Bauer sich die fruchtbarsten Felder aus: das Libyen Gaddafis, den Irak Husseins, die Stammesdiktaturen Afrikas und die von Nepotismus beherrschten Regimes Südostasiens. Er brachte die besten Wissenschaftler und modernstes Gerät mit und wurde als Gegenleistung dafür fürstlich mit Geld bezahlt, das mit wenigen Tastenschlägen eines Computers in die Banken Zürichs wanderte.
Zugleich pflegte und verbesserte Bauer seine Kontakte zu Militärs in den Vereinigten Staaten und Russland. Als aufmerksamer und weitblickender Beobachter der Weltpolitik hatte er den Zusammenbruch der Sowjetunion ebenso vorhergesehen wie den unvermeidbaren Niedergang des neuen Russlands, dem es bislang nicht gelungen war, demokratische Strukturen aufzubauen. Und wo sich die Ströme russischer Verzweiflung und amerikanischer Übermacht vermischten, legte Bauer seine Netze aus und fischte.
Bauer trat einen Schritt vor, um seine Besucher
zu begrüßen. »Gentlemen…«
Die drei Männer gaben sich die Hände und bewegten sich dann in
Richtung auf das zweistöckige, im Kolonialstil gehaltene
Kommandogebäude. Zu beiden Seiten der großzügigen, mit Holz
vertäfelten Eingangshalle befanden sich die Büros von Bauers
handverlesenen Mitarbeitern, die sich um die Verwaltung der Anlage
kümmerten. Ein Stück weiter unten im Flur arbeiteten in kleinen
nischenartigen Büros die Assistenten der Wissenschaftler und
werteten die Daten der Laborexperimente aus. Ganz hinten im Gebäude
befanden sich zwei Fahrstühle, von denen einer hinter einer nur
mittels einer Schlüsselkarte zu öffnenden Tür verborgen war. Der
von Hitachi gebaute Expresslift verband die unterirdischen Labors
mit dem Kommandogebäude. Der zweite Aufzug, ein wunderschön mit
Messingstäben verkleidetes Stück, sah aus, als stamme er aus den
Anfangs jähren des letzten Jahrhunderts. Die drei Männer stiegen
ein und befanden sich Sekunden später in Bauers Büro, das das ganze
Obergeschoss einnahm.
Das Büro hätte einem Kolonialgouverneur aus dem 19. Jahrhundert gut
zu Gesicht gestanden. Antike Orientteppiche bedeckten auf Hochglanz
poliertes Parkett, die Wände säumten Mahagoni-Bücherregale und
südpazifische Kunstwerke. Bauers massiver PartnerSchreibtisch stand
vor bis zum Boden reichenden Fenstern, die den Blick auf die ganze
Anlage und das Meer unter den Klippen bis hinüber zu den schwarzen
Lavafeldern in der Ferne freigaben.
»Seit ich das letzte Mal hier war, haben Sie einige Verschönerungen
vorgenommen«, bemerkte Richardson trocken.
»Ich werde Ihnen später die Wohnanlage für die Angestellten und den
Erholungsbereich zeigen«, erwiderte Bauer. »Das Leben hier gleicht
ein wenig dem auf einer Ölplattform: Meine Leute haben nur einmal
im Monat Urlaub und dann nur drei Tage lang. Aber die
Annehmlichkeiten, die ich hier biete, sind den Aufwand wohl
wert.«
»Diese Urlaube«, sagte Richardson. »Lassen Sie Ihre Leute ganz
allein weg?«
Bauer lachte leise. »Ganz bestimmt nicht, General. Wir bringen sie
in einem exklusiven Resort-Hotel unter. Unter strengen
Sicherheitsvorkehrungen, aber das merken die gar nicht.«
»Von einem vergoldeten Käfig in den anderen«, bemerkte
Price.
Bauer zuckte die Schultern. »Bis jetzt habe ich keine Klagen
bekommen.«
»Wenn man bedenkt, was Sie denen bezahlen, wundert mich das gar
nicht«, sagte Price.
Bauer trat an eine gut bestückte offene Bar. »Darf ich Ihnen einen
Drink anbieten?«
Richardson und Price entschieden sich für frischen Ananassaft auf
Eis. Bauer blieb bei seinem üblichen Mineralwasser.
Als die beiden Besucher Platz genommen hatten, setzte Bauer sich
hinter seinen Schreibtisch.
»Gentlemen, lassen Sie mich rekapitulieren. Das Projekt, dem wir
fünf Jahre unseres Lebens gewidmet haben, ist beinahe so weit, dass
es Früchte trägt. Wie Sie wissen, hat man den Pocken, die 1999
hätten vernichtet werden sollen, während der Clinton Administration
sozusagen Hinrichtungsaufschub gewährt. Im Augenblick gibt es auf
der Welt noch an zwei Stellen Bestände: einmal im Center for
Communicable Diseases in Atlanta, dem CDC, und zum anderen in
Zentralrussland, bei Bioaparat. Unser ganzer Plan fußte darauf,
dass es uns gelingen würde, eine Probe des Pockenvirus zu
beschaffen. Die Bemühungen, eine solche Probe vom CDC zu
beschaffen, hatten sich als undurchführbar erwiesen; die
Sicherheitsvorkehrungen waren einfach zu gründlich. Bei Bioaparat
war dies allerdings nicht der Fall. Angesichts der Gier der Russen
nach harter Währung konnte ich gewisse Vorkehrungen treffen. Es
freut mich Ihnen mitteilen zu können, dass in wenigen Tagen ein
Kurier mit einem Exemplar des Virus Russland verlassen
wird.«
»Garantieren Ihre Russen die Lieferung?«, fragte
Richardson.
»Selbstverständlich. In dem unwahrscheinlichen Fall, dass es zu
keinem Zusammentreffen zwischen dem Kurier und unseren Leuten
kommt, wird die zweite Rate des vereinbarten Betrags nicht
freigegeben werden.«
Bauer machte eine kurze Pause und fuhr sich mit der Zungenspitze
über seine scharfe n kleinen Zähne. »Außerdem würde es noch einige
andere weitreichendere Konsequenzen geben. Ich kann Ihnen
versichern, dass die Russen sich dessen sehr wohl bewusst
sind.«
»Aber es gibt ein Problem, nicht wahr?«, sagte Richardson schroff.
»Venedig.«
Bauer gab darauf keine Antwort, sondern schob eine DVD-Diskette in
den Schlitz eines Abspielgeräts. Nach wenigen Augenblicken zeigte
der Bildschirm ein verblüffend scharfes Bild des
Markusplatzes.
»Die Aufnahme stammt von einem italienischen Journalisten, der dort
mit seiner Familie einen Tag verbracht hat«, erklärte
Bauer.
»Hat sie sonst noch jemand?«, fragte Price sofort.
»Nein. Meine Leute haben sofort mit dem Journalisten Verbindung
aufgenommen. Der Mann wird für die Ausbildung seiner Kinder keinen
weiteren Cent mehr aufbringen müssen und in den Ruhestand treten -
was er übrigens auch getan hat.«
Bauer deutete auf den Bildschirm. »Der Mann zur Rechten ist Juri
Danko, ein hochrangiger Offizier in der medizinischen Abteilung des
russischen Sicherheitsdienstes.«
»Und der da links ist Jon Smith«, fügte Price hinzu. Er sah zu
Richardson hinüber. »Frank und ich kennen Smith von der Hades
Geschichte her. Vorher war er bei USAMRIID. Gerüchten nach hatte er
Verbindung zu jemandem in der medizinischen Abwehr der Russen. Die
NSA wollte sich da einschalten, aber Smith hat gemauert. Er
behauptete, er habe keine solchen Verbindungen.«
»Jetzt sehen Sie seine Verbindung: Danko«, fuhr Bauer fort. »Vor
einem Monat habe ich die ersten Berichte bekommen, dass Danko bei
Bioaparat he rumgeschnüffelt hat. An dem Tag, an dem unser Kurier
abreisen sollte, ist Danko abgehauen. Aber er hatte es so eilig,
rauszukommen, dass er nachlässig wurde. Die Russen fanden heraus,
dass er geflohen war, und haben mich informiert.«
»Und das war der Punkt, an dem Sie die Killer engagierten«, sagte
Richardson. »Sie hätten mehr ausgeben und bessere Leute einsetzen
müssen.«
»Die Männer waren Spitze«, widersprach Bauer kühl. »Ich hatte sie
schon früher eingesetzt, und die Ergebnisse waren immer zufrieden
stellend.«
»Diesmal nicht.«
»Es wäre besser gewesen Danko zu erledigen, so lange er sich noch
in Osteuropa befand«, räumte Bauer ein. »Aber die Möglichkeit
bestand nicht. Er hat sich zu schnell bewegt und seine Spuren zu
gut verwischt. Venedig war unsere beste Chance. Als meine Leute
meldeten, dass sie Danko mit einer Kontaktperson gesichtet hatten,
wusste ich sofort, dass dieser Mann ebenfalls beseitigt werden
musste.«
»Aber das ist er nicht«, sagte Price.
»Ein Fehler, den man korrigieren wird«, erwiderte Bauer. »Zu dem
Zeitpunkt hatten wir keine Ahnung, wen Danko kontaktieren würde.
Das Entscheidende ist, dass Danko, der zuletzt bei Bioaparat
stationiert war, tot ist. Was auch immer er gewusst hat, ist mit
ihm gestorben.«
»Es sei denn, er hätte es Smith mitteilen können«, schaltete
Richardson sich ein.
»Sehen Sie sich die Aufnahme an«, schlug Bauer vor. »Und achten Sie
auf die Zeit.«
Er ließ die Diskette zurücklaufen. Richardson und Price
beobachteten konzentriert den Bildschirm. Das Gemetzel auf dem
Markusplatz dauerte nur Sekunden.
»Lassen Sie es noch einmal durchlaufen«, bat Price.
Diesmal konzentrierten sich die beiden Männer auf den eigentlichen
Kontakt Dankos mit Smith. Richardson hatte eine Stoppuhr aus der
Tasche gezogen und stoppte die kurze Begegnung, ohne dabei Dankos
Hände aus den Augen zu lassen. Da war nichts, was zwischen dem
Russen und Smith den Besitzer gewechselt hätte.
»Sie haben Recht«, sagte Price schließlich. »Danko kommt, setzt
sich, bestellt einen Kaffee, er und Smith reden…«
Bauer zog zwei Kopien eines Protokolls aus der
Schreibtischschublade und reichte jedem der beiden Männer eine.
»Ich habe das von einem Lippenleser protokollieren lassen. Alles
nur Belanglosigkeiten. Small Talk. Sonst nichts.«
Richardson überflog das Protokoll. »Scheint, dass Sie Recht haben:
Danko hatte keine Chance, etwas zu sagen. Aber Sie können sicher
sein, dass Smith nicht einfach sein Zelt abbauen und in die Nacht
verschwinden wird. Er wird weiterbohren.«
Der General hielt inne. »Wer weiß, was er sonst noch für Kontakte
beim russischen Militär hat.«
»Das ist mir klar«, erwiderte Bauer. »Glauben Sie mir, ich habe
nicht vor, Dr. Jon Smith zu unterschätzen. Das ist einer der
Gründe, weshalb ich Sie hierher gebeten habe, damit wir entscheiden
können, wie wir im Hinblick auf ihn weiter verfahren.«
Price, der mit Hilfe der Fernbedienung die Bilder auf dem
Bildschirm in Zeitlupe hatte ablaufen lassen, stoppte jetzt eine
Einstellung. »Dieser Kerl hier, der gute Samariter. Er kommt mir
irgendwie bekannt vor.«
»Nach meinen Gewährsleuten hat er sich als italienischer Arzt zu
erkennen gegeben.«
»Hat die Polizei ihn verhört?«
»Nein, er ist in der Menge verschwunden.«
»Was ist denn, Tony?«, fragte Richardson.
Das Handy von Price trillerte. Er klappte es auf, meldete sich und
fixierte dann die beiden anderen mit erhobenem Finger.
»Hallo, Inspektor Dionetti. Ich bin froh, dass Sie anrufen. Ich
habe da ein paar Fragen an Sie bezüglich des zweiten Manns bei
dieser Schießerei…«
Dionetti, der in seinem eleganten, von Bücherwänden gesäumten
Arbeitszimmer saß, betrachtete eine etruskische Skulptur. »Sie
wollten wissen, ob jemand Fragen nach den Rocca-Brüdern gestellt
hat«, sagte er.
»Und?«
»Ein alter Freund von mir - Peter Howell, der ehemalige
SAS…«
»Ich weiß, wer er ist«, fiel Price ihm ins Wort. »Was wollte
er?«
Dionetti berichtete von seinem Zusammentreffen mit dem Engländer
und schloss dann: »Es tut mir Leid, aber mehr werde ich nicht in
Erfahrung bringen können. Wenn man zu viele Fragen
stellt…«
»Was haben Sie Howell gesagt?«
Dionetti leckte sich die Lippen. »Howell hat gefragt, ob wir die
Leichen identifiziert hätten. Ich habe ihm gesagt, dass es die
Rocca Brüder seien. Ich hatte keine andere Wahl. Howell hat auch
andere Kontakte in Venedig. Wenn ich es ihm nicht gesagt hätte,
wäre er auf anderem Weg an die Information gekommen.«
»Und was noch?«, wollte Price wissen.
»Er sah die Folgen der Explosion…«
»Und Sie haben ihm aus freien Stücken mitgeteilt, dass es sich um
C-Zwölf handelte.«
»Was hätte ich denn sonst tun sollen? Howell war Soldat. Er weiß
über diese Dinge Bescheid. Hören Sie, Antonio, Howell ist nach
Palermo unterwegs, wo die Roccas herstammen. Er reist allein, ein
leichtes Ziel.«
Price überlegte. »Also gut«, sagte er schließlich. »Aber wenn
Howell sich aus Palermo bei Ihnen me ldet, möchte ich das
erfahren.«
Nachdem Price aufgelegt hatte, musterte er das Gesicht auf dem
Bildschirm. »Es ist Peter Howell«, verkündete er den anderen, gab
kurz wieder, was Dionetti ihm gesagt hatte und fügte dann ein paar
Einzelheiten über Howells Werdegang hinzu.
»Was macht ein solcher Mann mit Jon Smith?«, wollte Bauer
wissen.
»Er gibt ihm Deckung«, erklärte Richardson finster. »Smith ist
nicht dumm. Der hätte sich nie alleine mit Danko
getroffen.«
Er sah Price an. »Dieser Mistkerl Dionetti hat ein großes Mundwerk.
Können wir ihm immer noch vertrauen?«
»Solange wir ihn bezahlen«, meinte Price. »Ohne uns ist Dionetti
nur einen Schritt vom Bankrott entfernt. Fünfhundert Jahre
Familientradition« - er schnippte mit den Fingern - »weg! Einfach
so. Und er hat Recht gehabt: Howell hätte das mit den Roccas und
dem C-Zwölf in jedem Fall erfahren, so oder so.«
»Anscheinend ist Smith also nicht das einzige Problem, das uns
geblieben ist«, meinte Bauer.
»Stimmt«, nickte Richardson. »Aber Palermo ist ein gefährlicher Ort
- selbst für einen Mann wie Peter Howell.«