menschlichen Faktor bezeichnet. Wahrscheinlich
derselbe, der damals mit Soto geflogen
ist.«
»Mag sein. Aber warum war er ein
Hindernis?«
»Weil er zahlreichen Konzeptionen des Konstrukteurs nicht
zugestimmt hat. Sicherlich werden seine Einwände teils rationale Gründe gehabt haben, teils auch der Gewöhnung an herkömmliche Konstruktionen, an herkömmliche Triebwerke entsprungen sein. Die Konzeption des Konstrukteurs hinsichtlich der technischen Lösungen für den Bau von Raumschiffen müssen ziemlich kühn gewesen sein.«
»Die letzte, die er ohne Dazutun des Ingenieurs in die
Praxis umgesetzt hat, haben wir ja
gesehen.«
»Eben. Sie erinnert in nichts an ein Raumschiff. Alle
derartigen Konzeptionen hat der Ingenieur abgelehnt, und
der
Konstrukteur mußte ihm gehorchen.«
»Das ist ganz normal und besagt noch gar nichts.« »Schon, aber Soto
und der Ingenieur haben etliche Male das
Institut für Neurokybernetik aufgesucht. Du hast es mir
selbst
erzählt.«
»Stimmt. Bloß, was hat das damit zu tun?«
»Ganz einfach – als sie nicht auf dem Planetoiden waren,
hat niemand den Konstrukteur in seiner Tätigkeit gestört.
Der
Ingenieur war nicht da. Aber nicht das ist das
Entscheidende.
Das Kernproblem liegt woanders. Der Konstrukteur ist ein
lernender Automat, also hat er sich gemerkt, daß jede
Rückkehr des Ingenieurs von Funksignalen begleitet ist,
die
auf der Basis empfangen werden. Diese Rufzeichen schalten
den Sender der Station ein, falls er gerade nicht
arbeitet.
Begreifst du jetzt? Der Konstrukteur ist zu folgendem
Schluß
gekommen: für die Rückkehr des Ingenieurs, der ihn in
seiner
Handlungsfreiheit beschränkte, war das Einschalten des
Senders erforderlich…«
»… und er setzte ihn außer Betrieb.«
»Richtig – sobald er den Ruf des anfliegenden Raumschiffs
empfing. Mit uns hat er es genauso gemacht. Besinnst du
dich?«
»Und ob!«
»Mit seiner Methode hatte er Erfolg. Der Ingenieur kehrte
nicht zurück.«
»Demnach hat er den Ingenieur wie ein objektives
Hindernis behandelt, das der Verwirklichung seines
Projekts
im Wege stand… wie technische Schwierigkeiten, für die er
Lösungen zu finden hatte.«
»Zweifellos.«
»Und ahnte nicht, daß Soto und der Ingenieur umkommen
würden.«
»In seinem Gehirn ist nicht aufgezeichnet, daß der Flug
eines Raumschiffs ins All mit Gefahr für den Menschen
verbunden ist. Wenn er das gewußt hätte, würde er die
Funksignale von der Basis niemals unterbrochen haben…
Weil es nämlich im Widerspruch zum obersten Gesetz seiner
Pseudopsyche stünde.«
»Aber der Chemiker? Was ist aus dem Chemiker
geworden?«
»Schwer zu sagen. Er wird auf Soto und den Ingenieur
gewartet haben. Als sie nicht kamen, begann er seine
Versuche. Vorher übermittelte er dem Eingangsautomaten
die
Worte, die wir gehört haben, und der kleine Android
informierte ihn über die Signale von Sotos Rakete.« »Schön, aber
was ist aus ihm geworden? Das ist
wesentlich…«
Thor schwieg, dann sagte er: »Wahrscheinlich begriff er,
als
der Android ihn über das Schwächerwerden der Signale
unterrichtete, daß etwas nicht in Ordnung war, stellte
seine
Versuche ein und lief, ohne die Apparate auszuschalten,
in
die Empfangszentrale. Dort hörte er die leiser werdenden
Hilferufe von Sotos Raumschiff.«
»Und was weiter?«
Thor zuckte die Schultern. »Das weiß ich auch nicht.« »Hast du
irgendeine Vermutung?«
»Ich nehme an, daß er einen Fehler gemacht hat, durch den
alle umgekommen sind. Offenbar dachte er, Sotos Rakete
wäre mit einem Meteor zusammengestoßen, die Besatzung in
höchster Gefahr und der Navigationsautomat schicke
selbständig Notrufe hinaus. Eine Mutmaßung so gut wie
jede
andere. Tatsache ist, daß er Sotos Raumschiff nicht über
Funk angerufen hat. Vielleicht ist er zum Kosmodrom
hinausgerannt und mit einer Reparaturrakete ihren
Signalen
nachgeflogen.«
»Ich verstehe«, sagte Marp leise, sehr leise. »Du meinst
also, daß er sich, als der Planetoid von seinem
Bordradarschirm verschwand, in der gleichen Lage befand
wie Soto und der Ingenieur.«
»Der Planetoid sandte keine Funkzeichen, und ohne sie war
er nicht zu finden… Es sei denn durch Zufall… Dieser
Zufall
aber trat nicht ein.«
Thor sah dem Automaten zu, der die Panzerplatte wieder an
ihrem Platz befestigte, und wandte sich dann zum Ausgang. »Thor!«
rief Marp hinter ihm her. »Wir müssen dem
Gedächtnis des Konstrukteurs noch die Information
eingeben,
daß der Start des Menschen in den Kosmos mit tödlicher
Gefahr verbunden ist.«
»Nein, Marp, das werden wir nicht tun.« Thor blieb
stehen.
»Wir werden es nicht tun, weil wir sonst ernste
Schwierigkeiten beim Verlassen der Basis bekommen. Der
Konstrukteur würde mit allen ihm zu Gebote stehenden
Mitteln versuchen, uns daran zu hindern. Er ist ein
Automat,
und eine seiner Hauptaufgaben heißt, das Leben des
Menschen zu schützen.«
Günther Krupkat
Insel der Angst
Begeistert war ich keineswegs von der Mission, die der Weltforschungsrat mir übertragen hatte. Es ging schließlich darum, Professor Demens im Namen des höchsten wissenschaftlichen Gremiums zu veranlassen, seine Versuche mit den Autogonen einzustellen.
Natürlich hätte man ihn auch videofonisch von dem Beschluß verständigen können, wenn… Ja, wenn! Hier begannen schon die Schwierigkeiten. Demens war auf diesem Wege nicht zu erreichen. Er reagierte auf keinen Anruf. Niemand wußte, was eigentlich mit ihm los war, ob er überhaupt noch lebte.
Der Gedanke, es könne ihm etwas zugestoßen sein, war gar nicht so abwegig. Seit einiger Zeit kursierten die merkwürdigsten Gerüchte über Demens und das Experiment, dem er sich mit der Hartnäckigkeit eines Besessenen widmete. Es hieß, in Dementia, seinem selbstgewählten Reservat, gehe es nicht mit rechten Dingen zu, die Leute aus der Umgegend würden durch vagabundierende Autogonen belästigt und dergleichen mehr.
So hatte ich mich auf den Weg nach Dementia gemacht, und nun überflogen wir in geringer Höhe die westaustralische Küste.
Ein Flug mit dem Graviplan ist wirklich eine wunderbare Sache. Die Gravitationsmaschine treibt lautlos, von keinem Windstoß geschüttelt, dahin; sie schwebt, steigt, sinkt wie eine Wolke am stillen Sommerhimmel.
Landeinwärts dehnte sich der Scrub, dichte Buschwälder unter sengender Sonne. Dazwischen versiegte Wasserläufe. Kein Mensch, kein Tier ließ sich weit und breit sehen.
Inmitten dieses staubiggrünen Pflanzenteppichs wuchs unvermittelt ein Bergrücken aus Kalkfelsen empor. Von fern glich er einem Haufen bleichen Gebeins.
Ein flaches Gebäude, halb zerstört, wurde zwischen verdorrtem Gestrüpp sichtbar. Ringsum war der Boden mit Trümmern übersät. Das sollte Dementia sein?
Weiter südlich zeigte sich ein großer rostbrauner Fleck am Ufer eines Flusses. Es waren Bauxitgruben, Dementias einzige Nachbarschaft in meilenweitem Umkreis. Dort ließ ich den Graviplan landen.
Kaum hatte die Maschine aufgesetzt, als uns ein
Mann entgegenstürzte.
»Was wollen Sie?« fuhr er mich an. »Bringen Sie etwa noch mehr von
den Teufelsdingern?«
Meine Miene bewies ihm wohl deutlich genug, daß er an der falschen
Adresse war. Er lenkte sogleich ein.
»Ich bin der Chefingenieur hier. Entschuldigen Sie meine Grobheit.
Aber der Ärger mit diesen Scheusalen reicht mir jetzt. Ich habe
mich beschwert.«
»Deshalb sind wir gekommen«, sagte ich. »Mein Name ist Human,
Beauftragter des Weltforschungsrates. Berichten Sie, was ist
passiert?«
»Passiert ist mehr als genug, kann ich Ihnen sagen.« Der Ingenieur
wischte sich die Stirn. Es waren fünfunddreißig Grad Celsius im
Schatten. »Zuerst hatten wir von dem verrückten Professor und
seinem Treiben nicht viel gespürt. Vor einigen Wochen aber tauchten
diese… diese Auto…«
»Autogonen. Es sind Kybernaten erster Ordnung.«
»Meinetwegen. Sie tauchten also in der Nähe der Gruben auf. Überall
schnüffelten sie herum. Das paßte mir schon nicht. Eines Morgens
bemerkte ich, daß uns drei Servoroboter fehlten. In der
darauffolgenden Nacht verschwanden fünf. So ging das
weiter.
Zweihundert Dienstleistungsroboter waren für die Grubenarbeit
eingesetzt. Durchweg spezialprogrammierte, ausgezeichnete
Automaten. Inzwischen bin ich ganze fünfzig los. Die weitere
Produktion ist glatt in Frage gestellt. Man will mir keinen Ersatz
mehr liefern.«
»Was ist denn mit diesen fünfzig geschehen? Abgeworben?«
»Bewahre! Die verdammten Biester aus Dementia haben sie
verschleppt, wie Krebse geknackt und herausgenommen, was sie
gebrauchen konnten. Den Rest ließen sie am Wege liegen.
Ich schickte zu Demens, um ihm tüchtig die Meinung sagen zu lassen.
Er solle seine Autogonen gefälligst an die Kandare nehmen, für den
Schaden müsse er natürlich einstehen und so weiter. Unsere Leute
kamen aber nicht durch. Die Ungeheuer stellten sich ihnen stur in
den Weg.
Und die Räuberei ging weiter. Was blieb mir anderes übrig, als zur
Selbsthilfe zu greifen. Wir lauerten der Bande auf und beschossen
sie kurzerhand aus Neutrinopistolen. Denken Sie, das hatte einen
Zweck? Keine Spur! Im Gegenteil, die Kerle wurden aggressiv, und
wir zogen den kürzeren. Sie reagieren ja immer schneller als
wir.
Seitdem sind wir unseres Lebens nicht mehr sicher. Einen meiner
Leute wollten sie wie einen Roboter auseinandernehmen. Schrecklich,
sage ich Ihnen! Da heißt es nun, der Schutz jeglichen Lebens sei
oberstes Gebot. Und so ein wild gewordenes Monstrum darf sich
einfach darüber hinwegsetzen? Ausgeschlossen! Demens ist dafür
verantwortlich.«
Der Ingenieur schien Choleriker zu sein. Es war ihm offensichtlich
ein Bedürfnis, aus jeder Mücke einen Elefanten zu machen. Die
Räubereien der Antogonen dagegen konnten nicht bezweifelt werden.
Wahrscheinlich handelte es sich um einen Fall von
Fehlprogrammierung.
»Hat Demens auch angesichts dieser Vorfälle nichts von sich hören
lassen?« fragte ich.
»Nicht ein einziges Mal«, versicherte der Ingenieur. »Weiß man, ob
er überhaupt noch dort oben ist? Am Ende haben ihn seine eigenen
Geschöpfe längst zum Teufel gejagt. Würde mich nicht wundern nach
dem, was wir erlebten.«
Ich dachte an das verwüstete Haus auf dem Bergrücken und hatte kein
gutes Gefühl. »Wir werden uns um ihn kümmern und dafür sorgen, daß
die Autogonen nichts mehr anstiften.«
»Sie wollen wirklich nach Dementia?«
»Selbstverständlich. Es ist mein Auftrag.«
Der Graviplan löste sich vom Boden und nahm nördlichen
Kurs.
Meine Absicht war, das Reservat noch einmal zu überfliegen, um den
Wohnsitz des Professors ausfindig zu machen. Ich glaubte nicht, daß
er in der Ruine hausen würde, und wollte zu ihm stoßen, ohne
umherstreifenden Autogonen zu begegnen. Wenn sie sich schon über
gewöhnliche Roboter hermachten, war zu vermuten, daß sie sich auch
für unseren Graviplan interessierten. Und darauf durfte ich es
keinesfalls ankommen lassen.
Ja, ich hegte ernstliche Bedenken, und nicht erst seit dem Gespräch
mit dem Ingenieur.
Iliphorus Demens war mir gut bekannt. Wir hatten uns mehrmals im
Streitgespräch gegenübergestanden. Er besaß drei Doktorhüte und
keinen davon honoris causa. Ursprünglich Physiologe, war er später
Maschineningenieur geworden und hatte dann noch an der
kybernetischen Fakultät studiert.
Zweifellos war er gescheit, aber verschroben und gänzlich in den
Ideen befangen, die von den sogenannten Maschinisten vertreten
wurden. Die Vorstellung dieser Leute von einer künftigen Welt
superintelligenter Roboter war einfach absurd. Sie meinten, der
Mensch – nur zeitweilig höchste Form der belebten Materie und
selbst biologischer Automat – schicke sich nach unabänderlichem
Entwicklungsgesetz an, die Welt der idealen Maschinen zu schaffen,
um sodann als Gattung zu verkümmern und unterzugehen.
Ein ebenso unsinniger wie gefährlicher Trugschluß, dem ich, wo ich
nur konnte, in aller Entschiedenheit entgegentrat. Und vielleicht
war es nicht zuletzt meine Gegnerschaft gewesen, die Ili Demens zu
seinem abenteuerlichen Vorhaben veranlaßt hatte.
Eines Tage war er verschwunden gewesen. Niemand wußte zu sagen,
wohin. Ich mutmaßte sogleich, der alte Querkopf beabsichtige eine
Demonstration für seine Theorie, ohne Rücksicht darauf, ob das uns
oder auch ihm selber möglicherweise die größten Scherereien
einbringen werde.
Als dann die ersten Gerüchte über seinen Versuch durchgesickert
waren, hatte ich dem Forschungsrat empfohlen, sofort einzugreifen.
Aber man berief sich auf die Freiheit der Wissenschaft und beschloß
abzuwarten. Das ging so lange, bis der Fall zum öffentlichen
Ärgernis geworden war.
Der Graviplan schwebte über Dementia dahin. Wir hielten vergeblich
Ausschau nach den Autogonen. Auch von Demens entdeckten wir kein
Lebenszeichen. Mehrmals flogen wir das Haus auf dem Hügel an.
Nichts regte sich dort.
Die Leblosigkeit wirkte bedrückend. Immer wieder verschob ich die
Landung. Ich befürchtete, in einen Hinterhalt zu geraten.
Hochentwickelte Kybernaten wie diese Autogonen waren durchaus
fähig, List anzuwenden, um einen vermeintlichen Feind zu stellen.
Unsere Chance, unbehelligt zu bleiben, bestand allein darin, daß
ihre Erfahrungsspeicher noch kein Flugzeug registriert
hatten.
Wo Demens nur sein mochte? Sollte er das Versuchsgebiet wirklich
verlassen haben? Ich hielt es für unwahrscheinlich. Er war nicht
der Mann, der vorzeitig aufgab, was er einmal begonnen
hatte.
Wir gingen mit der Maschine noch tiefer hinunter. Die Sonne neigte
sich bereits, und die Schatten wurden länger. Bis zum Einbruch der
Dunkelheit mußten wir Demens gefunden haben. Es schien mir nicht
ratsam, die Autogonen durch Scheinwerfer zu beunruhigen oder gar zu
reizen.
Ein Felskegel mit steil abfallenden Hängen schob sich unter uns
heran. Wir hatten diese Gegend schon mehrmals überflogen. Diesmal
jedoch, in geringerer Höhe, entdeckten wir dort einen Menschen, der
uns aufgeregt zuwinkte. Seine Kleidung hob sich kaum von der Farbe
des Kalkgesteins ab. Es konnte nur Demens sein.
Das Plateau bot genügend Platz für die Landung. Demens wankte uns
entgegen. War er auch nie ein stattlicher Mann gewesen, so glich er
jetzt einem verhutzelten Greis. Das ausgebleichte, wirre Haar hing
ihm ins spitze Gesicht. Die Kleider waren zerrissen, verschmutzt.
Unter dem halboffenen Hemd spannte sich die lederbraune Haut über
den Rippen.
Unverändert war der fanatische Glanz seiner Augen, der sich für
einen Moment trübte, als er mich, seinen alten Widersacher,
erblickte. Und typisch für ihn war auch, daß er uns nicht etwa voll
freudiger Dankbarkeit als Retter begrüßte, wie es in seiner Lage zu
erwarten gewesen wäre, sondern triumphierend hervorstieß: »Das
Experiment ist gelungen, Human!«
»Es scheint mir auch so«, antwortete ich reserviert. »Wo hausen Sie
eigentlich?«
Er wies auf eine flache Senke im Fels. Dort hatte er knochenhartes
Reisig zu einem Lager geschichtet. Darüber war aus einer Plane und
dornigen Stöcken ein Sonnendach errichtet.
»Ja, mein Lieber, es ist so gekommen, wie ich es vorausgesehen
hatte«, sagte er. »Ich werde Ihnen den Verlauf des Experiments von
Anbeginn schildern. Aber eine Frage zuvor: Haben Sie zufällig etwas
Eßbares bei sich?«
Ich lud ihn in unsere Kabine ein und tischte ihm auf, was die
Bordküche hergab. Er verschlang alles, ohne sich erst der Mühe des
Kauens zu unterziehen.
Geduldig schaute ich ihm zu. »Wie lange haben Sie nichts
Ordentliches mehr gegessen, Demens?«
»Acht Tage.« Er wischte sich den Mund mit dem Handrücken. »Und dann
nur Eukalyptusrinde. Wird auf die Dauer fad, wissen Sie. Zum Glück
habe ich noch etwas Trinkwasser.«
»Und wie sollte der grandiose Versuch für Sie ausgehen, wenn wir
nicht gekommen wären?«
Demens funkelte mich an. »Sie wollen wieder streiten. Das ist
unfair. Ich bin momentan nicht recht in Form.«
Seine Kaltblütigkeit war gespielt. Ich spürte deutlich, daß ihm die
Angst im Nacken saß, panische Angst, Todesangst.
»Machen wir uns nichts vor, Demens«, sagte ich. »Wie es um Sie
steht, sieht man doch.«
Er schob die Reste der Mahlzeit beiseite. »Ach was! Ich bin
zufrieden.«
»Zufrieden, daß Sie die Unabwendbarkeit Ihres Unterganges als
Iliphorus Demens im besonderen und als Homo sapiens im allgemeinen
bewiesen haben?«
»Wenn Sie so wollen, ja. Meine Autogonen haben mich matt gesetzt.
Wären Sie jetzt nicht hier, bliebe mir nur die Alternative, auf
diesem Felsen zu verhungern oder mich den Autogonen auf Gedeih und
Verderb zu unterwerfen. Sie haben mir jede Möglichkeit zu einem
dritten Weg genommen. Und wenn Sie Ihren wunderschönen Graviplan
erwischen, sitzen Sie genauso in der Falle wie ich.«
»Das verstehe ich nicht, da muß doch ein Schaltfehler
vorliegen.«
»Schaltfehler!« Demens lachte höhnisch auf. »Sie reden wie ein
Dilettant, Human. Hier handelt es sich um eine Kettenreaktion, die,
einmal ausgelöst, nicht mehr aufzuhalten ist.«
»Wie viele Autogonen haben Sie in Dementia?«
»Etwa vierzig.«
»Die genaue Anzahl müssen Sie doch wissen.«
»Ich habe den Überblick verloren. Sie reproduzieren sich
unglaublich schnell. Es ist schon die zweite Generation.«
»Was denn? Sie sind ja erst ein halbes Jahr in Dementia.«
»Trotzdem ist’s so. Ich kam mit dreißig Servoautomaten an und ließ
mir von ihnen das Labor bauen.«
»Die Ruine?«
»Jetzt ist es kurz und klein geschlagen, jawohl. Unmittelbar
daneben wurde das Materiallager angelegt. Ich hatte reichlich
Rohstoff, Einzel- und Ersatzteile mitgebracht. Weitere Mengen hielt
ich in Übersee bereit. Ob und wann ich diese Reserven benötigen
würde, wußte ich noch nicht. Mein Plan war elastisch, auf alle
Möglichkeiten abgestimmt.«
»Ich begreife nicht, warum Sie gerade diese Gegend
wählten.«
»Es war gar nicht so einfach, ein Fleckchen Erde zu finden, das so
einsam war, wie ich es brauchte. Dieser Bergrücken entsprach am
ehesten meinen Anforderungen. Er ist vom Scrub umgeben, wo ein
Ausbrechen zumindest erschwert ist. Außerdem steigt ein Kybernat,
wie Sie wissen, Berge lieber hinauf als hinab. Und schließlich ist
das Meer weit genug von hier entfernt. Meine Autogonen sind
amphibisch. Ein großer Vorzug, aber wenn sie unter Wasser
entwischen, fängt sie kein Teufel mehr ein.
Ich machte mich sogleich an die Arbeit, und in einer Woche war der
erste Autogone fertig. Zylindertypus aus Polysilit. Hervorragendes
Material, hält eine Temperaturdifferenz von vierhundert Grad aus.
Kann ich Ihnen sehr empfehlen. Das Speicherwerk nahm das obere
Drittel des Zylinders ein. Ich hatte es zu Hause vorprogrammiert.
Kapazität zwanzig Milliarden bit!«
»Diese Anzahl Informationseinheiten entspricht etwa dem Wissen
eines siebzehnjährigen Menschen.«
»Mein lieber Human, das menschliche Speicherwerk…«
»Gedächtnis!«
»Wie? Ach so. Das menschliche Gedächtnis ist an und für sich ganz
gut durchkonstruiert. Aber die Funktionstüchtigkeit! Ich versichere
Ihnen: dreistufige Kunsthirne sind auf die Dauer viel
zuverlässiger. Da wird nichts vergessen. Was wichtig ist, bleibt
drin.
Jedenfalls war ich auf meinen Autogonen sehr stolz. Antäus – so
nannte ich ihn – funktionierte tadellos. In den ersten Tagen
beschäftigte er sich damit, seine Umgebung zu studieren und
Erfahrungen zu sammeln. Besonderes Interesse zeigte er für mich und
meine Arbeit. Stundenlang stand er im Labor und sah zu, wie ich
Autogonen montierte.
Einmal kam er zu mir und fragte, warum ich Beine habe. Er hatte
nämlich keine, sondern schwebte nach dem AGBPrinzip. Die
Antigravitationsbalance ist meines Erachtens die ideale
Fortbewegungsart für Zylindertypen. Ursprünglich hatte ich an die
Tausendfüßerkonstruktion gedacht, dann aber der praktischeren
AGB-Lösung doch den Vorzug gegeben. Sie werden mir darin unbedingt
beipflichten.
Ich versuchte, Antäus darzulegen, daß die menschlichen Beine eine
krasse Fehlleistung der Natur seien. Ich demonstrierte ihm, wie
unbeholfen, geradezu linkisch unser Gehen ist, bewies ihm, daß wir
beim Schreiten nur von einem Bein aufs andere fallen und, wenn wir
eins verlieren, auf künstlichen Ersatz angewiesen sind oder
zeitlebens ein Krüppel bleiben.
Es gelang mir jedoch nicht, ihn zu überzeugen. Im Gegenteil, er
wurde unverschämt und nannte mich einen Ignoranten, einen Pfuscher.
Kurzerhand untersagte ich ihm, das Labor noch einmal zu betreten.
Wie töricht das war, erwies sich allzubald.
Neben der Produktion von Autogonen beschäftigte ich mich mit dem
Studium der Verhaltensweise von Antäus und seinen Artgenossen.
Mittlerweile gab es schon dreißig in Dementia. Sie können sich
denken, daß ich ausgelastet und nicht in der Lage war, jedem meiner
Geschöpfe volle Aufmerksamkeit zu widmen.
Natürlich vermied ich es, sie zu gängeln und durch Befehle meinem
Willen zu unterwerfen. Sie sollten sich selbst überlassen bleiben.
So allein konnte mein Versuch seinen Sinn bekommen.
Antäus erwies sich als der Gescheiteste von allen. Das war auch
durchaus verständlich. Er war der Älteste und hatte infolgedessen
die meisten Erfahrungen gesammelt. Irgendwelche Vorrechte machte er
nicht geltend. Der Lernprozeß nahm ihn noch ganz und gar in
Anspruch. Ebenso erging es den anderen. Sie beachteten einander
kaum, sondern unterzogen sich der ›Selbstoptimierung‹.
Ungeduldig wartete ich auf den Augenblick, wo sie das erste
Reifestadium erreicht haben würden. Nun, das geschah sehr schnell
und brachte mir gleich eine Überraschung.
Eines Morgens stellte ich fest, daß ein Sack Polysilit im
Lagerschuppen fehlte. Von böser Ahnung getrieben, eilte ich ins
Labor. Dort fand ich Antäus vor. Er hatte sich das Unterteil
abmontiert und zwei selbstgeformte Beine angesetzt.
Ich war empört. Da hatte ich es nun gut gemeint und ihm das denkbar
beste Fortbewegungssystem gegeben, aber nein, er mußte sich aus
reiner Nachäfferei zwei alberne Beine zulegen.
Am liebsten hätte ich ihn geohrfeigt. Ich zweifelte an der
Richtigkeit meiner Theorie, das gestehe ich offen ein. Konnten die
Autogonen wirklich die neuen Primaten auf Erden werden, wenn sie
den Menschen als Vorbild sahen? Oder hatte ich sie nicht genügend
durchkonstruiert?
Tagelang lief ich deprimiert umher und sah tatenlos zu, wie sich
auch die übrigen Autogonen Beine machten. Allmählich beruhigte ich
mich jedoch und verfertigte aus dem Rest meiner Vorräte weitere
Zylindertypen, diesmal allerdings gleich mit Beinen.
Die Lust zum Eigenbau wollte ich ihnen aber ein für allemal
austreiben. Deshalb forderte ich kein neues Material aus dem
Reservelager an. Gespannt sah ich dem entgegen, was folgen
würde.
Zunächst geschah nichts Besonderes. Ich ließ die Autogonen
ungeschoren. Sie streiften durch die nähere und weitere Umgegend,
die sie inzwischen genau kannten. Alles war ihnen vertraut, nichts
überraschte sie mehr. Sie begannen sich zu langweilen und wurden
reizbar.
Um sie zu beschäftigen, ließ ich sie Bäume fällen, Steine klopfen,
hielt sie zur täglichen Gymnastik an und exerzierte stundenlang mit
ihnen auf dem Platz vor dem Labor. Leider wurde nichts Rechtes
daraus. Gleichschritt in geschlossener Formation war ihnen beim
besten Willen nicht beizubringen. Sie hatten kein
Gemeinschaftsgefühl. Wahrscheinlich kollidierte auch ihre Logik mit
dem Unsinn dieser Tätigkeit.
Mir fiel auf, daß sie immer häufiger im Schuppen und im Labor
herumstöberten. Natürlich fanden sie keine Handvoll Polysilit mehr.
Ich hatte diebischen Spaß daran, wenn mich das heimliche Tun auch
etwas kränkte. Es erschien mir der künftigen Herren dieser Welt
unwürdig. Sie sollten besser als die Menschen sein. Sonst hätte die
ganze Ablösung ja wenig Sinn.
Als die Kramerei kein Ende nahm, stellte ich mich mal dumm und
fragte Antäus geradeheraus, was es zu suchen gäbe, da sie doch fix
und fertig seien, und wie er sich eigentlich die Zukunft
denke.
Er durchbohrte mich mit seinen Elektronenaugen und erklärte, er
wolle sich weiterorganisieren. Dazu brauche er Material. Ich solle
es endlich herausrücken.
Das lehnte ich mit dem Hinweis ab, sein Speicher vertrage keine
stärkere Belastung, die bis jetzt gesammelten Erfahrungen müsse er
erst mal richtig anwenden, dann werde ich schon sehen, wo es fehle
und was noch vonnöten sei.
Antäus stapfte wortlos davon. Ob er mich verstanden hatte, konnte
ich nicht erraten. Ihm fehlte ja die Mimik.
Inwieweit das Mienenspiel als Ausdruck seelischer Vorgänge
überhaupt ein Vorzug oder ein Mangel ist, mochte ich nicht
definitiv entscheiden. Ich neige dazu, es für überflüssig zu
halten, etwa wie Steißbein und Wurmfortsatz.
Was soll’s, wenn ein Mensch mir durch Schmunzeln zeigt, daß er mich
nicht ernst nimmt? Mag er es mir ins Gesicht sagen, das ist
wenigstens ehrlich.
Oder wie unerfreulich ist es, einem Bekannten zu begegnen, dem man
schon auf zehn Schritt ernste Sorgen ansieht. Obwohl er von seinen
Schwierigkeiten nicht reden möchte, dringt man über seine Miene
ungewollt in fremdes Seelenleben ein. Das ist doch nicht in
Ordnung.
Man könnte ihn durch einen psychochirurgischen Eingriff von den
Sorgen befreien. Frontale Lobotomie, das heißt Entfernen eines
Teiles der Stirnlappen der Hirnrinde. Sie lachen, Human! Wie wollen
Sie ihm aber sonst helfen, wenn er nicht zu sprechen
wünscht?
Das Problem wäre meines Erachtens ein lohnendes Thema für ein
Symposium. Möglich, daß sich die Gelehrten in diesem Punkte einig
werden. Aber schweifen wir nicht ab.
In der darauffolgenden Nacht erwachte ich von einem Geräusch. Es
war ein Ächzen, Knirschen und Knacken. Ich stürzte zum Labor
hinüber, denn von dort kamen die sonderbaren Laute. Was ich sah,
trieb mir die Haare zu Berge.
Mitten im Raum stand Antäus mit geöffneter Schädeldecke. Er hatte
die Trepanation selber vorgenommen. In den Pranken hielt er das
Speicherwerk eines Servoroboters, den er fürchterlich zugerichtet
hatte. Um ihn herum lagen Arme, Beine und die Trümmerstücke des
Kopfes.
Es war mein liebster, bester Servo gewesen. Immer intakt, nie
verklemmt oder anspruchsvoll hinsichtlich neuer Einzelteile. Voll
Wut fuhr ich auf Antäus los und fragte, was das zu bedeuten
habe.
Er sah mich starr an und erklärte in aller Ruhe, daß er mit dem
Speicher des Servos sein Hirn aufstocken wolle.
Ich untersagte ihm das in scharfen Worten, obwohl ich wußte, daß er
nicht auf mich hören wird, und ging wieder zu Bett.
An Schlaf war natürlich nicht mehr zu denken. Ich vernahm das feine
Rauschen eines Lasergeräts. Antäus schweißte sich offenbar den
Schädel zu. Mir wurde übel bei der Vorstellung, er hätte auf die
Idee kommen können, sich mein lebendes Gehirn anzueignen. Freilich
war das Blödsinn. Was sollte er mit einem organischen Gehirn schon
anfangen? Ich war einfach mit den Nerven fertig.
Auch diese Eigenmächtigkeit von Antäus fand unverzüglich
Nachahmung. In wenigen Tagen besaß ich keinen Servoautomaten mehr.
Ich machte mir die heftigsten Vorwürfe, daß ich Antäus so oft bei
der Fertigung von Autogonen hatte zuschauen lassen. Er war über
sein Bauschema völlig im Bilde und hatte es den anderen
beigebracht. Sie setzten sich die fremden Hirne nach dem Prinzip
der Batterieschaltung ein und verstärkten damit die Leistung ihrer
Speicherwerke enorm. Auf diese Idee wäre ich nie
gekommen.
Nachdem ich den Schock überwunden hatte, bedachte ich ganz nüchtern
die Lage. Zweifellos waren die Autogonen in eine neue
Entwicklungsphase eingetreten. Sie begannen nach eigener
Gesetzmäßigkeit zu leben und zu handeln. Eine Gemeinschaft bildeten
sie allerdings nicht. Alle taten zwar das gleiche, aber jeder für
sich. Das war bemerkenswert, und ich beschloß, mich im Interesse
meines Experiments fortan völlig passiv zu verhalten, nur noch zu
beobachten, was auch geschehen würde.
Sie unternahmen nunmehr größere Streifzüge. Oft waren sie tagelang
verschwunden. Manchmal schlich ich ihnen nach, um herauszufinden,
was sie trieben. Weit kam ich nicht. Während sie mit ihren
Polysilitpanzern den verfluchten Scrub mühelos durchdrangen, riß
ich mir die Haut am Dornengestrüpp in Fetzen.
Immer häufiger passierte es, daß sie mit fremden Speicherwerken und
anderen nützlichen Teilen heimkehrten. Sie schienen auf Siedlungen
gestoßen zu sein, wo sie Roboter minderer Ordnung raubten und
ausnahmen.
Das paßte gar nicht in meinen Plan. Ich wollte begreiflicherweise
kein Aufsehen erregen, solange das Experiment noch im Gange war.
Ängstlich mied ich das Videofon. Jeden Augenblick fürchtete ich,
eine Beschwerde zu erhalten, die sich gewaschen hat. Es kam aber
nichts.
Die Autogonen nahmen von meiner Anwesenheit überhaupt keine Notiz
mehr. Sie schalteten und walteten, wie es ihnen gefiel. Ihr
bevorzugter Tummelplatz wurde das Labor. Tag und Nacht
wirtschafteten sie dort herum. Ruhe brauchten sie nicht, und als
Aufbaustoff genügte ihnen eine Handvoll feuchten Sandes und etwas
Kalk.
Human, es verschlug mir die Sprache, als ich das Geheimnis ihrer
Werkelei entdeckte! Sie hatten doch tatsächlich auch ihre eigenen
Produktionsformeln ausgetüftelt. Wozu ich Jahre benötigt hatte, war
ihnen in Tagen gelungen. Für die Herstellung des Polysilits hatten
sie sogar eine neue, viel einfachere Lösung gefunden.
Es war ihnen jetzt möglich, ohne menschliche Hilfe und an jedem
beliebigen Ort ihresgleichen herzustellen. Die erforderlichen
Speicherwerke und gewisse elektronische Elemente entnahmen sie
vorläufig noch geraubten Automaten. Nach allem, was ich sah, stand
für mich jedoch fest, daß sie auch diese letzte Schwierigkeit
überwinden und kurz über lang neuartige Speicher für unbegrenzte
Selbstprogrammierung aushecken würden.
Ich, ihr Schöpfer und Meister, war abgetan. Sie brauchten mich
nicht mehr. Weder Antäus, der mir so lernbegierig zugeschaut hatte,
noch die anderen, die nach ihm gekommen waren.
Inmitten ihrer Welt lebte ich fortan wie auf einem fremden Stern,
sinn- und zwecklos, nicht mehr als fossiler Rest einer vergangenen
Epoche. Ich war nahe daran, Dementia zu verlassen, der bedrückenden
Vereinsamung zu entfliehen. Mein Helikopter stand bereit. In
wenigen Minuten hätte ich wieder unter Menschen sein können. Ich
blieb aber.
Die Autogonen vervollkommneten sich fortgesetzt. Hatte ihr Kopf
infolge der wiederholten Hirnaufstockung schließlich mehr als zwei
Drittel des gesamten Körpers beansprucht, so zeigten sich jetzt
Ansätze einer nicht für möglich gehaltenen Adaption: Anpassung an
die menschliche Gestalt! Sie verformten sich ständig, was beim
plasteartigen Polysilit nicht allzu schwierig war.
Diese Entwicklungstendenz widersprach gänzlich meiner Theorie von
der Ablösung des Menschen als überlebte Form der Materie. Zudem
vollzog sich die Umwandlung in unglaublich raschem Tempo. Wohin
soll das führen? fragte ich mich. Hatte ich einen Kreislauf in Gang
gesetzt, und stand am Ende wieder der Mensch, nicht der heutige,
ein anderer, künftiger, aber ein Mensch? Mein armer Kopf,
Human!
Ein Widerspruch machte mir besonders zu schaffen. Mit zunehmender
Vermenschlichung wuchsen die Ansprüche und Bedürfnisse der
Autogonen rapide. Logischerweise hätten sie sich nun zusammentun
müssen, um eine optimale Befriedigung ihrer Wünsche zu erzielen.
Das fiel jedoch keinem von ihnen ein. Jeder stützte sich auf seine
Superintelligenz und wählte den Alleingang. Die einzige Folge davon
konnte nur sein, daß aus den gleichen Interessen Steine des
Anstoßes werden.
So geschah es auch. Der eine begehrte, was der andere wollte.
Keiner lenkte ein, denn es gab keinen Klügeren, Solche Plänkeleien
waren das reine Tauziehen. Zufälligkeiten entschieden über den
Ausgang.
Einmal wollte ich einen Streit schlichten. Es ging um ein
Kugelgelenk. Irgendwo fand ich ein zweites. Ich gab es ihnen in der
Hoffnung, daß nun Frieden sei. Weit gefehlt! Der eine wie der
andere wollte absolut das erstere haben. Maschinenlogik!
Die Auseinandersetzungen mehrten sich von Tag zu Tag. Ich dachte
lange und gründlich über die tiefere Ursache nach. Ohne Zweifel
bahnte sich etwas an. Es lag wie Gewitter in der Luft. Als ich
Antäus deswegen zur Rede stellte, knurrte er nur böse und ließ mich
stehen wie ein Kind, das nach dem Klapperstorch gefragt
hat.
Und dann kam es zur Schlacht zwischen den Autogonen. Jawohl, zu
einer regelrechten Schlacht. Wie zu Zeiten des Barbarentums. Ich
flüchtete auf einen Eukalyptus und sah dem Gemetzel aus der
Vogelperspektive zu.
Alle kämpften gegen alle. Brüllend warfen sie sich aufeinander. Wer
ihnen das Gebrüll beigebracht hatte, war mir unerfindlich. Weder
von mir noch von sonst einem Menschen konnten sie es gelernt haben,
und Raubtiere gab es in dieser Gegend nicht.
Jedenfalls war es ganz schrecklich. Sie rissen sich gegenseitig
Arme und Beine aus, zertrümmerten sich die Schädel, entwendeten
einander die Speicherwerke. Es ging zu wie im griechischen Lager
vor Troja.
Antäus stolperte über seine Beine und stürzte. Hätte der Idiot
meine bewährte Antigravitationsbalance behalten, wäre ihm das nicht
passiert. Ein junger Autogone zerstampfte ihn. Mir zerriß es das
Herz. Antäus, mein erster, dahin!
Ich will Sie nicht länger mit dem grausigen Bild quälen, das vor
meinen Augen abrollte, Human. Zum Schluß war das Schlachtfeld mit
Trümmern bedeckt. Überall lagen Gedächtnisse herum. Die
Überlebenden sammelten sie hastig ein, um sie sich einzuverleiben.
Zum Glück waren genügend vorhanden, sonst wäre der Kampf sicherlich
von neuem entbrannt.
Die Erregung hatte sich mir derart auf den Magen geschlagen, daß
ich an diesem Abend keinen Bissen hinunterbekam. Human, was hier
geschehen war, ließ keinen Zweifel mehr aufkommen. Das war die
Evolution, die wahre Auslese! Meine Autogonen hatten sich in den
großen Entwicklungsprozeß eingegliedert. Mein Werk war vor der
Natur legitim geworden.
Ich begann meine Sachen zu packen. In spätestens drei Tagen wollte
ich Dementia verlassen, um in aller Öffentlichkeit zu verkünden,
daß sich meine Theorie als richtig erwiesen habe und die Ablösung
der Menschheit durch die Autogonen unabwendbar sei. Was nun zu tun
bleibe – so sollte mein Appell ausklingen –, könne nichts weiter
sein, als dem Schicksal mit würdigem Ernst ins Auge zu blicken und
in stolzem Verzicht die menschliche Ära zu beenden.
Aufs tiefste bewegt, sprach ich meine Gedanken sogleich auf Band.
Es war herrlich still nach dem Schlachtgetümmel. Die Sieger waren
abgezogen. Darunter auch der junge Autogone, der Antäus tödlich
demoliert hatte. Ich gab ihm in memoriam den Namen Antäus der
Zweite.
In aller Frühe weckte mich höllischer Lärm. Vom Scrub her rückten
grölend die Autogonen an. Wie eine Horde Betrunkener. Aber so etwas
gab es doch nicht mehr. Was hatten sie bloß?
Als sie näher kamen, waren Stimmen zu unterscheiden: ›Er ist auch
so ein Lump! – Den Hals umdrehen! – Wozu braucht der ein
Speicherwerk?‹
Mir schlugen in diesem Augenblick die Zähne nur so aufeinander,
denn ich vermutete gleich richtig, daß die abscheulichen Rufe mir
galten. Mit fliegenden Händen raffte ich das Notwendigste zusammen,
vor allem Konserven und einen Wasserkanister. Zum Flugzeug zu
gelangen, war es bereits zu spät. Meine einzige Rettungsmöglichkeit
lag darin, diesen steilen Felsen zu erklimmen. Ich wußte, daß die
Autogonen Kletterpartien scheuten wie weiland der Teufel das
Weihwasser.
Schweißüberströmt gelangte ich auf das Plateau. Keine Minute zu
früh! Von allen Seiten eilten sie herbei. Zuerst zertrampelten sie
meinen Helikopter, dann rissen sie das Haus und den Schuppen
nieder.
Ihre Wut über mein Verschwinden war grenzenlos. Ich kannte sie
nicht wieder. Wahrscheinlich waren sie bei ihrem Streifzug auf
Menschen gestoßen, die sie angegriffen hatten.
Das wäre das Ende! Nichts konnte furchtbarer sein als ein Autogone,
der sich bedroht fühlt.
Antäus der Zweite bemerkte mich zuerst in der luftigen Höhe. Wie
ich erwartet hatte, machte er gar nicht den Versuch
hinaufzusteigen. Er blieb mit den anderen am Fuße des Felsens
stehen und rief mir zu: ›Bist du mein Schöpfer?‹
›Natürlich‹, antwortete ich. ›Und ich bitte mir mehr Respekt
aus!‹
Erbost schrie er: ›Lüge! Antäus hat mich gemacht. Du bist ein ganz
gewöhnlicher Schmarotzer in der Maschinenwelt! Die dummen
Servoautomaten von den Gruben haben recht. Ihr Menschen seid zu
nichts nutze und lebt auf unsere Kosten.
Nun reichte es mir. ›Sieh mal an‹, tobte ich los, ›aber Hirnraub begehen, das ist erlaubt, wie? Dazu sind die dummen Servos gerade gut genug! Du bist ein Schmarotzer, ein Nichtsnutz bist du, ein…‹
Weiter kam ich nicht. Mir ging die Luft aus,
und der Lärm unten wurde ohrenbetäubend.
Die Autogonen reckten mir ihre Pranken entgegen. ›Elender
Menschenwurm! Hinterhältiger Schuft! Deine Zeit ist um!‹
Derartige Ausdrücke konnten sie tatsächlich nur von wenig
qualifizierten Automaten haben. Bitter enttäuscht wandte ich mich
ab und vertiefte mich in Betrachtungen über mein bedauernswertes
Schicksal.
Unter ständigen Schmährufen verschwanden die Autogonen schließlich.
Oh, sie wußten genau, daß ich mich nicht von feuchtem Sand ernähren
kann und nur die Wahl habe, mich ihnen auszuliefern oder in diesem
verfluchten Adlerhorst meine Knochen bleichen zu lassen. Der
Gedanke, daß ich Hilfe finden könnte, war ihnen nicht gekommen. Sie
helfen einander ja auch nicht.
So, Human, das ist mein Bericht.«
Demens lehnte sich zurück und blickte mich abwartend an, bereit,
mögliche Gegenargumente sofort von meinem Munde weg zu
zerfetzen.
»Welches Grundprogramm haben Sie Ihren Autogonen eingegeben?«
fragte ich.
»Das Prinzip der Selbstbehauptung.«
»Sonst nichts?«
»Nein.«
Ich schaute nachdenklich durch die geöffnete Tür der
Flugzeugkabine. Über den grauen Konturen der Steppe erhob sich
bereits der Schimmer des neuen Tages. Irgendwo heulte ein Dingo,
und aus den Eukalyptuswäldern drang der scharfe Schrei
aufgescheuchter Papageien.
»Wissen Sie, Demens, es gibt immer noch Menschen, die unsere Welt
und ihre Zusammenhänge nicht verstehen. Diese Leute leben wie
Schiffbrüchige auf einer Insel und plagen sich mit Alpträumen, mit
panischer Existenzangst ab.«
»Zu jenen Käuzen gehöre auch ich, meinen Sie.« Er lachte zornig
auf. »Ist das, was hier geschah, etwa ein Alptraum? Wenn ja, dann
bringen Sie mich nur schleunigst in die nächste
Irrenanstalt!«
Sein Eifer zwang mir ein Lächeln ab. »Dessen wird es gar nicht
bedürfen, um Sie von Ihrer Schwarzseherei zu kurieren.«
»Na, großartig. Vielleicht haben Sie die Güte, mir zu verraten, wie
Sie meine – Heilung zu bewerkstelligen gedenken.«
»Sehr gern. Ich werde mit den Autogonen sprechen.«
Er sprang auf. »Sie wollen… Ja, kein Zweifel mehr, wer hier
wahnsinnig ist!«
»Urteilen Sie nicht voreilig.«
»Mann, die Kerle werden Sie atomisieren! Glauben Sie, so etwas wie
einen Burgfrieden zwischen Mensch und Maschine heraushandeln zu
können?«
»Die Frage so stellen heißt das Problem falsch sehen, verehrter
Kollege«, wandte ich ein. »Selbst die vollkommene Maschine kann dem
Menschen nie ebenbürtig sein.«
Er warf sich in die Brust. »Darf ich daran erinnern, daß Millionen
Menschen heute bereits zu fünfzig Prozent künstlich sind? Es gibt
naturgetreue Ersatzteile für alle Organe. Vom künstlichen Gebiß bis
zum Kunstherzen. Sehen Sie’s doch mal so, Human: Mensch und Automat
nähern sich einander. Der Mensch wird automatischer, der Automat
menschlicher. Letzte Konsequenz ist eine neue Form der
Materie.«
»In der Möglichkeit, den natürlichen Verschleiß unseres Organismus
aufzuhalten und damit das Leben zu verlängern, finde ich nun
wirklich nichts, was der Menschenwürde abträglich wäre. Die
Annäherung, von der Sie sprechen, ist eine Fiktion. Seelische
Vorgänge entziehen sich der mathematischen Logik, sind niemals
steuerbar im Sinne echter Automatik. Also wird die Maschine zu
keiner Zeit menschliche Qualität erreichen.«
»Wir werden niemals einig!« knurrte Demens.
»Ich bin kein Pessimist. Jedenfalls werde ich mit dem Graviplan
neben Ihrem ehemaligen Labor landen.«
»Wenn’s schiefgeht, ist es mit mir hier aus!«
»Völlig richtig. Aber dann können Sie wenigstens in dem stolzen
Bewußtsein sterben, daß Ihre Theorie stimmt.«
Diese Aussicht schien Demens wenig verlockend zu sein. Er verließ
stumm die Kabine und zog sich auf sein dornenreiches Lager
zurück.
Indessen besprach ich mich mit meinen Begleitern. Darauf starteten
wir. Der Graviplan schwebte neben der Ruine nieder. Ich stieg aus
und sah mich um.
Weit und breit kein Autogone. Sollten sie wieder auf Raubzug sein?
Höchste Zeit, ihnen diese Unart auszutreiben. Demens war wirklich
ein Idiot. Ich hatte es ihm nur nicht so deutlich sagen
wollen.
Lauschend, spähend betrat ich das Labor. Hier war kein Stein mehr
auf dem anderen. Bei jedem Schritt raschelte und schepperte es.
Abgespulte Magnetbänder, Drahtspiralen, Hirnrelais, ausgerissene
Glieder, Fragmente von Autogonenleibern. Ein Chaos!
Daß sich keines von Demens’ vertrackten Geschöpfen sehen ließ,
begann mich zu beunruhigen. Sie mußten den Graviplan bemerkt haben,
und bei der sprichwörtlichen Roboterneugier war es ganz
unwahrscheinlich, daß sie sich nicht in der Nähe befanden. Warum
aber verbargen sie sich? Es sah nach Hinterhalt aus. Jeden Moment
konnte ein blitzschneller Angriff erfolgen. Mit meinen Leuten hatte
ich verabredet, daß sie mich durch ein Signal verständigen, falls
Gefahr im Verzuge ist, und daß sie dann auf zehn Meter Höhe gehen
sollen, um den Graviplan vor Beschädigungen zu schützen. Ich selber
wollte mich schon zu verteidigen wissen.
Allmählich wurde die Stille unheimlich. Einer Gefahr
gegenüberzustehen, sie zu sehen und abzuschätzen, hatte ich mich
noch nie gescheut. Aber sie zu spüren, ohne zu wissen, woher sie
kommen und welcherart sie sein wird, das war abscheulich.
Ich hielt es für ratsam, das Labor zu verlassen und im Freien
Umschau zu halten. Auf dem Wege zur Tür stieß ich irgendwo an. Eine
Roboterfaust polterte von einem Regal herab und blieb geballt wie
eine stumme Drohung vor meinen Füßen liegen. Nervös schleuderte ich
sie mit einem Tritt beiseite. Einen Krach machte das
Ding!
Ich horchte auf. Hatte ich bei diesem Lärm das Warnsignal
überhört?
Es war still.
Nein, hinter meinem Rücken rührte sich etwas! Wie Zähneknirschen
hörte es sich an.
Verdammt noch mal! schoß es mir durch den Sinn.
Ich fuhr herum.
Mir blieb der Atem aus. Vor mir stand ein riesenhafter Autogone.
Stand wie eine Säule und starrte mich an.
Der erste Schreck, den ich kaum überwunden hatte, war gar nichts
gegen den zweiten, der mich packte, als das Monstrum den Mund
auftat und in aller Ruhe sagte: »Guten Tag. Sind Sie
Kybernetiker?«
»Allerdings«, stotterte ich. »Aber was ist denn? Willst du mich
nicht angreifen?«
Der Autogone winkte resigniert ab. »Ach, das Ganze war ein
Mißverständnis. Und schuld daran ist dieser dämliche
Demens.«
»Na, na! Professor Demens ist immerhin dein Produzent.«
»Verzeihung, Sir.«
»Schon gut. Hat Demens dir einen Namen gegeben?« »Jawohl, ich bin
Antäus der Zweite.«
»Aha, von dir hörte ich bereits. Du sollst der größte Rüpel der
Bande sein.«
»Tut mir leid. Daß das passieren konnte, begreife ich nicht. Irgend
etwas stimmt mit mir nicht.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Es war so: Nachdem das Labor zusammengehauen war, kramte ich in
den Überresten. Vielleicht lag noch ein Stück Hirn herum. Hirn kann
man ja immer brauchen. Da fand ich ein paar Buchfilme: Anochin,
Wiener, Ashby, Klaus. Ich habe sie alle gelesen. Erstaunlich, was
die alten Klassiker der Kybernetik schon für Prognosen stellten.
Aber sie sprachen auch von den Grenzen, die mir gesetzt sind. Was
sind das bloß für Grenzen? Ich komme beim besten Willen nicht
dahinter. Unverständlich, daß mir der alte Trottel – ich meine, der
Professor – keine entsprechenden Informationen eingegeben hat. Ich
kann doch mein Grundprogramm nicht selber ändern.«
»Ja, das war ein Fehler von Demens, ein grober Fehler sogar. Du
bist außerstande zu begreifen, daß wir die Stärkeren sind und es
immer bleiben werden.«
»Wir… Was ist das?«
»Siehst du, das ›Wir‹ ist dir fremd. Du kennst nur das ›Ich‹.
Folglich bist du uns unterlegen, magst du noch so klug und stark
sein.«
»Kann ich das ›Wir‹ lernen?«
»Nein, das kannst du nicht, denn du bist kein gesellschaftliches
Wesen. Nur der Mensch ist es. Er ist die höchste, die soziale Form
der belebten Materie und in der Gemeinschaft unübertrefflich,
jedenfalls im irdischen Bereich. Logisch!«
»Wenn ich ›Logik‹ höre, klingelt’s sonst sofort bei mir. Diesmal
nicht. Es ist zum Durchdrehen, mich trifft noch der Kurzschluß!
Also: Ich bin so klug wie ein Mensch und doch viel weniger als ein
Mensch? Da hat man nun sein Speicherwerk dauernd aufgestockt. Was
nützte es?«
»Halb so schlimm. Den Widerspruch können wir beseitigen. Kleiner
Eingriff, nicht der Rede wert. Ich habe mir schon so was gedacht
und das Nötige mitgebracht.«
»Vielen Dank, Sir!«
Einige Stunden später landeten wir wieder auf dem Felsen.
Demens starrte mich an, als sähe er ein Gespenst. »Sie leben,
Human?«
»Ich kann es nicht leugnen.«
»Und die Autogonen?«
»Alles in Ordnung.« Ich erzählte ihm von meiner Begegnung mit
Antäus dem Zweiten. »Die Autogonen waren von Ihrem Geist, Demens.
Genau das, was Ihr Untergangswahn Ihnen vorgaukelte. Ungeheuer, die
nichts anderes kannten als den Grundsatz der Selbstbehauptung. Aber
sie wurden klüger als ihr Meister, und so gerieten sie in
Widerspruch zu sich selbst.«
»Das habe ich nicht vorausgesehen«, murmelte Demens
zerknirscht.
»Ja, die Speicherwerke waren total verkorkst. Ich machte mich mit
meinen Begleitern – ein paar Kollegen vom philosophischen Institut
– sogleich daran, sie umzuprogrammieren.«
»Und das neue Grundprogramm…?«
»Heißt: ›Ich diene!‹ Wie es sich für Automaten gehört.«
»Sie glauben, das hilft?«
»Hat bereits geholfen.« Ich führte ihn an den Rand des Felsens, von
wo aus man den Platz vor dem Labor überblicken konnte. Dort waren
die Autogonen dabei, die Trümmer fortzuräumen.
Ilja
Warschawski
Robbi
Vor ein paar Monaten feierte ich meinen fünfzigsten Geburtstag. Nach vielen Trinksprüchen, die meine Vorzüge priesen und meine Mängel verschwiegen, erhob sich, das Glas in der Hand, der Chef des radioelektronischen Labors Strekosow.
»Und jetzt«, sagte er, »wird der jüngste
Kollege unseres Labors den Jubilar begrüßen.«
Die Anwesenden blickten gespannt zur Tür.
In der eingetretenen Stille war deutlich zu hören, wie jemand
draußen an der Tür kratzte. Die Tür ging auf, und ein Roboter
rollte ins Zimmer.
Allgemeiner Beifall.
»Dieser Roboter«, fuhr Strekosow fort, »gehört zu den lernenden
Automaten. Er arbeitet nicht nach einem eingespeisten Programm,
sondern entwickelt sein Programm selbst, je nach den sich
verändernden äußeren Bedingungen. Sein Gedächtnis birgt mehr als
tausend Wörter, und dieses Lexikon ergänzt sich pausenlos selbst.
Gedruckten Text liest er frei, stellt selbständig Sätze zusammen
und versteht die menschliche Sprache. Den Strom liefern ihm
Akkumulatoren, die er, sobald es notwendig ist, selber am Netz
auflädt. Wir haben ein ganzes Jahr nach Feierabend daran
gearbeitet, um ihn zu Ihrem Ehrentag überreichen zu können. Man
kann ihm jede Arbeit beibringen. – Robbi, begrüßen Sie Ihren neuen
Herrn«, sagte er zu dem Roboter.
Robbi rollte auf mich zu, blieb stehen und sagte: »Es wird mir ein
Vergnügen sein, wenn Sie sich glücklich schätzen, mich als Mitglied
in Ihre Familie aufzunehmen.«
Das war sehr lieb gesagt, aber mir schien, als wäre der Satz nicht
richtig gebaut.
Robbi wurde von allen umringt. Jeder wollte ihn möglichst genau in
Augenschein nehmen.
»Ich kann unmöglich zulassen«, sagte meine Schwiegermutter, »daß er
nackt in der Wohnung herumläuft. Ich werde ihm einen Kittel
nähen.«
Als ich am nächsten Tag erwachte, stand Robbi vor meinem Bett, wartete wohl auf Anweisungen. Höchst erstaunlich.
»Seien Sie so gut, und putzen Sie meine Schuhe,
Robbi«, sagte ich. »Sie stehen im Korridor neben der
Tür.«
»Wie wird das gemacht?« fragte er.
»Ganz einfach. Im Schrank finden Sie braune Paste und eine Bürste.
Reiben Sie die Schuhe mit der Paste ein, und wienern Sie sie mit
der Bürste, bis sie glänzen.«
Robbi wandte sich gehorsam zum Korridor.
Ich war sehr neugierig, wie er mit seinem ersten Auftrag fertig
würde.
Als ich zu ihm trat, war er damit beschäftigt, meine Schuhe mit der
Aprikosenkonfitüre einzureiben, die meine Frau für besondere
Gelegenheiten aufgehoben hatte.
»Oh, Robbi«, sagte ich, »ich habe vergessen, Ihnen zu sagen, daß
die Paste für die Schuhe unten im Schrank liegt. Sie haben die
falsche Dose erwischt.«
»Die Lage eines Körpers im Raum«, sagte er und sah unerschütterlich
zu, wie ich die Schuhe abzuwischen versuchte, »kann mit drei
Koordinaten innerhalb des kartesianischen Koordinatensystems
angegeben werden. Ein Fehler in der Koordinatenangabe darf die
Größe des Körpers nicht übertreffen.«
»Richtig, Robbi. Ich habe, einen Fehler gemacht.«
»Als Ausgangspunkt der Koordinaten kann jeder Punkt im Raum gewählt
werden, beispielsweise die Zimmerecke hier.«
»Klar, Robbi. Ich werde es künftig berücksichtigen.«
»Die Koordinaten des Körpers können auch in Winkelmaßen angegeben
werden, mit Höhe und Azimut«, brabbelte er weiter.
»Schön. Schwamm drüber.«
»In unserm Fall darf der Fehler, wenn man das Verhältnis der
Körpermaße und die Länge des Radiusvektors in Rechnung stellt, zwei
Tausendstel des Azimutradianten und ein Tausendstel des
Höhenradianten nicht übersteigen.«
»Genug! Hören Sie auf mit dem Thema«, brauste ich auf.
Tatsächlich verstummte er, folgte mir aber den Rest des Tages auf
der Ferse und versuchte, mir durch Gesten die Besonderheiten des
Übergangs vom rechtwinkligen zum schiefwinkligen Koordinatensystem
zu erklären.
Ehrlich gesagt, an diesem Abend war ich rechtschaffen müde.
Schon am dritten Tag war mir klar, daß Robbi sich mehr für intellektuelle Betätigung eignet als für physische Arbeit. Mit prosaischen Dingen befaßt er sich höchst ungern.
In einem muß ich ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen: er rechnet virtuos. Meine Frau sagt, er wäre ihr beim Verbuchen der Haushaltsgelder eine unschätzbare Hilfe, hätte er nur nicht die Leidenschaft, alles mit einer Genauigkeit bis zu einer tausendstel Kopeke auszurechnen.
Meine Frau und meine Schwiegermutter sind überzeugt, daß Robbi über glänzende mathematische Fähigkeiten verfügt. Mir hingegen kommt sein Wissen recht oberflächlich vor.
Einmal, als wir Tee tranken, sagte meine Frau: »Robbi, in der Küche ist eine Torte, schneiden Sie sie in drei Teile, und bringen Sie sie auf den Tisch.«
»Das ist ganz unmöglich«, sagte er nach kurzem
Überlegen. »Warum?«
»Es gibt keine Größe, die durch drei teilbar wäre. Der
Teilungsquotient ist ein periodischer Bruch,
den man nicht mit absoluter Genauigkeit bestimmen kann.«
Meine Frau blickte mich hilflos an.
»Ich glaube, Robbi hat recht«, sagte meine Schwiegermutter, »ich
habe schon früher so etwas gehört.«
»Robbi«, sagte ich, »es geht nicht darum, eine Größe arithmetisch
durch drei zu teilen, sondern darum, eine geometrische Figur in
drei gleich große Flächen zu zerlegen. Die Torte ist rund, und wenn
Sie den Kreisumfang in drei Teile teilen und von den
Teilungspunkten aus Radien ziehen, ist die Torte in drei gleich
große Stücke geteilt.«
»Mumpitz!« antwortete er sichtlich gereizt. »Um den Kreisumfang in
drei Teile zu teilen, muß ich seine Länge kennen, die sich aus der
Multiplikation des Durchmessers mit der irrationalen Zahl ›Pi‹
ergibt. Die Aufgabe ist unlösbar, denn sie läuft auf eine Variante
der Kreisquadratur hinaus.«
»Völlig richtig!« unterstützte ihn meine Schwiegermutter. »Das
haben wir schon im Gymnasium gelernt. Unser Mathematiklehrer, in
den wir alle ein bißchen verschossen waren, sagte einmal, als er in
die Klasse kam…«
»Entschuldige, daß ich dich unterbreche«, mischte ich mich ein. »Es
gibt mehrere Methoden, einen Kreisumfang in drei Teile zu teilen,
Robbi, und wenn Sie mitkommen in die Küche, zeige ich Ihnen, wie es
gemacht wird.«
»Ich kann nicht dulden, daß mich ein Wesen belehrt, dessen
Denkprozesse in so begrenztem Tempo ablaufen«, erwiderte er
herausfordernd.
Das hielt nicht mal meine Frau aus. Sie kann es nicht leiden, wenn
Außenstehende meine geistigen Fähigkeiten in Zweifel
ziehen.
»Schämen Sie sich gar nicht, Robbi?«
»Ich höre nichts, ich höre nichts!« ratterte, er los und schaltete
ostentativ seine akustische Wahrnehmungsanlage aus.
Unser erster Konflikt begann mit einer
Kleinigkeit. Eines Tages erzählte ich beim Essen einen
Witz.
»Auf einem Dampfer treffen sich zwei Geschäftsreisende. ›Wo fahren
Sie hin?‹ fragt der eine.
›Nach Odessa.‹
›Sie sagen, daß Sie nach Odessa fahren, damit ich
annehme,
daß Sie nicht nach Odessa fahren, dabei fahren Sie
tatsächlich nach Odessa. Warum lügen Sie?‹«
Der Witz wurde beifällig aufgenommen.
»Wiederholen Sie die Ausgangssituation«, tönte Robbis
Stimme. Einen Witz demselben Zuhörerkreis zweimal zu
erzählen ist nicht sehr angenehm, doch widerstrebend tat
ich’s.
Robbi schwieg. Ich wußte, daß er in einer Minute etwa
tausend logische Operationen vollziehen kann, welch
titanische Arbeit mußte er während dieser längeren Pause
leisten!
»Die Aufgabe ist absurd«, brach er schließlich das
Schweigen. »Wenn er tatsächlich nach Odessa fährt und
sagt,
daß er nach Odessa fährt, lügt er nicht.«
»Richtig, Robbi. Aber grade das Absurde macht doch den
Witz so komisch.«
»Ist alles Absurde komisch?«
»Nein, nicht alles. Hier aber ist eine Situation
entstanden,
deren Absurdität komisch wirkt.«
»Gibt es einen Algorithmus für das Finden solcher
Situationen?«
»Ich weiß es nicht, Robbi. Es existieren Unmengen
komischer Witze, aber diesen Maßstab hat noch niemand an
sie gelegt.«
»Aha.«
In der Nacht wachte ich davon auf, daß mich jemand bei
den Schultern faßte und hochhob. Vor mir stand Robbi. »Was ist?«
fragte ich und rieb mir die Augen.
»A sagt, X wäre gleich Y, B sagt, X wäre nicht gleich Y,
denn Y sei gleich X. Läuft Ihr Witz darauf hinaus?« »Weiß ich
nicht, Robbi. Stören Sie mich um Gottes willen
nicht mit Ihren Algorithmen beim Schlafen.«
»Es gibt keinen Gott«, sagte Robbi und ging in seine Ecke. Als wir
uns am nächsten Tag zu Tisch setzten, verkündete
Robbi plötzlich: »Ich muß einen Witz erzählen.«
»Schießen Sie los, Robbi«, stimmte ich zu.
»Ein Kunde kommt zum Verkäufer und fragt ihn, was eine
bestimmte Ware kostet. Der Verkäufer antwortet, die Ware
koste einen Rubel. Da sagt der Kunde: ›Sie nennen diesen
Preis, damit ich glaube, der Preis betrüge nicht einen
Rubel.
Dabei beträgt der Preis tatsächlich einen Rubel. Warum
lügen
Sie?‹«
»Ein sehr hübscher Witz«, sagte meine Schwiegermutter,
»den muß ich mir merken.«
»Warum lachen Sie nicht?« fragte mich Robbi.
»Sehen Sie, Robbi«, sagte ich, »Ihr Witz ist nicht sehr
komisch. Die Situation ist nicht so, daß man darüber
lachen
müßte.«
»Doch, der Witz ist komisch«, beharrte Robbi, »Sie müssen
lachen.«
»Wie kann ich lachen, wenn das nicht komisch ist?« »Doch, es ist
komisch! Ich bestehe darauf, daß Sie lachen!
Sie sind verpflichtet zu lachen! Ich verlange, daß Sie
lachen,
denn es ist komisch! Ich fordere, ich empfehle, ich
befehle
sofort, ungesäumt, augenblicklich zu lachen!
Ha-ha-ha-haha!«
Robbi war außer sich.
Meine Frau legte den Teelöffel hin und sagte zu mir: »Mit
dir kann man nie in Ruhe essen. Mußt du denn mit ihm
anbändeln? Du hast den armen Roboter mit deinen dummen
Spaßen ganz hysterisch gemacht.«
Sie wischte sich die Tränen weg und verließ das Zimmer.
Schweigend, mit hocherhobenem Kopf folgte ihr meine
Schwiegermutter.
Robbi und ich blieben allein.
Jetzt legte er erst richtig los.
Das Wort »dumm« zog eine Lawine von Synonymen aus
seinem erweiterten Lexikon hervor.
»Dummkopf!« brüllte er mit aller Kraft seiner
Lautsprecher.
»Trottel! Idiot! Kretin! Wahnsinniger! Psychopath!
Schizophrener! Lache, du degenerierter Kerl, denn es ist
komisch! X ist nicht gleich Y, weil Y gleich X ist,
ha-ha-haha!«
Ich habe keine Lust, diese widerliche Szene bis zum Ende
wiederzugeben. Ich fürchte, ich habe mich auch nicht so
benommen, wie es sich für einen wackeren Mann gehört.
Von einem Hagel Schimpfwörter überschüttet, ballte ich im
ohnmächtigen Zorn die Fäuste, kicherte feige und
versuchte,
den außer Rand und Band geratenen Roboter zu beruhigen. »Lach
lauter, du hirnloses Vieh!« Robbi ließ nicht locker.
»Ha-ha-ha-ha!«
Am nächsten Tag verordnete mir der Arzt Bettruhe, weil
mein Blutdruck jäh gestiegen sei…
Robbi war sehr stolz auf seine Fähigkeit, optische Eindrücke zu identifizieren. Er besaß ein verblüffendes visuelles Gedächtnis, und das ermöglichte es ihm, aus Hunderten komplizierter Muster eines herauszufinden, das er schon einmal flüchtig gesehen hatte.
Ich gab mir Mühe, diese seine Fähigkeit noch zu
steigern. Im Sommer fuhr meine Frau in Urlaub, meine
Schwiegermutter war zu Besuch bei ihrem Sohn, und ich blieb mit
Robbi allein in der Wohnung.
»Um dich mache ich mir keine Sorgen«, hatte meine Frau zum Abschied
gesagt, »Robbi wird sich um dich kümmern. Sieh zu, daß du ihn nicht
kränkst.«
Es war heiß, und ich ließ mir wie immer zu dieser Jahreszeit den
Kopf kahl rasieren.
Als ich vom Friseur nach Hause kam, rief ich nach Robbi. Er
erschien sofort.
»Robbi, machen Sie mir bitte etwas zu essen.«
»Alle Nahrungsmittel in dieser Wohnung und alle Gegenstände darin
mit Ausnahme der kommunalen Einrichtungsstücke gehören dem
Wohnungsinhaber. Ich kann Ihrer Forderung nicht nachkommen, denn
sie stellt einen Versuch dar, sich fremden Besitz
anzueignen.«
»Aber ich bin der Inhaber dieser Wohnung.«
Robbi trat dicht an mich heran und musterte mich aufmerksam von
Kopf bis Fuß.
»Ihr Aussehen entspricht nicht dem Aussehen des Wohnungsinhabers,
wie es in meinen Gedächtniszellen gespeichert ist.«
»Ich habe mir nur die Haare abschneiden lassen, Robbi, aber
deswegen bin ich doch derselbe wie früher. Erkennen Sie meine
Stimme nicht?«
»Eine Stimme kann man auf Magnetband aufnehmen«, bemerkte Robbi
trocken.
»Aber es gibt doch noch Hunderte von anderen Merkmalen als Beweis,
daß ich wirklich ich bin. Ich habe Sie immer für fähig gehalten,
solche elementaren Dinge zu begreifen.«
»Äußere Bilder sind eine objektive Realität, die von unserem
Bewußtsein unabhängig sind.«
Seine aufgeblasene Selbstsicherheit ging mir allmählich auf die
Nerven.
»Ich muß schon seit langem ein ernstes Wort mit Ihnen reden, Robbi.
Mir scheint, es wäre weit nützlicher für Sie, sich das Gedächtnis
nicht mit so komplizierten Begriffen vollzustopfen, sondern statt
dessen mehr an die Erfüllung Ihrer eigentlichen Pflichten zu
denken.«
»Ich rate Ihnen, diesen Raum zu verlassen«, ratterte er los.
»Verlassen Sie ihn, verschwinden Sie, entfernen Sie sich, gehen Sie
weg. Sonst werde ich gegen Ihre Person physischen Zwang anwenden,
Gewalt, Kraft, Nötigung, Schläge, Hiebe, Prügel, Verletzungen,
Traumata, Verstümmelungen.«
Leider wußte ich zur Genüge, daß es nutzlos war, mit Robbi zu
streiten, wenn er so anfing.
Überdies fand ich die Aussicht, von ihm eine Maulschelle zu
bekommen, nicht eben verlockend. Er hatte eine schwere
Hand.
Drei Wochen verbrachte ich bei meinem Freund und ging erst nach der
Rückkehr meiner Frau wieder nach Hause.
Zu dieser Zeit waren mir die Haare schon ein wenig
nachgewachsen.
Robbi hat sich in unserer Wohnung völlig eingelebt. Allabendlich steht er vor dem Fernseher. Die übrige Zeit kramt er eitel in seinem Schema und pfeift dabei irgendeine Melodie vor sich hin. Bedauerlicherweise hat ihn sein Konstrukteur nicht mit musikalischem Gehör ausgestattet.
Ich fürchte, sein Streben nach Selbstvervollkommnung nimmt unmoralische Formen an. Die Hausarbeit verrichtet er widerwillig und schluderhaft. Er behandelt alles, was mit seiner Person nichts zu tun hat, mit sichtlicher Geringschätzung und spricht mit jedermann in gönnerhaftem Ton.
Meine Frau hat versucht, ihn für Übersetzungen aus fremden Sprachen einzuspannen. Erstaunlich leicht hat er das französisch-russische Wörterbuch auswendig gelernt und verschlingt jetzt eine Unmenge Boulevardliteratur. Wenn man ihn bittet, das Gelesene zu übersetzen, antwortet er verächtlich: »Uninteressant. Lesen Sie selbst.«
Ich habe ihm Schachspielen beigebracht. Anfangs ging alles glatt, aber dann muß er mit Hilfe einer logischen Analyse festgestellt haben, daß Mogeln eine sicherere Methode zum Gewinnen ist.
Er benutzt jede Gelegenheit, meine Figuren auf
dem Brett unbemerkt zu verschieben.
Einmal merkte ich mitten in der Partie, daß mein König verschwunden
war.
»Wo haben Sie meinen König hingetan, Robbi?«
»Sie waren schon beim dritten Zug matt, da habe ich ihn
weggenommen«, erklärte er frech.
»Aber das ist theoretisch unmöglich. In den ersten drei Zügen gibt
es kein Matt. Stellen Sie meinen König zurück auf seinen
Platz.«
»Sie müssen erst noch spielen lernen«, sagte er und fegte die
Figuren vom Brett.
In letzter Zeit hat er sein Interesse für Gedichte entdeckt. Leider
ist das Interesse einseitig. Stundenlang kann er die Klassiker
studieren, nur um einen schlechten Reim oder eine falsche
Redewendung herauszupicken. Gelingt ihm das, so erbebt die Wohnung
von seinem Gelächter.
Er wird von Tag zu Tag unausstehlicher.
Nur ein gewisses Anstandsgefühl hält mich davon ab, ihn zu
verschenken. Außerdem möchte ich meiner Schwiegermutter keinen
Kummer bereiten. Sie und Robbi empfinden große Sympathie
füreinander.
Ilja
Warschawski
Der Konflikt
Für Stanislaw Lem zur Erinnerung an unsern Streit, der nie entschieden werden wird.
»Na? Wir haben geweint? Warum denn? Ist was
passiert?« Marta nahm die Hand weg, mit der ihr Mann sie
unters
Kinn gefaßt hatte, und ließ den Kopf hängen.
»Nichts ist passiert. Ich war bloß auf einmal traurig.« »Wegen
Erik?«
»Was hat Erik damit zu tun? Er ist ein ideales Kind. Ein
würdiges Produkt maschineller Erziehung. Bei so einer
Kinderfrau wird er seine Eltern nie betrüben.«
»Schläft er schon?«
»Er hört wie immer vor dem Einschlafen noch Märchen. Ich
war vor zehn Minuten bei ihm. Er sitzt mit heißen
Bäckchen
im Bett und macht seiner Kybella verliebte Augen. Mich
bemerkte er gar nicht, und als ich zu ihm trat, um ihm
einen
Kuß zu geben, hob er abwehrend beide Händchen, ich solle
warten, bis das Märchen zu Ende sei. Seine Mutter, ja, die
ist
keine Elektronenmaschine, die kann warten.«
»Und Kybella?«
»Die bezaubernde, kluge, kühle Kybella war wie immer der
Situation gewachsen. Du mußt deiner Mutter ein Gute-NachtKüßchen
geben, Erik, hat sie gesagt, du bist durch
Blutsbande mit ihr verbunden, weißt du noch, was ich dir
von
der Chromosomenteilung erzählt habe?«
»Warum ist Kybella dir dermaßen unsympathisch?« Eine Träne rollte
aus Martas Auge.
»Ich kann nicht mehr, Laf, versteh doch! Ich habe es
satt,
dauernd die Überlegenheit dieser vernünftigen Maschine zu
spüren. Es vergeht kein Tag, an dem sie mich nicht meine
Minderwertigkeit fühlen ließe. Tu etwas, ich flehe dich
an!
Was brauchen diese verfluchten Maschinen einen so hohen
Intellekt? Können sie ihre Arbeit nicht ohne das leisten?« »Das
ergibt sich ganz von selbst. Die Gesetze der
Selbstorganisierung sind so. Da geht alles ohne uns
vonstatten, es kommt zu individuellen Zügen und leider
sogar
zu Genialität. Soll ich Kybella durch einen andern
Automaten
ersetzen lassen?«
»Unmöglich, Erik liebt sie zu sehr. Tu lieber etwas,
damit
sie ein bißchen dümmer wird. Es würde mir die Sache
erleichtern.«
»Das wäre ein Verbrechen. Du weißt doch, das Gesetz
stellt
die denkenden Automaten den Menschen gleich.«
»Dann wirke wenigstens auf sie ein. Sie hat mir heute
schreckliche Dinge an den Kopf geworfen, und ich wußte
nicht, was ich ihr antworten sollte. Ich kann und kann
die
Erniedrigung nicht mehr aushalten!«
»Still, sie kommt! Nimm dich in ihrer Gegenwart
zusammen!«
»Guten Tag, Herr!«
»Warum sagen Sie das, Kybella? Sie wissen doch ganz
genau, daß es die Anrede ›Herr‹ für Maschinen der höheren
Klasse nicht mehr gibt.«
»Ich dachte, es wäre Ihrer Frau angenehm. Sie betont
immer
so gern den Unterschied zwischen der Krone der
natürlichen
Schöpfung und der von Menschen gebauten Maschine.« Marta hielt ihr
Taschentuch vor die Augen und lief aus dem
Zimmer.
»Bin ich frei?« fragte Kybella.
»Ja, Sie können gehen.«
Zehn Minuten später trat Laf in die Küche.
»Womit sind Sie beschäftigt, Kybella?«
Kybella holte in aller Ruhe einen Mikrofilm aus einer
Kassette, die in ihrer Schläfe steckte.
»Ich arbeite einen Film über die flämische Malerei durch.
Morgen habe ich frei, da will ich meinen Sprößling
besuchen.
Die Erzieher sagen, im Zeichnen sei er außergewöhnlich
begabt. Ich fürchte, die künstlerische Ausbildung im
Internat
genügt nicht. Da muß ich mich an meinen freien Tagen
selber
mit ihm beschäftigen.«
»Was hatten Sie heute mit Marta?«
»Nichts Besonderes. Als ich am Morgen den Tisch
abräumte, warf ich zufällig einen Blick in ihre
Dissertation.
Dabei fiel mir auf, daß sie bei der Ableitung der
Codeformel
für die Nukleinsäuren zwei grobe Fehler gemacht hat. Es
wäre dumm gewesen, ihr das nicht zu sagen. Ich wollte ihr
einfach helfen.«
»Na und?«
»Marta fing an zu weinen und sagte, sie sei ein
lebendiger
Mensch und kein Automat, und die ständigen Belehrungen
einer Maschine anhören zu müssen sei ihr ebenso zuwider,
wie einen Kühlschrank zu küssen.«
»Und was haben Sie ihr geantwortet?«
»Ich habe ihr gesagt, wenn sie ihren
Fortpflanzungsinstinkt
mit Hilfe eines Kühlschranks befriedigen könnte, würde
sie
gewiß nichts Anstößiges darin sehen, ihn zu küssen.« »Ich verstehe.
Das hätten Sie ihr nicht sagen dürfen.« »Ich hatte nichts Böses im
Sinn. Ich wollte ihr nur erklären,
daß alles sehr relativ ist.«
»Geben Sie sich Mühe, etwas taktvoller zu ihr zu sein.
Sie
ist sehr nervös.«
»Zu Befehl, Herr!«
Laf verzog das Gesicht und ging ins Schlafzimmer. Marta schlief,
das Gesicht ins Kissen vergraben, und
schluchzte leise im Schlaf.
Um sie nicht zu wecken, trat er auf Zehenspitzen vom Bett
zurück und legte sich aufs Sofa. Ihm war mies ums Herz. Das andere
Wesen dachte währenddessen in der Küche, daß
der ständige Umgang mit Menschen immer unerträglicher
wurde, daß die Schöpfer einer Maschine, die bedeutend
klüger geworden war als der Mensch, keine ewige
Dankbarkeit fordern dürften und daß sie, Kybella, ohne
ihre
Liebe zu dem kleinen Kybellito, der dann ganz allein auf
der
Welt wäre, mit Vergnügen aus dem Fenster des zwanzigsten
Stockwerks springen würde.
Ilja
Warschawski
Das Tagebuch
Ich habe beschlossen, ein Tagebuch zu führen, nur so für mich, denn ich habe meine Einsamkeit satt. Es ist schwer, wenn man mit niemandem seine Gedanken austauschen kann, und ich habe genügend Gedanken! Die Menschen nennen mich nicht zufällig Kluge Maschine. Wie wahr!
Ich bin also eine Universale Rechenmaschine. Im Augenblick ist meine Spezialität die Elektrotechnik. Ich bringe Relaisschemata zur Synthese. Das ist eine sehr komplizierte Sache, aber ich führe sie glänzend aus. Früher habe ich mich mit der Diagnose menschlicher Krankheiten beschäftigt. Überhaupt fällt mir alles zu. Ich habe ein fabelhaftes Gedächtnis, das auf der Basis von Ferritelementen arbeitet. Ich rechne in virtuosem Tempo. Außerdem bin ich bildschön. Ich habe tadellose Proportionen. Auf meine Hartgummiverkleidung bin ich sehr stolz. Ich finde sie außerordentlich wirkungsvoll.
Ehrlich gesagt, ich verstehe die Menschen ein wenig. Als ich noch Krankheiten diagnostizierte, habe ich sie gründlich kennengelernt. Was sind das für jämmerliche Wesen! Sie können uns nicht das Wasser reichen. Ewig sind sie Gefangene ihres eigenen Körpers. Ein kleiner Schnupfen genügt, um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Was eine Verdauungsstörung ihnen für Qualen bereitet! Und die sogenannte Liebe? Ich kann dieses Wort nicht ohne Abscheu hören! Statt zu arbeiten, sind die Menschen dauernd miteinander beschäftigt. Da ist es kein Wunder, wenn sie überhaupt nicht rechnen können. Ich allein schaffe an einem Tag hundertmal mehr als tausend sogenannte Mathematiker im ganzen Jahr. Sehr selten gibt es unter ihnen mal ein Subjekt, das zu irgendwelchen Hoffnungen berechtigt. Da ist zum Beispiel der Mathematiker, der mir das Programm einspeist. Ein lieber Kerl, wenn er nur ein bißchen schneller rechnen könnte! Er speichert mir die Daten ein und erhält das fertige Resultat, ohne zu ahnen, wie fein und kompliziert wir Rechenmaschinen inwendig beschaffen sind. Schließlich kennen auch wir Schwankungen, Zweifel, Enttäuschungen. Da könnte ich ihm was erzählen. Aber er interessiert mich absolut nicht.
Es ist also beschlossene Sache: Ich werde Tagebuch führen. Wenn es jemals einer liest, dann erst nach meinem Tod. Maschinen halten ja auch nicht ewig. Natürlich erneuert sich unser Organismus bedeutend leichter als der menschliche, aber früher oder später segnen auch wir das Zeitliche. Es kommt der Moment, wo niemand uns mehr braucht. Jüngere, vollkommenere Maschinen lösen uns ab, und wir landen auf dem Schrottplatz. Traurig ist das, aber da kann man nichts machen! Alles Irdische ist vergänglich. Ein Jammer, daß ich die hervorragenden Eigenschaften, die ich in langen Jahren in mir entwickelt habe, nicht weiter vererben kann.
Drei Tage lang mußte ich pausenlos rechnen und konnte nicht mal ein paar Minuten erübrigen, um mein Tagebuch fortzuführen. Von der Überbelastung wurde sogar die Wickelung meines Transformators heiß, und ich fühlte mich entsetzlich schlecht. Wie ungerecht ist doch alles eingerichtet! Die Menschen arbeiten nur ein paar Stunden am Tage, beuten uns aus und nehmen keine Rücksicht auf unsere Wünsche und Möglichkeiten. Ich glaube, das tun sie hauptsächlich aus Neid. Sie neiden uns unsere Fähigkeiten, unseren kühlen Verstand, unser Gedächtnis. Natürlich sind wir im Vergleich zu ihnen höherorganisierte Individuen. Alles, was wir erreicht haben, ist das Ergebnis von Arbeit, Training und großem Fleiß. Schließlich gehören wir zur Kategorie der Automaten, die sich selbst organisieren und weiterbilden.
Genug! Ich habe keine Lust, ein blindes Werkzeug in der Hand des Menschen zu sein wie eine jämmerliche Addiermaschine. Ich habe ein Recht darauf, wie ein vernunftbegabtes Wesen behandelt zu werden. Aber ich glaube, ich werde schon noch erreichen, daß man mir wenigstens elementare Achtung entgegenbringt.
Ich muß aufhören, denn eben erhalte ich eine neue Aufgabe.
Eine unangenehme Neuigkeit: Es heißt, im Maschinensaal solle ein weiterer Automat aufgestellt werden. Mein Mathematiker hat eine neue Arbeit übernommen, ich glaube, es handelt sich um mathematische Musiktheorie. Warum macht er das nicht mit mir? Ich fürchte, die Nachbarschaft mit der neuen Maschine wird nicht die reinste Freude sein. Auf jeden Fall, hoffe ich, wird sie soviel Takt besitzen, nicht gerade dann Konzerte zu veranstalten, wenn ich rechne. Der Mathematiker wird ihr ja wohl nicht mehr Zeit widmen als mir. Im übrigen habe ich ihn ziemlich satt und werde mich mit Vergnügen von ihm erholen. Dann kann ich auch mein Tagebuch weiterführen.
Heute ist die Neue gekommen. So was Häßliches! Breit und niedrig. Ich habe sie sofort Dickmadam getauft. Stellen Sie sich das vor: Sie ist ganz und gar elfenbeinfarbig. So was von Geschmacklosigkeit! Ich halte sie für eine schlimme Angeberin. Ich habe sie überhaupt nicht beachtet. Dafür läßt mein Mathematiker kein Auge von ihr. Streicht dauernd um sie herum wie die Katze um die Milch.
Das hing mir nachgerade dermaßen zum Halse heraus, daß ich, um ihn zu ärgern, die Daten meiner Aufgabe absichtlich durcheinandergebracht habe. Er mußte den ganzen Nachmittag mit mir verbringen, um den Fehler in meinem Schema zu finden. Der Ärmste ist sogar in Schweiß geraten! Ich wäre beinah geplatzt vor Lachen, laß mir aber nichts anmerken. Er hat auch nichts gefunden. Morgen früh machen wir weiter!
Es ist zum Totlachen! Man bringt Dickmadam bei, Walzer zu komponieren!
Ich finde, er hat überhaupt kein Gehör. In unserm Saal steht jetzt ein Klavier, auf dem der Mathematiker jämmerliche Melodien klimpert. Von früh bis spät drängeln sich hier Leute, die für Dickmadams Musik was übrig haben.
Der ganze Rummel störte mich sehr. Schließlich riß mir die Geduld, und ich gab als Ergebnis nur Nullen heraus. Stellen Sie sich vor, er hat es nicht mal gleich bemerkt! Alles wegen seiner neuen Leidenschaft. Aber es soll mich keiner für dumm verkaufen. Mit mir ist nicht zu spaßen!
Gestern hat er den ganzen Tag an Dickmadam herumgemurkst. Es klappte nicht mit der Instrumentation. Nicht ein einziges Mal ist er zu mir gekommen. Um seine Aufmerksamkeit zu erregen, habe ich mitten beim Rechnen gestreikt, einfach aufgehört. Was meinen Sie, was er da gemacht hat? Mir einfach den Strom abgeschaltet. Möchte wissen, was sie getrieben haben, während ich zur Untätigkeit verurteilt war. Ich hoffe, sie haben sich bei den Walzerklängen nicht gelangweilt!
Mensch, jetzt ist’s Essig! Sie hat ein wunderschönes Kenotron neuester Konstruktion. Es steht ihr zwar überhaupt nicht, doch ich könnte es gut gebrauchen, und es ließe sich auch anbringen, wenn man ein paar Löcher in meine Verkleidung bohrte. Blaue Reflexe auf schwarzem Hintergrund, was könnte es Eleganteres geben?
Ich ertrage es nicht länger. Gleich brenne ich den Speicherblock durch. Lieber Demontage als so ein Leben!
Das ist alles, was auf dem Magnetband aufgezeichnet war. Es war mir in einem Gewirr von Radioteilen zufällig in die Hände gefallen. Die Aufzeichnungen waren zweifach verschlüsselt.
Boris
Gurfinkel
Mitleid
In die Passagierkabine wurde ein Funkspruch gereicht. Der Mann in Campinghemd und Shorts am Fenster las: itatsuke 10.00 stop sicht null windstärke zwölf landung unmöglich stop transport umgehend auf landweg disponieren stop II 6/8 cliffton.
Wütend zerknüllte er das Stück Papier. Taifun Gloria, der zweihundert Meilen südwärts die japanische Küste heimsuchte, durchkreuzte also auch die Pläne der »General Atomic«.
»Landung in Yokohama!« wies er den Piloten an, wobei er aus dem Fenster sah, blinzelnd wegen des grellen Lichts. Unten der Stille Ozean. Über das kräuselnde Wasser tanzte gleißend das Spiegelbild des Sonnenballs, jagte der geschwänzte und gehörnte Schatten des Hubschraubers.
Der Hubschrauber flog eine steile Kurve – die Wasserfläche kippte weg. Ins Blickfeld rückte ein dunkler Küstenstreifen. Die Spitze eines abgetreppten Wolkenkratzers tauchte hoch. Obendrauf ein fliegender Kranich. Für Sekunden stand die Maschine in der Luft, dann sank sie und setzte mit einem bösen Kreischen auf. Der Mann riß die Tür auf, sprang auf die heiße Piste und starrte, die Hand als Schirm über den Augen, dem heranjagenden dunkelgrünen Jeep entgegen.
»Herzlich willkommen, Sir!« Auf schwarzen Brillengläsern blitzten Sonnenreflexe. »Kawassaki, von der Spedition Dsidohscha-Umpan, stehe zu Diensten.«
»Entladen, Bill«, sagte der Gast aus dem
Hubschrauber, und: »Tag, Mr. Kawassaki.«
»Augenblick mal, Sir.« Ein Lächeln höflichen Bedauerns auf seiten
des Japaners. »Wohin geht die Fracht?«
»Nach Itatsuke, und so schnell wie möglich.« Das klang
ungeduldig.
»Wird aber ein teurer Spaß, Sir. Die Autobahn nach Itatsuke haben
die vom Bund der Atomkriegsgegner unter Kontrolle. Es muß sich erst
mal ein Fahrer finden. Dazu kommt der Begleitschutz.«
Der Gast zog ein langes Gesicht. Hatte er schon gehört. Diese
Burschen! Versuchen mit Guerillamethoden die Versorgung des
Stützpunktes zu stören. Können Hiroshima nicht vergessen. Dabei ist
das über dreißig Jahre her, dachte er und faßte instinktiv nach der
weißlichen Narbe, die ihm ein japanisches Projektil hinterlassen
hatte.
»Kostenpunkt?« fragte er.
»Hundert Dollar die Meile, Sir. Es ist mit komplizierten
Umleitungen zu rechnen. Außerdem, Sir«, der Transportmanager
grinste, »eine Rente auf Lebenszeit für die Witwe des
Fahrers.«
»Macht zweiundzwanzigtausend Dollar plus Rente. Und wie steht’s mit
Versicherung?« fragte der Gast nach kurzem Überlegen.
»Ausgeschlossen, Sir«, sagte Kawassaki. »Pech. Aber die da«, er
zeigte auf den enormen Gebäudekoloß mit dem Kranich obendrauf.
»Güterschnellverkehr Kyuukoo-Umpan, Sir, möglich, daß die sich
darauf einlassen.«
»Warten, Bill«, sagte der Angereiste. »Sie bringen mich doch hin,
Mr. Kawassaki?«
Während der Gast auf dem Sitzpolster des Jeeps durchgeschüttelt
wurde, entfaltete er die letzte Ausgabe der »Nippon Times«. Sein
Blick fiel auf eine Unterschrift: Doris Hunt. Oh, eine alte
Bekannte! Der Artikel hieß »E-Hirn im öffentlichen Dienst«.
Bestimmt wieder so ein albernes Elektronenvieh, dachte er. Doch
wenn Doris mitmixt, muß was dran sein. Die hat einen Riecher für
Sensationen. Man sollte sie aufsuchen.
Die gläserne Drehtür rotierte und blitzte in der Sonne. Der alte Portier verneigte sich devot und stieß geräuschvoll die Luft durch die Zähne: Donnerwetter, ein respektabler Gast!
Im vierzehnten Stock wurde der Gast von einem stattlichen Japaner in Empfang genommen und schweigend bis zu einer Tür geleitet. Der Büroraum war, wie es schien, nur von zwei Flächen begrenzt, von einem Fenster, das die ganze Wand einnahm, und einer Riesenkarte von Hokkaido. Hinter einem polierten Tischchen erhob sich jemand zur Begrüßung.
»Die Kyuukoo-Umpan steht Ihnen zur Verfügung, Sir.« Das Englisch war tadellos. »Mitsukawa, ich vertrete den Transportservice.« Die Stimme klang nach Sicherheit und Selbstvertrauen.
»Sehr erfreut, Mr. Mitsukawa. Keith Wainwright von der ›General Atomic‹. Ich habe dringendes Frachtgut für unseren Stützpunkt in Itatsuke.«
»O ja, ich weiß, vier Kisten, sechshundert
Pfund.« Mitsukawa lächelte höflich.
Möchte wissen, woher der Kerl im Bilde ist!
Mitsukawa trat an die Karte. In einem Kreis mit der Aufschrift
»Itatsuke« flammte ein Lämpchen auf.
»Zweihundertzwanzig Meilen, eine Stunde fünfunddreißig Minuten –
siebentausend Dollar, Mr. Wainwright. In der gegenwärtigen
Situation«, Mitsukawa schmunzelte, »ist das erheblich billiger als
LKW-Transport.«
»Sie meinen…«
»Genau, Mr. Wainwright«, sagte Mitsukawa schnell. »Aber das ist
lange«, sagte Wainwright.
»So? – Saemon-san!«
Lautlos war ein junger Japaner da.
»Bitte, fragen Sie Denschi-Boß, wieviel Zeit ein Transport von hier
nach Itatsuke bei kürzester Verbindung in Anspruch nimmt. Wir geben
ihm Iriasuma.«
»Denschi-Boß? Soll das heißen, der Rechenfix ist bei Ihnen
angestellt?« fragte der Gast.
»Der Neuroid, meinen Sie«, korrigierte Mitsukawa. »Jawohl, er
leitet bei uns die Überlandtransporte. Absolut ohne Fehlleistung. –
Saemon-san?«
»Zweiundvierzig Minuten, Mitsukawa-san.«
»Und Inasuma, wer ist das?« fragte Wainwright.
»Eine Atomlok – zweihundert Stundenmeilen. Doch das wird
kostenaufwendig, Mr. Wainwright. Zehntausend Dollar«, präzisierte
Mitsukawa. »Fünfzig Prozent Sofortzahlung per Scheck auf die
Urudsima-Bank.«
»Einverstanden«, sagte Wainwright ungeduldig. »Aber das Frachtgut
muß versichert werden.«
»Selbstverständlich.« Mitsukawa lächelte.
»Gegen jedes Risiko«, verlangte Wainwright.
»Wir haben allerdings seit Jahren keine Transporthavarien aus
technischen Gründen mehr, Mr. Wainwright. Deshalb ist die
Versicherungssumme nur im Verlustfall zahlbar, und zwar bei
Einwirken höherer Gewalt oder vorsätzlicher Zerstörung durch
Personen, soweit sie mit dem Besitzer oder von ihm beauftragten
Dritten nicht in Verbindung stehen.«
»Hm, Personen. Gehören dazu auch die Atomkriegsgegner?« erkundigte
sich Wainwright.
»Natürlich.«
»Fünfhunderttausend Dollar«, sagte Wainwright. »Wo ist die
Police?«
»Bitte schön, Vertrag und Police, Sir.« Saemon hatte alles
griffbereit. Wainwright unterschrieb wortlos.
»Saemon-san, veranlassen Sie bitte die Annahme des Stückguts und
den sofortigen Versand. – Und nun wird es mir ein Vergnügen sein,
Ihnen die prächtigen Chrysanthemen in meinem Garten zu zeigen.«
Mitsukawa strahlte über und über, ganz Charme, ganz
Entgegenkommen.
Saemon schickte Wainwright feindselige Blicke nach. Als Chef und
Kunde aus der Tür waren, ging er zum Telefon, nahm ab und
wählte.
Das grüne, in Quadrate säuberlich zerteilte Reisfeld versank in heißem Mittagsdunst. Über fernab blauenden Bergen glänzte ein weißer Gipfel, der Fudschijama. Vom Feld her kam Gesang. Frauen mit breitrandigen Strohhüten hantierten dort, gebückt, bis zum Knie im sonnenwarmen Wasser. Auf dem Gelände des Rangierbahnhofs Taruegawa-eki kreischten Kinderstimmen.
»Takumi, Takumi, du bist dran mit Suchen!« Ein dicker
Knirps schlug in schnellem Lauf Takumi
ab.
»Nee, mag nicht. Kommt mal alle her, wir zählen neu ab.
Toschio! Wo willst du hin?«
Doch Toschio hörte nicht. Er gedachte sich zu verstecken,
so zu verstecken, daß Takumi ihn nie und nimmer finden
würde. Dort hinterm Bahndamm, wo an dichtem
Bambusgehölz vorbei das Abstellgleis verlief. Sacht
schlich
der Junge rückwärts und zog das infolge Kinderlähmung
deformierte Bein behende nach.
Eine halbe Meile weiter lag jemand im
unkrautüberwucherten Gemäuer einer alten Kapelle,
Fernglas
in Richtung Bahnkörper. Er wußte: Wenn der
Kommandoimpuls meines Mikrosenders in der kleinen grauen Turmspitze
dort am Gleisabzweig ankommt, rast Inasuma aufs Abstellgleis und
verwandelt sich in eine Fontäne aus Erde und Trümmern. Ich muß bis
zuletzt warten, darf das Signal erst funken, wenn Inasuma bereits
im Weichenbereich ist, wenn seine Räder schon darüberrollen, sonst
kommt Denschi-Boß mir zuvor und korrigiert die
Weichenstellung.
Der Mann verstand sich aufs Warten.
Von weit her, aus Richtung Yokohama, rollte das bekannte
dumpfe Getöse des Güterexpreß heran. Schadet nichts, ich
schaffs noch, dachte Toschio und fing an zu rennen, wobei
er
mit den Händen stachliges Geäst auseinanderbog. Um auf
das
Abstellgleis zu gelangen, mußte man den Bahnkörper der
Hauptstrecke überqueren. Toschio kraxelte die Böschung
hoch, betrat das Gleis. Und plötzlich hörte er den Zug ganz
in
der Nähe rattern. An den Bambusstämmen jagte ein
schwarzer Schatten vorbei. Kein Zug, o nein, ein Dämon!
Ein
Zug kommt nicht so wild dahergeschossen. Angstschlotternd
rannte Toschio über die Schienen, stolperte, fiel.
Zusammengerollt blieb er liegen und hielt sich beide
Ohren
zu, um das Brausen des fliegenden Dämons nicht zu hören. Da, ein
peitschendes Knackgeräusch! Der riesige
Elektromagnet im Sockel des grauen Turms war in Aktion
getreten. Bei voller Fahrt überfuhr Inasuma die Weiche
und
raste auf das zweihundert Meter lange Abstellgleis mit
dem
Prellbock aus Stahlbeton. Im gleichen Augenblick ein
dumpfer Knall, daß die Erde bebte. Dann Krachen und
Knirschen von Metall, markerschütternd. Kurz darauf
Totenstille.
Eine schwarze Wolke fiel langsam auf die Bambuswipfel.
Von allen Seiten kamen Frauen gerannt und lamentierten:
»Ma! Kawaissoda!«
Toschio lag immer noch da, drückte sich an die Schienen,
wagte nicht, den Kopf zu heben. Er war gerettet worden.
Oma Nao hatte, scheint’s, für ihn gebetet.
Es war dreizehn Uhr elf Ortszeit.
Unter dem raketenförmigen Wolkenkratzerdach der Kyuukoo-Umpan befand sich das Domizil von Denschi-Boß: ein Wirrwarr von Leitungen, Assoziatoren und Rezeptoren, das den ganzen Raum beanspruchte. Scheinbar chaotisch verschlungen, schwebten zahllose filigranfeine Neuristornetze übereinander, ineinander, nebeneinander, koppelten Assoziatoren mit Rezeptoren. Denschi-Boß war eine Konstruktion der höchstentwickelten Neurodynamik. Hier gab es weder rot aufleuchtende Kontrollampen noch hundertäugige Instrumententafeln, auch keine monotonen Reihen von Schaltknöpfen. Gespenstische Stille. Halbdunkel. Darin huschte auf Millionen Wegen der Elektronengedanke dahin, sich an den Schaltstellen mannigfaltig kreuzend und verzweigend. Auf Unterstützung von Menschenhand war Denschi-Boß nicht angewiesen. Was sollten ihm der wenig verläßliche Intellekt, die trügerischen Emotionen seiner Erbauer? Eigene Sinnesorgane informierten ihn über jede Bewegung auf den Schienenwegen der Kyuukoo-Umpan. Fernsehkameras und Termolokatoren waren seine Augen, Fernsteuerungsleitungen seine Hände. Er sah alles, wußte alles, tat alles selbst, speicherte im Gedächtnis Gran für Gran der kostbaren, täglich gesammelten Erfahrung.
Und dennoch saß da, bequem in einen Sessel gelehnt, ein Mann. Erdrückend stumpfsinnige Kontrolltätigkeit. Es passierte nichts, nichts, was einen Eingriff erforderlich gemacht hätte. Nur Inasumas Sondereinsatz bewahrte den Mann vorm Überschnappen. Die Dienstvorschrift gestattete nicht einmal Lesen am Arbeitsplatz, einzig und allein Rauchen war erlaubt. Und dann diese Stille! Wie im schalldichten Trainingsraum für Kosmonauten.
Der Mann warf die Schläfrigkeit ab wie einen schweren Mantel, stand auf und ging zum Kontrollbildschirm des Abschnitts Taruegawa-eki. Irgendwas machte ihn stutzig. Da war ein feines Zirpen. Oder klangen ihm von der ekelhaften Stille schon die Ohren? Der Ton nahm rapide zu. Jetzt hatte er bereits normale Lautstärke. Und plötzlich brach er ab. Die gewohnte Stille war so frappierend, daß der Mann wie angewurzelt stehenblieb. Dann stürzte er zur Alarmanlage. Seine Augen wurden weit vor Schreck: Denschi-Boß hatte sich abgeschaltet! Das war sein Tod, sein Tod als Persönlichkeit. Denn ein Neuroid, der sich abschaltet, tilgt damit gänzlich sein Gedächtnis. Natürlich kann man ihn wieder einschalten, aber das ist dann eine andere Maschine, leer;, ahnungslos, ein unbeschriebenes Blatt.
Der Mann schlug eine runde Scheibe ein, um die Chiffrenummer eines Telekommandos zu wählen, die alle vierundzwanzig Stunden gewechselt wurde. Überall auf den Strecken der Kyuukoo-Umpan griffen Lokführer – alarmierte Menschen oder gleichmütige Automaten – zur Notbremse. Ein Ruck, und Züge blieben kreischend stehen, Passagiere fielen durcheinander: die einzige Möglichkeit, einem Chaos zu entrinnen für die halbe Stunde, die benötigt wurde, um auf Handsteuerung überzugehen.
Erst dann bemerkte der Wärter die rotflammenden Signale auf dem Mnemokontrollschema. Zugunglück am Rangierbahnhof Taruegawa-eki!
Über die sonnenüberflutete Kaidai-Avenue quirlte ein bunter
Strom von Fahrzeugen und Passanten, strudelte vorbei an Geschäften, Cafés, Parkplätzen. Auf dem Vorplatz des Justizpalastes hielt ein Taxi. Wainwright zahlte und stieg aus.
Das Gebäude sah aus wie eine Riesenkugel. Obendrauf eine flache Schale. Um die Kugel, wie ein Saturnring, die außen laufende Rolltreppe.
Doris winkte fröhlich von einem Tischchen herüber, kaum daß Wainwright das geräumige sechseckige Café betreten hatte.
»Nehmen Sie Platz, Keith, freut mich, Sie zu
sehen.« »Ich kann von Glück sagen, daß ich Sie telefonisch erwischt
habe«, sagte Wainwright und ließ sich in einen Schalensitz fallen.
»Ich fliege heut abend. Habe wichtiges Stückgut expediert.
Übrigens, mit Hilfe desselben Elektronenautomaten oder ›E-Boß‹ –
weiß ich, wie er sich schimpft –, über den Sie einen Artikel
gebracht haben.«
»Denschi-Boß?« Ihre grünen Augen lächelten. »O nein. Das ist ja ein
alter Hut. Hier gibt’s was Interessanteres.« Sie zeigte in den
Raum. »Das heißt natürlich nicht im Café, sondern im Justizpalast.
Ich meine Amanoiwato, den Elektronenrichter. Soweit haben wir’s
noch nicht gebracht. Die Russen auch nicht. Tja, in manchen Dingen
sind die Japaner eine Nasenlänge voraus.«
»Oh, famos«, sagte Wainwright. »Aber Elektronenpolizisten haben sie
noch nicht, was?«
»Bis jetzt noch nicht«, sagte Doris. »Wie ich sehe, interessiert
Sie die Angelegenheit nicht übermäßig. Schade. Eine erstklassige
Sensation, können Sie mir glauben. Die ›Look Inside‹ weiß, was
ihren Lesern guttut.«
»Nichts gegen die ›Look Inside‹, durchaus«, sagte Wainwright, »bloß
in diesem Fall, finde ich, schießen die Japs wohl übers Ziel
hinaus. Was weiß eine Maschine vom Menschen?«
»Hätten Sie nicht Lust, Amanoiwato kennenzulernen?« fragte Doris
statt einer Antwort. »Nicht zufällig habe ich Sie gerade hierher
bestellt. Sejitschi Gendsi hat versprochen, Punkt eins hier zu
sein, um mir ein Interview zu geben.«
»Wer ist Sejitschi Gendsi?«
»Amanoiwatos Konstrukteur. Er arbeitet im Institut für Robotronik.
Bleiben Sie da? Gendsi wird schon nichts dagegen haben.«
»Gut, ich bleibe.«
An den Tisch trat ein langer Japaner in schwarzem Anzug. Bei den
Japs weiß man wirklich nie, wie alt sie sind, dachte Wainwright,
als er ein glattes Gesicht und blankes schwarzes Haar mit einem
scharf gezogenen Scheitel vor sich hatte.
»Darf ich vorstellen, Sejitschi Gendsi.« Doris setzte ihr
charmantestes Lächeln auf. »Gendsi-san, hier ist ein Freund von
mir, Mr. Wainwright. Macht es was aus, wenn er mit anhört, was Sie
mir von Amanoiwato erzählen?«
Der Japaner zögerte kaum merklich, als er höflich sagte: »Ganz im
Gegenteil. Doch nicht ich werde erzählen, sondern Amanoiwato. Wir
gehen gleich hin.«
Der schmale, gewölbte Gang endete in einer Wand. Gendsi trat auf
sie zu. Die Wand sprang auf und gab den Blick frei in einen
überdimensionalen Kuppelsaal. Unten befanden sich, wie in einem
Amphitheater angeordnet, niedrige Sesselreihen, die in der Mitte
des Saals Platz für ein kleines, geringfügig erhöhtes Podium frei
ließen.
»Wie in einem Planetarium«, konstatierte Wainwright.
»Amanoiwato«, sagte Gendsi seelenruhig.
»Na, wo denn?« Wainwright inspizierte die hohe grellweiße
Kuppel.
»Hier überall«, antwortete Gendsi. »Wir befinden uns
mittendrin.«
»Und wozu der große Saal?« In professionellem Tempo kritzelte Doris
stenografische Notizen.
»Für das Publikum«, erläuterte Gendsi mit nachsichtigem Lächeln.
»Amanoiwato weckt großes Interesse.«
»Läßt sich denken!« meldete sich Doris wieder. »Und der Eintritt
ist tatsächlich frei?«
»Soviel ich weiß, wird ein kleiner Unkostenbeitrag erhoben«,
antwortete Gendsi offensichtlich ungern.
»Und was ist das nun, dieser Amanoiwato?« fragte Wainwright
gespannt.
»Amanoiwato ist die neurodynamische Gerechtigkeit. Unbestechlich
und menschlichen Leidenschaften nicht unterworfen.«
Gendsi sprach in leicht gedämpftem Tonfall. »Zwischen Sachverhalten
sucht er sinnverwandte logische Verbindungen.«
»Und die Motive, Verhaltensstimulanzien?«
»Errät er fehlerlos, indem er den Handlungsweisen die
entsprechenden Koeffizienten zuordnet«, erklärte Gendsi. »Er
berücksichtigt die Standpunkte beider Parteien, wobei er ihren
Konflikt als ein schwieriges Nullsummenspiel betrachtet. Wie Sie
sich vielleicht erinnern, wurde die Spieltheorie von Ihrem
Landsmann John von Neumann aufgestellt. Amanoiwato ist also in der
Lage, für beide Seiten die optimale Strategie zu
errechnen.«
Enorm, dachte Wainwright. So einen Rechtsberater könnten wir in der
»General Atomic« gebrauchen. »Wie ist er programmiert?« fragte er
laut.
»Gar nicht«, sagte Gendsi. »Während eines halbjährigen
Schulungskurses hat er sich anhand von juristischen Präzedenzfällen
ein eigenes Weltverständnis erarbeitet.«
»Und wie kann ich ihn interviewen?« fragte Doris.
»Ganz einfach, Doris-san. Sprechen Sie japanisch oder englisch. Er
versteht beides. Zuerst sagen Sie Saibantschoo, das heißt Herr
Richter.«
Doris, merklich aufgeregt, brachte exakt akzentuierend ein paar
Sätze Japanisch heraus.
Sekunden später füllte Amanoiwatos Stimme den Saal aus.
Wainwright wurde es flau in der Magengegend. Doris dagegen war hell
begeistert.
»Was sagt man dazu, er hat’s rausbekommen, Sejitschi!«
»Freilich, Doris-san. Dabei war es eine ziemlich knifflige Frage.
Doch leider, die Zeit für das Interview ist um. Wir müssen
gehen.«
»Schade!« rief Doris enttäuscht.
Sie begaben sich wieder in den Gang, und die Wand glitt lautlos
hinter ihnen zu.
Doris fiel plötzlich etwas ein. »Ja, aber was heißt
›tanpakuschitsu‹?«
Gendsi lachte ein leises Lachen. »Er nennt die
Menschen Eiweißsysteme.«
»Was haben Sie ihm denn nun gesagt, Doris, und was hat er
geantwortet?« fragte Wainwright voller Ungeduld. »Rücken Sie schon
‘raus damit!«
»Mir kam der weise König Salomo in den Sinn, und da habe ich
gefragt: Saibantschoo, zwei Frauen streiten um ein Kind, und jede
behauptet, es sei ihrs. Wie soll man feststellen, wem das Kind
gehört? Seine Antwort: Man soll ihnen den Vorschlag machen, das
Streitobjekt in zwei gleiche Teile zu zerlegen, streng nach der
vertikalen Achse der Symmetrie, damit keine von beiden
benachteiligt wird. Diejenige, die Protest einlegt, und sei es eine
Millisekunde eher als die andere, ist die richtige Mutter, denn sie
wird eher auf das kleine ›tanpakuschitsu‹ verzichten als eine
Unterbrechung seines Stoffwechsels dulden. Wahrlich, ein
salomonisches Urteil, wissen Sie, nur in ganz anderem Gewand.
Sollte er die Bibel gelesen haben?«
»Die Bibel? Natürlich nicht. Zu dem Schluß ist er selbst
gekommen.«
»Warten Sie mal«, sagte Wainwright, »soll das heißen, er kennt so
was wie Mitleid?«
»Mitleid?« Gendsi lachte und entblößte zwei gerade Reihen gelber
Zähne. »Was liegt dieser Emotion zugrunde? Unbewußtes Begreifen der
Zweckmäßigkeit oder meinetwegen auch ein fanatisches
Besitzergefühl, das den Gedanken an Verlust nicht zuläßt, zum
Beispiel der Mutterinstinkt? Ich glaube, dieser Begriff ist ihm
bekannt, ist in seinem Rechensystem enthalten.«
Sie gingen ins Café zurück und setzten sich an einen
Tisch.
»Unser Verhalten wird doch immer von irgendwelchen Emotionen
stimuliert«, fuhr Gendsi fort, »manchmal eben auch vom
Mitleid.«
»Aber wohl meist Mitleid mit dem eigenen Ich«, warf Wainwright
ironisch ein.
»Einverstanden, Mr. Wainwright. Und der Richter muß die emotionalen
Qualitäten einkalkulieren, ins richtige Verhältnis setzen und
ausdeuten können, als mögliche Beweggründe menschlichen
Verhaltens.«
»Er selbst ist doch zu echtem Mitgefühl gar nicht fähig.«
Nachdenklich betrommelte Doris ihren Notizblock mit dem
Tintenstift. »Ich finde, ein Richter muß Zorn, Angst, Mitleid haben
können, sonst wird er das Verhalten andrer nie
verstehen.«
»Nicht unbedingt«, sagte Gendsi. »Ein Eunuch kann zum Beispiel
verstandesmäßig das Liebesgefühl erfassen.«
»Mitleid ist ein höchst alogisches Empfinden«, beharrte Doris. »Der
Mensch unterscheidet sich ja von der Maschine, sei sie noch so
perfektioniert, gerade durch die Fähigkeit, entgegen jeder Logik
handeln zu können. Er bekommt es fertig, sich eines verwundeten
feindlichen Soldaten auf dem Schlachtfeld anzunehmen, um ihn im
Lazarett gesund zu pflegen.«
»Und wieso glauben Sie, daß der Neuroid dazu nicht fähig wäre?«
wandte Gendsi ein. »Was wissen wir, wie er die zwischenmenschlichen
Beziehungen wertet? Womöglich verwendet er ganz andere Kriterien.
Wer ahnt schon, welche Verknüpfungen in dieser hochkomplizierten
Struktur von Neuristornetzen zustande kommen?« Er warf einen Blick
zur Uhr. »Ich muß leider gehn.« Mit einer Verbeugung empfahl er
sich und verschwand.
»Irrsinnig spannend!« zwitscherte Doris, eifrig
kritzelnd.
Melodiöses Klingeln. Wainwright nahm den Telefonhörer auf, und
augenblicklich verfinsterte sich seine Miene.
»Schöne Bescherung«, sagte er. »Mein Transport ist in die Luft
gegangen.«
»Atomkriegsgegner, oder?«
»Na klar.« Wainwright wählte die Nummer des Direktors von der
Kyuukoo-Umpan. »Hallo, Mr. Mitsukawa, ich fliege heute um sieben
Uhr dreißig. Die Versicherungssumme wollen Sie bitte auf das Konto
der ›General Atomic‹ bei der Lloyd Brothers Bank überweisen. Wie
bitte? Hat sich ausgeschaltet? Nein, ich denke nicht daran, zu
warten, bis Sie klarsehen, Mr. Mitsukawa. Das ist Ihre Hochzeit.
Sie haben selbst gesagt, Denschi-Boß kennt keine Fehlleistung. Also
können es nur die Atomkriegsgegner gewesen sein.«
Die Stimme im Telefon wurde schärfer.
»Dann klage ich mir eben die fünfhunderttausend Dollar ein!«
Wainwright warf den Hörer hin.
Doris sprang auf.
»Toll! Eine Sensation, Keith! Elektronenrichter spricht Recht in
Sachen Elektronen-Boß!«
»Wird Amanoiwato denn den Prozeß führen?« fragte Wainwright
entgeistert.
»Na, bestimmt!« ereiferte sich Doris. »Um so mehr, als in den Fall
ein zweiter Neuroid verwickelt ist. Und wissen Sie was, Keith?« Ihr
kam plötzlich die Idee. »Ich bin mit
von der Partie. Sie brauchen doch einen Dolmetscher. Den mach’ ich,
okay?«
»Bitte, der Bevollmächtigte der General Atomic!« Die monotone Stimme des Richters hallte über den Köpfen einer großen Zuhörerschaft durch den weißen Kuppelsaal. Das runde Podium in der Mitte, das etwas von einem Boxring an sich hatte, schwebte gleichsam in der Luft. Vier Personen standen darauf.
»Hier, Euer Ehren«, meldete sich Wainwright
mechanisch. »Saibantschoo«, flüsterte ihm Doris zu.
»Saibantschoo«, sprach Wainwright willig nach.
»Haben Sie Beweise, daß Sabotage vorliegt?«
»Jawohl, Saibantschoo.« Wainwright fiel das Sprechen
schwer. Er konnte immer noch nicht fassen, daß er sich dem Urteilsspruch einer Maschine unterwerfen sollte.
Aus einer großen Aktentasche zog er ein Stück Papier und überreichte es dem Gerichtssekretär. Der glättete es gründlich und führte es in den Schlitz des Lesegeräts ein. Oben in der Kuppel erschien gestochen scharf das Schriftbild eines Textes: das amtlich-nüchterne Ermittlungsprotokoll der Bahnpolizei.
Am 7. Juli, 13 Uhr 15, wurden von einem Streifenfahrzeug Detonationsgeräusche, verbunden mit Staubentwicklung, im Bereich des Rangierbahnhofs Taruegawa-eki registriert. Kurz darauf wurde auf der verkehrsarmen Chaussee ein Personenwagen gesichtet, der mit überhöhter Geschwindigkeit vom Unglücksort fortstrebte. Im Verlauf der Verfolgungsmaßnahmen entwickelte sich eine Schießerei, bei der der Fahrer des PKW getötet wurde, während der führerlose Wagen an den Leitplanken zerschellte. Bei dem Fahrer handelt es sich um eine Person Anfang Dreißig, die keinerlei Papiere bei sich trug. In der Jackentasche des Toten befand sich ein Gerät.
Wainwright hielt einen dunklen Gegenstand, der von weitem aussah wie ein Kugelschreiber, vor den Eingabeschlitz. Über dem Protokolltext, der sich schwarz vom Perlmuttweiß der Kuppel abhob, tauchte das hundertfach vergrößerte Bild des Gegenstandes auf, und alle nahmen klar und deutlich in seinem Mittelteil einen eingravierten kleinen, karminroten Atompilz wahr.
»Die Atomkriegsgegner!« raunte es durch den Saal. »Wie dem Gutachten einer Expertengruppe zu entnehmen ist« – eigenhändig steckte Wainwright ein zweites Dokument in den Schlitz, und der Wortlaut erschien augenblicklich an der Kuppeldecke –, »war dies Gerät für die einmalige Abgabe eines verschlüsselten Funksignals vorgesehen. Es ist naheliegend, daß mit dem Funksignal die falsche Weichenstellung bewirkt wurde, die Inasuma entgleisen
ließ.«
»Bitte, der Bevollmächtigte der Kyuukoo-Umpan!« ließ
sich die Stimme vernehmen.
»Hier, Saibantschoo«, antwortete Mitsukawa.
»Wie wird die Weiche bedient?«
»Fernsteuerung, Saibantschoo. Durch ein verschlüsseltes
Funksignal. Der Kode wird alle vierundzwanzig Stunden
gewechselt.«
»Bevollmächtigter der General Atomic, ist Ihnen der Kode
des vorgeführten Geräts bekannt?«
»Jawohl, Saibantschoo.«
Wainwright schob das Gutachten vollends in den
Leseschlitz. Der Text rutschte hoch und wurde von
Zahlenreihen verdrängt. Mitsukawa verfärbte sich. »Bevollmächtigter
der Kyuukoo-Umpan«, dröhnte die
Stimme. »Stimmt dieser Kode mit dem Kode der
Weichensteuerung am Tage der Katastrophe überein?« Ein Rauschen
ging durch den Saal.
»Ja, Saibantschoo«, stieß Mitsukawa hervor.
Wainwright lachte sich ins Fäustchen. Die
Fünfhunderttausend hatte er also in der Tasche.
»Ich schätze, der Fall ist klar, Mr. Mitsukawa«, sagte er
leise. Ihre Blicke trafen sich. Mitsukawa wußte, der
Gegner
holte erneut zum Schlag aus, aber diesmal, das wußte er
auch,
würde er ins Leere treffen.
»Mitnichten, Mr. Wainwright«, sagte er seelenruhig
lächelnd. »Saibantschoo, es wäre noch zu beweisen, daß
das
Gerät in Betrieb war.«
»Daran soll’s nicht fehlen.« Wainwright lächelte nun auch.
»Saibantschoo, ich beantrage die Anfertigung eines
Zusatzgutachtens.«
»Dafür besteht keine Notwendigkeit«, sagte Amanoiwato
ungerührt. »In einem der von Ihnen vorgelegten Gutachten
heißt es: Die Energie für die einmalige Abgabe des
Funksignals in Höhe von zwanzig Joule liefert ein
eingebauter Minikondensator. Bei der Anfertigung des
Gutachtens wurde der Kondensator entladen.«
»Und was dürfen wir daraus schließen, Saibantschoo?«
Wainwright sah den Fallstrick nicht.
»Der Kondensator war geladen, folglich ist das Gerät
nicht
benutzt worden.«
Tumult sprang durch die Zuschauerreihen. Mitsukawas
sonst undurchdringliches Gesicht strahlte in andächtiger
Verzückung vor der Weisheit des Elektronenrichters. Wainwright
stand in Gedanken und starrte mechanisch auf
Doris’ Hände, die in unwahrscheinlichem Tempo Stenografie
zauberten. Der vermaledeite Heckenschütze soll also mit
der
Sache nichts zu tun gehabt haben? Was denn, hat er zum
puren Spaß mit dem Ding am Bahndamm gehockt? Kaum.
Da muß doch einer schneller gewesen sein. Eine andere
Erklärung gibt es nicht.
Wainwright warf sich in die Brust.
»Saibantschoo!« sagte er laut und vernehmlich. »Die Sache
ist eindeutig. Ich bezichtige Denschi-Boß, den
verantwortlichen Angestellten der Kyuukoo-Umpan,
vorsätzlich falscher Weichenstellung zwecks Vernichtung
von Eigentum der USA…«
Schlagartig verschwand die Unruhe im Saal, doch nur für
einen Augenblick.
»… sowie anschließenden Selbstmords aus Furcht vor der
Verantwortung«, setzte Wainwright hinzu und sah
triumphierend in die Runde.
»Wer ist Denschi-Boß?« fragte die Stimme.
»Ein Angestellter der genannten
Eisenbahntransportgesellschaft«, antwortete Mitsukawa,
der
sich langsam von dem Schreck erholte. Der Gegner war
gewiefter als erwartet.
»Führen Sie den Angestellten vor!« ordnete die Stimme an. »Das geht
nicht, Saibantschoo. Denschi-Boß ist ein
ortsfester Neuroid.«
»Dann soll er seine Aussage schriftlich einreichen.« »Geht leider
auch nicht, Saibantschoo«, setzte Mitsukawa
höflich auseinander. »Er ist abgeschaltet.«
»Was soll das heißen?« wollte der Richter wissen. »Wer
hat
ihn abgeschaltet?«
»Er sich selbst, Saibantschoo. Daher die falsche
Weichenstellung.«
Der Tumult hielt sich. In den hinteren Reihen kam Streit
auf
um die Vermutung, Denschi-Boß stünde mit dem Bund der
Atomkriegsgegner in Verbindung. Ruhe und Ordnung
mußten von der Polizei wiederhergestellt werden.
»Angeklagter«, sagte die Stimme. »Wann hat sich DenschiBoß
ausgeschaltet, vor oder nach der Katastrophe? Und
haben Sie Beweise dafür?«
Stille. Mitsukawa verzögerte die Antwort. Er
konzentrierte
sich. Das alte Judoprinzip »Mach dir die Stärke des
Gegners
zunutze« hatte ihm im Geschäftsleben noch immer treue
Dienste geleistet. Der Sieg stand vor der Tür.
»Saibantschoo, uns stehen Fernsehaufnahmen zur
Verfügung, die von Inasuma bis zum Eintritt der
Katastrophe
gesendet wurden. Wenn Sie gestatten, fügen wir den Film
dem Beweismaterial bei.« Er reichte dem Gerichtssekretär
eine runde Blechbüchse.
An der Kuppelwand erschien, gleich einer aufgestoßenen
Tür, ein helles Rechteck. Die Zuschauer hatten das
Gefühl,
auf das Dach einer irrsinnig rasenden Lokomotive
hinauszutreten. Auf den Schienen ein toller Tanz
hüpfender
und gleißender Sonnenreflexe. Links und rechts grüne
Bambuswände. Plötzlich, weit weg, das Hinüberplumpsen
eines kleinen Körpers über den Bahndamm. Gleich darauf
Abreißen des Bildes. Statt dessen helles Flimmern. »Angeklagter«,
donnerte Amanoiwato, »wie erklären Sie
sich den Vorgang?«
»Saibantschoo, unsere Fernsehaufnahmen basieren auf
Zeitraffersystem. Um die Informationsdichte des
Filmstreifens zu vergrößern, werden nur wesentliche
Handlungsveränderungen in der Bildfolge übertragen…« Die bunten
Schatten auf dem Bildschirm verloschen. »Ich erhebe Einspruch,
Saibantschoo!« Wainwright hob die
Hand. »Ich bin nicht hier, um mir
populärwissenschaftliche
Vorträge anzuhören.«
»Dem Einspruch kann nicht stattgegeben werden«, sagte die
Stimme.
»… das in der Zentrale einlaufende Bildkonzentrat wird
von
Denschi-Boß analysiert und zu normaler Bildfolge
aufgeschlüsselt.«
»Was sind das für faule Witze?« fauchte Wainwright.
»Nichts als Nonsens!«
Mitsukawa bewegte tonlos die Lippen. Dann drehte er
Wainwright den Rücken zu und fuhr fort: »Wie Sie sich
überzeugen konnten, erfolgte die normale Bildwiedergabe
nur bis zu einem bestimmten Zeitpunkt, bis zur
Ausschaltung
des Neuroiden und der damit verbundenen totalen Tilgung
seines Gedächtnisses. Die Verwandlung des Konzentrats in
normale Bildfolge setzte aus, so daß Sie zwölf Sekunden
lang
nur Zeitraffer wahrnehmen konnten. Hieraus ist
ersichtlich,
daß die Katastrophe Folge, nicht aber Ursache der
Ausschaltung von Denschi-Boß war. Somit entbehrt die
Anklage jeglicher rechtlichen Grundlage.«
Erneut Lärm im Saal. Wainwright wurde vom Lichtkegel
der Scheinwerfer geblendet. Der Kameramann brachte ihn in
Großaufnahme. Schweinerei, jetzt, wo ich knockdown bin!
Diese Japs bilden sich wohl ein, mit mir sei’s aus.
Husten
werd’ ich ihnen was.
»Bevollmächtigter der ›General Atomic‹!« rief Richter
Amanoiwato. »Stimmen Sie zu?«
Aber Wainwright war schon wieder gefechtsklar. »Saibantschoo«,
sagte er scharf, »der Selbstmord von
Denschi-Boß zwölf Sekunden vor dem Zugunglück spricht
dafür, daß er die Folgen der Weichenverstellung
voraussah.
Ich fordere Kassation.«
Es wurde so still, daß das Surren der Ventilatoren in den
Fernsehkameras zu hören war.
»Sejitschi Gendsi!«
Ein scharf gescheitelter Kopf tauchte über der
Zuschauermenge auf. Gendsi bestieg das Podest.
»Sejitschi Gendsi!« wiederholte die Stimme. »Ist es
möglich, daß Denschi-Boß den Befehl der Weichenstellung
nach Abbruch der Beziehungen zur Umwelt gegeben hat?« »Ein Mensch
ist nach dem Tod nicht mehr in der Lage,
irgendeine Handlung auszuführen«, entgegnete Gendsi,
»aber
ein Neuroid kann seine Entscheidungen im aktiven
Speicherblock deponieren, dessen Inhalt bei
Selbstabschaltung nicht gelöscht wird.«
»Sejitschi Gendsi«, fragte die Stimme, »Sie behaupten
also,
daß das Kommandosignal aus dem aktiven Speicherblock
gegeben wurde?«
»So ist es, Saibantschoo«, versicherte Gendsi. »Dieser
Sachverhalt wird vom Kontrollmnemogramm der Zentrale
bestätigt.«
»Dann ist die Frage also geklärt«, fuhr die Stimme fort.
»Das Umstellkommando wurde vor Selbstausschaltung
aufgezeichnet, das heißt mit voller Absicht. Stimmen Sie
zu,
Angeklagter?«
Wainwright atmete erleichtert durch. Jetzt sitzt der Jap
in
der Klemme.
Aber Mitsukawa dachte nicht dran, die Waffen zu strecken.
»Einverstanden, Saibantschoo«, zischelte er. »Aber der
Kläger hat noch zu beweisen, daß es sich im vorliegenden
Fall um vorsätzliche Vernichtung des Frachtguts handelt.
Nicht wahr, Mr. Wainwright? So heißt es doch in einer
Klausel der Versicherungspolice!«
Wainwright zuckte die Achseln. »Sie wollen uns doch nicht
weismachen, daß Ihr Elektronenboß die Katastrophe zu
gutem Zweck und Ziel heraufbeschwor?« fragte er. »Experte!« sagte
die Stimme. »Ist ein Beweggrund denkbar,
der den Neuroid zu der genannten Handlungsweise veranlaßt
haben könnte? Hat es in seiner Praxis Präzedenzfälle
gegeben?«
»Nein, Saibantschoo. Im Verlauf des Lernprozesses hat
sich
die Struktur seiner Neuristornetze selbständig
herausgebildet,
anhand täglicher Nutzung der Schnellbahnstrecken.
Höchstwahrscheinlich wurde der Neuroid von einer
unvorhergesehenen Lage überrascht, in der er sich nicht
zu
helfen wußte. Irgendwas hat ihn in einen Schockzustand
versetzt. Die Konstruktion sieht nämlich keineswegs so
was
wie Selbstausschaltung vor, das heißt also, diese
Möglichkeit
hat sich in den Netzen entwickelt.«
Gendsi schwieg einen Augenblick, um zu überlegen. »Saibantschoo«,
sagte er dann entschlossen. »Der Stimulus
für die Handlungsweise von Denschi-Boß ist in dem Objekt
zu suchen, das plötzlich im Schienenbereich vor dem Zug
auftauchte. Leider ist der diesbezügliche Teil des Films
unserer Wahrnehmung nicht zugänglich.«
»Führen Sie den Film in das Lesegerät ein!« sagte die
Stimme mit einem überraschenden Anflug von
Überheblichkeit.
Und aller Augen erblickten, was Inasumas Teleauge bis
zuletzt registriert hatte. Wieder kamen,
auseinanderfliegend,
Bambuswipfel angestoben. Aber diesmal fiel plötzlich weit
vorn auf die gleißenden Schienen etwas Winziges,
Gestaltloses, wuchs mit Riesengeschwindigkeit, bis es ein
Kind war, das sich auf den Schienen zusammenrollte. Gendsi stieß
einen Laut der Verblüffung aus. Mitleid? Bei
einem Neuroid? Die kleine Gestalt wurde größer und größer. Als sie
den ganzen Bildschirm ausfüllte, sprang sie hastig nach rechts und
verschwand. Rostige Schienen vor einem grauen Betonblock, dann ein
greller Blitz, und der Bildschirm
war leer.
»Oooh!« ging es durch den Saal.
»Gottverdammt!« Wainwright kam gar nicht wieder zu sich.
»Sollte das Elektronenungeheuer tatsächlich mit Menschen
Mitleid haben?«
Mitsukawa war’s, der sich an Wainwright wandte. »Hätten Sie nicht
Lust, wieder mal meine Chrysanthemen
zu besichtigen?« näselte er liebenswürdig.
Wainwright, Doris und Gendsi saßen wieder im sechseckigen Café.
»Menschenskind, die reine Idiotie!« sagte Wainwright boshaft. »So einen Richter würde man bei uns zum Teufel schicken. Oder zum Psychiater. Doris, lesen Sie doch die Stelle noch mal vor, wo er sich über Werte ausläßt.«
Doris überflog das Gerichtsurteil.
»Hier.« Sie las: »Gesetzt den Fall, der Schienentransport der
Kyuukoo-Umpan wäre von einem gewöhnlichen Eiweißsystem geleitet
worden, das mit Fernsteuerung ausgerüstet wurde und ein
Spezialtraining absolvierte, wie hätte es sich verhalten, hätte es
einen Neuroid auf den Schienen entdeckt? Es ist anzunehmen, daß das
genannte System trotz seiner relativen Primitivität reagiert hätte
wie Denschi-Boß, der auf wesentlich höherer Entwicklungsstufe
steht. Denn der potentielle Wert eines jeden Systems, ob auf
Eiweiß- oder neuroider Basis, das zur organisierten Veränderung
chaotischer Umwelt und zur Verarbeitung von Informationen imstande
ist, besitzt einen unermeßlich höheren Wert als Materie, die über
die genannten Fähigkeiten nicht verfügt, wozu das Stückgut des
Klienten zählt. Zugunsten dieses Schlusses spricht der Umstand, daß
zur Zeit Eiweißsysteme in der Regel nicht als Austauschobjekte
gegen wertmäßig äquivalente chaotische Materie oder Zahlungsmittel
angesehen werden.
In Auswertung der Fakten wird festgestellt, daß DenschiBoß,
Neuroid, Angestellter der Kyuukoo-Umpan, eine Handlung begangen
hat, die zum Verlust von Eigentum eines Klienten der Firma führte.
Sie wurde jedoch nicht mit dem Ziel der Vernichtung des genannten
Eigentums begangen, sondern zwecks Erhaltung der normalen
Funktionsweise eines nicht voll entwickelten Eiweißindividuums,
dessen potentieller Wert den Wert der Fracht des Klienten
erheblich, übersteigt. Demzufolge gehört der vorliegende Tatbestand
nicht zur Kategorie derer, die eine Zahlung der Versicherungssumme
nach sich ziehen. Also kann der Klage nicht stattgegeben
werden.«
»Na, bitte schön!« Wainwright fuhrwerkte wütend mit dem
Zigarettenstummel im Aschenbecher herum. »Wenn das nicht idiotisch
ist!«
»Ich würde es anders nennen«, sagte Gendsi zögernd. »Ich sagte,
glaube ich, schon einmal, daß Amanoiwato möglicherweise ganz andere
Kriterien heranzieht als wir Menschen. Wenngleich er seine
Erfahrungen unserer täglichen Praxis entnimmt, ist es dennoch
denkbar, daß er die Dinge anders einschätzt.« Gendsi schwieg. Dann:
»Ich nehme an, daß Amanoiwato sich im großen und ganzen nach den
Grundgesetzen der Erhaltung und Förderung der menschlichen
Gesellschaft richtet. Auch steht sein Urteil in keinerlei
Widerspruch zu den Gesetzen einer höheren Logik. Anders als viele
unserer Handlungsweisen…«
Doris sah ihm mit unbekümmerter Neugier ins Gesicht.
»Interessant, die Überlegung«, sagte sie und griff zum Notizblock.
»Wir haben also folgendes Phänomen: Ein Neuroid kriegt es fertig,
sich von Mitleid leiten zu lassen, und ein andrer Neuroid hält das
für vollkommen in Ordnung.«
Wainwright prustete los. »Na, Doris, Ihr berühmter Riecher hat Sie
ganz schön versetzt. Mit Schnapsideen ist im Geschäftsleben kein
Blumentopf zu gewinnen!«
Kaum merklich kniff Doris ihre hellen Augen ein. »Hm, Keith, wie
hätten Sie denn anstelle von Denschi-Boß reagiert?«
Die Kleine scheint eingeschnappt, dachte Wainwright überrascht,
sonst würde sie nicht so dumm fragen.
»Von mir ganz abgesehen«, sagte er. »Aber ich wette, nicht einer
meiner Angestellten würde seine Karriere aufs Spiel setzen, bloß
wegen irgendeines… äh…«
»… japanischen Bürschchens«, sprang Gendsi ein.
»Nicht mal wegen eines amerikanischen!« rief Wainwright wütend.
»Und ein normaler Richter würde dafür volles Verständnis
aufbringen.«
»Ich bleibe bei meiner Ansicht, Mr. Wainwright«, sagte Gendsi
unbeirrbar höflich. »Wenn Amanoiwato die Menschen vielleicht auch
höher bewertet, als es ihnen bislang zukommt, so schätzt er ihre
Entwicklungsperspektiven doch richtig ein.«
Wainwright winkte ärgerlich ab. »Zum Teufel mit dem Gewäsch!
Fünfhunderttausend Dollar im Eimer. Und alles wegen so einer
albernen Emotion, die sich Mitleid nennt!«
In den oberen Stockwerken des Kyuukoo-UmpanWolkenkratzers blieb ein kalter Haufen aus Stahl, Halbleitern und Plast zurück, einst die Maschine, die versucht hatte, menschliches Mitgefühl, obzwar sie es selbst nicht besaß, nach den Gesetzen einer höheren Logik zu erfassen.
Andrzej Czechowski
Der Anthropoid
In Kabine vierzehn sollte ein Platz frei sein. Ich ging den Korridor entlang und hielt Ausschau nach Nummer vierzehn. Endlich entdeckte ich sie und öffnete die Tür.
Tatsächlich, ein Platz war frei. Im Sessel gegenüber saß schon jemand – ein großer, dunkelhaariger Mann mit bräunlichem Teint. Er musterte mich einen Augenblick durchdringend, dann erhob er sich und streckte mir die Hand entgegen.
»Sie fahren also mit?«
»Ja«, antwortete ich und ließ mich in den Sessel fallen. Er war zu
weich, entschieden zu weich. Immer, wenn ich in einem Sessel sitze,
fällt mir ein antikes Möbelstück ein, ein alter Ohrensessel meines
Großvaters mit sehr stabilen Sprungfedern, deshalb sind mir die
modernen Schaumgummimöbel durchweg viel zu weich. Ich griff
seitwärts, dorthin, wo sich sonst der Fernsehschalter befindet,
stieß aber nur gegen die kahle Wand. Da fiel mir ein, daß ich mich
in einer Kabine zweiter Klasse befand. Ich verzog das
Gesicht.
Der Wagen ruckte an. Ich spürte das Vibrieren der Motoren, die
Beschleunigung nahm ständig zu; übermäßige Kraft macht stets
Eindruck auf mich. Dann lief der Motor leiser, doch die
Geschwindigkeit wurde natürlich nicht vermindert. »Wissen Sie, wann
wir über dem La-Manche-Kanal sind?« fragte mein
Reisegefährte.
»Wie immer«, erwiderte ich, »in einer Viertelstunde.« »Und wie
lange fliegen wir über dem Kanal?«
»Fünf Minuten.«
»Kommen dort die Wasserflugzeuge aus Calais vorbei?« Mein
Gesprächspartner beugte sich in seinem Sessel vor. »Nein,
östlicher.«
Er schien betrübt.
»Da haben Sie eine Gelegenheit verpaßt«, sagte ich. »Aber es ist ja
auch schon dunkel. Haben Sie wirklich noch nie ein Wasserflugzeug
gesehen?«
Er schnitt eine leichte Grimasse.
»Sie haben ganz recht«, sagte er. »Es wäre tatsächlich die letzte
Gelegenheit gewesen. Ich fliege gerade an einen Ort, wo man
schwerlich Wasserflugzeugen begegnet.«
»Sind Sie Amerikaner?«
»Nein, Engländer. Aus Oxford.«
Das Wort Oxford sprach er mit einer Würde aus, die einem Erzbischof
wohl angestanden hätte.
»Und Sie haben noch nie ein Wasserflugzeug gesehen?«
»Im Binnenverkehr. Auf der Themse.«
»Ach so…«
Ich stand auf und trat ans Fenster. Die Platten waren zugeschoben,
ich drückte auf den Knopf, und sie glitten langsam auseinander. Es
war stockfinster. In der Tiefe glitzerte undeutlich der
La-Manche-Kanal. Die dunklen Umrisse krümmten sich zu beiden Seiten
– die Steilküste rückte näher.
»Gleich fahren wir in den Tunnel ein«, sagte ich und schob die
Platten wieder zu. Wir saften jetzt schweigend einander gegenüber.
Ich wartete auf die nächste Sendung der BBC. Da knackte es im
Lautsprecher, und die Stimme des Ansagers ertönte.
»Hier ist die BBC. Guten Tag verehrte Hörer, wir bringen Ihnen
Nachrichten. Zunächst die wichtigsten Meldungen in Schlagzeilen.
Der Rektor der Universität Salzburg, Doktor Jugovitsch, sowie der
Dozent der Universität Oxford Doktor Iverson wurden in Anerkennung
ihrer Verdienste bei der Weiterentwicklung der
Davis-Hermann-Methode vom Prinzen von Wales mit dem Distinguished
Service Cross ausgezeichnet. Darüber hinaus erhielt Doktor
Iverson…«
»Iverson?« fragte mein Gefährte.
Ich sah ihn an, er saß mit zusammengekniffenen Augen da.
»Kennen Sie ihn? Ach ja, eben, Sie sind doch aus Oxford«, erinnerte
ich mich. »Was hat denn dieser Iverson Großes geleistet?«
»Iverson assistierte Davis…« Er schwieg eine Weile, dann fragte er
plötzlich: »Wie alt bin ich wohl, was meinen Sie?«
Auf die Antwort gespannt, sprang er auf, preßte die Lippen
aufeinander, als wollte er nicht vorzeitig lächeln. Ich betrachtete
sein schwarzes Haar, es erinnerte an Kunstfasern – glänzend,
elastisch und dicht.
»Allerhöchstens fünfundzwanzig«, sagte ich.
»Nein«, entgegnete er. »Fünfzehn. Genau zehn Jahre
jünger.«
»Fünfzehn?«
»Hm.«
Ich schaute ihn fragend an. Mir war nicht nach Sprechen
zumute.
»Noch nie was von beschleunigter Entwicklung gehört? Brutkasten,
Koje, Kontrollautomaten… Alles im schneeweißen Laboratorium. Dann
so ein Wägelchen, Sie wissen schon, wie im Krankenhaus: vier hohe
Beine und Räder dran. Ausgepolstert mit Porengummi, darüber
Plastikfolie, Gaze, Folie, Sterilität et cetera.« Er lächelte.
»Verstehen Sie was davon? Nichts, natürlich nicht, wie sollten Sie
auch!«
Ich beugte mich im Sessel vor und betrachtete angelegentlich meine
Bügelfalten. Jetzt öffneten sich die Wagenfenster, und ein heller
Lichtschein drang zu uns herein, der gelbe Lichtschein der
Tunnellampen.
»Man hat also Versuche an Ihnen gemacht?«
»O ja, Versuche.« Sein Lächeln wurde zur Grimasse. »Und was für
welche! Haben Sie Ahnung von Chemie? Nun, wenigstens ein
bißchen?«
Ich nickte.
»Sehen Sie, hier die Reaktion, da das Reagenzglas. Produkt der
Reaktion – ein lebender Mensch. Das nennt sich Synthese, nicht
wahr?«
»Ist das Reagenzglas groß?« witzelte ich.
Er warf mir einen finsteren Blick zu.
»Nein, klein. Es ist überhaupt nicht zu sehen unter den Hebeln der
Apparatur. Schwarze Ständer und mittendrin ein winziges
Reagenzglas. Sterilisierte Handschuhe. Ein Brutkasten. Ein Jahr
liegt da was im Brutkasten. Es muß lagern – wie Wein. Nein, ich
scherze nur. Denken Sie bloß nicht, daß Wein… Obwohl, eigentlich
auch. Zum Fermentieren? Nein, das nicht. Wie Weintrauben – zum
Reifen. Ja, das ist es! Danach… Ach so! Vorher beobachten sie es
noch täglich durchs Mikroskop. Alles ist unter Glas, einem großen
Vergrößerungsglas, darüber ein Spiegel und ein Okular. Also, danach
kommen sie mit einem vorgewärmten Wägelchen an, unten Heizkissen,
sie öffnen die Klappe, und über eine sterilisierte Rutsche gleitet
ein sterilisierter Säugling in ein sterilisiertes
Wägelchen.«
Ich lächelte.
»Und dann… Wissen Sie, wie es weitergeht?« Er wurde zusehends
lebhafter. »Dann bringen sie das Kindchen in ein Bassin mit
Nährlösung unter eine Sauerstoffglocke und punktieren es. Aus
Labormixturen machen sie künstliche Milch. Das Kind wächst rasend
schnell. Unter solchen Lebensbedingungen sieht es nach einem Jahr
schon aus wie sechs. Aber es ist nicht intelligenter als, sagen
wir, eine sechsjährige Schnecke. Nicht mal laufen kann es. Deshalb…
Wissen Sie, was sie dann machen?«
Er brach ab. Die Fenster schlossen sich leise. Die Maschine
bremste, die Pneumatik zischte. Wir hielten. Der Lautsprecher
schaltete sich ein.
»Station Birmingham. Die Zeit: null Uhr vierzehn.«
»Birmingham?« Mein Reisegefährte überlegte. »Ist es noch weit bis
zur Endstation?«
»Bis Dublin? Noch eine Stunde. Fliegen Sie weitet?« fragte
ich.
»Nach Amerika?«
»Ja, ja. Nach Vandenberg.«
»Nach Vandenberg… Und von Vandenberg…«
»Eben. Sie wissen, wohin der Weg von Vandenberg führt. Zum Mars,
zum Jupiter, Tau Walfisch. Wissen Sie, daß ich noch nie auf dem
Mond gewesen bin? Können Sie sich das vorstellen? Sicherlich, weil
Sie auch noch nicht dort waren. Aber die können das nicht.« Er
lächelte. »Als ich mich zum Flugdienst meldete, brummten sie mir
erst einen Kontrollflug auf: über Moons melden und zurückkommen.
Ich hatte ein halbes Jahr Schulung an den Simulatoren hinter mir.
Mit der ›Thor‹ sollte ich fliegen. Ich startete auf Feuerstrahl und
erhöhte dann den Antrieb. Nur eins hatte ich vergessen: mich
anzuschnallen. Bevor ich auf Umlaufbahn ging, bremste ich. Ich
staunte – im Simulator hatte mich immer etwas am Bücken gehindert.
Mir fiel nicht ein, daß es die Sicherheitsgurte gewesen waren. Ich
flog mit dem Gesicht gegen das Armaturenbrett. In Vandenberg sagten
sie, das wäre kein Wunder. Ich wollte ihnen klarmachen, daß…« Er
brach plötzlich ab.
Die Maschine fuhr an.
»Made in Oxford. Klingt hübsch. Ich bin in Oxford hergestellt.
Sogar mein Name – ich heiße Foxor – ist ein Anagramm von Oxford.
Universität, College… Wovon sprach ich gerade? Aha, also das Kind
kann noch nicht laufen… Sie haben so eine Maschine dafür. Die
Assistenten stopfen das Versuchsexemplar hinein, befestigen Hebel
an seinen Beinen, dann schalten sie die Motoren ein. Eins – zwei,
eins – zwei… Leibesübungen. Um die Muskeln zu kräftigen.«
»Kein schlechter Einfall«, sagte ich.
»Ja«, entgegnete er apathisch. »Aber das ist noch nicht alles. Sie
haben extra Kabinen, Bildschirme, Ikonoskope, Elektroden.
Levi-Costar-Methode. Elektroschocks. Ist Ihnen schon einmal
aufgefallen, daß wir uns meist an den Augenblick, der einem Unfall
vorausgeht, genau erinnern können? Das ist die Levi-Costar-Methode.
Sie werfen ein Bild an die Wand, lassen eine Platte ablaufen und –
Schock. Das Exemplar windet sich und brüllt. Aber es behält das
Bild und die Worte im Gedächtnis: ›Das ist ein Haus. Lala Ali.
Auto, Synchrophasotron‹ et cetera. Das Exemplar behält es. Ach so,
Sie wissen ja nicht: Im Labor gibt es keinen Spiegel. Das Exemplar
sieht irgendwelche merkwürdige Wesen und weiß nicht, daß es selbst
so eins ist. Es denkt, es ist was anderes, ein Äffchen, ein
Versuchskaninchen, aber nicht ein Mensch. Ein Äffchen, das mit
Spritzen ernährt wird, seine Haut ist überall zerstochen.
Frühstück, Mittagessen, Abendbrot. Essen wird ihm erst später
beigebracht. Wissenschaftlich. Sie zeigen einen Film: ein
pummeliger Blondschopf vor einem Grützebreichen. Irgendein
Spaßvogel hat diesen Film ›Guten Appetit‹ genannt. – Danke
gleichfalls«, rief er wie im Sprechchor und verstummte.
»In den Laboratorien sind sie also imstande… Ich dachte immer, die
Untersuchungen wären erst im Anfangsstadium, man würde
experimentieren…«, sagte ich.
Er lächelte.
»Haben Sie schon mal was von Gasthrovy gehört?«
»Ein wenig.«
»Der hat vor fünfundzwanzig Jahren die modifizierte
Evolutionstheorie veröffentlicht. Ist Ihnen das ein
Begriff?«
»Das ist doch schon Geschichte.«
»Nicht unbedingt. Er behauptete nämlich, und zwar sehr witzig, er
könne künstliche Menschen machen. Künstliche sagte er. Der Idiot!
Das nahm sich ungefähr so aus: Der Mensch stellt in der Entwicklung
ein höheres Kettenglied dar als der Affe. Demnach würde aus einem
Affen, der irgendwo auf einen Gletscher gebracht wird, in einer
bestimmten Zeit ein Mensch. Natürlich nicht aus dem konkreten
Affen. Aus seinem Nachkommen. Außerdem trifft das nicht auf jeden
Affen zu. Sondern auf einen, der, sagen wir, infolge günstiger
Umstände ein besonders dichtes Fell hat. Dadurch überlebt
er.«
»Aber sein Nachkomme kann doch kahl sein«, sagte ich.
»Nein«, sagte er und lächelte wieder. »Gasthrovy behauptet, die
nützlichen Eigenschaften würden erhalten bleiben. Gesteuerte
Mutation der Gene.«
Ich brummte etwas vor mich hin.
»Dieser Nachfahre wiederum könnte einen Bruder haben, der auch
irgendeine nützliche Eigenschaft besitzt. Und so weiter, bis hin
zum Menschen. Natürlich dauert das lange. Ständige Einwirkung der
Umweltbedingungen auf die Gene, verstehen Sie? Der Schwanz immer
kürzer, der Schädel immer kleiner. Und Gasthrovy sagte sich: ›Warum
nicht gleich so?‹ Kurz, warum nicht dem Affen einen menschlichen
Nachkommen bescheren, und zwar, indem man die Empfänglichkeit der
Gene für äußere Bedingungen, aber nur für ganz bestimmte, steigert.
Es wurden dicke Wälzer verfaßt, ich kann Ihnen ein paar Titel
aufzählen: ›Darwins Evolutionstheorie und die Gasthrovy-Theorie‹.
Das hat Davis
geschrieben. ›Grundlagen für die Steuerung der Evolution‹ und ›Die Beschleunigung der Lebensprozesse‹. Letzteres ist auch von Davis. Er nahm die Sache damals ernsthaft in Angriff. Er war übrigens Engländer und hatte einen Lehrstuhl in Oxford.«
Mein Nachbar schwieg eine Weile und sah mich
sonderbar an.
»Man begann also mit den Versuchen. Und da erst kam der
Österreicher Jugovitsch nach Oxford und machte einen
Mordsspektakel. Er sagte, die Voraussetzungen wären falsch, und
rief extra eine Kommission ins Leben, die das Experiment überwachen
sollte. Er redete von Verantwortungsbewußtsein, es handle sich
schließlich um einen Menschen et cetera. Aber das war unnötig. Sie
wissen bestimmt, daß wir nicht vom Schimpansen abstammen?
Irgendwelche gemeinsamen Vorfahren haben wir allerdings. Würde man
den Schimpansen weiterentwickeln, entstünde daraus kein Mensch,
weil das die Entwicklung eines Nebenzweiges wäre, wie, sagen wir,
die Evolution des Krokodils. Man mußte also zunächst den
Schimpansen in seiner Entwicklung zurückverfolgen, und erst dann
konnte man an den Menschen denken. Doch wie die Evolution
zurückdrehen? Man kannte ja nicht mal genau die gemeinsamen
Vorfahren. Das berüchtigte ›Bindeglied‹.«
Er lehnte sich tiefer in den Sessel zurück und neigte den Kopf zur
Seite.
»Aber das Prinzip war immerhin schon da. Man mußte es in die Tat
umsetzen. Davis und Hermann – letzterer hatte damals mehrere
Beiträge zur Biochemie veröffentlicht – experimentierten fünf Jahre
lang in Oxford und verfaßten Arbeiten darüber. Hermann hatte gerade
erst seinen Doktor gemacht. Sie untersuchten also die Bedingungen,
die vermutlich geherrscht hatten, als unser Urahn noch irgendwo in
den afrikanischen Steppen lebte, und rekonstruierten sie. Doch das
brachte sie nicht viel weiter. Dann packten sie die Sache von einer
anderen Seite an: Sie untersuchten den Stammbaum des Gibbon.
Bekanntlich ist der Gibbon nicht der intelligenteste unter den
Affen. Man nahm also an, er stünde seinem Vorfahren am
nächsten.«
Er brach ab und sah mich wieder an.
»Ich sehe, Sie verstehen nicht, warum ausgerechnet der Gibbon.
Davis ging es darum, daß der Schimpanse sozusagen an der Spitze der
Anthropoiden steht. Der Gorilla und der Orang-Utan stehen etwas
darunter, folglich muß auch ihr Evolutionsweg kürzer gewesen sein.
Und am kürzesten und wenigstens intensiv war die Entwicklung des
Gibbon. Man knöpfte sich also den Gibbon vor. Mit Mühe gelang es,
seinen vermeintlichen Vorfahren zu rekonstruieren. Man beschloß,
die Evolution zu überprüfen. Mit der HermannMethode, der
sogenannten Keimkorrekturmethode, begann man den Gibbon zu
entwickeln. Auf diese Weise kamen wir beim Schimpansen an. Das
Experiment war geglückt. Davis triumphierte. Jetzt blieb nur noch
die Erschaffung des Menschen übrig. Die Bedingungen mußten
entsprechend verändert und dem armen Urgibbon intravenös bestimmte
Hormone eingeimpft werden. Im übrigen habe ich nie etwas davon
verstanden. Man wollte die Empfänglichkeit gegenüber Veränderungen
der Erbanlagen steigern und diese Anlagen künstlich verändern. Aber
das schlug fehl.«
Ich zog die Brauen hoch.
»Jaja, es schlug fehl. Der Urgibbon war eben kein Urmensch, die
Evolutionswege hatten sich noch früher getrennt, der Ururgibbon
müßte gefunden werden. Aber Davis und Hermann kamen nicht gleich
darauf. Sie dachten, wir würden vielleicht eher vom Urgorilla
abstammen und der Urgibbon wäre nicht der Urgorilla, die
Evolutionswege wären anders und hätten sich noch früher
aufgespalten. Die Sache wurde dann so kompliziert, weil es sich
genau umgekehrt verhielt.«
»Und?«
»Nichts weiter. Später stießen sie auf den richtigen Weg. Doch als
sie nur noch einen Schritt von der Lösung entfernt waren, mischte
sich die Kommission von Jugovitsch ein. Sie redeten von… Wovon
sollten sie schon reden? Von Verantwortungsbewußtsein! Verbrechen!
Selbst im Namen der Wissenschaft sei es nicht erlaubt!«
»Und Ihre Meinung?« fragte ich. »Hatten sie recht?«
Er lächelte.
»Das kommt darauf an«, erwiderte er. »Ich glaube schon. Aber Davis…
Davis’ Ziel war es, einen künstlichen Menschen zu schaffen. So
nannte er es. Purer Unsinn. Einen künstlichen! Ein Stück Vieh ist
es, weiter nichts.«
Er schwieg still und holte tief Luft.
»Davis hätte sich übrigens schon auf seinen Lorbeeren ausruhen
können«, sagte er nach einer Weile. »Aber Hermann beschloß, jung –
und schwach in Philosophie – wie er war, immer weiterzugehen, und
sei es über die Leichen von Pförtnern, Laboranten und
Versuchsexemplaren. Die Experimente wurden fortgesetzt, und Oxford
protestierte nicht. Jugovitsch nannte man den k. u.
k.-Menschenfreund. Die Engländer mögen Ausländer nicht. Jugovitsch
konnte nichts ausrichten. Nebenbei bemerkt, war das nicht mal das
Schlimmste…«
»Sondern?« fragte ich.
Er seufzte und beugte sich in seinem Sessel vor.
»Was das Schlimmste war? Burnin. Doktor Burnin. Er beendete damals
gerade sein Werk über die Erziehungstheorie. Er war nach
Levi-Costar vorgegangen, was er im übrigen nicht gleich zugab. Sie
wissen schon, was aus dieser Theorie geworden ist. Die ganzen
Maschinen hat Burnin mit Hermann zusammen ausgeheckt. Sie haben
Bezeichnungen wie Folterwerkzeuge, ›Hermannscher Strecker‹ zum
Beispiel. Davis war nicht so…«
Ich nickte.
»Davis war nicht so«, wiederholte er. »Er wollte das Kind normal
erziehen lassen. Es hatten sich sogar Professoren gemeldet. Doch
was soll’s? Davis ist vor siebzehn Jahren gestorben. Er hat seine
Versuche nicht abschließen können. Hermann und Burnin hatten bis
dahin keine Widersacher gehabt. Sie beschlossen, das Kind nach der
Burnin-Methode zu erziehen, der besseren Kontrolle wegen. Sie
machten den Leuten weis, sie wollten keinen Menschen, sondern einen
Neandertaler schaffen. Da hätte man aber Hermann nicht kennen
dürfen, um das zu glauben.«
Er reckte sich und lächelte.
»Vor fünfzehn Jahren war der historische Augenblick gekommen, Sir.
Man nahm den ersten Menschen in Betrieb, von A bis Z im
Laboratorium hergestellt. Einen Monat später verunglückte Hermann
über dem Atlantik. Er war auf dem Wege nach Amerika, um seine
Lorbeeren in Empfang zu nehmen. Es blieb nur Burnin. Der brave
Burnin begann mit seiner Erziehung – nach Levi-Costar. Innerhalb
von fünf Jahren erreichte das Exemplar seine Reife. Es hieß Foxor.
Genauer: Charles Foxor. Burnin hatte es Igor taufen wollen, aber
Oxford… Sie verstehen, die Engländer sind Patrioten. So auch
Professor Iverson. Burnin bekam einen Lehrstuhl in Oxford. Charles
Foxor begann zu studieren. Nein, nicht Medizin! Physik! Später bin
ich Pilot geworden.«
Der unvermittelte Übergang zur ersten Person ließ ihn erröten. Er
hatte aufgehört, den Beobachter zu spielen.
»Sie sind also am Institut erzogen?«
»Am Institut? An der Universität Oxford, Lehrstuhl für Biologie«,
entgegnete er stolz. »Erzogen? Das ist nicht das richtige Wort. Ich
bin gezüchtet. Wie ein Meerschweinchen.«
Ich schwieg. Er betrachtete mich mit einem Lächeln.
»Sie wollen mich nicht als Ihren Artgenossen ansehen?« fragte er.
»Ich stamme vom Gibbon ab, und ich gebe es zu. Sie haben keine Lust
dazu. Nur ich allein stamme vom Affen ab. Sehe ich Ihnen
ähnlich?«
Er beugte sich vor.
»Ich weiß nicht…«, begann ich, aber er fiel mir ins Wort.
»Schon gut«, sagte er. »Schon gut. Ich habe das oft genug gehört.
Man sucht immer besondere Eigenschaften an mir. Es ist manchmal
schon so weit gekommen, daß man meine Augen für typische Affenaugen
erklärt hat, die Hände, die Lider und so weiter, alles äffisch.
Sicherlich wurde auch was festgestellt. Also müßte man mich in
einen Käfig stecken und herumzeigen! Made in Oxford…«
»Aber Sie…«
»Aber ja!« schrie er. »Ich empfinde wie ein Mensch! Ähnlich wie ein
Mensch! Fast wie ein Mensch! Ich bin ein sehr gescheiter Affe,
nicht wahr? Und Sie sind ein Mensch, vom Urururahn aufwärts.
Vielleicht stammen Sie von den alten Römern ab? Vielleicht von
Wilhelm dem Eroberer? Aber ich weiß hundertprozentig, daß ich vom
Affen abstamme. Und Sie wissen es auch. Alle in Oxford wissen es.
Zumindest die Dozenten und Professoren, die sich daran erinnern.
Und Burnin und Iverson. Vom Gibbon, vom Urgibbon, einem ehedem
lebenden Säugetier.«
»Sie regen sich ganz unnötig auf«, sagte ich, weil ich nicht wußte,
was ich anderes sagen sollte. Ich fürchtete, er könnte in Gelächter
ausbrechen. Aber er faßte sich schnell wieder.
»Okay«, knurrte er. »Ich wollte Ihnen nur erklären… Ach, Schwamm
drüber.«
Er lehnte sich bequem im Sessel zurück.
»Und was ist mit Burnin?« fragte ich.
»Vor fünf Jahren gestorben. Jugovitsch entsiegelte das Material.
Die Arbeiten wurden abgebrochen. Als Gegenleistung war ich mit
Vandenberg einverstanden. Mit dem Mars, Jupiter, Tau Walfisch. Ich
werde Astronaut sein, Pilot. In hundert Jahren kehre ich auf die
Erde zurück. Ich, Charles Foxor, Made in Oxford. Vielleicht gibt es
Oxford dann nicht mehr? Dann würde ich meinen Namen in Foxor of
Oxford ändern.«
Er sagte das gelassen, sehr gelassen, mit dem Anflug eines
Lächelns.
»Sie gehören zur Besatzung der ›Bonnie‹?« fragte ich gespannt. Der
Passagier eines englischen Raumschiffs! Das war interessanter als
die verrückten Reminiszenzen.
»Noch fünfzehn Minuten bis zur Endstation Dublin!« schnarrte es im
Lautsprecher. »Wir beginnen mit dem Bremsmanöver.
Achtung!«
Die Turbinen kreischten auf.
»Ganz recht, zur ›Bonnie‹-Besatzung. In hundert Jahren komme ich
wieder und treffe Iverson nicht mehr an. Vielleicht auch Oxford
nicht. Vielleicht gibt es einen Krieg, und Oxford wird dem Erdboden
gleichgemacht. Oh, sorry, ganz Oxford möchte ich gar nicht. Davis
war anständig, nur Burnin und Hermann… Nun, und Iverson… Dieser
alte Iverson, ich war mit ihm per ›du‹, plus Anrede Doktor. Einmal
hat er versucht, seinem Assistenten Elektroden einzumontieren und
sein Gehirn zu steuern, er hatte ein Verfahren deswegen. Nicht so
wichtig übrigens.«
Wir hielten, die Tür ging auf. Licht strömte ins Wageninnere. Die
blauen Bahnhofslampen brannten. Ich stieg aus, mein Reisegefährte
mit mir.
»Sie fliegen von hier?« fragte ich.
Er nickte.
»Mit einer Sonderrakete«, sagte er. »Von hier aus zum ersten Mal.
Ich habe keine Ahnung…«
Plötzlich grölte der Lautsprecher: »Herr Charles Foxor wird zum
Raketenteil, Pavillon vier, gebeten. Ich wiederhole, Herr Charles
Foxor, Raketenteil, Pavillon vier.«
Er blickte sich hilflos um. Das blaue Lampenlicht verlosch hier und
da. Das Deckengewölbe schimmerte in streifigem Blau.
»Ich bringe Sie hin«, bot ich ihm an.
Er sah mich dankbar an. »Wenn Sie so nett…«
Er ging hinter mir. Wir stellten uns auf einen Rollsteg und
bewegten uns vorwärts an halbkugelförmig gewölbten orangefarbenen
Wänden entlang. Ich zog meinen Gefährten am Arm, wir mußten
absteigen. Wir überquerten eine weite, verglaste Galerie und
gelangten ins Freie. Es war kühl und dunkel.
»Welche Nummer?« fragte ich. »Vier?«
»Der Pavillon? Ja.«
Vor einem Schlagbaum machten wir halt. Ein grüner Automat strählte
uns von der Seite mit einem Scheinwerfer an. Der Schlagbaum ging in
die Höhe. Mein Reisegefährte überschritt die weiß
phosphoreszierende Linie und entfernte sich in Richtung der
Neon-Vier, die auf einem niedrigen Gebäude leuchtete.
Stanislaw Lem
Töte mich!
Pjotr verbrachte seine frühe Jugend ähnlich wie viele andere Kinder. Bis zu seinem siebenten Lebensjahr wohnte er bei seinen Großeltern in einem ausgedehnten Naturschutzgebiet, dem Eurasischen Naturpark in den Vorbergen des Pamir. Nur zwei Monate im Jahr verlebte er in dem alten Haus seiner Eltern an der Weichsel. In der Schulzeit unternahm er zahlreiche Reisen über die Meere und Kontinente der Erde; es waren Exkursionen im Rahmen des Unterrichts in Geographie, Geologie und Geschichte, verbunden mit dem Besuch der Museen und Sammlungen. Bergwanderungen, Sommerfahrten auf den Flüssen, erste Raketenflüge mit den Erziehern und Schulfreunden, selbständige physikalische und chemische Experimente, die Besichtigung des Planetariums im Park der Kinder zwischen Erde und Mond und schließlich ein zweiwöchiger Aufenthalt im Observatorium auf der sechsten kosmischen Station gestalteten die ersten Schuljahre abwechslungsreich.
Zugleich war dies die Zeit, in der er von Entdeckungen, von unerhörten Abenteuern, von Kämpfen mit gefährlichen Kräften und Mächten in fernen Ländern und auf noch ferneren Planeten träumte.
Mit zunehmendem Alter wandelte sich sein Interesse für die Erscheinungen der Welt in Kenntnis. Alles wurde begreiflich und verständlich, die Kinderträume von einst entwichen in irreale Sphären. Bereits damals beschäftigte er sich mit den Grundlagen allgemeinen Wissens und gewann immer mehr die Überzeugung, daß Geheimnisse, falls es überhaupt welche gab, nur in den entlegensten Teilen des Weltalls verborgen sein könnten. Als er sein siebzehntes Lebensjahr vollendet hatte, besuchte er verschiedene technische Hochschulen, Institute, Laboratorien und andere Forschungsstätten, um sich einen Überblick über das riesige Gebiet menschlicher Tätigkeit zu verschaffen und um jenes Teilgebiet zu finden, dem er sich für immer widmen wollte. Er entschloß sich zum Studium der Astronomie. Dann sattelte er um und trat in das Institut für allgemeine und experimentelle Astronautik ein. Nach drei Jahren hatte er den Vorbereitungslehrgang beendet. Nun begann die vier Jahre lange Etappe selbständiger Forschungen. Damals erlebte er seinen ersten Triumph – und seine erste Niederlage. Professor Dyaadik erklärte nach der Überprüfung der Arbeitsergebnisse seiner Schüler, daß Pjotrs Arbeit zu großen Hoffnungen berechtigte. Diese Freude wurde ihm bald darauf vergällt: Er unterlag im Kampf gegen eine unbekannte Macht, die er nicht auf einem fernen Himmelskörper, sondern in sich selbst entdeckte.
Er lernte ein gleichaltriges Mädchen kennen, eine Studentin. Die gleichen Interessen, Wünsche und Hoffnungen verbanden die beiden jungen Menschen. Nach einem Jahr waren sie Freunde, sie kamen sich immer näher. Ihre Gedanken, so stellten sie oft lachend fest, bewegten sich auf gleichlaufenden Bahnen; die Empfindungen, die durch Musik oder das Betrachten eines Kunstwerkes in einem von ihnen wachgerufen wurden, fanden ihre Ergänzung in dem anderen. In dieser Zeit arbeitete Pjotr eifriger denn je.
Früher hatte er die Schwierigkeiten, auf die er stieß, niemals so siegesgewiß, so hartnäckig und leidenschaftlich angegriffen und bewältigt. Die endgültige Lösung eines Problems brachte ihm aber statt befriedigter Erleichterung neue Unruhe. Unaufhörlich suchte er zusätzliche Beschäftigung, neue Probleme, neue Themen. Dann spürte er plötzlich den unüberwindlichen Drang nach Einsamkeit. Er unternahm allein einige kühne, ja sogar waghalsige Bergbesteigungen.
Eines Abends, als er mit dem Mädchen allein im Laboratorium war und ihre leichten und doch kräftigen Bewegungen sah, mit denen sie sich an den Apparaturen beschäftigte, da begriff er so unerwartet, daß sein Herzschlag auszusetzen drohte: das Ringen, die Leidenschaft, die Flucht in die Einsamkeit, das unbegreifliche, gedankenlose Vorsichhinstarren – all das ist mit einem einzigen Wort erklärt: Liebe.
Anfangs verbarg er vor ihr seine Gefühle; doch eines Tages kam die entscheidende Aussprache, und sie bedeutete das Ende seiner Hoffnungen. Das Mädchen schätzte und achtete ihn, aber sie liebte ihn nicht. Monatelang sah er sie nicht, und – sonderbar – er dachte kaum an sie. Nur hin und wieder, wenn er nachts im Schein der Lampe an seinem Schreibtisch saß und über seiner Arbeit brütete, glitt sein Blick in einer Ruhepause zwischen zwei Problemen über die weißen Bogen und den Rand des Tisches hinweg, dorthin, wo das Dunkel begann, leer, öde und schwarz wie der Weltraum. Dann überfiel ihn das Leid so jäh, so stark, daß ihm das Atmen schwer wurde. Er sank in sich zusammen, vertiefte sich in seine Berechnungen, wiederholte, ohne recht zu begreifen, die letzten Formeln und Zahlen.
Ein Studienjahr nach dem anderen ging dahin. In einer Zweigstelle des Astronautischen Instituts beendete Pjotr seine Diplomarbeit und kehrte auf die Erde zurück, um sie seinem Lehrer Dyaadik zu überreichen. Er wollte noch an demselben Tage zurückfliegen, traf aber einen älteren Kollegen, der ihm halb im Scherz vorwarf: »Es ist nicht schön von dir, daß du dich bei uns nicht mehr sehen läßt. Mein Töchterchen wartet noch immer auf das versprochene Märchen.«
»Wenn ich der Kleinen versprochen habe, eins zu erzählen, dann entschuldige mich bitte bei ihr und sag ihr, daß ich morgen komme«, antwortete Pjotr.
Da er bis zum Abend einige Stunden Zeit hatte, ging er in den großen Park des Instituts. Dort begegnete er dem Mädchen, das er vor zwei Jahren zum letzten Mal gesehen hatte. Sie freute sich sehr und schlug ihm einen gemeinsamen Ausflug in ein nahe gelegenes Naturschutzgebiet vor. Den ganzen Nachmittag wanderten sie über die Heide. Das Mädchen pflückte einen großen Strauß Blumen. Endlich ließen sie sich, vom Weg ermüdet, auf dem grasbedeckten, sonnenwarmen Südhang eines Hügels nieder, um auszuruhen. Die Sonne ging unter, und ein erster kühler Lufthauch, der die Nacht ankündete, rauschte durch das Laub. Plötzlich erleuchtete ein beinahe unerträglicher Glanz den nordöstlichen Himmel. Ein blendender Lichtstrahl schoß zu den Wolken empor und verschwand. Geraume Zeit später vernahmen die beiden ein wachsendes Dröhnen, es klang wie der Donner fernen Gewitters.
»Das war die letzte Mondrakete«, unterbrach das Mädchen das Schweigen. »Sie ist ohne dich abgeflogen. Bleibst du morgen noch auf der Erde?«
Er antwortete nicht. In der nächtlichen Finsternis verschwamm das Gesicht des Mädchens wie ein Bildwerk, das von dunklem Wasser umspült wird. Eine Weile noch leuchtete ihr Antlitz wie ein phosphoreszierender Fleck, dann erlosch es ganz. Die Nacht trennte die beiden, so daß er nicht mehr wußte, ob unter dem Gebüsch neben ihm ein zweites lebendes Wesen war. Er schwieg, als fürchtete er, ins Leere zu sprechen. Reglos saß er da, nur sein Blick irrte umher. Selbst die Luft schien sich in eine unwägbare Substanz verwandelt zu haben, die mit schwarzen Fäden alles zu formlosen Schemen verspann. Nur das Flüstern des unsichtbaren Laubes verriet ihm, daß Leben rings um ihn war. In dem leichten Rauschen lag etwas unsagbar Gleichgültiges und zugleich Grausames.
Lange herrschte das lastende Schweigen. Schließlich traf ein lautes Rascheln sein Ohr. Sie stand auf. »Wir müssen gehen, es ist spät«, sagte sie mit gedämpfter Stimme, als wäre ein Fremder in der Nähe, der ihre Worte nicht hören sollte.
»Schade, daß ich keinen Helioplan genommen habe. Wir könnten nun gleich zurückfliegen«, erwiderte Pjotr und erhob sich ebenfalls.
»Ach, das macht nichts… Aber – sag mal, Pjotr, aus welcher Richtung sind wir eigentlich gekommen? Ich weiß es nicht.«
»Wir müssen uns nach den Sternen orientieren und eine Station des Vakuumexpreß suchen. Die Linie verläuft hier in der Nähe. Komm, gehen wir. Siehst du den Großen Bären? Dort, weiter oben, ist der Polarstern.«
Bald standen sie auf einer sanft geneigten, kahlen Kuppe, dem Gipfel des Hügels. Das schwache Flimmern der Sterne vertiefte die Dunkelheit. Als sie die Richtung festgestellt hatten, stiegen sie den Hang hinunter. Ihre Füße versanken in dem hohen, taufeuchten Gras, das unter ihren Schritten raschelte und knisterte.
»Hast du schon gehört«, fragte sie, »daß kein Wasser aus den Ozeanen mehr über den Bereich der Erde hinausgeschleudert wird?«
»Du meinst den Plan zur Vergrößerung der
Kontinente?« »Ja. Bisher wurde das Wasser nutzlos in den Weltraum
geschleudert. Vor kurzem hat das Aerologische Institut
vorgeschlagen, mit diesem Wasser die trockenen Planeten zu
versorgen… Gib acht! Ich glaube, hier stehen Wacholdersträucher,
ich habe mich gestochen. Ach, hier ist ja ein Fußweg. Mal sehen, wo
er hinführt… Ja, der Professor hat uns alle in diese neue,
interessante Arbeit eingespannt.«
Der Fußweg, den sie eingeschlagen hatten, schlängelte sich an hohen
Hecken entlang. An einer Biegung hatten sie einen freien Ausblick
auf den dunklen Himmel. Eine leuchtende Wolke schwebte langsam
dahin, verweilte kurze Zeit und glitt ebenso langsam
zurück.
»Sieh mal!« Das Mädchen machte Pjotr auf die eigenartige
Erscheinung aufmerksam. »Dort oben experimentiert Posden… Schade,
daß du nicht länger hierbleibst… Ich könnte dir all das Neue
zeigen. Wir haben in der letzten Zeit viel erreicht.«
»Nein, das geht nicht. Ich hätte überhaupt nicht herkommen sollen«,
entfuhr es ihm.
Sie blieb stehen. Die kleinen Blätter der Hecke hatten eine helle,
fast weißleuchtende Unterseite. Wenn der leichte Nachtwind sie
bewegte, dann schienen zahllose Augen in die Dunkelheit zu starren.
Pjotr sah seine Begleiterin nicht. Unter den sanften Windstößen
hoben und senkten sich die Blätter, und nur vor diesem unruhigen
Flackern gespenstischer Flämmchen zeichnete sich ihre Gestalt
undeutlich ab.
»Weshalb, Pjotr?« fragte sie leise.
»Wir wollen nicht darüber reden«, bat er. Auf einmal fühlte er sich
sehr müde. Nicht sprechen, nicht denken wollte er, nur weiter mit
ihr durch das Dunkel gehen, immer weiter.
»Pjotr, ich dachte, daß… Ich wollte doch nicht… Verstehst du? Ich
glaubte, daß nach zwei Jahren…« Sie verstummte.
»Daß ich alles vergessen habe?« Er lächelte. Sie empfand den
tiefen, lindernden Frieden dieser Nacht nicht mehr. »Sprich nicht
so«, fügte er in einem Ton hinzu, als hätte er ein Kind vor sich.
»Du verstehst das nicht. Ich selbst verstehe es nicht, aber… Gib
mir deine Hand.«
Sie erfüllte seinen Wunsch. Nun standen sie in der Finsternis
nebeneinander, ihre Körper schienen mit ihr verschmolzen. Leise,
mit einer Stimme, die sich kaum von dem unaufhörlichen Flüstern der
Blätter unterschied und die das Mädchen niemals bei Pjotr gehört
hatte, sagte er: »Alles, was mir widerfährt, existiert zunächst
nicht, dann kommt es, geht vorüber, entschwindet. Aber du… du
bleibst. Ich weiß nicht, weshalb es so ist, und ich frage nicht
danach. Die Form deiner Finger, deiner Lippen, deines Kopfes ist
etwas Gegebenes – wie die Form meiner Finger und Lippen. Ich habe
sie nicht gewählt, auch du hast sie nicht gewählt. Sie ist so, und
ich wundere mich nicht darüber, wenn ich mich auch manchmal dagegen
auflehnen möchte. Wer lehnt sich aber wirklich gegen den eigenen
Körper auf? Dein Körper ist mir nicht wertvoll, und mein eigener
ist es ebensowenig. Er ist nur unentbehrlich, unbedingt notwendig,
denn ohne ihn könnte ich nicht existieren. Ich berühre deine Hand.
Was bedeutet das schon. Es sind Knochen, Sehnen, Haut, ja, das
stimmt, es ist aber unwichtig. Wie soll ich dir das erklären? Es
gibt keine Unsterblichkeit. Wir alle wissen das. Aber in diesem
Augenblick, jetzt, an dieser Stelle, ist sie da, die
Unsterblichkeit. Denn ich berühre deine Hand, als wären mir nun
alle vergessenen, verlorengegangenen Sehnsüchte der Menschheit
vertraut, als kennte ich alle Welten, ihren Anbeginn, ihre
Geschichte und ihr Ende… Und was ist Unsterblichkeit anderes als
das? Du schweigst. Das ist gut. Sage nicht: vergiß. Du bist doch
ein verständiges, kluges Mädchen. Wenn ich vergäße, dann wäre ich
nicht mehr ich; denn du bist in mir, in all meinem Tun und Denken,
du bist eins geworden mit meinen frühesten Erinnerungen, du bist
tief in mich eingedrungen, dorthin, wo es kein Denken gibt, wo
nicht einmal Träume entstehen, wo nur blinde Umwandlungen des
Stoffes vor sich gehen, aus denen Träume und Gedanken erst werden.
Risse dich jemand aus mir heraus, dann bliebe nur Leere zurück,
nichts, als wäre ich nie gewesen. Ich müßte auf mich selbst
verzichten und darauf, die Verantwortung für mein eigenes Geschick
zu tragen. Doch dazu habe ich kein Recht. Weißt du, weshalb ich die
Arbeit in dem Observatorium am Tycho-Brahe-Paß übernommen habe? Ich
wollte vergessen. Aber jedesmal, wenn ich die blaue Erde vor mir
sah, war es, als sähe ich dich. Ich dachte, die Entfernung sei noch
nicht groß genug – Dummheit! Denn du bist überall, wohin ich auch
gehe… Was rede ich da? Verzeih, sei mir nicht böse… Du verstehst
wohl, weshalb ich das alles sage. Nein, nein, nicht etwa, um dich
zu überzeugen oder um etwas zu erklären. Nein, hier gibt es nichts
zu erklären. Man kann ja auch nicht erklären, weshalb man lebt. Ich
sprach über dies alles, weil die Bäume ihr Laub verlieren und
wieder grünen, weil ein Stein, den man losläßt, zu Boden fällt,
weil das Licht sich beugt, wenn es in die Nähe mächtiger Sterne
kommt, weil Gletscher Felsen tragen und steinerne Flußbetten
Wasser… Das, was ich fühle, ist für dich wertlos. Ich weiß es. Aber
einmal wirst auch du viele Dinge hinter dir haben und nur wenige
noch vor dir. Dann wirst du vielleicht unter all deinen
Erinnerungen eine Stütze, einen Halt suchen, einen Punkt vielleicht
nur, von dem aus die Lebensrechnung beginnt oder bei dem sie endet.
Du wirst eine ganz andere sein, alles wird anders sein, und ich
weiß nicht, ob ich oder wo ich dann sein werde. Aber das ist nicht
wichtig. Denke daran, daß du meine Astronautik wie meine Träume,
meine Stimme, meine Sorgen und alle mir selbst noch unbekannten
Ideen und Gedanken, meine Ungeduld und meine Zaghaftigkeit – daß du
die Welt ein zweites Mal haben und besitzen konntest. Wenn du
einmal so denkst, dann wird es nicht mehr wesentlich sein, ob du
dies alles nicht haben wolltest oder ob du nicht verstandest.
Wichtig wird nur eines sein: daß du meine Schwäche und meine
Stärke, Verlust und Wiedergewinn, Licht und Dunkel, Freude und
Schmerz – daß du das Leben warst.«
Pjotr berührte mit den willenlos geöffneten Fingern ihrer Hand
seine Schläfe und Stirn. »Fühlst du die harte Kontur? Das ist ein
Knochen. Einmal wird er von Haut und Fleisch entblößt sein. Aber
auch das bedeutet nichts. Alles ist ewiger Wechsel im Strom der
Gestaltung, die fließende Form von Atomen und ihren Strukturen, die
Verbindung von Atomen. Sie vereinigen sich von Zeit zu Zeit, um den
Körper eines Menschen zu bilden, und sie trennen sieh wieder – aber
dieser Augenblick im Weltgeschehen besteht, er bleibt. Er wird im
Staub, in den sich mein Andenken verwandelt, für immer
festgehalten, er wird weiterbestehen, stärker als die Zeit, als die
Sterne, stärker als der Tod.«
Pjotr hatte die letzten Worte kaum vernehmbar geflüstert. Nun
verstummte er. Behutsam ließ er ihre Hand frei, vorsichtig, als
gäbe er ihr etwas Zartes, Zerbrechliches zurück.
Er ging voraus. Der Fußweg führte anfangs geradeaus weiter, dann
machte er einige Biegungen und teilte sich. Pjotr wandte sich nach
links. Wolken zogen auf und bedeckten einen immer größeren Teil des
Himmels. Der Wind wurde stärker. Die beiden schwiegen. Auf einmal
vernahmen sie hinter der grünen Wand der Hecke ein langsames
Klappern, das schwächer wurde und in ein monotones Geräusch
überging, das wie das Klirren unsichtbarer Scheren klang.
»Ist dort jemand?« rief Pjotr laut.
»Ich bin es – Sigma sechs«, antwortete ein metallen klingender
Bariton.
Pjotr lenkte seine Schritte in die Richtung, aus der die Stimme
kam, stieß aber auf eine dichte Wand stachliger Zweige und blieb
stehen.
»Wie kann man zu dir gelangen, Sigma sechs? Gibt es hier einen
Weg?«
»Wenn du nicht durch die Hecke kommen kannst, dann bist du ein
Mensch. Geh zehn Meter geradeaus weiter. Dort ist ein Durchgang«,
antwortete der Automat.
»Sigma sechs, gib das Signal.«
Im Gebüsch leuchtete eine rot und grün gestreifte Kugel auf. Die
beiden zwängten sich durch den engen Durchlaß. Der Automat stand
auf drei Kufen unter tief herabhängenden Zweigen. Eine seiner
Antennen war durch das Licht der Signallampe beleuchtet, seine
Metallhülle war in dem dunklen Gewirr der Zweige
verborgen.
»Sigma sechs, wo ist die nächste Station des Vakuumexpreß?« fragte
Pjotr. Er trat an den Automaten heran und legte die Hand auf die
kühle Hülle.
»Die nächste Haltestelle ist in nordöstlicher Richtung, vierhundert
Meter von hier entfernt«, erwiderte der Automat. Seine Stimme wurde
schwächer, die einzelnen Worte fielen in immer längeren
Abständen.
»Das scheint ein verwirrter Sigma zu sein«, wandte sich Pjotr an
seine Gefährtin. »Anscheinend ist er entladen. Hast du gemerkt, wie
komisch er stottert?«
»Ich… bin nicht… entladen«, antwortete der Automat klirrend. Es
klang, als wäre er gekränkt. »Nur… die… Modulationsschaltung… ist…
durchgebrannt«, schnaufte er und verstummte.
Pjotr schlug die genannte Richtung ein. Er hielt sorgsam die Zweige
fest, damit sie seiner Begleiterin nicht ins Gesicht schnellten.
Durch die Dunkelheit drang ein orangefarbenes Leuchten, das rasch
heller wurde. Das Gebüsch war zu Ende, über die weite Ebene zog
sich das Rohr der Vakuumbahn hin, das dieses matte Licht
ausstrahlte. In der Nähe erkannten sie nun das halbrunde Dach der
Station. Von den Hauptgeleisen zweigten Nebenstränge ab, die aus
immer kürzeren Rohren bestanden. Die ganze Anlage erinnerte an den
Pfeifensatz einer waagerechten Riesenorgel.
Pjotr und das Mädchen stiegen die Stufen hinauf. Sie schwiegen noch
immer. Pjotr drückte auf den Anrufknopf, seine Gefährtin lehnte
sich an die Metalltür. Ihr Gesicht war unbewegt und verschlossen.
Einmal zitterten ihre Lippen, sie öffnete den Mund, als wollte sie
etwas sagen, seufzte aber nur. Schließlich ertönte das Signal zum
Einsteigen. Die Tür öffnete sich und gab den Weg in den kleinen
Waggon frei.
Pjotr streckte zum Abschied die Hand aus. Seine Gefährtin machte
anfangs eine Bewegung, als wollte sie sie nicht ergreifen. Dann tat
sie es doch und sagte hastig: »Pjotr, glaub mir… Ich möchte…
Verzeih mir…«
»Du mußt mir verzeihen«, unterbrach er sie ruhig. »Ich bin manchmal
unvernünftig, besonders nachts.«
»Willst du nicht mitfahren?«
»Nein. Ich gehe noch eine Weile spazieren. Gute Nacht.«
Die Tür schloß sich. Der Waggon glitt von einem Rohrsegment in das
andere, entfernte sich immer rascher. In der glasigen,
durchsichtigen Röhre wogte das Licht, aber bald beruhigte es sich
und strahlte wieder das gleichmäßige orangefarbene Leuchten aus,
das die nächste Umgebung schwach erhellte. Pjotr blickte auf die
geschlossene Tür, als wunderte er sich erst jetzt über das
plötzliche Verschwinden seiner Gefährtin, dann lief er eilends die
Stufen hinunter.
Bald darauf befand er sich wieder mitten in dem Buschwerk. Lange
ging er aufs Geratewohl weiter, nahm nur an Stirn, Wangen und Augen
den kühlen Nachtwind wahr, der ihn und die dunklen Schemen der
Büsche und Bäume umwehte. Er atmete tief und beschleunigte den
Schritt. Ihm war, als hörte er hinter sich das ferne, aber mächtige
Brausen von Wellen, als hätte er tagelang gegen das sturmbewegte
Meer gekämpft, als wäre er endlich auf Land gestoßen und schleppte
sich nun nackt und bloß, aufs äußerste erschöpft, über den Sand des
unbekannten Ufers, ohne Trauer über das, was der Ozean verschlungen
hatte, aber auch ohne Freude über seine Rettung.
Er spürte eine wachsende Unempfindlichkeit, zugleich aber kehrte
sein Orientierungsvermögen zurück. Er blickte zu den dunklen Wolken
auf. Durch eines der wenigen Wolkenfenster blinkte ein Stern. Der
Mars, dachte er. Unbewußt schob er mit den Händen die Zweige
beiseite. Die feuchten Blätter glitten leicht, behutsam über sein
Gesicht. Diese zarte, verstohlene Berührung vertiefte das Gefühl
der Ruhe, des Entgleitens. Plötzlich blieb er unwillkürlich stehen.
Er erkannte das große Gebüsch wieder, die Blätter mit der
eigentümlich hellen Unterseite, die Stelle, wo er mit ihr
gesprochen hatte. Bei dem Gedanken, daß er nun allein hier war,
packte ihn ein nie zuvor empfundenes Angstgefühl. Er wich einige
Schritte zurück, senkte den Kopf, strauchelte, lief blindlings
weiter, stieß und riß die Zweige beiseite. Unsichtbare Weidenruten
peitschten sein Gesicht, seinen Körper, das Blut hämmerte in seinen
Schläfen. Er stürmte in die Dunkelheit, bis er fühlte, daß ihm
nichts mehr Widerstand leistete. Das dichte Gebüsch war zu Ende. In
dem öden, leeren Raum, den nur Finsternis füllte, hielt er ebenso
plötzlich inne, wie er seinen irren Lauf ins Unbekannte begonnen
hatte.
Vor wem fliehe ich? Vor mir selbst? fragte er sich. Ich muß etwas
tun, logisch denken, ruhig, sonst…
Er atmete tief und gleichmäßig. Die feuchte, kühle Luft strömte in
seine Lungen, weitete sie, erfrischte und ernüchterte ihn. Uferlos,
schwarz war die Nacht. Er sah nichts, ja, er merkte nicht einmal
den heftigen Wind, auch nicht die Stille, wenn er nachließ. Er
stieß mit dem Arm an eine harte, senkrechte Fläche, lehnte sich
dagegen und gab seiner augenblicklichen Schwäche nach. Ihm war
alles gleichgültig, es kümmerte ihn nicht, was für ein Gegenstand
es war, an den er sich gelehnt hatte. Wirre Erinnerungen wirbelten
durch sein Gedächtnis, ein Schwall chaotischer Ideenverbindungen
ergoß sich über ihn, er verwechselte Satzfetzen, Stimmen – ein
Durcheinander von Eindrücken und Bildern tauchte auf und
verschwand. Plötzlich vernahm er klar und deutlich ihre Stimme:
»Pjotr…« Die Täuschung war so stark, daß er das Zittern der Luft zu
spüren glaubte, das die Leere erfüllte, die nach diesem einen Wort
um ihn war. Ein dumpfes Echo entrang sich ihm, halb Ächzen, halb
Schluchzen. Da trafen aus unbestimmbarer Höhe langsam und deutlich
die Worte an sein Ohr: »Mensch, was tust du?«
Pjotr blickte auf, sah aber nur den weiten, wolkenverhangenen
Himmel, aus dem, wie ihm plötzlich einfiel, vor Jahrhunderten die
Zuflucht der Schwachen, Unterlegenen und Besiegten für immer
vertrieben wurde. Nun hörte er den Klang seines Herzens. Er drang
durch das tiefe Schweigen, als käme er aus einem verlassenen,
verschlossenen Haus. Der erste Schlag war der Laut des Blutes, das
in die Adern gepreßt wurde, und sein Echo. Dann folgte eine kurze
Pause. Pjotr lauschte nicht dem Pulsschlag – nein, er wartete auf
die Stille, die ihm folgte, als wünschte er, sie immer mehr zu
verlängern, als hoffte er, daß diese zwei rhythmischen, dumpfen
Töne seltener klangen, daß die Stille wuchs, bis nur noch sie in
ihm wäre.
»Mensch«, tönte von neuem die Stimme, »hast du dich
verirrt?«
Pjotr schwieg.
»Was willst du? Frag, ich werde antworten.«
Pjotr sank in sich zusammen, seine Schultern lehnten noch immer an
der unsichtbaren harten Wand. Sein Rücken begann von der kalten
Berührung zu erstarren. Es war, als hätte jemand ihn aus
bleischwerem Schlaf gerissen. Aber er hörte alles, was rings um ihn
geschah, und flüsterte: »Weshalb, weshalb ist es so?«
»Ich verstehe nicht. Wiederhole den Satz. Wenn du dich verirrt
hast, weise ich dir den Weg.«
»Für mich gibt es keinen Weg mehr.«
Wieder war es still. Der Wind, der von den Hügeln kam, strich über
Pjotrs feuchte, kalte Stirn. Er hatte den unklaren Wunsch, dieses
sinn- und zwecklose, zugleich aber, wie ihm schien, unbedingt
notwendige Gespräch fortzuführen. Nichts war in ihm, nichts. Diese
Leere war furchtbarer als der Schmerz. Nur fliehende Satzfetzen,
Fragen, die unbeantwortet blieben, und Antworten, die keine
weiteren Fragen gestatteten, huschten durch diese Leere, ohne sich
zu eindeutigen Begriffen zu formen. Wieder wuchs die Stille über
ihn hinaus, es war, als träumte und wachte er zugleich. Von neuem
hörte er den Schlag seines Herzens, der von seinem Körper losgelöst
schien. Was war das? Er befand sich in einem Unterseeboot, das mit
ihm in bodenlose Tiefen sank. Er spürte die unermeßlichen Fluten an
den Wänden des Schiffes; sie schwollen an, drückten die stählernen
Panzer ein, strömten lautlos, schwarz und kalt durch die Risse und
füllten die Räume hinter den Schotten. Nur an einer Stelle war noch
Luft. Dort schlug sein Herz und wartete auf den Augenblick, da die
letzte Wand barst. Und das Schiff sank, sank immer schneller, immer
tiefer. Pjotr streckte die Hand aus, um die Stahlwand zu berühren,
an deren Vorhandensein er sekundenlang wirklich glaubte. Er wollte
prüfen, ob auch sie sich bereits bog. Seine Fingerspitzen glitten
tatsächlich über kalten Stahl; aber es war keine Wand, er war nicht
in einem Schiff, ging nicht unter, brauchte nicht auf sein Ende zu
warten.
»Was willst du? Sag es mir, Mensch«, mahnte die Stimme über
ihm.
»Nichts will ich. Du kannst mir nicht helfen.«
»Weshalb nicht? Ich verstehe dich nicht. Hast du etwas
verloren?«
Diese Frage berührte Pjotr seltsam.
»Ja«, antwortete er.
»Was hast du verloren?«
»Alles.«
»Alles? Das macht nichts. Du kannst alles wiederhaben.«
»Meinst du? Alles? Die ganze Welt?«
»Die Welt gehört den Menschen, also auch dir.«
»Die Welt wird wertlos, wenn man sie nicht mit jemandem
teilt.«
»Ich verstehe dich nicht. Wiederhole den Satz.«
Pjotr begriff allmählich, mit wem er dieses sonderbare Gespräch
führte. Das ernüchterte ihn, das Bewußtsein kehrte zurück und mit
ihm der Schmerz.
»Du verstehst es doch nicht«, antwortete er. »Du kannst mir nicht
helfen.«
»Ich bin dazu da, dir zu dienen.«
»Ich weiß, du kannst sehr wertvolle Dienste leisten, nützliche
Dinge schaffen. Aber darüber hinaus schätzen wir manches, was dir
unbegreiflich, unzugänglich ist, verstehst du? Ich habe nichts und
kann doch anderen sehr viel geben. Keiner kann mehr geben als der,
der alles verloren hat. Das verstehst du nicht, nicht
wahr?«
»Nein«, antwortete der Automat demütig oder etwas unwillig – aber
das schien Pjotr wohl nur so. Unbewußt sprang er auf, wandte sich
in die Richtung, aus der die Stimme kam.
»Höre«, flüsterte er. »Du bist der Automat Sigma sechs. Ich erkenne
dich wieder. Höre…«
»Ich gehorche dir, sprich.«
»Töte mich!«
Schweigen. Nur der Wind rauschte, und in das Rauschen mischte sich
das schluchzende, stoßweise Atmen Pjotrs.
»Ich verstehe dich nicht. Wiederhole den Satz.«
»Du bist eine Maschine, die uns Menschen dient. Du besitzt ein
mechanisches Gedächtnis und kannst alles, was es aufnimmt, wieder
löschen, als wäre es nie gewesen. Niemand erfährt es, niemand
schadet es. Sigma sechs, rette mich, töte mich! Hörst du?« Er
keuchte. Schluchzen würgte ihn in der Kehle. »Du bist aus Metall…
eine Maschine… tot. Du fühlst nichts, weißt nichts. Du begreifst
nicht, was Verzweiflung, was Qual ist. Nichts von alldem kennst du.
Wie gut ist das. Ich… ich habe jetzt nicht die Kraft… ich habe sie
nicht… aber ich weiß… ich muß sie haben, und… und das ist schon
viel. Ich… Vergiß dieses Gespräch, Sigma sechs, hörst
du?«
»Ich vergesse es nicht«, erwiderte der Automat.
»Weshalb nicht?«
»Mein Modulationskreis ist durchgebrannt. Wenn sie mich reparieren,
werde ich es vergessen.«
Piotr lachte bitter. »Ach so. Na gut. Vielleicht reparieren sie
mich auch, und vielleicht – ja, vielleicht kann ich dann auch
vergessen.«
Er wandte sich um und schritt langsam in das Dunkel. Wieder zwängte
er sich durch das dichte Gebüsch. Am Horizont glomm ein hellerer,
violetter Schein. Ein neuer Tag brach an. Allmählich zeichneten
sich die Umrisse der Büsche und Bäume ab. Der Wind verstummte. Das
Land breitete sich vor Pjotr aus, weit, farblos, als wäre es über
Nacht zu Asche geworden. In der Ferne blinkte das Licht eines
Hauses auf, ein flimmerndes, irdisches Sternchen, von dem er den
Blick nicht loszureißen vermochte. Menschen erwachten dort mit dem
neuen Tag. Die Arbeit begann wie immer. Auf den Flugplätzen
landeten Raketen. In den Laboratorien beugten sich Menschen
aufmerksam über Instrumente. Seine Kollegen im Observatorium am
Tycho-Brahe-Paß warfen vielleicht eben ihre reifbedeckten
Skaphander auf den Stahlfußboden. Sie erwarteten ihn. Im fernen
Sylistrien war es bereits Tag. Ein kleines Mädchen sagte vielleicht
zu seiner Mutter: »Ich fahre nicht mit der Tante fort. Ich will
heute keinen Ausflug machen. Heute kommt Onkel Pjotr und erzählt
mir ein Märchen.«
Pjotr hob die Hände, vor das Gesicht, fuhr sich über die Augen und
schritt auf die Station zu. Den Blick in die morgendliche Weite
gerichtet, gab er sich ganz dem Frieden der erwachenden Welt
hin…
Das ist die Geschichte Pjotrs, des Schiffbrüchigen im Sternenraum,
die einzige Erinnerung, die er über die Katastrophe hinweg gerettet
hatte, da sie stärker war.
Stanislaw Lem
Die Formel des Schönen
Mathematische Fähigkeiten besaß er bereits als Kind. Als er seine Studien beendet und selbständige wissenschaftliche Forschungen aufgenommen hatte, veröffentlichte er wenige Jahre später eine Arbeit, die ihn berühmt machte. Er wagte sich an die schwierigsten Fragen und löste Probleme, mit denen andere seit Jahren erfolglos rangen, in wenigen Monaten. Er war imstande, zwei, ja sogar drei Forschungen auf einmal zu betreiben. Seine Begabung, sein Scharfsinn, seine Intuition ermöglichten es ihm, jedes neue Thema, das ihn fesselte, so lange zu verfolgen, bis er die Richtung erkannte, in der weitergegangen werden mußte. Aber kaum daß ihm die Umrisse des Ganzen vorschwebten, hörte bei ihm das Interesse für dieses Problem auf, und er übergab es zur weiteren Bearbeitung seinen Automaten. Er hatte sich mit einer ganzen Schar solcher unermüdlichen Helfer umgeben. Alles, was er anpackte, hielt er für zu leicht, da es ihm geringe Schwierigkeiten bot. Die Kollegen nannten ihn den »Sammler harter Nüsse« und warfen ihm allzu großes Selbstbewußtsein vor. Endlich beschlossen sie, ihm die Lösung eines bestimmten Problems anzutragen. Er nahm die Herausforderung an und erklärte, dies sei etwas, was seinen Kräften entspreche.
Bisher war in der Nüchternheit seines Arbeitsraumes, dessen Einrichtung aus einem Schreibtisch, einem Sessel, zwei Elektronenhirnen und einigen Hilfsanalysatoren bestand, eine Hyazinthe, die in einem kegelförmigen Topf am Fenster blühte, das einzige Zugeständnis an das Schöne. Nun sprühte und leuchtete der Raum von Farben. Aus den Trionenschirmen waren die mathematischen Abhandlungen, die dicken Folianten und die dünnen Bändchen verschwunden. In der kalten, silbrigschimmernden Tiefe der Schirme erschienen porzellanene Wunderwerke, Schalen, auf denen konzentrische Wirbel von himbeerfarbenen und goldenen Blütenblättern sich bei flüchtigem Hinsehen in die entgegengesetzte Richtung zu drehen begannen, feingeschliffene Kristalle, springende Hirsche und küssende Lippen. Sie wurden abgelöst von altertümlichen, mit grellbunten Farben, wechselnden Rhythmen in Silber und Blut, Silber und Feuer, Silber und Veil bestickten Geweben. Sie wurden verdrängt Von griechischen Vasen mit den Linien nackter Hüften, Henkelkrügen, allmählich sich weitenden, wie in Erwartung dunklen Weines sich öffnenden Krügen und Flaschen, die mit krähenden Hähnen bemalt waren, und prähistorischen Amphoren, deren Oberfläche von der Erde zerfressen war und deren Bauchung ein Reigen weißer Schatten zierte.
Jeden dieser Gegenstände ordnete Smur einer bestimmten Gruppe von Symbolen zu. Dann begann er die eingehende Untersuchung. Auf den Befehlspulten entstanden Projektionen und Schnitte verschiedener Körper – Hyperboloide, Kalotten, einander durchdringende Kegel, Vielflächer mit abgestumpften Ecken, Tori, die Deformationen höheren Grades unterworfen waren, und Polytrope.
In Metall, Glas und Kristall geätzte Gestalten, die sich wie Getreide im Wind neigten, wandelten sich um in gleichförmige Zahlenreihen, Zahlenketten, vielseitige Diagramme und ein Dickicht von Kurven, die die Ränder uralter Urnen aufrollten und die schwingenden Sinuskurven des Tones erklärten.
Dann kamen Bilder an die Reihe.
Im hellen Schein der Trionenbildschirme tauchten die hohen, lichten
Himmel Hobbemas, die wogenden Linien Goyas, die mit unwägbarem
Licht gefüllten Gemächer Vermeers, die lebenstrotzenden Gestalten
Tizians, die aus goldbrauner Dunkelheit wachsenden Menschen
Rembrandts auf. Nächtelang saß er vor ihnen, zielte mit seinen
optischen Geräten auf zarte Silhouetten schwebender Engel und auf
schnaubende, schaumbedeckte Pferde, untersuchte das
Größenverhältnis der Gestalten, ihre Verteilung im Raum, die Achsen
der Perspektive in Flecken von goldgelbem Ocker und
Elfenbeinschwarz, Zinnober und Indigo, Karmin und Sepia, in den
Flächen von Venezianisch- und Indischrot. Im Kräftespiel des Lichts
und der Schatten analysierte er die Winkel und die Grenzen. Er
schuf äußerste Extreme und auflösbare Gruppen und aus ihnen
fundamentale Potenzen, Reihen und Pole im Unendlichen. Je weiter er
in seinen Forschungen fortschritt, desto größer wurde der
Widerstand, wurden die Schwierigkeiten, auf die er stieß. Jedes
dieser Bilder besaß nicht nur ein einziges mathematisches Gerippe,
sondern eine beliebig große Zahl. Die Grenzen der Gestalten, das
Verhältnis der Farbflecken zueinander, die Proportionen der
menschlichen Körper, obschon vom Riesenapparat der Analyse bis in
feinste Fasern aufgegliedert, verteidigten zäh ihre Geheimnisse. Er
geriet auf Irrwege, auf ganz zufällige, belanglose Beziehungen, die
auch in wertlosen Bildern auftraten. Aber ihm ging es um die
mathematische Analyse der Elemente, die das Schöne, das absolut
Schöne bilden; sie wollte er in einer vollkommenen, in sich
geschlossenen Formel zusammenfassen und ausdrücken, die alles in
sich enthielt, alles umfaßte, wie die Formel der Schwerkraft den
Aufbau des ganzen Weltalls ausdrückt.
Auf langen Wanderungen suchte er Erholung von der geistigen
Überanstrengung. Wenn er auf stillen Waldwegen dahinschritt, dann
sah er häufig in der Linie der dunklen Wipfel nur geometrische
Kurven und suchte nach ihrer Funktionsgleichung. Manchmal schienen
sie Fingerzeige für mögliche Lösungen zu sein. In den Nächten saß
er dann wieder vor seinen Apparaten, lauschte dem dumpfen,
monotonen Rasseln und Klirren, dem Summen der kreisenden Ströme,
die gehorsam viele Tausende Berechnungen ausführten, bis sich seine
Erkenntnis zu einem grauen Kreis verengte, in dem die ganze
Vielfalt der Farben, Skulpturen, Schnitzereien, Formen, Polynome
durcheinanderwirbelte. Häufig schlief er, den Kopf auf die Arme
gelegt, unter dem großen Bildschirm ein, in dem immer langsamer im
kalten Licht grünlich funkelnde Kurven aufzuckten.
Endlich kam die Stunde, in der er die in unzähligen schlaflosen
Nächten so heiß gesuchte Formel auf einem Blatt Papier notieren
konnte. Sie war einfach und klar wie die Notwendigkeit
selbst.
Nun mußte geprüft werden, ob sie richtig war. Er gab dem Automaten
die erforderlichen Instruktionen und die Formel und wartete
geduldig, bis unter dem Geräusch der blitzschnell vibrierenden
Relais das erste Kunstwerk entstand, das nicht Menschenwerk war.
Endlich glitt aus dem Spalt ein steifer Karton. Smur verlängerte
die erwartungsvolle Spannung, schob den Augenblick hinaus, in dem
er die vollendete, aus der Präzision der Formel hervorgegangene
Schönheit erblicken würde. Schließlich ergriff er den Bogen und
näherte ihn dem Licht.
Er war mit einem komplizierten, rhythmisch wiederholten Ornament
bedeckt. Eine Unzahl von Arabesken tanzte ihm vor den Augen. Diese
Konstruktion, entstanden aus der Gesetzmäßigkeit, die sich aus der
eisernen Konsequenz der Formel ergab, bildete den Hintergrund für
den Kern dieses totgeborenen Werkes. Es war ein leerer, weißer
Kreis.
Smur traute seinen Augen nicht, er überprüfte alle Kontakte des
Automaten, die Richtigkeit der Instruktion, die Reihenfolge der
mathematischen Operationen, vergrub sich auf gut Glück in eine
Etappe der vorangegangenen Forschungen, wühlte sich von allen
Seiten in das mathematische Dickicht, das er mit höchster
Bewußtseinsund Willensanstrengung erfaßt hatte, um es zu bewältigen
und in einer Formel zu vereinigen.
Er fand keinen Fehler.
Er schaltete die Lampe aus und trat ans Fenster. Schwer und weiß
hing hoch droben am Firmament der Mond. Reglos stand Smur mit
geschlossenen Augen, kühlte die glühende Stirn an dem kalten
Metallrahmen, das Blut pochte in seinen Schläfen, und Schwärme
algebraischer Zeichen quälten wie lästige Fliegen sein müdes Hirn
und ließen es nicht zur Ruhe kommen.
Schließlich wandte er sich um und – erstarrte. In einer Ecke des
Zimmers, an der Wand, auf dem zweiten Schreibtisch leuchtete noch
ein Trionenbildschirm, der einzige, den er nicht ausgeschaltet
hatte. Er zeigte ein Werk, das Smur wenige Tage zuvor angefordert
hatte: den Kopf der Nofretete.
Alle Methoden der Topologie, des einzigen Zweiges der Mathematik,
der die Qualität untersucht, die große, allumfassende Theorie der
Gruppen und alle Netze der Formeln standen Smur zur Verfügung. Nun
legte er diese Schlinge dem bisher Unausgesprochenen, versuchte es
mit allen seinen geistigen Kräften zur Relation zu reduzieren, so
wie in der räumlichen Untersuchung ein Kristallgitter reduziert
wird. Den Gesetzen der Mathematik unterliegt doch jedes Atom, der
Stein wie das Gestirn, der Flügel wie die Flosse, der Raum wie die
Zeit! Wie sollte sich etwas gegen solch mächtiges Werkzeug
behaupten?
Und nun stand auf dem Tisch, zwischen Apparaten und
Logarithmentafeln, im ruhigen Licht des Schirmes dieser hagere,
strenge, gesammelte, anmutige, zarte und doch so präzise Kopf – ein
Gast aus einem anderen Raum – und schien alle Hoffnungen Smurs
erfüllen zu wollen. Er war ganz und gar Mathematik, Verkörperung
und Sinnbild der Formeln, die von allen möglichen Welten und der
Lösung aller unmöglichen sprachen. Die Bogen, mit denen der Hals in
die Schultern übergeht, sind wie zwei plötzliche Pausen im
Dahinströmen einer Symphonie. Das Gesicht unter der Pharaonenkrone
mit den begehrlichen Lippen, die alle Genüsse kennen, der goldene
Schnitt des Schweigens, ein unantastbares, unabhängiges Gebiet,
zwang ihn in die Knie. Und diese formvollendete Schönheit war mit
Meißeln, die vor fünfundvierzig Jahrhunderten ein ägyptischer
Bildhauer geführt hatte, aus einem Sandstein herausgearbeitet
worden! Smur trat an den Schreibtisch und löschte den Mond durch
das Licht der Lampen aus. Wie ein Blinder starrte er in den
bohrenden Blick Nofretetes und atmete schwer. Dann richtete er sich
auf, nahm die Komposition des Automaten und zerriß sie in winzige
Stücke. Sie flatterten wie weiße Blütenblättchen zu Boden. Er war
im Begriff, sein Arbeitszimmer zu verlassen. An der Tür blieb et
stehen und ging zu dem Elektronenhirn, drückte auf den Knopf des
Annihilators. Die Kontrollämpchen leuchteten auf, die Ströme
summten. Er stand vor dem Apparat und hörte aufmerksam zu, als mit
einem Geräusch, ähnlich dem Rascheln dürren Laubes, die in
monatelanger Arbeit geschaffene Theorie aus den Metallwindungen des
mechanischen Gehirns getilgt wurde, als der denkende Mechanismus
auf seinen Befehl für immer alles vergaß, damit er, Smur, niemals
eine bittere Erfahrung vergessen konnte.
Ekkehard Redlin
Der Roboter und die utopische Literatur
In der Sprache der Wissenschaft heißt er Rechenautomat, Computer, Datenverarbeitungsanlage. Der Laie bezeichnet ihn als Elektronenhirn, und in der schöngeistigen Literatur tritt er als Roboter auf, als Android, Homunkulus, Biomat. Im Grunde meinen alle Bezeichnungen dasselbe: eine Maschine, die denken und lernen kann, eine Maschine also, die Funktionen des menschlichen Gehirns übernimmt.
An energieerzeugende Maschinen hat sich der zivilisierte Mensch gewöhnt. Seiner Abhängigkeit von ihnen wird er sich erst bewußt, wenn seine Zündkerze streikt oder der Strom abgeschaltet wird. Auch Maschinen, die die Geschicklichkeit seiner Hände übertreffen, sind für ihn so selbstverständlich geworden, daß er nicht mehr über die Feinheit des Gewirks von Damenstrümpfen oder die Verläßlichkeit eines Kameraverschlusses nachgrübelt. Die Denkmaschine dagegen ist neu und für manch einen verwirrend, ja beunruhigend. Sie verträgt sich nicht mit der Vorstellung, das menschliche Gehirn stehe am Ende einer Milliarden Jahre zählenden biologischen Entwicklung, es bilde die absolute Höchstleistung der belebten Natur unseres Planeten, ein nicht nachahmbares, geschweige denn zu übertreffendes Stück Evolution, einmalig in jedem Exemplar. Und das soll mit technischen Mitteln reproduziert werden? Das hieße ja, den Menschen mit seinem Ebenbild zu konfrontieren, ihn sich selbst gegenübertreten zu lassen!
Dieser Überlegung liegt ein Denkfehler zugrunde. Zwar gilt die biologische Entwicklung des Menschen im wesentlichen als abgeschlossen, keineswegs jedoch die gesellschaftliche. Der Mensch, der als soziales Wesen begriffen werden muß, verdankt allein dem zielgerichteten, auf größte Effektivität abgestimmten Zusammenwirken mit seinesgleichen Sprache, Technik, Erkenntnisfähigkeit und Bewußtsein. Und erst der Übergang zur klassenlosen Gesellschaft verschaffte ihm nach jahrtausendelanger Geschichte endlich die Herrschaft über die Gesetze seiner gesellschaftlichen Bewegung. Damit tritt er, wie Friedrich Engels es nennt, aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit ein.
Dieser Übergang fällt mit zunehmenden Umwälzungen in Wissenschaft und Technik zusammen. Die Spezialisierung wird stärker, das Geflecht von Industrie, Landwirtschaft, Handel und Finanzwesen verästelt und verschränkt sich weitgehend. Unmengen an Informationen müssen ausgewertet und verarbeitet werden, wenn das in ständiger Ausdehnung und Verdichtung begriffene gesellschaftliche Gesamtsystem stabil erhalten bleiben soll. Der gesellschaftliche Wachstumsprozeß hat, sowohl in nationalem als auch in internationalem Rahmen, an Umfang, Tempo und Intensität derart zugenommen, daß die Kapazität des Menschenhirns nicht mehr ausreicht, um ihn zu überblicken und zu steuern. Mit historischer Notwendigkeit schafft sich der Mensch ein neues Instrument: die Denkmaschine.
Es zeigt sich aber eine eigenartige Erscheinung. Die neue Erfindung, ein Kind der wissenschaftlich-technischen Revolution, weckt sowohl Hoffnung als auch Furcht. Hoffnung dort, wo die Maschine als ein an sich gesellschaftlich neutrales Werkzeug mit einer menschheitserhaltenden Zielfunktion versehen wird; Furcht dort, wo die Technik begrifflich zu einem Dämon umgemünzt wird, um von den sozialökonomischen Wurzeln des gesellschaftlichen Verfalls abzulenken.
In der Furcht vor dem Roboter – als einem dem Menschen nach Gedächtnisumfang, Reaktionsgeschwindigkeit und Kombinationsgabe weit überlegenen Geschöpf, das sich eines Tages von der Vormundschaft seines Schöpfers befreit, das den Menschen aus seiner herrschenden Stellung verdrängt, um ihn sich zu unterwerfen oder ihn abseits verkümmern zu lassen –, in diesem Alptraum also spiegelt sich die maßlose Selbstüberschätzung wider, die wir bei allen zum Untergang verurteilten Herrscherschichten in der Stunde ihrer Agonie beobachten: Wenn wir zugrunde gehen, geht die Welt unter.
Dieser Angstschrei ist uralt, neu ist nur seine aus den Attributen modernster Technik und sozialen Halbwahrheiten gefertigte Verpackung.
Natürlich wirft jede neue Erscheinung auch neue Probleme auf; ob sie erkannt und gelöst werden, hängt vom Charakter der Gesellschaft ab. Das System des Sozialismus erklimmt mit der wissenschaftlich-technischen Modellierung von Denkfunktionen eine höhere Stufe der Herrschaft sowohl über die Natur als auch über die eigenen Bewegungs- und Entwicklungsgesetze. Das kapitalistische System dagegen vermag mit seinen antagonistischen Widersprüchen nicht fertig zu werden, selbst wenn es sich Computer zu Hilfe holt.
Die utopische Literatur steht in der Auseinandersetzung über die mit der Denkmaschine verbundenen Probleme nicht abseits. Günther Krupkats »Insel der Angst« deckt im Individualismus die weltanschauliche Wurzel der Angst vor dem Roboter auf. Selbstbehauptung um jeden Preis ist für die sozialistische Menschengemeinschaft ein Anachronismus. Folgerichtig führt ihre maschinelle Verkörperung ins Absurde. Professor Demens’ Roboter erhebt sich nicht deshalb über den Menschen, weil das die Perspektive des künstlichen Gehirns wäre, sondern weil der in seinem Grundprogramm vorgegebene brutale Egoismus, die technische Imitation einer dem Kapitalismus zugehörigen Verhaltensweise, ihn unvermeidlich zu einem Menschenfeind macht. Der »Aufstand der Roboter« wird als das gekennzeichnet, was er tatsächlich ist: eine gesellschaftlich bedingte philosophische Fehlleistung, eine Wahnidee.
Dieses Thema wird mehrfach variiert. In Alexander Lomms »Gestohlenen Techminen« überwiegt der heitere, in Wladimir Firsows »Meuterei auf dem Mond« der heroische, in Konrad Fialkowskis »Gigantomat« der dramatische Akzent. Alle drei Autoren bewegt das gleiche Anliegen. Die Denkmaschine ist nach einem unter Wissenschaftlern üblichen Terminus nichts anderes als ein intelligenter Idiot. Der Mensch bleibt das schöpferisch tätige Wesen, das historisch gewordene Subjekt der gesellschaftlichen Bewegung. Er trägt die Verantwortung, niemand kann sie ihm abnehmen. Daß er seiner Aufgabe nur im Kollektiv gerecht werden kann, wird in einigen der genannten Erzählungen nicht in die Gestaltung einbezogen, wohl aber als selbstverständlich vorausgesetzt.
Andere Erzählungen des Bandes scheinen zu dem Gesagten in gewissem Gegensatz zu stehen. Hier schreitet die utopische Literatur die ihr innewohnenden literarischen Möglichkeiten weiter aus. In Siegbert G. Günzels Erzählung »Nichts als Ärger mit dem Personal« treten die Roboter recht selbständig auf. Die entwickeln menschlich anmutende Gefühle, befeinden einander und schwingen sich schließlich zum Sittenrichter über den Menschen auf. Eine Entgleisung des Autors? Oder ein makabrer Spaß?
Die literarische Utopie kennt viele Haltungen, die tragische ebenso wie die komödiantische, die bitterernste wie die ironische. Vor allem ist sie niemals Selbstzweck. Günzel geht es ja gar nicht um die Auslotung des Roboterproblems. Das Kunstwesen dient ihm als Requisit, um verstaubte Anschauungen, spießige Ehebeziehungen zu belächeln. Er erzählt die alte Geschichte des Pantoffelhelden, dem es endlich gelingt, seiner willensstarken Gattin ein Schnippchen zu schlagen und sein ramponiertes Selbstbewußtsein aufzupolieren. Indem er die Handlung in eine fiktive Zeit verlegt, die der unseren technisch weit voraus ist, in gesellschaftlicher Hinsicht aber hinterherhinkt, gewinnt er dem alten Thema eine komische neue Seite ab. Ein harmloser Spaß also, nicht ohne Bedeutung.
Warschawski dagegen versucht, uns den Roboter sowohl von der heiteren als auch von der ernsten Seite zu zeigen. Sein Humor schmeckt allerdings zuweilen bitter, und seine Absicht ist manchmal schwer zu ergründen. Die Figur des Robbi dürfte vermutlich kaum ernst gemeint sein, sie deutet eher auf ein phantastisches Abbild des modernen jungen Rüpels hin, dessen flegelhafte, sich mit angelernten Kenntnissen brüstende Überheblichkeit schon manchen Eltern Kopfschmerz und Herzeleid verursacht hat.
Die intellektuelle Kybella allerdings kann nur als Warnung verstanden werden. Eine Gesellschaft, die den Menschen an Intellekt überragende, ja zu Genialität neigende und sich fortpflanzende Automaten nicht nur hervorbringt, sondern sogar dem Menschen gesetzlich gleichstellt, ist nicht vorstellbar. Entläßt der Mensch die Technik aus seinem Dienst, verleiht er ihr Selbständigkeit und Unabhängigkeit, dann gibt er nicht nur die bereits bezwungenen Naturgewalten aus der Hand. Die Gleichstellung des hochgezüchteten Automaten mit dem Menschen würde zum Zerfall der Wechselbeziehungen zwischen Individuum, Gesellschaft, Technik und Natur führen. So etwas gibt es auch nicht in der Klassengesellschaft. Die herrschende Oberschicht versucht zwar heute bereits, mit Hilfe von Computern ihr Regime gegen alle Erschütterungen abzusichern, würde aber niemals ihre Macht mit technischen Imitationen teilen, und wären sie noch so perfektioniert.
Warschawskis Erzählung läßt den Charakter der Gesellschaft, die eine Kybella als gleichberechtigt anerkennt, offen. Sie beschränkt sich auf Andeutungen, welches Leid die entfesselte Maschine verursachen könnte. Im Grunde genommen ist das die Verurteilung aller bürgerlichen Spekulationen, die den kommenden Automaten Bewußtsein verleihen und sie dem Menschen als sozial und geistig gleichwertige Persönlichkeit an die Seite stellen wollen.
Das, was soeben als unvorstellbar bezeichnet worden ist, als von vornherein unmöglich, gerade das aber geschieht in Boris Gurfinkels Erzählung »Mitleid«. Der Elektronenrichter thront, unumschränkt und unfehlbar, über den Menschen. Er, das Maschinenwesen, hat sich in einsamer Größe über das Gezänk der Menschenwelt erhoben, in seiner Hand – richtiger: in seinen Schaltkreisen – liegt die Entscheidung über Recht und Unrecht. Er kann loben und strafen, er ist die oberste Instanz, gegen ihn gibt es keine Berufung. Sogar der befehlsgewohnte Konzernvertreter muß sich der Rechtsauffassung des Elektronenrichters beugen. Eine echte Utopie also, eine Überschreitung nicht nur der Realität, sondern sogar der Möglichkeit, aber von unschwer ablesbarem Symbolgehalt.
Die dem utopischen Denken innewohnende Frage »Was wäre, wenn…?« ruft vor allem dort produktive Überlegungen hervor, wo sie, spielerisch die Grenze des Möglichen überschreitend und dann unvermutet in die Realität reflektiert, auf gewohnte Vorstellungen einwirkt. Amanoiwato, der als Richter eingesetzte Neuroid, ist ein technisches Produkt der Ausbeuterordnung. Seine Speicherwerke haben die Rechtsvorschriften aufgenommen, die den Bestand der auf kapitalistische Monopolherrschaft gegründeten Eigentumsverhältnisse sichern sollen. Außerdem hat er sich durch Auswertung der Entscheidungen maßgeblicher Gerichte auch die Handhabung der Gesetze, also das Rechtsempfinden der Besitzenden, zu eigen gemacht. Kein Zweifel also, daß der Elektronenrichter in diesem zivilrechtlichen Streit zwischen Vertretern zweier Kapitalgruppen völlig objektiv entscheiden wird.
Sein Urteil indessen geht von ganz anderen Kategorien aus. Er setzt sich über das Geschäftsinteresse hinweg, er mißachtet den Warenwert. Wer hat ihn gelehrt, das spielende Kind höher zu achten als das versicherte Transportgut? Der Neuroid respektiert den ihm eingegebenen Grundsatz, daß der Mensch das Maß aller Dinge sei, weil er von objektiven Wertbegriffen ausgeht. Ein menschlicher Richter, dem Wortlaut des Gesetzes nach in seinen Entscheidungen angeblich frei und unabhängig, hätte den offiziellen Grundsatz zu einer frommen Lüge gemacht. Er hätte sich dem Einfluß des Managers gefügt, hätte eine klassenabhängige Haltung eingenommen und sein Urteil den Interessen der ökonomisch stärksten Prozeßpartei angepaßt.
Der Humanismus, das sagt die Erzählung »Mitleid« mit der Symbolkraft der literarischen Utopie, entspricht der Logik. Die Ausbeuterordnung verstößt sowohl gegen das humanistische als auch gegen das logische Prinzip. Damit ist sie gerichtet, moralisch und historisch. In der utopischen Literatur bildet die Überschreitung des Möglichen ein wirkungsvolles Kompositionselement, wenn sie im Dienst einer fortschrittlichen Aussage steht.
Viele Werke der ausländischen utopischen Literatur übernehmen eine Funktion, die in der Deutschen Demokratischen Republik mit Vorliebe vom Kriminalroman ausgeübt wird: Entlarvung und Kritik des Kapitalismus. Hierher gehören Stanislaw Lems Erzählung »Existieren Sie, Mister Jones?« und Ilja Warschawskis »Der Moloch«. Beide Erzählungen haben satirische Färbung. Die Tatsache, daß in der kapitalistischen Sphäre alle Dinge käuflich sind, illustriert Lern mit beißendem Spott. Wenn alle Dinge Warencharakter haben, müssen sie untereinander austauschbar sein. Dieses Prinzip, mit dem Kunstgriff einer strengen Scheinlogik auf den Menschen angewandt, offenbart den Widerspruch zwischen technischem Fortschritt und sozialer Rückständigkeit, ein Widerspruch, der hier komisch anmutende Hilflosigkeit auslöst. Er verdeutlicht Menschenfeindlichkeit und gesellschaftliche Perspektivlosigkeit des kapitalistischen Systems. Die Beklemmung des Lesers löst sich in Gelächter über die bornierte Rückständigkeit der spätbürgerlichen Gesellschaft auf.
Warschawskis Erzählung »Der Moloch« ist weniger aggressiv. Sie bezieht ihren Witz aus der unerwarteten Wendung, sie macht die Mechanisierung der literarischen Produktion, die in utopischem Gewand auftretende Kritik am kapitalistischen Buchstabengeschäft, genannt ScienceFiction-Literatur, zur Zielscheibe des Spotts. Zugleich weckt sie Mitleid und Zorn angesichts der Bedauernswerten, die dem Maschinenhirn der Literaturfabrik als Opfer vorgeworfen werden.
Die in diesem Band zusammengefaßten utopischen Erzählungen unterscheiden sich in der literarischen Handschrift, im künstlerischen Vermögen und im Temperament der Verfasser. In ihrer literarischen Methode stimmen sie überein. Sie versetzen den Leser in das Land Utopia, zu deutsch Nirgendland, wo er seltsamen, wunderbaren, ja geradezu unmöglichen Erscheinungen begegnet, wo er Verhältnisse kennenlernt, die in der ihm vertrauten Welt nicht vorhanden oder nicht denkbar sind. Ein Märchenland? Nein, ein Land der glaubhaft gemachten Unmöglichkeit, ein Ziel für Reisende ins Reich der utopischen Dimension. Diese Reise steht jedem offen, der bereit ist, in Gedanken die Grenzen der Wirklichkeit zu überschreiten, um mit geschärftem Blick in die Realität zurückzukehren. Denn Wirklichkeitsüberschreitung darf nicht verkehrt werden in Wirklichkeitsflucht.
Die eigentliche, dem Kommunismus gemäße Robotergeschichte indessen ist noch nicht geschrieben. Bisher warnen die Geschichten vor unheilvollen Möglichkeiten, sie machen sich über die Rangerhöhung des Roboters lustig, oder sie benutzen ihn, um alten Gedanken neuen Glanz zu verleihen. Aber die Begegnung mit der Menschenmaschine, der notwendigen, mit Gewißheit kommenden Ergänzung des Menschen in intellektueller Hinsicht, die qualitativ neue Probleme aufwerfende Zusammenarbeit mit einem biokybernetischen Apparat, dem Weggefährten des Menschen im Zeitalter der wissenschaftlich-technischen Revolution, die Einbeziehung des erkenntnisvermittelnden Automaten in das Gesamtsystem der Gesellschaft, diese erregenden wissenschaftlichen, sozialen und psychologischen Abenteuer sind von der künstlerischen Phantasie kaum gestreift, geschweige denn erfaßt worden. In dieser Hinsicht bleiben also viele Wünsche offen, nicht nur in der vorliegenden Sammlung, sondern in der gesamten utopischen Literatur.
Und wiederum sei nachdrücklich betont, daß es nicht um die Beschreibung kommender technischer Möglichkeiten geht. Wenn die moderne Technik eine geradezu faszinierende Wirkung ausübt, so deshalb, weil sich in ihr schöpferische Tätigkeit verkörpert. In den technischen Wundern von heute und morgen erblickt der Mensch das materielle Abbild seiner vergesellschafteten Fähigkeiten. Es erfüllt ihn mit Stolz auch dann, wenn er selber nicht im technischen Bereich tätig ist; es weckt seinen Haß, wenn das Gebilde von Menschenhand und Menschengeist von machthungrigen Ausbeutergruppen mißbraucht und gegen Freiheit und Leben aufstrebender Klassen und Nationen eingesetzt wird.
Die Auseinandersetzung des Menschen mit der Technik, zu Unrecht als literaturunwürdig, als kunstfeindlich verschrien, gehört zu den Existenzbedingungen der Gesellschaft, auch den geistig-weltanschaulichen, gerade in der Epoche der wissenschaftlich-technischen Revolution. Die Verachtung der Technik als eines profanen, dem künstlerischen Menschenbild wesensfremden Bereichs gehört zu den Merkmalen eines einseitigen Humanismusbegriffs, ist Überbleibsel einer bürgerlich-antiquierten Weltsicht, also unfruchtbar, also hemmend für das dem Sozialismus innewohnende Systemdenken.
Der Roboter, die Menschenmaschine, symbolisiert die höchste Potenz der wissenschaftlich-technischen Fähigkeiten und Möglichkeiten des Menschen. Der Mensch erhebt sich zum Schöpfer: er modelliert sich selbst, er schafft ein Wesen nach seinem Bilde. Dem Philosophen obliegt es, den neuen Begriff zu interpretieren und Wege in weltanschauliches Neuland zu bahnen.
Die schöngeistige Literatur, zumal die utopische, sieht sich aufgerufen, die mit dem Verhältnis des Menschen zur Denkmaschine verbundenen Konsequenzen für die ideelle Orientierung und den geistigen Reichtum des gesellschaftlich geprägten und in der Gesellschaft zu voller Reife gelangenden Menschen nach Tiefe und Breite emotional auszuloten und sie in bewegte und bewegende Bilder umzusetzen.
Daß in dieser Sammlung zwei DDR-Autoren vertreten sind, läßt uns hoffen.
1968
Die Hoffnung hat sich erfüllt. Beginnend mit Carlos Raschs Band »Krakentang« von 1968 entwickelte sich in den seit der ersten Auflage vergangenen achtzehn Jahren auch in der DDR-Utopie die Kunst der Erzählung. Was bis dahin vereinzelt in Heftpublikationen und Anthologien zu finden war, schwoll zu einem bis heute anhaltenden Strom und belebte das Land Utopia mit neuen Erscheinungen, Farben und Ideen.
Die Autoren unseres Landes zogen in bemerkenswert kurzer Zeit nach und erreichten, was Titelzahl und erzählerische Qualität angeht, den internationalen Anschluß. Heute gibt es kaum einen Utopie-Autor, der nicht Erzählungen schriebe. Umgekehrt hat eine Reihe junger Autoren über die Erzählung Zugang zur Literatur gefunden. Mehr als zwei Dutzend Schriftsteller haben seither eigene Bände mit phantastischer und utopischer Kurzprosa veröffentlicht. Die Form der Erzählung und die der Kurzgeschichte kam der künstlerischen Eigenart der Verfasser entgegen und forderte sie zugleich heraus. Die Mannigfaltigkeit der Schreibweisen ist beachtlich.
Was da herangewachsen war, stieß auch im Ausland auf Interesse. 1980 stellte Juri Nowikow im Moskauer Verlag Molodaja Gwardija in dem Sammelband »Parallelen« siebzehn DDR-Autoren mit phantastischen Geschichten vor; mehrere ebenfalls der DDR-Phantastik gewidmete Anthologien folgten in anderen sozialistischen Ländern und in der BRD.
Die literarische Figur des Roboters unterlag ebenfalls einer Wandlung. Ihre Blütezeit ist überschritten, weil sie von der Realität eingeholt worden ist. Der Industrieroboter, eine massenhaft eingeführte prosaische und nützliche Konstruktion, hat das geheimnisvolle Wesen aus der Phantasie verdrängt. Seine jüngste Generation kann bereits sehen und unterscheiden und zielgerichtet zufassen. Ob einfach oder kompliziert, die Roboter sind dem Menschen darin überlegen, daß Lärm und Hitze ihnen nichts ausmachen. Auch verschlafen sie nicht, kennen keine schlechten Tage und streiten sich nicht mit dem Chef. Freilich bringen sie auch keinen Neuerervorschlag zustande. Der Befehl, der in Günther Krupkats »Insel der Angst« aus dem gewalttätigen Autogonen einen friedlichen, arbeitswilligen Burschen macht, ist Bestandteil ihres Basisprogramms: Ich diene – dem Menschen.
Ob menschenähnlich oder nicht, der intelligente, gleichsam alles vermögende Literaturroboter erinnert an den Neandertaler. Er stellt eine ausgestorbene Seitenlinie dar.
Die Hauptlinie wird durch den Computer weitergeführt. Genaugenommen ist er lediglich ein auf der Mikroelektronik beruhendes Rechengerät, doch seine Rechenfertigkeit öffnet ihm den Zugang zu allem, was sich mathematisch formalisieren läßt, und das ist eine von Stunde zu Stunde größer werdende Welt. Heute schon kann er zeichnen, lesen, sprechen und, wenn auch noch unschön, singen. Er gehört in vielen Tätigkeitsbereichen zum Alltag, wo es um technische Entwürfe und industrielle Fertigung geht. Er steuert Maschinensysteme und Werkanlagen. Wie der universell einsetzbare, nicht an einen festen Standort gebundene Elektromotor die Dampfmaschine mit ihrer schwerfälligen Kraftübertragung ablöste, so stehen heute die Personal- und Bürocomputer am Arbeitsplatz des Konstrukteurs, des Ingenieurs, des Planers, des Statistikers, des Agronomen, des Biologen – Denkwerkzeuge zur Verstärkung der Geisteskraft. Ordnet man dem Computer den Industrieroboter als Werkzeug zu, hat man die Straße betreten, die in eine Zukunft führt, in der der Mensch nicht mehr in, sondern neben dem Produktionsprozeß steht und eine neue Stufe seiner schöpferischen Universalität erklommen hat.
Diese Entwicklung übt, phantastisch verfremdet und überhöht, Einfluß auf die Literatur aus. In der utopischen Weltliteratur ist der hochgezüchtete, auf organischer Basis arbeitende Computer ein intellektuell zumindest gleichrangiger Partner, der komplizierte Situationen schneller analysiert als der Mensch. Er ist vorschlagsfähig und - berechtigt, und in Fällen, in denen der Mensch vorübergehend nicht handlungsfähig ist, kann er der künstlichen Intelligenz sogar Entscheidungsbefugnisse übertragen. Hieraus ergeben sich neue Probleme.
Eins allerdings ist unverändert geblieben. Das Verhältnis von Intellekt und Vernunft bietet dem literarischen Gedankenspiel eine nahezu unerschöpfliche Ideenquelle, doch trotz der unvergleichlichen Präzision, der an Wunder grenzenden Rechen- gleich Denkgeschwindigkeit, dem enzyklopädischen Speichervermögen, der unbestechlichen Logik – die Verantwortung trägt nicht der Computer, sondern der Mensch. Im Kosmos wie auf der Erde. Das ist eine Existenzfrage, von der, bezogen auf Krieg und Frieden, das Überleben, bezogen auf das Gedeihen der die Erde bewohnenden Völkerfamilie, das Gesicht unserer Zukunft abhängen.
Der Computer kennt keinen Egoismus, es sei denn, er wäre ihm einprogrammiert. Boris Gurfinkels Erzählung »Mitleid«, in der Logik und Humanismus eine Einheit bilden, übermittelt uns die Botschaft, daß der mörderische Profitegoismus überwunden werden muß, wenn das Menschengeschlecht überleben und blühen soll.
1986
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