Stanislaw Lem
Existieren Sie, Mr. Johns?
Personen Richter
Anwalt
Donovan, Präsident der Cybernetics Company Harry Johns
Sein Bruder
Richter Das Gericht kommt zur Verhandlung in Sachen Cybernetics Company contra Harry Johns. Die Parteien sind anwesend?
Anwalt Jawohl, Euer
Ehren.
Richter Wen vertreten Sie?
Anwalt Ich bin Justitiar der Firma
Cybernetics Company. Richter Wo ist der
Beklagte?
Johns Hier, Euer Ehren.
Richter Wollen Sie bitte Ihre
Personalien angeben? Johns Gern, Euer
Ehren. Ich heiße Harry Johns und wurde am
6. April 1917 in New York geboren.
Anwalt Gestatten Sie eine Bemerkung
grundsätzlicher Art,
Euer Ehren. Der Beklagte sagt eine Unwahrheit: er ist
überhaupt nicht geboren.
Johns Bitte, hier ist meine
Geburtsurkunde. Außerdem sitzt
dort mein Bruder, und…
Anwalt Das ist nicht Ihre
Geburtsurkunde, und die Person
dort ist nicht Ihr Bruder.
Johns Nicht? Wessen denn? Ihrer
vielleicht?
Richter Ich bitte um Ruhe. Später, Herr
Justitiar. Also, Mr.
Johns?
Johns Mein Vater, der selige Lexington
Johns, besaß eine
Automobilwerkstatt, und er weckte in mir die Leidenschaft
für diesen Beruf. Mit siebzehn Jahren nahm ich zum
erstenmal an einem Autorennen teil. Seitdem ging ich
siebenunndachtzigmal als Profi an den Start und errang
bis
heute sechzehn Siege, einundzwanzig zweite Plätze… Richter Danke, diese Einzelheiten gehören nicht zur
Sache. Johns Drei Goldpokale, drei
Goldpokale…
Richter Ich sagte danke!
Johns Und einen Silberkranz.
Donovan Oh, jetzt hat er sich
verheddert!
Johns Das werden Sie nicht
erleben.
Richter Ich bitte um Ruhe! Haben Sie
einen Rechtsbeistand? Johns Nein, ich
verteidige mich selbst. Meine Sache ist rein
wie Quellwasser.
Richter Ihnen sind die Forderungen
bekannt, die die
Cybernetics Company gegen Sie erhebt?
Johns Sie sind mir bekannt. Ich bin das
Opfer niederträchtiger
Machenschaften hinterhältiger Industriehaie…
Richter Ich danke. Herr Justitiar
Jenkins, tragen Sie dem
Gericht den Inhalt der Klage vor.
Anwalt Jawohl, Euer Ehren. Vor zwei
Jahren verunglückte
der Beklagte bei einem Autorennen in Chicago und verlor
ein Bein. Damals wandte er sich an unsere Firma. Wie Sie
wissen, stellt die Cybernetics Company Prothesen für Arme
und Beine, künstliche Nieren und Herzen und ähnlichen
Organersatz her. Der Beklagte erwarb auf Raten die
Prothese eines linken Beins und leistete die erste
Zahlung.
Vier Monate später wandte er sich erneut an uns und
bestellte Prothesen für beide Arme, den Brustkorb und das
Genick.
Johns Lüge! Das Genick war im Frühjahr,
nach dem
Bergrennen.
Richter Unterbrechen Sie
nicht.
Anwalt Nach dieser zweiten Transaktion
schuldete der
Beklagte der Firma 2967 Dollar. Weitere fünf Monate drauf
wandte sich im Namen des Beklagten sein Bruder an uns.
Der Beklagte befand sich zu jener Zeit im Krankenhaus
Monte Rosa bei New York. In Erfüllung des neuen Auftrags
lieferte die Firma nach Erhalt einer Anzahlung eine Reihe
von Prothesen – das detaillierte Verzeichnis liegt den
Akten
bei. Unter anderem gehört dazu ein Elektronenhirn der
Marke Geniak, das eine Gehirnhalbkugel ersetzt und 26500
Dollar kostet. Hohes Gericht, ich mache darauf
aufmerksam, daß der Beklagte das Luxusmodell bestellte,
eine volltransistorisierte Ausführung mit einer Apparatur
für
Träume in natürlichen Farben, einem Verdrußfilter und
einem Sorgendämpfer, obwohl all das seine finanziellen
Möglichkeiten ganz offensichtlich überstieg.
Johns Klar, euch wär’s lieber, ich
würde jetzt mit eurem
Serienbregen herumhinken!
Richter Ich bitte um Ruhe!
Anwalt Für die bewußte und böswillige
Absicht des
Beklagten, der Firma die gelieferten Teile nicht zu
bezahlen, spricht auch die Tatsache, daß er keine
gewöhnliche Armprothese, sondern eine Spezialprothese
bestellte, in die eine auf achtzehn Steinen laufende
Schweizer Uhr der Marke Schaffhausen eingebaut ist. Als
die Schulden des Beklagten auf 29863 Dollar gestiegen
waren, verlangten wir die Rückgabe sämtlicher Prothesen.
Das Gericht des zuständigen Bundesstaats wies unsere
Klage mit der Begründung ab, der Entzug der Prothesen
würde dem Beklagten eine Fortexistenz unmöglich machen, da zu
diesem Zeitpunkt nur noch eine Gehirnhälfte von dem
einstigen Mr. Johns übrig war.
Johns Was heißt hier einstiger Mr. Johns? Sie werden wohl
von der Firma für Ihre Beschimpfungen bezahlt, Sie
Winkeladvokat?
Richter Ich bitte um Ruhe. Mr. Johns,
Sie erhalten eine
Ordnungsstrafe, wenn Sie die Gegenpartei beleidigen. Johns Aber er beleidigt doch mich!
Anwalt In diesem Zustand, das heißt
verschuldet und von der
Cybernetics Company, die ihm so viel Herz bewiesen hatte
und allen seinen Wünschen prompt nachgekommen war,
von Kopf bis Fuß aus Prothesen zusammengesetzt, machte
der Beklagte unsere Erzeugnisse überall in der
Öffentlichkeit schlecht und beanstandete ihre Qualität.
Das
hinderte ihn jedoch nicht, nach weiteren drei Monaten
abermals bei uns vorzusprechen. Er klagte über eine Reihe
von Unpäßlichkeiten und Beschwerden, die nach
Feststellung unserer Experten daher rührten, daß sich die
alte Gehirnhalbkugel in der neuen, völlig aus Prothesen
bestehenden Umgebung nicht wohl fühlte. Vom
humanitären Empfinden geleitet, gab die Firma den Bitten
des Beklagten abermals nach und erklärte sich
einverstanden, ihn vollständig zu genialisieren, das
heißt,
seine eigene, alte Gehirnhälfte gegen ein Zwillingsgerät
der
Marke Geniak auszutauschen. Zur Deckung der neuen
Forderungen stellte uns der Beklagte Wechsel über einen
Betrag von 26950 Dollar aus, von denen er bisher erst 232
Dollar und 18 Cent bezahlt hat. Angesichts dieses
Sachverhalts… Hohes Gericht, der Beklagte erschwert mir
auf böswillige Weise das Sprechen, indem er mich durch
Zischen, Zirpen und Knirschen zu übertönen sucht. Ich
bitte
das hohe Gericht, ihn zurechtzuweisen.
Richter Mr. Johns…
Johns Das bin ich nicht, es ist mein
Geniak. Er macht das
immer, wenn ich angestrengt nachdenke. Soll ich etwa für
die Cybernetics Company geradestehen? Hohes Gericht,
weisen Sie Präsident Donovan für die Schluderarbeit
zurecht!
Anwalt Angesichts dieses Sachverhalts
richtet die Firma an
das Gericht die Forderung, sie in die vollen
Eigentumsrechte an dem von ihr produzierten und hier
anwesenden usurpatorischen Prothesenaggregat
einzusetzen, das sich widerrechtlich als Harry Johns
ausgibt.
Johns Unverschämtheit! Und wo ist Johns
Ihrer Meinung
nach, wenn nicht hier?
Anwalt Hier im Gerichtssaal gibt es
keinen Johns, denn die
sterblichen Überreste dieses berühmten Autorennfahrers
ruhen verstreut auf den Autobahnen Amerikas. Mit einem
vom Gericht zu unseren Gunsten gefällten Urteil wird
somit
keine physische Person geschädigt, denn die Firma nimmt
nur in Besitz, was ihr von der Nylonhaut bis zum
kleinsten
Schräubchen Rechtens zusteht.
Johns Ja freilich! Sie wollen mich
auseinandernehmen, in
Prothesen zerlegen!
Donovan Es geht Sie nichts an, was wir
mit unserem
Eigentum machen!
Richter Herr Präsident, ich bitte Sie,
ruhig zu bleiben. Ich
danke Ihnen, Herr Justitiar. Was haben Sie dazu zu sagen,
Mr. Johns?
Anwalt Euer Ehren, ich möchte nur noch
grundsätzlich darauf
hinweisen, daß der Beklagte eigentlich gar kein Beklagter
ist, sondern lediglich ein materieller Gegenstand, der
behauptet, sich selbst zu gehören. In Wirklichkeit aber,
da
er tot ist…
Johns Kommen Sie ein bißchen näher,
dann können Sie sich
überzeugen, ob ich tot bin.
Richter Ja… Hm, das ist in der Tat ein
sehr, sehr
merkwürdiger Fall. Hm, Herr Justitiar, die Frage, ob der
Beklagte tot ist oder nicht, setze ich aus bis zur
Urteilsverkündung, denn sonst wird uns der normale Gang
des Verfahrens erschwert. Mr. Johns, Sie haben das Wort.
Johns Hohes Gericht, Bürger der
Vereinigten Staaten, die ihr
Augenzeugen niederträchtiger Bemühungen eines großen
Konzerns seid, die freie, denkende Persönlichkeit zu
vernichten…
Richter Bitte sprechen Sie nur zum
Gericht. Sie sind nicht auf
einer Kundgebung.
Johns Jawohl, Euer Ehren. Die Sache
sieht so aus: Ich habe
tatsächlich in der Firma Cybernetics Company ein paar
Prothesen gekauft…
Donovan Ein paar Prothesen!
Großartig!
Johns Hohes Gericht, bitte rufen Sie
diesen Herrn zur
Ordnung. Also ich habe diese Prothesen gekauft. Es geht
hier nicht so sehr darum, ob sie was taugen. Es geht nicht
so
sehr darum, daß es mir dauernd, ob ich gehe oder sitze,
esse
oder schlafe, so im Schädel brummt, daß mein Bruder
nachts nicht schlafen konnte und ich deshalb in ein
anderes
Zimmer ziehen mußte. Außerdem habe ich von den hier so
angepriesenen Geniaks, die umgebaute Rechenmaschinen
aus Heeresbeständen sind, den Tick bekommen, alles zu
zählen: Hunde und Katzen, Zäune und Bäume und weiß
Gott was noch. Darüber also will ich mich hier gar nicht
auslassen. Jedenfalls hatte ich die ehrliche Absicht,
alle
Schulden zu bezahlen. Aber ich komme nur zu Geld, wenn
ich Autorennen gewinne. Und ich hatte gerade eine
Pechsträhne, ich war niedergeschlagen, hatte den Kopf
verloren…
Anwalt Der Beklagte gibt selber zu, daß
er den Kopf verloren
hat! Ich bitte das Gericht, dies zur Kenntnis zu nehmen.
Johns Lassen Sie mich ausreden! So habe
ich das nicht
gemeint. Ich verlor den Kopf und begann an der Börse zu
spielen, hatte aber kein Glück und mußte Schulden machen.
Bei alldem fühlte ich mich hundeelend. Ich hatte das
Reißen
im linken Bein, vor den Augen flimmerte es, ich träumte
idiotisches Zeug von Nähmaschinen und Strickmaschinen,
die Psychoanalytiker stellten einen Ödipuskomplex fest,
denn meine Mutter hatte immer auf der Maschine genäht,
als ich klein war. In dieser Zeit, als ich hinfällig war
und
kaum ein Glied rühren konnte, begann die Firma, mich von
einem Gericht zum anderen zu schleppen. Die Zeitungen
schrieben darüber, und im Ergebnis bösartiger
Verleumdungen verschloß die Gemeinde der Methodisten,
der ich angehöre, vor mir die Tür ihres Gotteshauses. Anwalt Darüber beklagen Sie sich? Glauben Sie etwa
an ein
Leben im Jenseits?
Johns Allerdings. Aber was geht das Sie
an?
Anwalt Es geht mich etwas an, denn Mr.
Harry Johns lebt
bereits im Jenseits, und Sie sind ein gewöhnlicher
Usurpator.
Johns Nehmen Sie sich mit Ihren Worten
in acht!
Richter Ich bitte die Parteien, Ruhe zu
bewahren.
Johns Hohes Gericht, als ich mich in
dieser so schwierigen
Lage befand, verklagte mich die Firma, und als das
Gericht
ihre schändlichen Ansprüche abgewiesen hatte, kam ein
gewisser Goas zu mir, ein fauler Kunde, den Präsident
Donovan abgeschickt hatte. Das wußte ich aber damals
noch nicht. Dieser Goas stellte sich als Elektromonteur
vor
und behauptete, für alle meine Beschwerden, für dieses
Reißen und Flimmern gebe es nur ein Heilmittel: ich müßte
mich vollends genialisieren lassen. Bei dem Gesundheitszustand, in
dem ich mich befand, war an Autorennen nicht einmal zu denken, was
sollte ich also tun? Ich gab meine Zustimmung, hohes Gericht, und
Goas führte mich am nächsten Tag in die Montageabteilung
der
Cybernetics Company…
Richter Das heißt, es wurde Ihnen etwas
herausgenommen?… Johns Aber
ja!
Richter Und dafür etwas
eingebaut?…
Johns Aber ja, ich begriff nur nicht,
weshalb sie das so
bereitwillig taten, zu so günstigen Bedingungen und mit
einem so langfristigen Kredit. Jetzt allerdings weiß ich
es
ganz genau! Hohes Gericht, sie wollten, daß ich meine
alte
Halbkugel loswerde! Vorher hatte nämlich das Gericht ihre
Ansprüche abgewiesen, weil dieses arme Stück meines alten
Kopfes nicht hätte weiterleben können, wenn sie mir den
Rest genommen hätten, folglich war ihnen gar nichts
zugesprochen worden! Und deshalb wollten sie meine
Naivität und meine durch die Unfälle bewirkte geistige
Mattigkeit ausnutzen und schickten mir diesen Goas, damit
ich von mir aus zustimmte, jenes alte Stück zu entfernen,
und ihnen in ihr teuflisches Netz ging. Aber zum Glück
steht dieser Irrsinn auf wackligen Beinen! Was sind denn
ihre Überlegungen wert, hohes Gericht? Sie sagen, sie
hätten Anspruch auf meine Person. Mit welchem Recht
denn? Nehmen wir an, beim Krämer kauft jemand auf
Kredit Lebensmittel, Mehl, Zucker, Fleisch und so weiter,
und nach einiger Zeit geht der Krämer zum Gericht und
verlangt, daß ihm der Schuldner zum Eigentum übergeben
wird, weil die Substanzen des Körpers, wie aus der
Medizin
bekannt ist, beim Stoffwechsel ständig durch die
Nahrungsmittel ersetzt werden, so daß jetzt, nach einigen
Monaten, der ganze Schuldner mitsamt Kopf und Leber,
Armen und Beinen aus dem Fett, dem Eiweiß und den Kohlehydraten
besteht, die ihm der Krämer auf Kredit gegeben hat. Welches Gericht
auf der Welt würde den Forderungen dieses Krämers stattgeben? Leben
wir im Mittelalter, wo Shylock von seinem Schuldner ein Pfund
lebendigen Fleisches forderte? Wir haben hier doch eine analoge
Situation! Ich bin der Autorennfahrer Harry Johns
und keine Maschine!
Donovan Lüge! Eine Maschine sind
Sie!
Johns Sooo? Wen verklagt denn hier
eigentlich die Firma?
An wen ist die Vorladung des Gerichts adressiert? An eine
Maschine oder an mich, an Mr. Johns? Vielleicht können
Sie diese Frage klären, Euer Ehren?
Richter Hm. Ja, die Vorladung ist an
Harry Johns, New York,
44th Avenue, gerichtet.
Johns Hören Sie, Mr. Donovan? Außerdem,
Euer Ehren,
gestatten Sie noch eine Frage zum Verfahren: Sehen die
Gesetze der Vereinigten Staaten überhaupt vor, daß man
gerichtlich gegen eine Maschine vorgehen kann? Daß man
sie zum Beispiel vor Gericht laden und veranlagen kann?
Richter Nun… äh… nein. Nein, das sehen
die Gesetze nicht
vor.
Johns Dann ist die Sache ganz einfach:
entweder bin ich eine
Maschine, dann darf diese Verhandlung überhaupt nicht
stattfinden, weil eine Maschine keine Partei in einem
Gerichtsverfahren sein kann, oder ich bin keine Maschine,
sondern eine Person – welche Rechte maßt sich dann irgend
so eine Firma mir gegenüber an? Soll ich vielleicht ihr
Sklave sein? Will Mr. Donovan Sklavenhalter werden? Donovan So eine Dreistigkeit… Aber immerhin…
unsere
Geniaks… was?
Johns Von wegen Ihre Geniaks! Hohes
Gericht, eine Tatsache
soll zeigen, welcher Methoden sich die Firma bedient. Als
ich, von der langen Krankheit geschwächt und gerade noch einmal
davongekommen, das Krankenhaus verließ und zum Strandbad ging, um
frische Luft zu schnappen, bemerkte ich, daß mir die Leute in
Schwärmen nachliefen. Man hatte mir die Aufschrift Made by Cybernetics Company auf den Rücken
gedruckt, und ich mußte es auf eigene Kosten herausschneiden und
Flicken darauf setzen lassen! Und jetzt stellen sie mir nach! Ja,
der Arme ist stets dem Zorn der Reichen ausgeliefert, das haben
schon meine
unvergeßlichen Eltern immer gesagt…
Donovan Ihre Eltern! Ihr Vater und Ihre
Mutter ist die
Cybernetics Company!
Richter Ich bitte um Ruhe! Sind Sie
fertig, Mr. Johns? Johns Nein. Ich
möchte mit Nachdruck feststellen, daß die
Firma für meinen Unterhalt aufkommen muß, denn ich habe
nichts zum Leben. Der Vorstand des Automobilklubs hat
meinen Start bei den panamerikanischen Rennen vor einem
Monat für ungültig erklärt und dazu mitgeteilt, mein
Wagen
sei von einer automatischen, nichtmenschlichen
Anlage
gesteuert worden. Wer hat mir das eingebrockt? Sie, die
Firma Cybernetics Company, die dem Automobilklub einen
Brief voller Verleumdungen und Schmähungen geschrieben
hat! Sie nimmt mir das Brot, also soll sie meinen
Unterhalt
bezahlen und mir Ersatzteile liefern! Ist es meine
Schuld,
daß ich dauernd durchbrenne, jedesmal an einer anderen
Stelle? Und dann wird man noch von den Angestellten und
vor allem von den Eigentümern der Firma bei jeder
persönlichen Begegnung beschimpft!
Präsident Donovan hat mir vorgeschlagen, die Sache
gütlich
beizulegen – ich soll täglich acht Stunden als
Schaufensterpuppe für ihn Reklame stehen! Als ich ihm
sagte, das sei eines Rennfahrers unwürdig und er solle
sich
mit solchen Ideen zum Teufel scheren, antwortete er, ich
hätte mich ja schon Stück für Stück zum Teufel geschert, was ihn
56000 Dollar gekostet hätte! Für solche und andere Beleidigungen
werde ich die Firma verklagen! Und jetzt bitte ich das hohe
Gericht, meinen Bruder als Zeugen zu
vernehmen, da er die Einzelheiten des Falles genau kennt.
Anwalt Euer Ehren, ich erhebe Einspruch
dagegen, daß der
Bruder des Beklagten als Zeuge zugelassen wird. Richter Wegen der Verwandtschaft?
Anwalt Ja und nein… Die Sache liegt so,
daß der Bruder des
Beklagten in der vergangenen Woche mit dem Flugzeug
abgestürzt ist.
Richter Aha, und deshalb kann er nicht
vor Gericht
erscheinen.
Bruder Doch, ich kann! Hier bin
ich.
Anwalt Natürlich, er kann. Aber die
Sache liegt so, daß der
Flugzeugabsturz einen für ihn tragischen Verlauf
genommen und die Firma auf Bestellung der Ehefrau einen
neuen Bruder des Beklagten angefertigt hat.
Richter Einen neuen was?
Anwalt Einen neuen Bruder und damit
einen neuen Ehemann
der früheren Witwe.
Richter Ach so…
Johns Was ist denn dabei? Weshalb soll
mein Bruder nicht
aussagen? Meine Schwägerin hat ihn doch schließlich bar
bezahlt.
Richter Ich bitte um Ruhe! Das Gericht
sieht sich genötigt,
neu eingetretene Umstände zu prüfen. Die Verhandlung
wird vertagt!
Ilja
Warschawski
Das Molekular-Café
Der Zeiger des elektronischen Meßgeräts für Mischkas Betragen stand die ganze Woche auf »sehr gut«, und wir beschlossen, dieses Ereignis zu feiern.
Ljulja machte den Vorschlag, ein Konzert suggerierter Empfindungen zu besuchen, ich wäre am liebsten in das Museum für Gerüche alkoholischer Getränke gegangen, und Mischka wollte ins Molekular-Café.
Natürlich fuhren wir ins Café, denn es war schließlich Mischka gewesen, der sich gut benommen hatte, darum konnten wir nicht so ungerecht sein, ihm das Recht der Wahl zu nehmen.
Mit dem Denkflieger sausten wir hin. Unterwegs rüttelte es uns nur ein einziges Mal, als mir der Gedanke kam, wie schön es wäre, einen Abstecher in das Museum zu machen. Glücklicherweise blieb das unbemerkt.
Im Café steuerten wir auf ein rotes Tischchen zu, aber Ljulja sagte, ihr sei das aus hellem Erdöl synthetisch gefertigte Essen lieber als das aus dunklem Erdöl.
Ich erinnerte sie daran, daß in der Zeitung
gestanden hatte, beide seien völlig gleichwertig.
Ljulja antwortete, daß sei bei ihr vielleicht nur eine Schrulle,
aber wenn man etwas zu seinem Vergnügen tue, warum solle man dann
nicht auch auf eine Schrulle Rücksicht nehmen?
Wir stritten nicht mit ihr, denn wir lieben unsere Ljulja sehr und
wollten, daß der Cafébesuch ihr soviel Vergnügen wie möglich
spende.
Nachdem wir uns an einem weißen Tisch niedergelassen hatten,
erschien auf einem Bildschirm ein Roboter in weißem Kittel und mit
weißer Mütze. Lächelnd erklärte er uns, das Café für
Molekularsynthese biete dreihundertsechzig Gerichte an. Um das
gewünschte Gericht zu erhalten, müßten wir seine Nummer auf einer
Wählerscheibe wählen, dann würde es vor uns auf dem Teller
synthetisch zubereitet werden. Er fügte hinzu, wenn wir etwas haben
wollten, was nicht auf der Speisekarte stehe, müßten wir uns die
Antenne auf den Kopf setzen und uns das Gericht vorstellen, dann
würde ein Automat unsern Wunsch erfüllen.
Ich warf einen Blick auf Mischka und wußte, daß wir nur Gerichte
bestellen würden, die nicht auf der Karte standen.
Ljulja bestellte sich eine Portion Plinsen und ich mir ein
Pseudobeefsteak. Es war braun gebraten und sah sehr appetitlich
aus, und Ljulja sagte, soviel Plinsen schaffe sie nie, ich solle
ihr die Hälfte abnehmen. Das tat ich und gab ihr die Hälfte von
meinem Beefsteak.
Während wir damit beschäftigt waren, stocherte Mischka mißmutig mit
der Gabel in dem Gericht, das er selbst zusammengestellt hatte und
das aus Salzgurken, Hering, Pflaumenmus und Himbeermarmelade
bestand. Er versuchte zu ergründen, warum eine Zusammenstellung der
besten Speisen mitunter so scheußlich schmeckt.
Er tat mir leid, darum schob ich seinen Teller in den Destruktor,
und Ljulja sagte ihm, beim Erfinden einer Speise müsse man sich
mehr konzentrieren.
Mischka machte sich daran, einen Kuchen zu bereiten, der wie ein
Raumschiff aussah. Währenddessen versuchte ich mir vorzustellen,
wie eins von den Getränken hier schmecken würde, wenn man ein
Tröpfchen Kognak dazugäbe. Das wäre mir fast gelungen, aber
plötzlich leuchtete ein rotes Signal auf, auf dem Bildschirm
erschien der Roboter und sagte, in diesem Café dürfen solche Dinge
nicht zubereitet werden.
Ljulja streichelte mir die Hand, nannte mich »Ärmster« und fügte
hinzu, sie werde mit Mischka nach Hause fahren, und ich könnte noch
das Museum besuchen. Sie sorgt sich stets um andere mehr als um
sich. Ich wußte, daß sie gern ins Konzert suggerierter Empfindungen
gegangen wäre, und sagte, ich würde mit Mischka nach Hause fahren
und sie solle doch das Konzert besuchen. Da antwortete sie, wir
würden am besten zusammen nach Hause fahren und uns einen
gemütlichen Abend machen.
Ich wollte ihr eine Freude bereiten und dachte mir eine Frucht aus,
die in der Form an eine Apfelsine, im Geschmack an Eis und im
Geruch an ihr Lieblingsparfüm erinnerte. Sie lächelte und biß
tapfer ein großes Stück ab.
Ich mag es, wenn Ljulja lächelt, dann liebe ich sie noch
mehr.
Als wir uns in den Denkflieger setzten, um nach Hause zu fahren,
sagte Ljulja, diese altmodischen Molekular-Cafés seien sehr hübsch
und das Essen schmecke dort weit besser als das zu Hause, das von
einer Zentralstation aus synthetisch zubereitet wurde.
Ich dachte mir, das rühre sicherlich daher, daß sich bei der
Synthese per Draht verschiedene Störungen einschlichen.
Abends brach Ljulja plötzlich in Tränen aus. Sie sagte,
synthetische Nahrung sei ekelhaft, sie hasse die Kybernetik und
wolle am Busen der Natur liegen, zu Fuß gehen, eine Ziege melken
und richtige Milch trinken, mit leckerem Roggenbrot dazu. Außerdem
sagte sie, die suggerierten Empfindungen seien eine Parodie auf
menschliche Gefühle.
Mischka fing auch zu heulen an und erklärte, das Meßgerät für
Betragen sei eine gemeine Erfindung und im Altertum habe ein Junge
namens Tom Sawyer gelebt, der sei prima ohne ausgekommen. Mischka
fügte hinzu, er sei in einen Elektronikzirkel eingetreten, nur um
zu lernen, wie er das Meßgerät bemogeln könne, und wenn ihm das
nicht gelänge, werde er sich ein Katapult bauen und den dämlichen
Automaten damit erschießen.
Ich beruhigte die beiden, so gut ich konnte, obwohl mir auch der
Gedanke kam, daß das Museum der Gerüche keine so großartige
Erfindung sei, außerdem dachte ich an das Pseudobeefsteak. Aber
wahrscheinlich waren wir nur müde vom Bestellen im Café.
Wir gingen schlafen.
In der Nacht träumte ich, ich hätte einen Zweikampf mit einem Bären
zu bestehen, danach saßen wir am Feuer und aßen leckeres
Bärenfleisch, das nach Blut und Rauch duftete.
Mischka stopfte sich gewaltige Stücke in den Mund, und Ljulja
lächelte ihr wunderschönes, ein bißchen verlegenes
Lächeln.
Ich war unvorstellbar glücklich im Traum, denn – habe ich es Ihnen
schon gesagt? – ich liebe Ljulja und Mischka sehr.
Ilja
Warschawski
Das Duell
Auf dem letzten Treppenabsatz machte er einen Satz übers Geländer und stürmte piroggenkauend durchs Vestibül.
Es blieb gerade noch soviel Zeit, um am Anfang der Allee Posten zu beziehen. Dort würde er sich auf eine Bank fläzen, in aller Ruhe das »zweite Studienjahr« abwarten und sie zum Fußball einladen. Anschließend könnten sie im Studentencafé zu Abend essen und danach… Über das Danach war er sich noch nicht schlüssig. Er verließ sich aber ganz auf seine Intuition.
In Gedanken war er schon im Park, da ertönte aus dem Lautsprecher eine Stimme: »Student Mucharinski, erstes Studienjahr, Phenotyp-Index 1386/16 mb, wird gebeten, sich unverzüglich beim Dekan der Fakultät für Hoch- und Niederfrequenztechnik zu melden.«
Auf Biegen oder Brechen mußte er sich etwas einfallen lassen. Bis zur rettenden Tür waren es nur ein paar Schritte. Er schürzte die Lippen, stellte mit den Fingern seine Ohren auf, kniff das linke Auge zu und begann das rechte Bein nachzuziehen. So, dachte er, könnte er sich leichter am Phenotyp-Analysator vorüberschlängeln.
»Lassen Sie die Albernheiten,
Mucharinski!«
Das war eindeutig die Stimme des Dekans.
Zu spät!
Während des Bruchteils einer Sekunde hatte die analytische
Anlage ihn nach dem vorgegebenen Index unter einigen tausend Studenten herausgefunden. Und nun schmückte seine fratzenschneidende, hinkende Gestalt den Bildschirm im Arbeitszimmer des Dekans.
Mucharinski stellte sein normales Aussehen wieder her. Das Auge kniff er allerdings auch dann noch zu, als er sein Knie zu massieren begann. Damit wollte er beim Dekan den Eindruck erwecken, als hätte er plötzlich einen Rheumaanfall.
Ächzend und humpelnd stieg er zum zweiten Stock hoch.
Interessiert nahm der Dekan ihn ein Weilchen in Augenschein. Dem feierlichen Augenblick gemäß hatte Mucharinskis Gesicht einen Ausdruck wehmütiger Konzentration angenommen. In Gedanken überschlug er, wieviel Zeit er brauchte, um die Kleine aus dem zweiten Studienjahr einzuholen, wenn der Dekan…
»Sagen Sie mal, Mucharinski, interessiert Sie
überhaupt etwas im Leben?«
Nach Mucharinskis Meinung eine rein rhetorische Frage. Schließlich
interessierte ihn mancherlei. Erstens, wem er den Vorzug geben
sollte, Natascha oder Mussja; zweitens der Tabellenplatz von
»Spartak« in der Oberliga; drittens die Puppe aus dem zweiten
Studienjahr; viertens… mit einem Wort, sein Interessengebiet war
groß. Den Dekan einzuweihen, lohnte sich natürlich nicht.
»Der Beruf des Rundfunkingenieurs«, sagte er bescheiden.
Das war fast die Wahrheit, denn all sein Sinnen und Trachten
verband sich mit dem Aufenthalt in der Studentenstadt, in die man
bekanntlich zieht, um… und so weiter.
»Dann können Sie mir vielleicht auch erklären, warum Sie am Ende
des zweiten Semesters nicht eine Zwischenprüfung bestanden
haben.«
Gemeinheit, dachte er, ich fresse einen Besen, wenn sie mich nicht
exmatrikulieren.
»Vielleicht ist das Spezifikum der maschinellen Ausbildung…«,
begann Mucharinski zögernd.
»Genau das ist es, das Spezifikum«, unterbrach ihn der Dekan. »Drei
Lehrautomaten haben es bereits aufgegeben, sich mit Ihnen zu
befassen. Worauf spekulieren Sie eigentlich?«
Taktisch unklug wäre es, die Frage direkt zu beantworten.
Gedankenverloren trommelte der Dekan auf dem Tisch herum.
Mucharinski sah zum Fenster hinaus. Die Rotblonde aus dem zweiten
Studienjahr ging gerade durch die Allee. In Begleitung. Der lange
Lulatsch in hellblauem Sporthemd hatte Paddel geschultert. Klarer
Fall, wie’s schien. Die Karte fürs Fußballspiel konnte nun jemand
anders bekommen. Es gibt dort immer eine ganze Menge hübsche
Medizinerinnen.
»Ich möchte Sie nicht exmatrikulieren, ohne mich von der absoluten
Aussichtslosigkeit des Unterfangens, Ihnen eine Ingenieurausbildung
zu vermitteln, überzeugt zu haben.«
Am liebsten hätte Mucharinski jetzt einen Kopfstand gemacht, doch
das war riskant.
»Ich freue mich«, sagte er, den Niedergeschlagenen spielend, »daß
Sie noch eine Möglichkeit für mich sehen…«
»Ginge es um Ihre Möglichkeiten, so wären Sie schon längst nicht
mehr hier. Ich spreche von den Möglichkeiten der Lehrautomaten, und
die sehe ich, dessen kann ich Sie versichern. Haben Sie jemals
etwas vom UDR vernommen?«
»Gewiß, das ist doch…«
Die Pause wurde bedrückend.
»Natürlich, ausgerechnet Sie haben davon gehört«, sagte grinsend
der Dekan. »Sie lesen wahrscheinlich auch alle Arbeiten des
Lehrstuhls für Lehrautomaten. Der UDR ist ein Universaldozent mit
Rückführung. Ich hoffe, Sie wissen, was Rückführung
bedeutet.«
»In groben Zügen«, sagte Mucharinski vorsichtig.
»Ich werde den UDR auf dem Internationalen Kongreß in Wien
vorführen. Im Augenblick unterrichtet er zur Ermittlung seiner
Funktionstüchtigkeit eine Studentenkontrollgruppe. Ich möchte nicht
administrativ den durchschnittlichen Leistungsstand seiner Schüler
senken, aber der elementarste Anstand eines Wissenschaftlers
verlangt, daß der Automat auch an einem solchen… hm… einem solchen…
nun, mit einem Wort, an Ihnen getestet wird. Der langen Rede kurzer
Sinn: Ich schließe Sie der Kontrollgruppe an.«
»Danke.«
»Ich nehme an, er wird Ihnen wenigstens ein Minimum an Wissen
beibringen, sein Schema…«
Die Schemata des Automaten waren Mucharinski schnuppe. Er behielt
den Ausdruck angestrengter Aufmerksamkeit bei, dachte aber mit
Bedauern daran, daß die erste Halbzeit sicherlich schon zu Ende
ging und Natascha zu guter Letzt…
»… Auf diese Weise bildet Ihr Gehirn während des Unterrichts eine
Einheit mit der analytischen Anlage des Automaten, der
ununterbrochen die Unterrichtstaktik verändert, je nach der
Aufnahmefähigkeit des Studenten. Verstanden?«
»Verstanden.«
»Gott sei Dank! Sie können gehen.«
… tausenddreihundertzweiundvierzigster logischer Vorstoß, sechzehnte Variante des Lehrsatzbeweises! Und wieder gibt die Blockieranlage das Signal: »Der Lehrstoff wurde nicht aufgenommen.« Veränderung der Taktik. Ein neuer logischer Vorstoß. Der Beweis des Lehrsatzes verlangt Elementarkenntnisse im Rahmen des Oberschulpensums. Kommando: »Vermittlung von Grundlagen der Algebra.«
Signal: »Der Stoff wurde nicht verstanden.« Umschaltung auf den Lehrsatzbeweis. Am Ende des Beweises das Signal: »Grundkenntnisse sind verschüttet.« Wieder das Umschaltkommando. Abermals logischer Vorstoß. Am Armaturenbrett flackert ein Signal auf: Kurzschluß. Rauch entweicht dem Leistungstransformator. Der Automat schaltet sich aus.
Mucharinski nimmt den Dipol vom Kopf und wischt sich den Schweiß ab. Das war noch nicht da! Jetzt empfindet er beinahe Sympathie für den alten elektronischen LektorExaminator. Mit ihm war es unvergleichlich leichter: Die ganze Lektion konnte man getrost verschlafen und die Fragen später einfach nicht beantworten. Der UDR läßt nicht einmal den Gedanken an Schlaf zu! Ein Glück nur, daß die automatische Sicherung ihn von Zeit zu Zeit ausschaltet.
Ein Klingelzeichen des Videophons unterbricht Mucharinskis Überlegungen. Auf dem Bildschirm zeigt sich der Dekan.
»Warum sitzen Sie ‘rum?«
»Der Automat muß sich abkühlen.«
Zu allem Unglück leuchtet am Armaturenbrett die grüne
Lampe auf.
Mucharinski seufzt und befestigt den Dipol am Kopf. Erneut ein logischer Vorstoß. In Mucharinskis Gehirn dringen die verhaßten Gleichungen. Er will es mit dem Automaten aufnehmen und denkt pausenlos daran, was gewesen wäre, wenn Dementjew nicht zu Ende der zweiten Halbzeit über die Latte geschossen hätte. Er versucht, sich die Puppe aus dem zweiten Studienjahr in den verfänglichsten Situationen vorzustellen, doch alles vergeblich.
… Logischer Vorstoß. Signal. Kommando. Umschaltung. Taktikveränderung. Signal. Logischer Vorstoß…
Nach sieben Tagen erschien – o Wunder – Mucharinski der Unterricht nicht mehr ganz so unerträglich. Der Automat hatte sich offensichtlich auch an ihn gewöhnt. Immer häufiger leuchtete das Kurzschlußsignal auf.
Und nach einer weiteren Woche tönte es wieder aus dem Lautsprecher durchs Institutsgebäude: »Der Student des ersten Studienjahrs Mucharinski, Phenotyp-Index 1386/16 mb, wird gebeten, sich beim Dekan der Fakultät für Hochund Niederfrequenztechnik zu melden.«
Diesmal versteckte er sich nicht vor dem
allsehenden Auge des Phenotyp-Analysators.
»Gratuliere, Mucharinski«, sagte der Dekan. »Sie haben
bemerkenswerte Fähigkeiten entwickelt.«
Zum ersten Mal in seinem Leben wurde Mucharinski rot.
»Ich nehme an«, antwortete er bescheiden, »es wäre richtiger, von
den bemerkenswerten Fähigkeiten des UDR zu sprechen. Tatsächlich
eine einzigartige Erfindung.«
»Wenn ich von Ihren Fähigkeiten spreche, so meine ich die und keine
anderen. Der zweiwöchige Umgang mit Ihnen blieb für den UDR nicht
ohne Folgen, das kann man wohl sagen. Er ist heute kein ordinärer
Automat mehr, sondern ein Don Juan, ein Casanova oder, damit’s
Ihnen ein Begriff ist, ein Schürzenjäger. Die besten Noten verteilt
er an Studentinnen mit dem auffälligsten Make-up. Obendrein hat er
sich in einen Fußballfan verwandelt. Die ganze Kontrollgruppe hat
er schon mit seinem Fußballtick verseucht. Ein Faulpelz wie er im
Buche steht. Morgen nehmen wir ihn auseinander. Und Sie, nun, Sie
verstehen schon…«
»Ja, natürlich. Ich wünsche Ihnen jedenfalls viel Erfolg beim
Unterrichten der… nun, mit einem Wort, Studenten.«
Er machte eine vollendete Verbeugung und ging zur Tür.
»Wohin?«
»Was heißt ›wohin‹? Eine Fahrkarte kaufen, um nach Hause zu fahren.
Schließlich haben Sie mich rausgeschmissen.«
»Als Student sind Sie tatsächlich exmatrikuliert. Dafür haben wir
Sie zum Cheflaboranten für Lehrautomaten ernannt. Kein Automat mit
Rückführung verläßt von heute an das Labor, ohne Sie im Duell
besiegt zu haben. Sie sind für uns ein einmaliger Fund! Versprechen
Sie mir, bei uns zu bleiben, Mucharinski.«
Wladimir Firsow
Meuterei auf dem Mond
»Innokenti Borissowitsch, die Verbindung muß jeden Augenblick abreißen. Sie fällen schon den Mast!« rief Lebedinski.
Er kauerte in einem unbequemen Stahlrohrsessel
vor dem Videofon und versuchte langsam und kurz zu atmen.
Schade, dachte er, daß man die wunderbare Luft nicht mitnehmen
kann. Erst hier auf dem Mond hatte er sie zum ersten Mal richtig
schätzengelernt. Wie herrlich ist es, tief durchzuatmen ohne Angst
vor dem unerbittlich vorrückenden Zeiger des Manometers. Wenn ich
zur Erde zurückkomme, werde ich meine ganze Freizeit irgendwo an
einem Flußufer liegend verbringen und nach der Yoga-Methode
atmen.
Draußen vor dem Bullauge flackerte rhythmisch eine Flamme. Die
revoltierenden Roboter waren dabei, die massiven Pfeiler der
Funkmaste zu zerstören. Aus der Dunkelheit löste sich, von
Atombrennern angestrahlt, die gespenstischen Umrisse der Automaten,
und lange Schatten tanzten über die zerklüfteten
Kraterhänge.
Schon neigte sich der Mast; fiele er, würde der VideofonBildschirm
erlöschen. Die Verbindung mit der Station war dann nur noch über
Satelliten möglich, vorausgesetzt, daß die Roboter nicht bis zur
Kuppelantenne vordrangen. Die Satelliten tauchten jedoch nicht
allzu häufig über der Basis auf. Zur Mondumkreisung brauchten sie
immerhin zwei Stunden. Und wenn Fedossejew nicht gefunden wird?
dachte Lebedinski. Dann bin ich geliefert.
»Fjodor Iljitsch, was geht da draußen vor?« erkundigte sich
Professor Smolny per Videofon.
Lebedinski zuckte schweigend mit den Schultern.
»Beobachten Sie alles genau. Ich glaube, es kann für Fedossejew
wichtig sein.«
Lebedinski sah auf den Infrarot-Bildschirm. Die Nacht brach gerade
erst an. Auf dem Bildschirm waren deutlich klobige Lastwagen zu
erkennen, die lange Stahlträger – eigentlich für den Bau des
Observatoriums bestimmt – zur Kratermitte schleiften, wo eine
phantastische Anlage entstand. Flinke Bau-Roboter waren eifrig am
Werk, beschnupperten, befühlten und korrigierten dauernd irgendwas.
Die Wagen fuhren in strenger Reihenfolge, wie es ihnen der
mechanische Wille des zentralen Kristallhirns vorschrieb.
Etwas abseits vom Trubel zerstückelte ein ReparaturRoboter
sachkundig Lebedinskis Geländefahrzeug. Die abmontierten Teile warf
er auf eine gehorsam wartende »Flunder«.
»Etwas muß bei der Konstruktion der Maschinen außer acht gelassen
worden sein«, sagte Lebedinski. »Auf der Erde waren sie zahm wie
Lämmer. Ich hatte meine helle Freude dran.«
»Fjodor Iljitsch, vielleicht machen Sie doch den Sprengstoff
fertig: Für den Fall, daß man Fedossejew nicht findet. Sonst
schlagen die Roboter noch alles kurz und klein.«
»Nicht doch immer dieses Thema, Innokenti Borissowitsch! Ich
verstehe durchaus, daß der Internationale Rat Ihnen die Hölle heiß
macht. Aber Fedossejew wird sich schon einfinden. Ein Mensch ist
schließlich keine Stecknadel. Noch ist Zeit.«
Professor Smolny nickte und überlegte: Natürlich hatte der Rat
Radikalmittel vorgeschlagen. Sprengstoff gab es auf der Basis
genug, und dem »Nilpferd«, so wurde der RoboterKoordinator genannt,
einen Schuß vor den Bug zu geben machte selbst im unbequemen
Skaphander keine Schwierigkeiten. Lebedinski hätte genügend Zeit,
sich vor der Explosion in die Kuppel zu retten. Doch mit der
Zerstörung des zentralen Kristallhirns wäre auch der Bau des
Observatoriums in Frage gestellt. Menschen können nicht wie Roboter
vierundzwanzig Stunden hintereinander arbeiten. Drei Schichten zu
je zwanzig Mann, rechnete Smolny aus. Auf jede Maschine ein Mann.
Nicht einmal die Hälfte der Leute könnte auf der Station
untergebracht werden. Die Zeit drängte, denn in drei Monaten sollte
die »Ozean« zum Mars starten. Die Planeten warteten nicht. Den
Start verschieben hieße aber das fertige Raumschiff auf den
Schrotthaufen werfen. Innerhalb von zwei Jahren würde es
hoffnungslos veralten.
Aus alter Gewohnheit wollte sich der Professor über den Bart
streichen. Augenblicklich ließ er die Hand sinken. Den Bart hatte
er sich schon vor Monaten abnehmen lassen. Auf dem Mond trug man
halt keinen. Im Skaphander war er unbequem und
gefährlich.
Lebedinski starrte aufs Videofon. Hinter dem Professor war der
Funker aufgetaucht. Er reichte dem Professor einen
Funkspruch.
»Von den Amerikanern«, sagte der Chef der Station, während er den
Text überflog. »Die ›Potomac‹ hat manövriert und nimmt Kurs auf den
Mond. Foster teilt uns mit: Er will es schaffen, er nimmt jedes
Risiko in Kauf.«
»Gott mit ihm.« Lebedinski seufzte. »Ich kann mir nicht vorstellen,
wie er bei dem Flug fast vierundzwanzig Stunden herausholen
will!«
»Die ›Potomac‹ hat nahezu direkten Kurs mit zehnfacher
Beschleunigung. Der Treibstoffverbrauch ist unwahrscheinlich hoch.
Fosters ganzer Monatsvorrat geht für den einen Flug drauf. Dafür
gewinnt er Zeit.«
»Foster ist ein feiner Kerl«, sagte Lebedinski nachdenklich. »Er
hat’s jetzt nicht leicht.«
Er seufzte wieder und blickte auf die Uhr.
Auf dem Bildschirm des Videofons erschien zum zweiten Mal die
Gestalt des Funkers.
»Innokenti Borissowitsch, ein Raketogramm von
Tscherednitschenko!«
»Da hören Sie, Fjodor Iljitsch«, sagte Smolny mit gespielter
Munterkeit. »Tscherednitschenko will zwei Minuten gewinnen.
Prachtjungs, diese Fahrer. Ihre Aufgabe wird nun bedeutend
leichter. Doch für den Fall der Fälle, halten Sie den Sprengstoff
bereit.« Der Bildschirm erlosch.
Aus, dachte Lebedinski. Sie haben den Mast gefällt. Jetzt bleibt
nichts weiter übrig als zu warten. Und wenn Fedossejew nicht
gefunden wird?
Er langte zum Pult und schaltete den überflüssig gewordenen Apparat
aus.
In der offenen Schleusenkammer stand der KundschafterRoboter in
Bereitschaft und lockerte seine acht Gliederfüße. Es sah aus, als
bebe er vor Erregung über die bevorstehende wilde Jagd. Lebedinski
wußte natürlich, daß es eine ganz gewöhnliche Funktionskontrolle
nach Eingabe des neuen Programms war. Ein Automat kann nicht vor
Erregung beben.
Lebedinski trat aus der Luftschleuse und schloß hinter sich die
hermetische Tür. Er hatte keine allzu große Hoffnung, daß sein Plan
gelang. Wahrscheinlich würde auch dieser Roboter den Gehorsam
verweigern, sobald er sich außerhalb der Kuppel befand. Genau wie
die anderen vor ihm. Zwei Bau-Roboter, die untätig unter dem
Schutzdach gestanden hatten, waren, als Lebedinski ihnen die
Lochkarten mit dem Programm eingeschoben hatte, einer nach dem
anderen zu den Revoltierenden übergelaufen. Aber eine andere Wahl
gab es für Lebedinski nicht. Unter der Kuppel zu atmen fiel ihm
immer schwerer.
Ein dummer Zufall. Lebedinski war auf die Basis gekommen, um die
automatische Rakete mit den Bauelementen für das geplante
Observatorium in Empfang zu nehmen. Die Roboter hatten friedlich
gearbeitet und eine Trasse zum Bauplatz gelegt. Gesteuert wurden
sie vom »Nilpferd«, dem Roboter-Koordinator, einer gedrungenen
Maschine mit fester Titanpanzerung, die das leistungsstarke
Kristallgehirn vor Meteoriteneinschlägen schützen sollte,
Lebedinski hatte das Programm des »Nilpferds« verändert, und die
Roboter waren folgsam hinter dem Geländefahrzeug her zum Kosmodrom
marschiert. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden hatten sie die
Rakete entladen. Bis Sonnenuntergang waren noch ein paar Stunden
verblieben, und Lebedinski hatte sich schon gefreut, daß er zur
Station zurückkehren konnte, ehe es dunkel wurde. Als die Roboter
den letzten Träger am Straßenrand ausgeladen halten und die Rakete
abgeflogen war, war er aus der Kuppel getreten, um die Roboter zum
Bauplatz zurückzuschicken. Doch als er das Programm unter dem
Panzer des »Nilpferds« hervorzog, ertönte plötzlich das
Alarmsignal.
Die Ursache? Eine ganz gewöhnliche Sonneneruption. Lebedinski
handelte genau nach Weisung. Er verkroch sich unter der
Schutzkuppel und wartete, bis die Strahlungsquelle nachließ. Er
mußte lange warten. Endlich erlosch am Schaltpult die rote Lampe
des Indikators. Lebedinski ging hinaus und erblickte ein Bild
unwahrscheinlicher Verwüstung.
Im Krater tat sich Unbeschreibliches. Dort, wo vor kurzem die
Rakete gestanden hatte, ragte ein seltsames, gerüstähnliches
Gebilde empor. Geschäftig eilten die Roboter hin und her. Helle
Funken sprühten auf. Zwei Roboter schweißten eifrig den eben erst
von der Rakete angelieferten Träger für das Teleskop an das Gerüst.
Die Antennen der Funkmeßanlagen waren umgelegt, an Lebedinskis
Geländefahrzeug fehlten die Raupenketten. Ein leuchtend gelb
gestrichener Reparatur-Roboter nahm es fein säuberlich auseinander.
Aus dem Geländewagen ergoß sich ein silbriger Strahl und fiel weiß
geflockt zu Boden. Lebedinski kam nicht gleich darauf, daß aus dem
aufgeschlitzten Schlauch die Reste seines Sauerstoffvorrates
entwichen.
An Sauerstoff dachte er im ersten Augenblick gar nicht. Er
versuchte Verbindung zu den Robotern aufzunehmen, um sie
auszuschalten. Sie reagierten jedoch überhaupt nicht auf seine
Signale. Der erschrockene Ingenieur machte einen Satz nach vorn und
stellte sich den Robotern in den Weg, denn es war noch nie
vorgekommen, daß die Maschinen vor einem Menschen nicht haltgemacht
hätten. Doch diesmal warf ihn der toll gewordene Mechanismus um,
und nur wie durch ein Wunder konnte er sich vor den Raupenketten
retten.
Lebedinski begriff, daß die Dinge schlecht standen. Er ging in die
Kuppel zurück und erstattete dem Chef der Station Bericht über die
unverständliche Revolte der Roboter.
»Wieviel Sauerstoff haben Sie noch?« erkundigte sich
Smolny.
Lebedinski blickte auf den Armaturengurt seines Skaphanders. Das
trübe Indikatorauge zeigte an, daß die Flaschen nur noch wenig
Sauerstoff, etwa für zwei Stunden, enthielten. Höchste Zeit, sie
aufzuladen, beschloß Lebedinski in Gedanken, aber da fielen ihm die
weißen Flocken am Geländefahrzeug ein. Bleibt mir nichts weiter
übrig, als in der Kuppel auszuharren, dachte er. In der Kuppel gibt
es immerhin einen Monatsvorrat an Sauerstoff. Um sein Gewissen zu
beruhigen, kontrollierte er den Manometerstand und erstarrte. Der
Zeiger stand auf Null.
»Innokenti Borissowitsch, irgend etwas ist nicht in Ordnung!« rief
er. »Ich sehe gleich mal nach.«
Er klappte die Helmgitter herunter und verließ die Kuppel durch die
Luftschleuse.
Der Sauerstoffvorrat der Basis wurde in großen Flaschen aufbewahrt,
die in Reih und Glied unter dem Meteoritenschutzdach an der
Außenwand standen. Diese Stelle war zum Auffüllen der leeren
Behälter besonders günstig. Lebedinski erschrak. Nicht eine Flasche
stand mehr an ihrem Platz. Die Roboter hatten also auch hier
gehaust. Davon zeugten die zerfetzten Sauerstoffbehälter und die
ihm nur zu gut bekannten weißen Flocken zu seinen Füßen.
Blitzschnell überrechnete er die Ausmaße der Kuppel. Ungefähr sechs
Stunden könnte die Luft unter der Kuppel reichen. Für zwei Stunden
eigener Vorrat. Machte zusammen acht Stunden. Bis zur Station waren
es fünfhundert Kilometer. Für ein Geländefahrzeug zehn Stunden Weg.
Im günstigsten Falle neun. Das hieß also, ein Geländefahrzeug
schaffte es nie und nimmer. Ausgerechnet jetzt war die »Rubin«, mit
der man diese Strecke in fünfzehn Minuten bewältigen konnte, auf
der erdnahen Orbital-Station zum Triebwerkwechsel.
Zehn Minuten nach Lebedinskis Bericht verließ das superschnelle
Raupenfahrzeug »Grashüpfer 3« die Station und nahm bei
Maximalgeschwindigkeit Kurs auf die Basis. Fahrer waren Schröder
und Bek-Nasarow. Nach weiteren fünfzehn Minuten jagte Stepan
Tscherednitschenko, der beste Fahrer auf dem Mond, mit seinem
Fahrzeug und Mironow als zweiten Mann hinterher.
Über Funk gingen Hilferufe an die Erde und an die amerikanische
Station Little America, die sich am Nordufer des Meeres der
Gefahren befand. Eine Stunde später war die UNO über die Ereignisse
auf dem Mond informiert. Das eben erst von einer Zwischenumlaufbahn
gestartete amerikanische Mondschiff »Potomac« änderte seinen Kurs
und flog mit Höchstgeschwindigkeit zum Mond. Auf Dutzenden von
Forschungs- und Raumstationen, auf den künstlichen Satelliten und
in den Rechenzentren der Erde herrschte Alarmstufe eins.
Dreieinhalbtausend Mann kämpften um das Leben eines
Kosmonauten.
Die Station war am Südabhang des halbzerstörten Torricelli-Kraters
errichtet worden – am Rande des Meeres der Ruhe. Ein idealer Ort
für den ersten Stützpunkt. Hier hatte die Erforschung des Mondes
ihren Anfang genommen. Die Station war weit genug vom Äquator
entfernt, um nicht der unerträglichen Hitze des langen Mondmittags
ausgesetzt zu sein. Die nördlicher gelegenen tausendkilometerlangen
Ebenen der beiden Grenzmeere, des Meeres der Ruhe und des Meeres
der Heiterkeit, die Geländefahrzeugen kaum ernst zu nehmende
Hindernisse boten, ließen schnelle und fruchtbare Forschungsarbeit
zu. Im Süden wurde die Station von den gigantischen,
schluchtenreichen Kettengebirgen mit den Kraterriesen Theophilus
und Cyrillus begrenzt. Hier schlummerten unzählige faszinierende
Geheimnisse. Hundert Jahre würden nicht ausreichen, sie zu lüften.
Doch das Wichtigste war, in dieser Gegend gab es Wasser. Tausende
Kubikmeter Eis lagen dicht unter der Mondoberfläche. So fiel der
teure Wasser- und Sauerstofftransport von der Erde fort. Der
Atomreaktor der Station erzeugte genügend Energie, so daß durch
Elektrolyse praktisch unbegrenzte Mengen des wertvollen Sauerstoffs
gewonnen werden konnten. Mit Wasserstoff war es schlechter
bestellt, daran herrschte ständig Mangel. Die EL-Triebwerke der
»Rubin« fraßen ungeheure Wasserstoffmengen. Immerhin erzeugte der
Reaktor den Treibstoff für die Mondschiffe. So war man nicht auf
Erdlieferungen angewiesen. Das erhöhte natürlich des Tempo der
wissenschaftlichen Forschungsarbeiten.
Bei allen Vorteilen hatte der für die Station gewählte Ort aber
einen großen Nachteil: Das schlackeartige Mondgestein, aus der die
mehr oder weniger ebene Mondlandschaft bestand, hielt der Belastung
durch die Mondschiffe nicht stand. Für die »Rubin« war daher in der
Nähe der Station extra eine kleine Piste angelegt worden. Die
schweren Versorgungsraketen dagegen mußten die Äquatorialbasis
anfliegen, wo die Natur in einem zentral gelegenen kleinen Krater
auf der dem Erdball zugekehrten Mondseite einen ausgezeichneten
Kosmodrom auf festem Basaltmassiv geschaffen hatte. Der weitere
Transport der Frachten erfolgte dann auf den Mondstraßen.
Die Geländefahrzeuge, die zu Lebedinskis Rettung unterwegs waren,
mußten also fünfhundert Kilometer von der Station bis zur Basis
zurücklegen. Elektronenrechner hatten einen exakten Fahrplan
ausgearbeitet und die optimale Variante gewählt. Lebedinski sollte
den Geländefahrzeugen sieben Stunden nach deren Abfahrt
entgegengehen. Zu diesem Zeitpunkt würde das erste Fahrzeug
hundertfünfzig Kilometer von der Basis entfernt sein. In zwei
Stunden – so lange reichte der Sauerstoff in den Flaschen gerade
noch – könnte der Geländewagen noch weitere hundert Kilometer
zurücklegen. Die letzten fünfzig Kilometer müßte Lebedinski allein
schaffen. Zu Fuß war das ausgeschlossen. Ihm blieb aber noch der
Kundschafter-Roboter, der auf ebener Strecke eine Geschwindigkeit
von maximal zwanzig Stundenkilometern erreichen konnte. Die Frage
war nur, ob der Roboter den Kommandos gehorchen oder sich seinen
revoltierenden Kumpanen anschließen würde.
Nur Pjotor Iwanowitsch Fedossejew, der Konstrukteur der Roboter,
hätte hierauf eine Antwort geben können. Aber auf dem ganzen
Planeten wußte niemand, wo er sich aufhielt. Auf der Erde war
ausgerechnet Sonntag, und in den Wäldern um Moskau gab es für
leidenschaftliche Jäger wie Fedossejew genug verschwiegene
Winkel.
Die Experten aus dem Luna-Institut hatten vorgeschlagen, von den
Beobachtungsstationen für Raumschiffe kapazitive, gebündelte
Funkwellen auf die Basis zu richten. Die Radarstrahlen, so meinten
sie, würden jede Funkwellenverbindung zwischen den Robotern und dem
zentralen Kristallhirn unmöglich machen und dem
Kundschafter-Roboter das Revoltieren verwehren. Die Berechnungen
ergaben jedoch, daß es ausgeschlossen war, mit der vorhandenen
Technik das gesamte von den Robotern benutzte Frequenzband zu
überdecken. Zu allem Übel wußte man nicht, auf welche Frequenz der
Kundschafter-Roboter ansprach. Das herauszubekommen in der noch
verbliebenen Zeit war ein Ding der Unmöglichkeit. Dennoch
ermittelten die Rechenzentren für alle großen Radarstationen und
Radioteleskope Programme, und Dutzende von Antennen richteten ihre
Gitterschirme auf den winzigen Punkt am Rande der Zentralbucht
aus.
Noch nie war der Nachrichtenweg von der Erde zum Mond so in
Anspruch genommen wie jetzt. Professor Klein, Vizepräsident des
Internationalen Luna-Rates, ließ sich ständig über den Standort der
Geländewagen und das Befinden Lebedinskis berichten. Gemeinsam mit
dem Chef der Station, Professor Smolny, legte er die Einzelheiten
der Operation fest. Er hatte auch vorgeschlagen, die Verbindung
zwischen Station und Basis über das NachrichtensatellitenSystem
herzustellen. Und so wurde, bereits dreißig Minuten nachdem die
wild gewordenen Roboter alle Radarmaste gefällt hatten, die
Verbindung von der Station zur Basis wiederhergestellt. Doch nun
mußten die von der Stationsantenne angestrahlten Funkwellen einen
enorm langen Weg vom Mond bis zum Nachrichtensatelliten
zurücklegen, der sich sechsunddreißigtausend Kilometer von der
Erdoberfläche entfernt befand. Von hier aus gelangten sie zur Erde,
legten einige hundert Kilometer bis zu den Riesenantennen des
Zentrums für kosmische Fernverbindung zurück und pflanzten sich von
da aus zum Mond fort, bis sie den schlanken Antennenmast über der
Basiskuppel erreichten. Die Verbindung war einseitig, die Signale
des schwachen Basis-Senders drangen nicht bis zur Erde. Aber alle
vierzig Minuten tauchte einer der drei ÄquatorNachrichtensatelliten
des Mondes über der Basis auf, und Lebedinski wurde in der Station
gehört.
»Und dennoch bestehe ich auf unserm Plan«, sagte Professor Klein
erregt zum Chef der Station. »Die Funkwellenbündel geben uns keine
volle Garantie für den Erfolg des Durchbruchs. Verweigert der
KundschafterRoboter den Gehorsam, dann ist der Tod Ihres Kollegen
so gut wie sicher. Die ›Potomac‹ schafft es auch nicht. Bestenfalls
erreicht sie die Basis dreißig Minuten eher als das
Geländefahrzeug. Mehr kann man beim besten Willen nicht aus dem
Mondschiff herausholen. Ich wundere mich überhaupt, daß Foster noch
am Leben ist und die Funkverbindung noch besteht.«
»Ich habe mit Lebedinski gesprochen«, sagte Smolny. »Er lehnt die
Zerstörung des ›Nilpferds‹ kategorisch ab.«
»Nein, Sie sind wirklich unbelehrbar.« Klein klatschte in die
Hände. »So seid ihr Russen, denkt immer an euch selbst zuletzt.
Jede idiotische Maschine bedeutet euch mehr als die eigene Haut.
Ich wiederhole noch einmal: Ich verlange von Ihnen, dem Chef der
Station, daß Sie Herrn Lebedinski befehlen, das Kristallhirn in die
Luft zu sprengen. Und je eher, desto besser.«
»Gut, ich erteile ihm den Befehl«, gab sich der Professor
geschlagen. »Ich fürchte nur, Lebedinski wird nicht auf mich hören.
Er ist überzeugt, daß man Fedossejew findet.«
Smolny sah auf das große Zifferblatt über dem Bildschirm. Sechs
Stunden waren die Geländefahrzeuge bereits unterwegs. Er stellte
sich vor, wie Lebedinski bewegungslos in seinem Sessel kauert und
ebenfalls den kreisenden Sekundenzeiger verfolgt. Jede Runde eine
Minute. Und das noch sechzigmal. In genau einer Stunde werden sich
von den Antennen der Erd- und Raumstationen mächtige Ströme von
Radioimpulsen lösen. Sie werden sich in anderthalb Sekunden im Raum
zwischen Erde und Mond ausbreiten bis hin zu dem dreihundert Meter
langen Krater, der in undurchdringlicher Dunkelheit liegt. Sie
werden auf Felsen stoßen, zurückgeworfen werden, sich brechen, sich
überlagern und den schweigenden Äther mit unheimlichen, dem
menschlichen Ohr nicht vernehmbaren Zirpen erfüllen. Äußerlich wird
sich im Krater nichts verändern, bis die tollwütigen Roboter
plötzlich in ihren Bewegungen stocken. Im Wirbel der
Funkwellenbündel ersterben die Kommandos des zentralen
Kristallhirns. Die Roboter stehen still. Dann öffnet sich die
Luftschleuse, und heraus tritt eine häßliche Metallspinne, die den
Geländefahrzeugen entgegeneilt. In ihren Klauen hält sie eine
unbewegliche Gestalt im Skaphander.
Die Elektronenrechner haben jeden Meter Weg, jeden Liter Sauerstoff
in den Flaschen berechnet. Eine Stunde und dreiundfünfzig Minuten
verbleiben Lebedinski noch, wenn er das Ventil des Sauerstoffgeräts
ganz aufgedreht hat, um sein gelähmtes Gehirn zu reinigen und Kraft
zu finden, bis zur Schleuse zu kommen. Das wird genau anderthalb
Minuten in Anspruch nehmen. In einhundertdreizehn Minuten trägt ihn
der Roboter vierzig Kilometer. Mehr schafft er nicht, auch nicht
mit der roten Havarielochkarte im Rechenwerk. Nur die
Erkundungsgeländewagen, die »Grashüpfer«, kommen auf der
Mondoberfläche schneller voran. Ihre Maximalgeschwindigkeit beträgt
auf ebener Fläche fünfzig Stundenkilometer. In dem Augenblick, wo
Lebedinski das Ventil schließt und sich den hermetischen Helm
überstülpt, befindet sich Tscherednitschenkos Fahrzeug
hundertfünfzig Kilometer weit von der Basis entfernt. Lebedinski
fehlen dreißig Minuten zum Überleben.
Erregt legte der Professor den Lochstreifen der Rechenmaschine
beiseite und schwenkte seinen Sessel herum, zu dem am Hauptpult
sitzenden Tewossian. Jeden Augenblick müßten die Raketogramme von
den Geländefahrzeugen eintreffen. Dann würde sich herausstellen, ob
es Tscherednitschenko gelungen war, die Berechnungen zu korrigieren
und wenigstens einiges von den verfluchten dreißig Minuten
gutzumachen. Unwillkürlich wird man abergläubisch, ging es Smolny
durch den Kopf. Mißbilligend musterte er Tewossians schief
ausrasierten Nacken.
Die Tonbandspulen auf dem Hauptpult kreisten. Smolny blickte zur
Uhr. Schröder ist pünktlich wie immer, dachte er. Sein Bericht traf
genau auf die Sekunde ein.
Der zweite Geländewagen interessierte den Chef der Station jetzt
nicht sonderlich. Schröders »Grashüpfer« sollte mit
Höchstgeschwindigkeit zur Basis fahren, ohne jedoch die im
Alarmzustand zugelassene Grenze zu überschreiten. Inzwischen war
er, obwohl fünfzehn Minuten eher gestartet, weit hinter
Tscherednitschenko zurückgeblieben. In diesen fünfzehn Minuten
hatte Tscherednitschenko allen Ballast von seinem Geländewagen
geworfen, einschließlich der schweren Sauerstoffflaschen mit einem
Vorrat für mehrere Tage. Sein Sauerstoff reichte nun nicht einmal
mehr für die Rückfahrt. Das war aber nicht weiter gefährlich, da
der zweite Geländewagen unmittelbar folgte. Tscherednitschenkos
»Grashüpfer« konnte dadurch einiges an Zeit herausholen. Das hatte
Professor Smolny einkalkuliert, als er in die riskante, laut
Instruktion streng verbotene Fahrt einwilligte.
Professor Smolny kannte Tscherednitschenko gut, diesen
unverwüstlichen Fighter und mehrfachen Landesmeister in den
technischen Disziplinen. Ein Draufgänger. Für riskante, doch
wohlbegründete Entscheidungen der geeignete Mann. Deshalb hatte er
ihm diese schwere Aufgabe übertragen, von deren Lösung Lebedinskis
Leben abhing. Wie kein zweiter steuerte Tscherednitschenko den
Wagen, und das im Gefahrenzustand, wenn die roten Lampen am
Schaltpult eine Überbelastung ankündigten und nur noch die
Intuition des Fahrers eine Katastrophe verhindern konnte.
Unwahrscheinlicher Mut und Willenskraft gehörten dazu. Der
Professor wußte, Tscherednitschenko würde durchhalten.
Insgeheim mußte sich Smolny eingestehen, daß er Mironow, dem
zweiten Fahrer des ersten Geländewagens, nicht so fest vertraute.
Der kleine Geophysiker war erst seit kurzem auf der Station, und
niemand von der jetzigen Besatzung kannte ihn von früher. Der
Professor erinnerte sich an eine halbvergessene Episode aus der
Zeit gleich nach Mironows Ankunft auf dem Mond. Ein Meteorit hatte
eine Wasserzisterne beschädigt, die gerade erst zum Eingang des
Stationsgebäudes geschafft worden war. Jeder Tropfen Wasser war
damals noch eine Kostbarkeit gewesen! Zum Transport waren
automatische Zisternen mit Elektroheizung verwendet worden, denn
heißes Wasser ließ sich besser umfüllen. Der Meteorit hatte ein
anständiges Loch in die Zisterne geschlagen. Der austretende
Heißwasserstrahl gefror sofort auf dem Boden. Mironow aber, vom
Alarmsignal herbeigerufen, überprüfte erst pedantisch seinen
Skaphander, obwohl Bek-Nasarow es schon vorher getan und ihm
versichert hatte, daß alles in Ordnung wäre. Mironows Verhalten
entsprach genau der Instruktion, die jeden verpflichtete, beim
Verlassen der Gebäude persönlich den Skaphander zu kontrollieren.
Einige hundert Liter waren ausgelaufen, und der Wasservorrat war
dahin. Der reguläre Start der »Rubin« mußte verschoben werden.
Gewiß, dafür waren die Stationsbewohner unversehens zu einer
herrlichen Eisbahn gekommen, und eine allgemeine Begeisterung fürs
Schlittschuhlaufen brach aus. Einige Tage lang aber hatte sich
Bek-Nasarow Mironow gegenüber betont reserviert
verhalten.
Eigentlich war an diesem Vorfall nichts Besonderes. Schließlich ist
Wasser bloß Wasser. Im unkontrollierten Skaphander hinauszugehen
konnte hingegen den schnellen und sicheren Tod bedeuten. Der
Professor hatte einerseits Verständnis für das Verhalten des Neuen.
Andererseits mißfiel ihm Mironows Mißtrauen einem Kameraden
gegenüber, auch wenn es unbeabsichtigt war. Jedenfalls hinterließ
diese Episode ein unangenehmes Gefühl.
Es hatte noch andere Kleinigkeiten gegeben, die im pulsierenden
Mondalltag unbeachtet geblieben waren. Jetzt aber fielen sie dem
Professor wieder ein und beunruhigten ihn. Er bedauerte schon,
Mironow mitgeschickt zu haben. Aber eine andere Möglichkeit hatte
es nicht gegeben. Weder Schröder noch Bek-Nasarow, die Besatzung
von »Grashüpfer 3«, waren meisterhafte Fahrer. Und andere standen
im Moment nicht zur Verfügung.
Wieder betrachtete der Stationschef Tewossians lächerliche Frisur.
Wenn wir Verstärkung bekommen, muß unbedingt ein Friseur dabeisein,
dachte er. Die Jungs verschandeln sich ja gegenseitig.
Er sah auf die Uhr. Von Tscherednitschenko fehlte immer noch jede
Nachricht.
Neben dem dunklen Bildschirmoval flackerte beharrlich ein grünes
Lämpchen. Die Erde war sprechbereit. Smolny drückte auf einen
Knopf.
»Innokenti Borissowitsch, wir haben Fedossejews Frau gefunden«,
rief der junge Sekretär des Astro-Rates mit sich überschlagender
Stimme. Er arbeitete erst seit einigen Tagen beim kosmischen
Nachrichtenstab und war vor der Kamera immer noch schrecklich
aufgeregt. »Sie sagt, Pjotr Iwanowitsch wollte sich heute unbedingt
das Fußballspiel ansehen. Er hat den Fernseher mit im
Wagen.«
»Was für ein Fußballspiel?« fragte Smolny begriffsstutzig. Im
gleichen Augenblick fiel ihm aber ein, daß die ganze Station der
Halbfinalbegegnung um den Weltpokal gespannt entgegensah, die aus
London über Kosmovision übertragen wurde. Die zweite Halbzeit mußte
bereits laufen.
Fußball interessierte den Chef der Station jetzt am allerwenigsten.
Im Moment beschäftigte ihn einzig und allein die Frage, warum
Tscherednitschenkos Raketogramm ausgeblieben war.
»Hören Sie selbst«, sagte der Sekretär.
Aus dem Lautsprecher kam zweihunderttausendstimmiges Geschrei. Der
Reporter drang kaum durch. Rotweiß gekleidete Spieler stürmten auf
das Tor der sowjetischen Mannschaft zu.
»… und nun ist der schnelle Mittelstürmer am Ball. Seine exakten
Abgaben sind immer sehr gefährlich. Und jetzt umspielt er die
Verteidigung, gleich wird er ein Tor schießen! Gleich ist es
passiert!«
Der Lautsprecher dröhnte. Smolny verzog das Gesicht. Der Ball flog
hoch über die Latte in die Zuschauertribüne.
»Der Spielstand bleibt unverändert«, vernahm der Professor
schließlich. »Ich möchte die kurze Spielpause benutzen, um die
Zuschauer daran zu erinnern…«
Jäh riß die Stimme ab, eine kurze Stille trat ein. Dann war der Ton
wieder da.
»Liebe Fernsehzuschauer!« sagte jemand. »Ich wende mich in einer
dringenden Angelegenheit an Sie. Wahrscheinlich sieht sich auch
Pjotr Iwanowitsch Fedossejew dieses Spiel an. Er wird von der
Luna-Station verlangt. Pjotr Iwanowitsch! Setzen Sie sich bitte
unverzüglich mit dem Astro-Rat in Verbindung! Ein Mensch schwebt in
Lebensgefahr.«
Die Kamera hatte den Torwart erfaßt, der den Ball ins Mittelfeld
schlug. Dann verschwand das Stadion vom Bildschirm, und wieder
erschien der aufgeregte Sekretär.
»Haben Sie gehört?« fragte er. »Ich glaube bestimmt, daß sich
Fedossejew jetzt bald meldet.«
»Hoffentlich«, brummte der Professor. »Sicherlich sitzt er irgendwo
vor seinem Fernseher und hat darüber die Jagd vergessen.«
Keine schlechte Idee, die Fernsehdurchsage, dachte er. Fedossejew
wird bestimmt wissen, wie seine Roboter zur Vernunft zu bringen
sind. Hauptsache Tscherednitschenko schafft es.
Doch Tscherednitschenko schwieg, obwohl der vereinbarte Zeitpunkt
für seine Meldung längst verstrichen war. Er schwieg auch nach
einer Stunde noch, als es Zeit wurde, das Kristallhirn durch die
Funkwellenbündel lahmzulegen. Ob Lebedinski einem Geländefahrzeug,
das als vermißt gelten mußte, entgegengehen oder ob er in der
Kuppel bleiben sollte, in qualvoller Agonie, allein gelassen mit
der vagen Hoffnung auf die »Potomac«, darüber galt es
augenblicklich neu zu entscheiden.
Tscherednitschenko schwieg, weil sein Geländewagen weitab von der
Straße, inmitten unpassierbarer Felsen zertrümmert lag.
Die Straße zur Basis war gleichzeitig mit der Station gebaut
worden. Das hatte keine große Mühe gekostet, denn der Südzipfel des
Meeres der Ruhe ist eine ebene Fläche. Nur stellenweise hatte man
den Boden glätten und hell gestrichene Metallmarkierungen mit
Lichtsignalanlagen für die Nacht aufstellen müssen. Selbst bei
völliger Dunkelheit war es kein Problem, ein Geländefahrzeug durch
die beiden Markierungsreihen hindurchzusteuern. Die Markierungen
waren überdies ausgezeichnet auf dem Radarschirm zu erkennen Mit
einem Wort, das Fahren auf dieser Straße machte zu keiner Tageszeit
Schwierigkeiten. Sogar die Transport-Roboter, die »Flundern« mit
ihrem primitiven Kristallhirn, legten den Weg zwischen Basis und
Station immer ohne Zwischenfälle zurück.
Von der ersten Sekunde an hatte Tscherednitschenko alles aus dem
Fahrzeug herausgeholt. Er hatte den Beschleunigungshebel weit
hinter die Sperre gedrückt und den Wagen vorwärts gejagt, daß die
Motoren stöhnten.
Die breite, tiefhängende Erdsichel gab genügend Licht, so daß die
an die Finsternis gewöhnten Augen alle Einzelheiten der
Mondoberfläche gut unterscheiden konnten. Tscherednitschenko hatte
nicht einmal die Scheinwerfer eingeschaltet.
Mironow saß schweigend hinter ihm und kämpfte mit dem aufkommenden
Brechreiz.
Die schnelle Fahrt im »Grashüpfer« hatte ihre Tücken. Das schwere
Fahrzeug stampfte bei der hohen Geschwindigkeit wie ein Schiff und
hob sich mitunter fast vorn Boden ab. Die an sich ausgezeichnete
Federung fing das Stampfen nicht etwa ab, sondern verstärkte es nur
noch. Es war, als pflüge der Wagen eine wildbewegte See, als
schösse er über Wellenberge und Täler.
Bei den Probefahrten auf der Erde war nichts dergleichen beobachtet
worden. Erst auf dem Mond, unter den Bedingungen der verringerten
Schwerkraft, hatte sich dieser Mangel herausgestellt. An eine
Korrektur war nicht mehr zu denken gewesen. Im übrigen war das
Schlingern und Stampfen in Kauf genommen worden, zumal noch niemand
mit Höchstgeschwindigkeit hatte fahren müssen.
Der »Grashüpfer« schaukelte jetzt fürchterlich. Mironow stellte mit
einiger Verwunderung fest, daß sein Magen sehr empfindlich auf jede
Bewegung des Fahrzeugs reagierte. Eine lange Fahrt stand bevor.
Entsetzen packte ihn, sobald er daran dachte.
Auf dem Bildschirm zeigte sich bald ein kleiner Punkt: »Grashüpfer
3«. Über Funk tauschte Tscherednitschenko mit Schröder und
Bek-Nasarow »Grußbotschaften« aus. Dann blieb »Grashüpfer 3«
zurück, und für Tscherednitschenko und Mironow wurde es Zeit, die
Plätze zu wechseln.
Auf dem Fahrersitz erging es Mironow noch schlechter. Und zum
ersten Mal seit seiner Ankunft auf dem Mond leuchteten vor ihm am
Pult zwei rote Lampen auf. Warnsignale. Die Apparaturen waren an
der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit. Das beunruhigte Mironow.
Rundherum gähnte, hunderte Kilometer weit, luftleerer Raum,
durchsetzt von kosmischen Strahlungsströmen. Lange, zermürbende
Stunden einer wahnwitzigen Hetzjagd in undurchdringlichem Dunkel
standen noch bevor. Die dreihundert Stunden währende eisige
Mondnacht hatte gerade erst begonnen, der Sauerstoff in den
Flaschen reichte aber nicht einmal für vierundzwanzig Stunden.
Mironow durchzuckte der Gedanke, daß eine Panne des anderen
Geländewagens auch für sie beide schicksalhaft werden
könnte.
Aus dem mit einer dicken Bio-Schutzhülle abgeschirmten Heck strömte
die unbändige Kraft der Neutronenwirbel. Mit voller Kapazität
speiste der Kernreaktor die Triebwerke. Alle energieschluckenden
Apparaturen – Sender, Scheinwerfer, Kabinenbeleuchtung und -heizung
– waren ausgeschaltet. Schon seit geraumer Zeit lag die
Geschwindigkeit des »Grashüpfers« an der obersten Grenze. Trotzdem
reichte sie nicht, den vom Elektronenrechner ausgeklügelten
Fahrplan wenigstens etwas zu unterbieten.
Tscherednitschenko überlegte. Mehr war aus dem Fahrzeug offenbar
nicht herauszuholen. Das riskante Wettrennen mit dem Tod hatte
jeden Sinn verloren, denn Lebedinskis Sauerstoff ging unweigerlich
dreißig Minuten vor ihrem Zusammentreffen zu Ende. Irgend etwas
mußte geschehen.
Das Geländefahrzeug besaß Triebwerke für schwerste Bedingungen.
Irgend so ein Schlaukopf hatte sie mit großen Leistungsreserven
projektiert. Tscherednitschenko wußte nur zu gut, daß der Reaktor
nicht mehr hergab, denn die Regelstäbe hielten den Reaktorhaushalt
genau in den vorgeschriebenen Grenzen.
Die Stäbe waren aber so weit angehoben, daß das beabsichtigte
Leistungsniveau längst erreicht war. Die einzige Möglichkeit, noch
etwas aus dem Reaktor herauszuholen, bestand darin, sie ganz zu
entfernen.
Tscherednitschenko hatte am Bau und an der Erprobung der ersten
»Grashüpfer« teilgenommen. Außer einer Überhitzung konnte nicht
allzuviel passieren, wenn man einen Teil der Stäbe
entfernte.
Er schloß seinen hermetischen Helm und öffnete die Tür zur
Triebwerkkammer.
Als er, den Schweiß von der Stirn wischend, wieder in der
Fahrerkabine auftauchte, flackerten am Schaltpult mehrere rote
Warnlampen auf.
»Was haben Sie gemacht?« fuhr Mironow ihn an. »Wir können jeden
Moment in die Luft fliegen!«
»Ich habe ein paar Regelstäbe rausgenommen«, sagte
Tscherednitschenkow und betätigte den
Beschleunigungshebel.
Sofort erhöhte sich die Geschwindigkeit des Fahrzeugs. Kurze Zeit
später erschien allerdings ein weiterer roter Punkt am
Schaltpult.
Die Überhitzung des Reaktors hatte begonnen.
Zum ersten Mal in seinem Leben empfand Mironow Todesangst. Er hatte
das Gefühl, als verwandle sich das Geländefahrzeug allmählich in
eine entsicherte Bombe, die beim geringsten Stoß explodiert. Ihm
schien es, als flöge sie mit ihnen durch die nachtschwarze Wand
direkt in den Sternenhimmel hinein.
Die rettenden Kontrollautomaten waren ausgeschaltet, sonst hätten
sie sich längst in die Steuerung eingemischt. Der
Beschleunigungshebel, der weit hinter der Sperre lag, vibrierte
unter Mironows Fingern, als wollte er sich jeden Augenblick
losreißen. Plötzlich wurde Mironow von dem Wunsch übermannt, den
Hebel für den Bruchteil einer Sekunde loszureißen, damit sein Magen
wieder zur Ruhe kam und die Alarmsignale am Pult erlöschten. Nur
mit Mühe bezwang er sich. Der geringste Temporückgang bedeutete
Lebedinskis sicheren Tod, das wußte Mironow.
Er sah zur Uhr. Das Geländefahrzeug war knappe zwei Stunden
unterwegs. Noch sieben Stunden Höllenqual, dachte er. Das halte ich
nicht aus!
Er geriet in Wut über den endlosen Weg, über die revoltierenden
Roboter, über Tscherednitschenko, der sich hinten auf dem Sitz
lümmelte, als sei nichts geschehen, über die eigene Ohnmacht und
über die grausame Mondwelt, deren Erforschung derartige Strapazen
mit sich brachte. Und die Wut half ihm durchzustehen.
Zum Glück war es inzwischen Zeit, das Raketogramm durchzugeben.
Tscherednitschenko setzte sich auf den Fahrersitz und nahm das
Mikrofon zur Hand. Mironow rang mit letzter Kraft die Magenkrämpfe
nieder und überprüfte die Geräte auf ihre
Funktionstüchtigkeit.
Auf dem Dach des Geländefahrzeugs wurden in kurzen Vertikalrohren
vier kleine Raketen mitgeführt. In einer diesen Raketen drehten
sich jetzt die Spulen eines winzigen Tonbands, dessen feiner
Stahldraht Tscherednitschenkos Worte aufnahm. Wenige Minuten später
stieg die Rakete in hundert Kilometer Höhe auf; dabei wurden die
Antennen ausgefahren und gerichtet. Auf dem Gipfelpunkt, wo die
Krümmung der Mondoberfläche die Station nicht mehr verbarg, gaben
die Bänder die gespeicherten Informationen an den Äther ab. Die
Instrumente der Station zeichneten das, Raketogramm auf genauso
feinen Stahldraht auf. Anschließend wurde es auf ein gewöhnliches
Tonbandgerät übertragen, und die Information konnte abgehört
werden.
Von diesem Raketogramm hatte Smolny Lebedinski, wenige Minuten
bevor die Funkverbindung abriß, unterrichtet.
Nach sechs Stunden führte die Straße hinauf in die Berge, die das
»Meer der Ruhe« von der Zentralbucht trennen. Tscherednitschenko
vertiefte sich in die Karte und überlegte.
Das vom Ballast befreite Fahrzeug kam in rasantem Tempo voran.
Dennoch reichte seine Geschwindigkeit nicht, um rechtzeitig bei
Lebedinski zu sein.
Es blieb eine letzte Chance. Tscherednitschenko hatte beim Bau der
Straße mitgearbeitet und kannte sich hier aus. Nach einigen
Kilometern machte die Straße, ehe sie ins Gebirge abbog, einen
scharfen Knick, den einzigen auf der Strecke. Seinerzeit war der
Vorschlag gemacht worden, diesen Umweg zu vermeiden. Beim Abstecken
der Trassen hatte Tscherednitschenko die gesamte Strecke
abgefahren. Später hatte man sich aber doch für die
Umgehungsvariante entschieden, obwohl ein Teil der geraden Strecke
schon markiert worden war.
Tscherednitschenko stoppte das Geländefahrzeug. Mironow
ächzte.
»Was ist los?« fragte er in krächzendem Flüsterton.
»Es bleibt uns nichts weiter übrig, als den geraden Weg zu nehmen,
Oleg Nikolajewitsch. Sonst schaffen wir’s nicht«, sagte
Tscherednitschenko.
Die letzten Kilometer hatten Mironow endgültig zermürbt. Kraftlos
hing er in seinem Sessel. Er nahm sich mit aller Gewalt zusammen,
um Tscherednitschenko nicht an den Kragen zu gehen und dessen Hände
von der Schaltung zu reißen. Wäre nicht der regelmäßig
wiederkehrende Brechreiz gewesen, hätte Mironow am Ende noch das
Bewußtsein verloren.
Tscherednitschenko bemerkte sehr wohl den Zustand seines Kameraden,
war jedoch außerstande, ihm zu helfen. Dazu hätte er die
Geschwindigkeit verringern müssen. Das aber konnte er nicht. Die
verfluchte Schaukelei wirkte sich allmählich auch auf seinen
gestählten Organismus aus. Aber noch hielt er sich aufrecht. Gleich
zu Anfang der Fahrt hatte Tscherednitschenko Mironow am Schaltpult
abgelöst und den »Grashüpfer« allein gesteuert.
Mironow war mit Tscherednitschenkos plötzlichem Entschluß
einverstanden, obwohl er wußte, was sie erwartete. Den Paragraphen
der Instruktion, der nächtliche Fahrten im Gebirge streng
untersagte, kannte er in- und auswendig. Aber im Augenblick dachte
er nicht an die bevorstehenden Gefahren, hielt sie sogar für
irreal. Er war zu jedem Risiko bereit, wenn nur die Schaukelei bald
aufhörte.
Riesige, glanzlose Sterne hingen über dem Fahrzeug.
Brillant-Staubwolken ballten sich über dem Weg zusammen. Die Flügel
majestätisch ausgebreitet, schwamm der Schwan im Sternenmeer, den
riesigen Smaragd des Deneb im Schnabel. Über dem Geländefahrzeug
hing der Erdball, eingehüllt im blauen Dunst der Atmosphäre. Unter
dem Fahrzeug tauchte mit einemmal eine doppelte Feuerpunktlinie
auf, machte einen scharfen Knick nach links und verschwand hinter
dem unsichtbaren, von Sternentüpfelchen gezeichneten
Horizont.
Tscherednitschenko langte zum Pult und schaltete die Scheinwerfer
ein. Sie warfen aber nur einzelne Lichtpunkte auf die
Einöde.
»Alarmstufe eins. Helm runterlassen, anschnallen!«
Tscherednitschenko blickte zur Uhr.
Das Geländefahrzeug ruckte an, walzte einen der nächsten
Markierungsstäbe nieder und verließ die Straße.
Zuerst ging alles verhältnismäßig gut, doch plötzlich war die Hölle
los.
Der »Grashüpfer«, ein ideales Fahrzeug für die Mondoberfläche,
wurde von Gliederfüßen in RaupenkettenPantoffeln ohne die geringste
Schwierigkeit über alle Unebenheiten des Bodens getragen. Dort, wo
weder Raupenketten-Geländewagen noch Kugelgleiter oder andere
Mondfahrzeuge durchkamen, bahnte sich der »Grashüpfer« beinahe
mühelos seinen Weg.
Doch jetzt hatte selbst dieser unverwüstliche Koloß zu kämpfen.
Seine Geschwindigkeit verringerte sich, die Sperrklinke am
Beschleunigungshebel mußte mit der Hand gehalten werden.
Tscherednitschenko ließ sich dadurch nicht beirren. Ihm ging es
einzig und allein darum, die Richtung einzuhalten.
Das blieb jedoch ein frommer Wunsch. Plötzlich bemerkte
Tscherednitschenko, daß das Steinchaos bedrohliche Ausmaße annahm.
Der hell leuchtende Deneb war zwar ein sicherer Orientierungspunkt,
dennoch schien der »Grashüpfer« bei dem Zickzackkurs von der
befahrbaren Route abgekommen zu sein. In der absoluten Dunkelheit
war nichts mehr zu erkennen. Lediglich vorn klaffte in der Wand aus
Finsternis ein phantastisches, von Scheinwerferlicht gebohrtes
Loch. Und dort tanzten undurchdringliche schwarze
Schatten.
Zweimal zerschnitten breite Spalten den Weg. Mit Leichtigkeit
sprang der »Grashüpfer« über sie hinweg. Die Sprünge in dem vom
Ballast befreiten Fahrzeug kosteten Tscherednitschenko keine große
Anstrengung. Doch bald brach unter den Gliederfüßen eine lockere
Steinkante weg, und das Fahrzeug legte sich zur Seite. Es kippte
und rutschte bergab. Der automatische Stabilisator verhinderte ein
Überschlagen, und Tscherednitschenko, mit dem Kopf nach unten in
den Haltegurten hängend, konnte gerade noch alle rechten Füße des
Fahrzeugs zur Seite auswerfen und die linken einholen.
Der »Grashüpfer« richtete sich auf, rührte sich aber nicht vom
Fleck. Tscherednitschenko war kaum noch imstande, einen klaren
Gedanken zu fassen. Er warf einen Blick auf die Instrumente.
Anscheinend war alles in Ordnung. Vor seinen Augen tanzten weiße
Flocken. Er wollte sie wegwischen, stieß jedoch an die
Helmscheibe.
»Wie steht’s, Oleg Nikolajewitsch?« fragte er mit undeutlicher
Stimme.
»Ich lebe«, rauschte es aus Mironows Sprechfunkanlage.
Das Geländefahrzeug setzte sich langsam wieder in Bewegung, geriet
aber auf dem Geröll ins Rutschen. Vorwärts, nichts als vorwärts,
dachte Tscherednitschenko. Trotz alledem, wir schaffen es. Nur
vertikale Wände sind für den »Grashüpfer« unüberwindbar. Er sah zur
Uhr. In einigen Minuten würde Lebedinski die Kuppel verlassen.
Höchste Zeit, das Raketogramm abzuschicken.
Das Raketogramm ging nie ab. Die leichten Abschußrohre waren, als
das Fahrzeug umgekippt war, völlig plattgedrückt worden.
In der folgenden Stunde fand ein einziges wahnsinniges Wettrennen
mit dem Sekundenzeiger statt. Wie ein Eisbrecher das Packeis, so
nahm der »Grashüpfer« die Steinriesen im Sturm. Er wurde über die
erstarrten Wellen des Steinmeers geschleudert, kraxelte und
überschlug sich, sprang und glitt aus. Schon in der ersten
Viertelstunde rissen zwei Raupenketten. Infolge der heftigen Stöße
versagten die Geräte. Vergeblich blickte Tscherednitschenko auf den
Indikator, der über alle Erscheinungen im Funkbereich der
Nachrichtensatelliten informierte. Der Indikator leuchtete nicht
auf, obwohl die Satelliten mindestens zweimal über dem
Geländefahrzeug hinweggeflogen sein mußten. Die Stöße waren
mitunter so stark, daß die Anschnallgurte Tscherednitschenkos
Brustkorb beinahe eindrückten. Außerdem schien das System der
Wärmeregulierung defekt zu sein. Die Temperatur im Skaphander stieg
zusehends. Die Heizung mußte ganz abgestellt werden.
Als das Fahrzeug für Sekunden stehenblieb und Anlauf zur
Überwindung eines neuen Hindernisses nahm, hielt Tscherednitschenko
blitzschnell nach dem wegweisenden Deneb Ausschau. Der ferne,
gleichgültige Stern blickte kalt und starr auf sie herab. Der
Abstand zu ihm schien seit dem Antritt der wahnwitzigen Fahrt
unverändert. Tscherednitschenko wußte jedoch, daß der Eindruck trog
und es bis zur Straße nicht mehr weit sein konnte.
Und es war wirklich nicht weit. Keine zwei Kilometer. Da verlor
Tscherednitschenko die Gewalt über das Fahrzeug. Der »Grashüpfer«
rutschte in eine Spalte, kippte um und tat keinen Muckser mehr.
Am schwersten fiel es, sich zu einem Blick auf die Uhr zu zwingen. Der Schädel wollte platzen, so unerträglich waren die Kopfschmerzen. Dumpf raunte die Stimme des Stationschefs – sie mahnte, forderte, befahl. Das Rauschen in den Ohren vermochte die Worte nicht zu übertönen, doch blieb ihr Sinn unklar. Eins nur vergegenwärtigte sich Lebedinski immer wieder: Wenn ich das Bewußtsein verliere, ist es aus. Mit unwahrscheinlicher Anstrengung zwang er sich, die Sekunden auf dem großen Zifferblatt zu zählen. Er wußte nicht mehr warum, aber er zählte und zählte.
Alles andere wäre zu ertragen gewesen, nur nicht diese nervtötende Stimme. Dabei konnte man sich nicht konzentrieren. Mit letzter Kraft drückte Lebedinski auf einen Knopf am Gürtel, um die Stimme zum Schweigen zu bringen. Vergeblich. Lebedinski war nicht einmal mehr imstande, sich zu wundern. Doch da fiel ihm der Sender wieder ein. Er beugte sich weit vor, lag fast über dem Schaltpult und tastete mit dem Handschuh die Knöpfe ab. Die Stimme dröhnte mit fürchterlicher Lautstärke. Sie war nicht zu überhören.
»Fjodor Iljitsch, Sie müssen jetzt hinausgehen. Weshalb sagen Sie nichts? Antworten Sie bitte. Hören Sie mich? Der Satellit ist über Ihnen. Antworten Sie, Fjodor Iljitsch. Schalten Sie die Sauerstoffzufuhr ein. Schließen Sie den Helm. Stehen Sie auf!«
Die Stimme des Professors hallte unter der Kuppel wider und bohrte sich in Lebedinskis Gehirn. Sie mahnte, forderte, befahl. Schließlich begriff Lebedinski, daß er aufstehen mußte.
Nach einigen vergeblichen Versuchen gelang es
ihm endlich, aber er fiel gleich wieder zu Boden.
Der Schmerz des Aufpralls brachte ihn in die Wirklichkeit zurück.
Ohne sich zu erheben, drehte er das Ventil auf und spürte sogleich,
wie der lebenspendende Sauerstoff in seine Lungen drang. Er schloß
den Helm, um keinen einzigen Liter des wertvollen Gases ungenutzt
ausströmen zu lassen. Dann stützte er sich mit Händen und Füßen ab
und blickte zur Uhr.
»Ich gehe«, sagte er und stand auf. »Senden Sie die
Funkwellenbündel aus.«
Anderthalb Sekunden später wurden seine Wort auf der Erde
vernommen. Sofort breiteten sich unsichtbare Energieströme im
Weltraum aus. In der Station stellte Professor Smolny die
Kontrollstoppuhr. Von nun an unterwarf sich alles dem Lauf ihres
Zeigers, der Lebedinskis Minuten, vielleicht die letzten,
zählte.
Mit einer Drehung des Hebelschalters stellte Lebedinski die
Kuppelscheinwerfer ein, gleißendes Licht ergoß sich über den
Krater. Jetzt konnte er hinaustreten.
Doch vergeblich drückte er gegen die Tür der Schleusenkammer. Sie
gab nicht nach. Hastig prüfte er, ob sie entriegelt war. Noch ein
Blick auf den Druckanzeiger. Alles in Ordnung. Die Tür öffnete sich
aber nicht. Furcht packte ihn. Er nahm Anlauf und stieß mit aller
Gewalt gegen die Tür, riskierte dabei, seinen Skaphander zu
beschädigen. Sie gab nicht einen Millimeter nach. Voller
Verzweiflung sah sich Lebedinski in der Kuppel nach einem schweren
Gegenstand um, mit dem er die verfluchte Tür einschlagen konnte. Er
hatte wohl gestöhnt, denn Smolny fragte sofort, was los
wäre.
Die Stimme des Chefs zwang ihn, sich zusammenzunehmen.
»Alles in Ordnung«, sagte er. »Gleich öffne ich die
Luftschleuse.«
Noch einmal blickte er auf die Instrumente. Was war bloß geschehen?
Was hatte er nicht beachtet? Der fürchterliche Gedanke, daß die
revoltierenden Roboter die Tür von draußen zuhalten könnten,
durchzuckte ihn. Die Signalanlage zeigte jedoch an, daß die
Außentür offenstand und der in der Schleuse stehende
Kundschafter-Roboter durch die undurchdringlichen Wände gegen die
Funkbefehle des »Nilpferds« sicher abgeschirmt war.
Einige Stunden zuvor hatte sich die Tür noch ganz leicht öffnen
lassen, daran erinnerte sich Lebedinski. Was mochte inzwischen vor
sich gegangen sein?
Bei unterschiedlichen inneren und äußeren Druckverhältnissen
verhinderte die automatische Blockierung das Öffnen der Tür. Der
Druckmesser bewies jedoch eindeutig, daß in der Schleusenkammer
normale Druckverhältnisse herrschten.
Plötzlich fiel es Lebedinski wie Schuppen von den Augen. Viele
Stunden schon befand er sich in einem verschlossenen Raum, in dem
der Luftvorrat nicht aufgefüllt worden war. Die menschliche Lunge
entnahm der Luft bei jedem Atemzug bis zu vier Prozent Sauerstoff
und verwandelte ihn in Kohlendioxid, den die exakt funktionierenden
Regeneratoren störungsfrei eliminierten. Der Druck unter der Kuppel
war gefallen, zwar nur minimal, um zwei bis drei Prozent etwa, aber
doch genug, um einen Druck auf die Tür von einigen hundert
Kilogramm zu erzeugen.
Schnell begann Lebedinski, den Druck in der Schleuse auszugleichen.
Die Tür öffnete sich. Nach anderthalb Minuten stelzte der
Kundschafter-Roboter im Licht der Scheinwerfer durch die Außentür.
Links, hundert Meter von der Kuppel entfernt, begann der Weg zur
Station. Der Roboter aber schwenkte nach rechts. Dorthin, wo seine
Kumpane emsig hin und her rannten.
Das ist das Ende. Sollen all die Qualen vergebens gewesen sein?
dachte Lebedinski. Absolute Gleichgültigkeit bemächtigte sich
seiner. Aber dennoch erstattete er dem Chef der Station
ordnungsgemäß Meldung.
»Kehren Sie sofort in die Kuppel zurück«, befahl Smolny. »In der
Apotheke ist ein Schlafmittel. Nehmen Sie drei Tabletten.
Verringern Sie die Sauerstoffzufuhr, legen Sie sich hin und warten
Sie auf das Geländefahrzeug.«
»Das ist sinnlos«, sagte Lebedinski resigniert. »Außerdem will ich
nicht im Schlaf sterben.«
»Führen Sie den Befehl aus«, wurde er von Smolny unterbrochen.
»Verlieren Sie keine…«
Mitten im Satz hielt der Professor inne. Lebedinski vernahm
plötzlich gedämpftes Stimmengewirr. Dann ertönte in seinem Helm
eine unendlich ferne, unbekannte Stimme: »Fjodor Iljitsch! Hier
spricht Fedossejew. Berichten Sie bitte sofort, was die Roboter
bauen. Hören Sie mich? Antworten Sie!«
Fedossejew war schwer zu verstehen. Anscheinend hatte der
Nachrichtensatellit den Bereich der Funksicht wieder
verlassen.
»Ich habe Sie verstanden«, sagte Lebedinski akzentuiert. »Doch was
sie bauen, läßt sich schwer beschreiben. Hohe Träger, auf denen
Neigungsgitter befestigt sind. Das Ganze erinnert an ein
Radioteleskop.«
»Und was für ein Programm hat das ›Nilpferd‹?« fragte Fedossejew
erregt. Seine Stimme, die über mehrere Fernsprechvermittlungen und
Relaisstationen aus der kleinen Siedlung bei Moskau kam, war kaum
noch zu hören.
»Das Programm habe ich vor der Sonneneruption rausgenommen«, sagte
Lebedinski. Blitzartig schoß ihm ein Gedanke durch den
Kopf.
»Programmieren Sie sofort, hören Sie mich?« Fedossejews Stimme
wurde noch undeutlicher. »Programmieren Sie…«
Die Stimme verschwand. Aber Lebedinski wußte, was er zu tun hatte.
Er drehte sich um und hastete zur Schleuse.
Eisige Kälte brachte Mironow wieder zu sich. Er hing in den Anschnallgurten. In der Kabine herrschte absolute Dunkelheit. Mironow tastete den Verschluß ab und drückte auf einen Knopf. Die Gurte hakten aus, und er fiel. Halt suchend, auf den abschüssigen Boden.
Er kniete sich hin, schaltete die Kopflampe ein, aber an stelle hellen Lichts nahm er nur ein verschwommenes Flimmern wahr.
Bin ich etwa blind? dachte er entsetzt und
griff an seinen Helm.
Silbergrauer, von vereinzelten Funken erhellter Nebel schwamm ihm
vor den Augen. Mironow versuchte den Helm zu öffnen, aber das
Helmgitter gab nicht nach. Plötzlich merkte er, was los war, und
bekam einen Schreck.
Die Helmscheibe war innen mit einer dicken Reifschicht bedeckt.
Offensichtlich hatte die hermetische Isolierung der Fahrzeugkabine
einen Defekt, denn jetzt herrschte hier kosmische Kälte. Fieberhaft
betätigte Mironow die Taste für die Beheizung der Helmscheibe. Nach
wenigen Minuten rann ihm eisiges Wasser den Hals hinab. Die Scheibe
würde wieder klar.
Kraftlos mit den Armen baumelnd, hing Tscherednitschenko in den
Gurten des Fahrersitzes. Im Schein der Lampe glitzerten Splitter
von Instrumenten, blinkte die Pfütze einer erstarrten
Flüssigkeit.
Mironow fühlte, daß er am Ende war. Sein Gehirn arbeitete
mechanisch weiter. Er berechnete die kläglichen Sauerstoffreste,
überschlug in Gedanken die Kilometer durch das unpassierbare
Gebirge und erwog die allerletzten Chancen. Er wußte nur zu gut,
daß das alles zu nichts führen konnte. Einzig und allein das
anerzogene Gefühl für Disziplin ließ ihn im Geiste sinnlose
Varianten für ihre Rettung aufzählen. Dumpfe Gleichgültigkeit
erfaßte ihn. Dennoch ging er zu seinem Kameraden und löste dessen
Gurte. Tscherednitschenko stöhnte auf.
Das war Musik in Mironows Ohren. Er drehte das Ventil an
Tscherednitschenkos Sauerstoffflasche ganz auf und drückte auf den
blauen Knopf an dessen Gürteltastatur. Unter Tscherednitschenkos
Helm zersprang eine kleine Ampulle. Ein belebendes Gas-Tonikum
drang in Tscherednitschenkos Lungen. Nach wenigen Sekunden erhob er
sich taumelnd.
Noch nie im Leben hatte Tscherednitschenko einen Auftrag nicht
erfüllt. Kaum war seine Helmscheibe abgetaut, blickte er auf die
Uhr am Ärmel seines Skaphanders. Lebedinski mußte schon unterwegs
sein.
Tscherednitschenko sprang zum Schaltpult und betätigte den
Beschleunigungshebel. Das mechanische Herz des Fahrzeugs
erzitterte, sein nach unten gesunkener Bug hob sich ein wenig. Das
war alles.
Die Freude beim Anrucken des Fahrzeugs und die Enttäuschung, daß es
dabei blieb, waren der letzte Schlag für Mironows bis zum Zerreißen
gespannte Nerven. Die Vorstellung, in dieser Steinwüste,
vierhunderttausend Kilometer vom Heimatplaneten entfernt, begraben
zu sein, lähmte ihn vollends. Er dachte nicht mehr an Lebedinski,
dessen Minuten gezählt waren, und auch nicht an seinen
Gefährten.
Ein einziger Gedanke hämmerte in seinem Kopf: Hätten wir die Straße
nicht verlassen, wären wir jetzt nicht in dieser fatalen
Lage.
Sein starrer Blick war auf Tscherednitschenko gerichtet, der ihm
etwas zurief. Mironow verstand kein Wort.
Tscherednitschenko nahm einen kleinen Havarieballon aus der
Wandhalterung und befestigte ihn bei sich an der Brust. Die großen
Rückenballons ohne fremde Hilfe auszuwechseln war schwer, doch das
Havarieventil an der linken Schulter ließ im Notfall die
Befestigung beliebiger Ballons am Skaphander zu.
»Fangen Sie in einer Stunde an, Signalraketen abzufeuern«, sagte er
zu Mironow. »Alle fünf Minuten eine Rakete. Achten Sie auch auf die
Satelliten.«
Etwas unsicher ging er über den geneigten Boden der Fahrerkabine
und öffnete ein Wandschränkchen. Aufmerksam verfolgte Mironow jede
seiner Bewegungen, ohne jedoch zu begreifen, was der andere
vorhatte. Tscherednitschenko nahm einen Raketengurt
heraus.
Das zwanzigste Jahrhundert kannte viele neue technische Sportarten,
die schnell wie die Menschheit selbst waren. Gewöhnliche Auto- und
Motorradrennen, Fallschirm- und Segelflugsport waren von Wasserski-
und Unterwasserbootsport abgelöst worden. Seit der Entwicklung der
Kosmonautik hatten sich Tausende begeistert dem Raketenflugsport
verschrieben.
Tscherednitschenko gehörte zu den ersten Landesmeistern in dieser
neuen Sportart. Sprünge von einem halben Kilometer waren für ihn
eine Kleinigkeit. Seinen letzten Rekord hielt er bereits über drei
Jahre.
Alle Kosmonauten beherrschten die Kunst, mit dem Raketengurt zu
fliegen. Wegen der schwer einzuschätzenden Entfernung und der
möglichen schlimmen Folgen wurden die Gurte auf dem Mond nicht
verwendet. Tscherednitschenko hatte, weil sich kein Partner fand,
immer allein trainiert. Nie trennte er sich von seinem Raketengurt.
Die geringere Anziehungskraft des Mondes – auf der Erde betrug sie
das Sechsfache – erlaubte ihm Sprünge, von denen er auf der Erde
nicht zu träumen gewagt hätte. Mit geübtem Handgriff schloß
Tscherednitschenko die Gurtschlösser. Und erst da begriff Mironow,
daß er allein bleiben sollte, in dem beschädigten Fahrzeug inmitten
unwegsamer Felsen, und daß vor ihm die dreihundert Stunden währende
eisige Mondnacht lag.
Was wird aus mir? dachte er in panischer Furcht. Er machte einen
Schritt auf Tscherednitschenko zu, um ihn zurückzuhalten. Auf der
Eiskruste rutschte er aus und fiel, lächerlich mit den Armen
rudernd, auf den Rücken. Tscherednitschenko beugte sich über ihn
und bemerkte hinter Mironows Helmscheibe angstvoll aufgerissene
Augen. Hätte er Zeit gehabt, dieser Blick hätte ihn nachdenklich
gemacht. Aber der unerbittliche Zeiger zählte nicht mehr die
Minuten, sondern die Sekunden, die Lebedinski verblieben waren. Das
war jetzt wichtiger als alles andere.
Tscherednitschenko reichte Mironow die Hand und half ihm beim
Aufstehen.
»Ich fliege Lebedinski entgegen«, sagte er. »In einer Stunde, wenn
Schröders ›Grashüpfer‹ naht, gehen Sie mit dem Signalwerfer hinaus.
Vergessen Sie nicht, die Peilwinkel anzugeben. Die ›Potomac‹ ist
nicht mehr weit, sie hilft uns bei der Suche nach Ihnen. Sauerstoff
haben Sie genug.« Er wandte sich zur Ausstiegsluke.
Über dem beschädigten »Grashüpfer« schienen, ohne zu flackern,
gleichgültig die Sterne. Tiefschwarze Nacht ringsum.
Tscherednitschenko suchte den Himmel nach dem Deneb ab. Da war er.
Leuchtete, als wäre nichts geschehen…
Für Sekunden wurde Tscherednitschenko von Grauen gepackt. Er war
sich der Gefahren eines solchen Nachtflugs bewußt. Sobald man sich
vom Boden abgehoben hatte, verlor man jedes Gefühl für Höhe und
Tiefe. Man wußte nicht, wohin man flog, ob hinauf zu den Sternen
oder auf gratige Felsen hinab. Unwillkürlich malte er sich aus, wie
er auf einem Berg aufschlagen würde. Das schnürte ihm die Kehle
zu.
Langsam legte er die Hände auf den Steuerhebel des
Raketengürtels…
Dieser Flug war zweifellos Tscherednitschenkos beste Leistung. Aber
in keinem Kampfrichterprotokoll wurde sie festgehalten. Für sie gab
es weder Urkunde noch Auszeichnung. Dennoch waren sich alle
Fachleute einig, daß Tscherednitschenko einen unvorstellbaren
Rekord aufgestellt hatte, der in Dutzenden von Jahren nicht zu
brechen war.
Tscherednitschenko versicherte später, der Flug sei gar nicht so
schwierig gewesen. Wer sollte das nachprüfen? Niemand hatte den
Mut, das Husarenstück zu wiederholen.
Der Flug im Raketengurt hatte nicht lange gedauert. Nach drei
Minuten hatte Tscherednitschenko unter sich die doppelten
Markierungslichter erblickt. Schwebend setzte er auf der Straße
auf. Dann hastete er mit Riesensprüngen weiter, bis der Treibstoff
im Raketengurt verbraucht war. Nach zehn Minuten erblickte er im
Lichtschein seiner Lampe eine häßliche Metallspinne, die in ihren
Vorderklauen einen Mann im Skaphander trug.
Er eilte Lebedinski mitten auf der Straße entgegen, wobei er hastig
den Havarieballon löste…
Nach einer guten Stunde leuchteten die Scheinwerfer des zweiten
Geländefahrzeugs auf, und bald darauf meldete Schröder, dem es
gelungen war, mit der »Potomac« Funkverbindung aufzunehmen, Foster
habe Mironows Peilwinkel empfangen.
Fünf Tage später, nachdem die »Rubin« neue Triebwerke bekommen hatte, landete Fedossejew auf dem Mond.
Im Krater der Basis, von Scheinwerfern angestrahlt, schalteten und walteten die Roboter. Ihr Bauwerk war bereits abgetragen und die gefällten Maste und Antennen standen wieder an Ort und Stelle. Nur ein Haufen zersägter Balken, der neben der Basiskuppel lag, erinnerte an die turbulenten Ereignisse der letzten Stunden.
Nachdem Fedossejews Assistenten ihre Instrumente aufgestellt und funktionsbereit gemacht hatten, wurden die Roboter angehalten. Die langwierige Untersuchung des »Nilpferds« begann. Nach achtundvierzig Stunden verkündete Fedossejew endlich ihren Abschluß. Im Krater wimmelte es wieder von Robotern. Fedossejew lehnte es ab, zur Station zu fliegen, so verlockend der Gedanke an eine Ruhepause auch war. Er vertrug die geringere Schwerkraft des Mondes nicht und zog es vor, so schnell wie möglich in seine gewohnte Erdumgebung zurückzukehren.
Smolny und Lebedinski begleiteten den Gast.
Natürlich galt ihre erste Frage der Ursache für das Verhalten der
Roboter.
»Das Paradoxe an der Geschichte ist, daß die Erscheinung, mit der
wir es hier zu tun haben, schon über zwanzig Jahre bekannt ist«,
erklärte Fedossejew. »Bei Untersuchungen des menschlichen Gehirns
ist man daraufgestoßen. Daß sie auch bei Robotern auftreten kann,
hat uns allerdings überrascht.
Sie erinnern sich vielleicht, wieviel Diskussionen es in den
letzten zehn bis fünfzehn Jahren um den Mechanismus des
Gedächtnisses gegeben hat. Das Problem schien nicht sonderlich
kompliziert zu sein, seine Lösung wurde jeden Tag erwartet. Allein
bis heute ist es nicht restlos gelungen, das Geheimnis zu lüften.
Deshalb mußten bei der Entwicklung von Rechenautomaten und später
auch beim Bau von Robotern Gedächtnisspeicher konstruiert werden,
die nichts mit dem menschlichen Gehirn gemein hatten und auf ganz
anderen Prinzipien beruhten.
Unsere ersten Roboter waren wegen des begrenzten Umfangs
gespeicherter Informationen primitiv. Die Entwicklung des
Kristallgehirns erlaubte uns schließlich, den Automaten bei
gleichem Gewicht und Ausmaß der Speicherwerke hundertmal mehr
Informationen einzugeben. Dennoch unterschieden sich die Automaten
mit Kristallgehirn im Grunde nicht von den ersten mit Röhren
bestückten Rechnern der vierziger Jahre. Sie wissen sicherlich, daß
beispielsweise die Mondroboter nur ganz einfache Operationen
selbständig durchführen können. Um sie komplex einsatzfähig zu
machen, bedurfte es eines zentralen Kristallgehirns, des
›Nilpferds‹, dessen Volumen vier Kubikmeter übersteigt.
Im übrigen haben die Wissenschaftler herausgefunden, daß das
menschliche Gehirn über gigantische, uns noch unbekannte
Gedankenspeicher verfügt. Jasper und Penfield haben seinerzeit in
der Gehirnrinde Bereiche entdeckt, in denen unter Stromeinwirkung
ganz unwahrscheinliche Erscheinungen auftraten. Menschen erlangten
die Fähigkeit, sich an Dinge zu erinnern, die sie längst vergessen
hatten. Während einer Testseance deklamierte eine Frau plötzlich
seitenlang griechische Verse, obwohl sie die Sprache gar nicht
kannte. Wie sich bei einer Überprüfung dann ergab, hatte sie die
Verse als Kind von ihrem Bruder, einem Gymnasiasten, gehört.
Menschen ohne musikalisches Empfinden, die noch nie ein Instrument
in der Hand gehabt hatten, konnten vor Jahren gehörte Melodien
richtig wiedergeben. Bis heute ist das Wesen dieser Erscheinung
noch nicht erforscht. Wie seltsam das auch klingen mag, es ist
nicht einmal geklärt, auf welche Art die Informationsspeicherung
vor sich geht, auf biologischer, chemischer oder physikalischer
Grundlage.
Allerdings hätten wir nie vermutet, daß nicht nur das menschliche,
sondern auch das künstliche Gehirn eine derartige Fähigkeit zur
Gedankenspeicherung besitzt. Wir waren der Ansicht, mit der
Konstruktion des Kristallhirns die Bereiche und den Umfang der
Informationsspeicherung festgelegt zu haben. Das heißt, nur nach
Eingabe eines neuen Programms sollten die gespeicherten
Informationen abgerufen und entsprechende Impulse ausgelöst werden,
um die Maschine programmgemäß in Aktion zu setzen. Sobald das
Programm gelöscht war, sollte sich das Kristallhirn aus einem aktiv
wirkenden Zentrum wieder in einen passiven Speicher verschiedener
voneinander isolierter Nachrichtenelemente verwandeln.
Bei der verhältnismäßig kleinen Gehirnmasse der Arbeitsroboter war
das auch so. Im großen Kristallgehirn entstanden jedoch uns
bekannte Verbindungen, so daß es die Fähigkeit errang, alle
irgendwann einmal ausgeführten Programme zu speichern. Die
Aufzeichnungen waren sehr schwach. Unsere Instrumente registrierten
sie nur, weil wir wußten, was wir suchten. Unter normalen
Bedingungen können sich diese ›zusätzlich‹ gespeicherten
Informationen nicht auf die Funktion der Automaten auswirken.
Dennoch muß man zugeben, daß die Speicherkapazität des
Kristallhirns nicht unseren Berechnungen entspricht, sondern um ein
mehrfaches größer ist.
Hätte Lebedinski nicht vor der Sonneneruption das Programm
herausgenommen, wären wir nie auf diese unerwarteten Vorgänge im
Kristallhirn gestoßen. Die durch ein Programm aus den
Gedächtnisspeichern abgerufenen Signale sind so stark, daß sie die
schwachen Signale von den zusätzlichen Informationen
vollständig überdecken. Da das Programm aber
herausgenommen war, löste der starke Radiationsstrom der
Sonneneruption die gleiche Wirkung auf das Kristallhirn aus wie der
elektrische Strom bei den Versuchen von Jasper und Penfield auf das
Gehirn ihrer Patienten. Die alten Programmaufzeichnungen übernahmen
die Funktion echter Programme. Und nur die Einführung des
wirklichen Programms beendete im konkreten Fall das Chaos.
Jetzt erscheint alles klar und einleuchtend, doch als ich von der Meuterei erfuhr, ahnte ich noch nicht, daß der Grund dafür das fehlende Programm sein konnte. Zuerst hielt ich das Ganze für eine gewöhnliche Panne. Erst als Lebedinski meldete, die Roboter seien dabei, ein Radioteleskop zu errichten, kam ich darauf.
Es gibt ein Projekt, eine Reihe von Untersuchungen auf der Venus nur mit Robotern durchzuführen. So sollen mögliche Opfer eines Angriffs von Flugechsen vermieden werden. Um von den Robotern durch die dichte Ionosphäre der Venus Informationen erhalten und ihre Tätigkeit kontrollieren zu können, ist die Errichtung von neuartigen VenusObservatorien vorgesehen, die die Verbindung zur Erde und den Satelliten ermöglichen. Kurz vor dem Abtransport der Roboter auf den Mond wurden in der Wüste Gobi entsprechende Versuche gemacht. Irgend so ein Neunmalkluger ließ die Roboter dort Baumaterial beschaffen. In der Überzeugung, daß auf der Venus keine Menschen existieren, blockierte er kurzerhand die Sicherungsketten zum Schutze der Menschen. Ich habe erst davon erfahren, als es zu spät war. Bei meiner Ankunft hatten die Roboter schon eine geologische Expedition in die Flucht geschlagen und einen Bohrturm demontiert. Viel hätte nicht gefehlt, und die Geologen hätten mich auseinandergenommen.
Aber alles hat eben zwei Seiten. Diese Geschichte wird uns die Möglichkeit geben, die Speicherkapazität des Kristallhirns vorerst um das Hundertfache zu erhöhen – und das bei unverändertem Lichtraumprofil. Sollten sich meine Vermutungen als richtig erweisen, so kann Ihr gewichtiges ›Nilpferd‹ bald von einem winzigen ›Mäuschen‹ abgelöst werden. Rechenautomaten werden sich in der Tasche unterbringen lassen. Jeder Student kann eine ganze Bibliothek mit ins Examen nehmen. In drei, vier Jahren, denke ich, haben wir das Problem gelöst. Übrigens wollte ich Sie noch konsultieren. Was halten Sie davon, wenn wir die hier entdeckte Erscheinung ›Lebedinski-Effekt‹ nennen?«
Fedossejews Abflug war zur Mondmitternacht anberaumt worden. Eine Stunde vor dem Start der »Rubin« traf »Grashüpfer 3« auf der Basis ein, und Fedossejew lernte endlich Stepan Tscherednitschenko kennen.
»Mironow konnte leider nicht mitkommen«, erklärte Professor Smolny dem Gast. »Unser Arzt meint, seine Blutergüsse und Schrammen müßten im Krankenhaus behandelt werden. Er erlaubt Mironow nicht, die Station zu verlassen. Dafür ist Tscherednitschenko gesund und munter…«
Es ging auf Mitternacht zu. Für Fedossejew wurde es Zeit abzufliegen. Neben der startbereiten »Rubin« verabschiedete er sich von den »Männern im Mond«. Achtundvierzig Stunden im Skaphander mit nur kurzen Ruhepausen in der engen Kuppel hatten ihn sehr mitgenommen, und er wünschte sich nur eins: endlich mal wieder richtig schlafen.
Er stieg zum Mondschiff empor und drehte sich
an der Luke noch einmal um.
Unten standen die Männer in ihren Raumanzügen. Sie warfen dichte
schwarze Schatten bis unter die Rakete. Im Scheinwerferlicht
tummelten sich die Roboter und beseitigten die letzten Spuren ihrer
Zerstörungswut.
Fedossejew winkte und trat in die Schleuse. Die
Einstiegsvorrichtung glitt langsam in den Flugkörper.
Auf einer geräuschlosen, himbeerroten Flammensäule stieg die
»Rubin« zum Zenit empor und verschwand, verlor sich zwischen den
Sternen.
Der Professor sah ihr nach und wandte sich dann an
Tscherednitschenko. »Auf dem Rückflug werden zwei Geologen
mitkommen. Im Morgengrauen steht Ihnen die Erkundung der Plinia
bevor.«
Tscherednitschenko nickte bedächtig. Er ahnte nicht, daß er von
dieser Erkundung nicht zurückkehren würde.
Alexander Lomm
Die gestohlenen Techmine
Ein ungelegener Gast
Zdenek Pištora, Doktor der techminischen Wissenschaften, verließ das Institut heute wesentlich früher als gewöhnlich. Es war vier Uhr nachmittags, als ihn der Dienstwagen – ein Tatra – nach Hause brachte.
Im zweiten Stock blieb er, um nach Luft zu schnappen, stehen, zog eine kleine, geschliffene Flasche aus der Tasche, riß ungeduldig den Glasstöpsel heraus und schüttete sich einen schwarzen Krümel auf die Hand, der aussah wie drei zusammengeklebte Schrotkörnchen verschiedenen Kalibers.
»Heil und ganz, Freundchen, völlig unversehrt!« murmelte er hocherfreut. Doch gleich darauf sah er sich unruhig um und ließ seinen Schatz wieder verschwinden.
Nun stieg er in aller Ruhe die Treppe weiter hinauf. Als er seine Etage erreicht hatte, blieb er wie vom Blitz getroffen stehen.
Vor seiner Wohnungstür stand ein älterer Herr mit bleichem, quadratischem Gesicht und einem großen schwarzen Schnurrbart. Professor Kracmer, sein Abteilungsleiter.
Sollte er tatsächlich Wind bekommen haben? schoß es Pištora durch den Kopf. Ein Zittern überlief seinen langen, hageren Körper.
»Wundern Sie sich bitte nicht über meinen Besuch, lieber Kollege! Zufällig erfuhr ich, daß Sie heute mit der Arbeit für das CGIIGP fertig geworden sind. Ich muß mit Ihnen sprechen.«
Nein, er ahnt nichts! Dem armen Doktor fiel ein Stein vom Herzen; mühsam gewann er Gewalt über seine schlotternden Knie und ging dem Chef entgegen.
»Verzeihen Sie, Herr Professor! Es kommt für mich so überraschend, daß ich ganz durcheinander bin…«, murmelte er aufgeregt, während er den Schlüssel hervorkramte und die Tür aufschloß.
»Das macht nichts, macht gar nichts«, beruhigte ihn Kracmer und seufzte mitfühlend. »Wie sehen Sie nur aus! Die neue Techmin scheint Sie ja sehr mitgenommen zu haben?«
Pištora preßte sich ein kurzes Lachen ab, stieß die Tür auf und sagte mit gespielter Munterkeit: »Aber ich bitte Sie! Ich fühle mich gesund wie ein Fisch im Wasser. Treten Sie näher!«
Angst vor der Kyberoformica
Sie traten in den engen Vorraum, legten die Mäntel ab, und Pištora bat den Gast in sein Arbeitszimmer.
»Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?« fragte er liebenswürdig, während der Professor in dem Sessel neben dem niedrigen, runden Rauchtisch Platz nahm.
»Nein, danke. Ich will mich nicht lange
aufhalten. Setzen Sie sich, und hören Sie an, was ich zu sagen
habe.«
Zdenek nahm Platz und zündete sich eine Zigarette an. Seine Finger
zitterten merklich.
Einige Augenblicke schaute Kracmer schweigend vor sich hin, wie um
seine Gedanken zu sammeln. Dann schnaubte er sich die Nase,
glättete sorgfältig seinen Schnurrbart und fing langsam an: »Was
ich Ihnen sagen möchte, lieber Kollege, ist nichts für fremde
Ohren. Ich rechne auf Ihre absolute, kristallreine Ehrlichkeit und
verlange deshalb gar nicht erst Ihr Wort.«
Als Pištora von seiner Ehrlichkeit reden hörte, bekam er rote
Ohren. Aber Kracmer blickte nach wie vor zur Seite und bemerkte
seine Verwirrung nicht.
»Lieber Kollege, Sie kennen meine Meinung zur Kybernetik«, fuhr der
Professor mit knarrender Stimme fort. »Ich bin gewiß, daß die
heutige Begeisterung für Kybernetik äußerst verderblich ist und
gefährliche Folgen mit sich bringt. Sie werden vielleicht
einwenden, daß wir alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen haben. Das
stimmt. Aber meinen Sie, daß restlos vorauszusehen wäre, wann und
wo die Katastrophe beginnt? Wir tappen im dunkeln und müssen jeden
Augenblick gewärtig sein, in eine Falle zu geraten. Wenn der
Aufstand der von uns geschaffenen Maschinenwesen erst einmal
ausgebrochen ist, wenn die geheimnisvollen Kräfte des Bösen erst
mal erwacht sind, dann ist es zu spät. Wir haben keine Gegenmittel
in der Hand. Heute nun, lieber Kollege, haben Sie die Arbeit an der
Kyberoformica beendet. Und ich bin wohl der letzte, der diese
erstaunliche Techmin samt ihrer ungeheuerlichen Perspektive nicht
durchschaute! Eine gefährliche, eine haarsträubende Erfindung! Es
gehört nicht viel dazu, sich auszumalen, was sie anzurichten
imstande ist, wenn sie sich eines Tages selbständig
macht…«
Pištora zuckte zusammen.
»Soweit wird es nicht kommen, Herr Professor«, sagte er
leise.
»Morgen übergeben wir sie dem CGIIGP, und in einer Woche fliegt sie
in den Kosmos, um bestimmte wissenschaftliche Aufgaben zu
erfüllen.«
»Noch schlimmer, in den Kosmos!« wandte Kracmer bitter ein. »Gerade
dort wird sie sich selbständig machen!«
»Das verstehe ich nicht…«
»Wieso? Das ist doch das Einfachste von der Welt. Die Dinger haben
volle Bewegungsfreiheit. Will’s der Teufel, kehren sie auf eigne
Faust zur Erde zurück, und dann… Na, das haben Sie mit Ihrem
Gewissen abzumachen! Aber unter uns gesagt, wenn morgen die
Kommission des CGIIGP an der Kyberoformica ernste Mängel entdecken
und die Abnahme verweigern sollte, würde ich niemanden zur
Verantwortung ziehen. Mehr noch, ich würde mich bemühen, die
Kommission und unseren Wissenschaftlichen Rat davon zu überzeugen,
daß die Kyberoformica nach dem vorliegenden Projekt nicht zu
realisieren ist…«
»Aber Herr Professor!«
»Das ist meinerseits alles, lieber Kollege.«
Sprach’s, stand auf und empfahl sich mit einer zeremoniellen
Verbeugung.
Mini ist Trumpf
Hier muß gesagt werden, was das ist, so eine
Techmin. Es ist die Abkürzung von »Technische Miniatur«. Die von
uns beschriebene Zeit war eine Zeit regelrechter Begeisterung für
Minitechnik. Täglich kamen neue winzige Geräte auf, und ihre
Konstrukteure rissen sich fast ein Bein aus, um einander zu
überbieten. Niemand wunderte sich mehr über Radioapparate von der
Größe eines Stecknadelkopfes, über Filmkameras und Fotoapparate,
die man unterm Fingernagel verstecken konnte, oder über
Magnettongeräte, die in einem Knopfloch Platz hatten.
Die praktische Anwendung der technischen Miniaturen oder
Techmine, wie man sie bald nannte, war mit großen Unannehmlichkeiten verbunden. Man verlor sie andauernd.
Leute mit Verstand schlugen die Hände überm
Kopf zusammen.
»Was soll der Unsinn? Der Mensch ist so gebaut, daß er greifbare
Gegenstände benötigt. Sagen Sie um Himmels willen, wozu einen
Schweißapparat konstruieren, den allenfalls ein Marienkäfer zu
benutzen imstande wäre?«
Doch die Erfinder der Techmine wollten von solchen Bedenken nichts
wissen. Sie hatten tausend Rechtfertigungsgründe zur
Hand.
Mal arbeiteten sie auf dem Sektor Medizin und produzierten Geräte,
die sich in Gelatineoblaten verschlucken ließen, mal wandten sie
sich der Kosmonautik zu, um Ausrüstungen für winzige
Raumforschungsraketen zu entwickeln, dann wieder stellten sie sich
in den Dienst der Kriminalistik.
Was denkt sich der findige Menschengeist nicht alles aus!
Na, und ein Hitzkopf kam eben auch auf die Idee, ein mechanisches
Insekt herzustellen, konstruiert nach dem Prinzip vollkommener
kybernetischer Maschinen – sich selbst programmierend, sich selbst
steuernd, sich selbst vervollkommnend, sich selbst aufladend und
was nicht noch alles selbst vollbringend. Die Wahl fiel auf eine
Ameise aus der Unterfamilie der Darylinae, die zur Art der
Polyergus gehört. Die Ehre, diese geniale Idee zu realisieren,
hatte der wissenschaftliche Mitarbeiter des PITM (Prager Institut
für technische Miniaturen), Doktor der techminischen Wissenschaften
Zdenek Pištora.
Delikt aus Liebe
Warum aber war Zdenek Pištora angesichts seines Chefs von einer so merkwürdigen Aufregung befallen worden? Das ist weiter kein Geheimnis. Der Schöpfer der Kyberoformica war verliebt und wollte vor seiner Braut mit der soeben fertiggestellten Techmin brillieren. Mit anderen Worten, er wollte ihr zeigen, was für ein As er war, er, Zdenek Pištora.
Um die Wahrheit zu sagen, Danka war ohnehin überzeugt, ihr bebrillter, lang aufgeschossener Techminist sei der tüchtigste aller Männer. Aber Pištora hatte ständig den Eindruck, daß sich ihre Überzeugung noch nicht genügend gefestigt habe. Deshalb hatte er sich in den Kopf gesetzt, ihr seine wunderbare mikroskopische Schöpfung vorzuführen.
Danka in das Allerheiligste des PITM zu schmuggeln war völlig undenkbar. Viel einfacher war es, die kleine Kyberoformica für eine Nacht aus dem Institut zu entführen.
Genau das hatte Zdenek Pištora getan.
Ohne jemandem ein Sterbenswörtchen zu verraten, hatte er die
kybernetische Ameise heimlich, still und leise in die Flasche
gesteckt und mit nach Hause genommen.
Er war sich natürlich bewußt, daß sein Tun überaus verwerflich war
und schon an Frevel grenzte. Deshalb ging ihm die Sache auch so zu
Herzen.
Als der Chef gegangen war, dauerte es eine Weile, bis Pištora sich
beruhigt hatte. Der unerwartete Besuch hatte ihn zu sehr aus der
Fassung gebracht. Was für ein dummer Zufall! Erst als er sich
vergewissert hatte, daß die Gefahr vorüber war, bekam er sich
wieder in die Gewalt und rief sich das kurze Gespräch mit Kracmer
ins Gedächtnis zurück. Es war mehr als klar: Der Professor
fürchtete die Kyberoformica und schlug vor, sie
zurückzuziehen.
»Unseliger Angsthase!« sagte er laut und spürte, wie sich sein Herz
zusammenzog vor Zorn, Kränkung und Eifersucht um die großartige
Kyberoformica.
Besuch im Teeglas
Danka ließ nicht auf sich warten. Wer hätte auch die Gelegenheit verpassen wollen, den unvergleichlichen Zdenek wiederzusehen und gleichzeitig den Kyber zu besichtigen, der bald ins Zentrum der Galaxis reisen würde!
Ein Telefongespräch, und keine halbe Stunde verging, da beugten sich zwei Köpfe – ein schwarzer mit Igelschnitt und ein wuschliger aschfarbener – über das Glas, in den, eifrig mit dem Antennenschnauzbart wedelnd, die wunderbare künstliche Ameise herumkroch.
Zunächst konnte Danka nicht fassen, daß das schwarze Insekt nicht natürlichen Ursprungs sei. Allzu ähnlich war die Kyberoformica ihren lebenden Artgenossen. Doch Zdenek fiel es nicht schwer, ihre Zweifel zu zerstreuen. Er nahm eine Lupe mit hundertfacher Vergrößerung und zeigte Danka den Stempel des PITM und seinen eigenen Namen, der der Kyberoformica auf den Bauch graviert war.
Entzückt rief Danka: »Oh, Zdenek, du bist ein As!« Der Herr Doktor wurde vor Freude knallrot, rückte seine
Brille zurecht und sagte bescheiden: »Was du
nicht sagst!« Doch dann nahm er Haltung an und setzte hinzu:
Ȇbrigens
war das gar nicht so einfach! Wenn du wüßtest, was der
Kyber alles in sich hat! Hundertfünfzig Geräte und
Steuerungssysteme! In normaler Größe würden die nicht
einmal im Gebäude des PITM Platz finden!«
»Tatsächlich? Kaum zu glauben. Und das hast du alles
selbst gemacht?«
»Was heißt ›selbst gemacht‹? Daran haben über fünfhundert
Mann gearbeitet. Ich habe nur Montage und Justierung
geleitet und als Erfinder und Chefkonstrukteur die
Oberaufsicht gehabt. Deshalb steht neben dem
Institutsstempel auch mein Name. Wenn man bedenkt, daß
dieser Name ins Zentrum unserer Galaxis fliegen wird…« »Oh, Zdenek!
Schrecklich, wie berühmt du bald sein wirst!« Und das aschfarbene
Köpfchen sank ihm zärtlich an die
Brust.
Rund zwei Stunden später, nachdem er seine Braut bis an
die Straßenbahnhaltestelle gebracht hatte, kehrte der
glückliche Bräutigam nach Hause zurück, stürzte als erstes
zu
dem Glas, warf einen Blick hinein und rief verwundert:
»Das
ist ja allerhand!«
Statt einer Ameise erblickte er
mindestens ein Dutzend
dieser flinken Insekten. Die Gäste unterschieden sich
allerdings in Färbung. Ausmaß und Benehmen so stark von
ihrer Gastgeberin, daß es durchaus nicht notwendig war,
zur
Lupe zu greifen, um unter den gewöhnlichen, lebendigen
Ameisen die kostbare Techmin herauszufinden. Die neu
angekommenen Ameisen waren kleiner und bedeutend heller
als die künstliche. In dichten Scharen umkreisten sie die
Kyberoformica, betasteten sie mit ihren Fühlern und
staunten
sie offenbar nicht weniger an, als Danka es getan hatte.
Die
Kyberoformica selbst verhielt sich würdevoll und befühlte
ihrerseits mit den Antennen in aller Ruhe der Reihe nach
ihre
Gäste, studierte sie und nahm sie mit ihrer gesamten
komplizierten Apparatur zur Kenntnis.
»Nein, meine Liebe, das ist keine Beschäftigung für dich!
Dir steht weit Höheres bevor, als dumme irdische Ameisen
zu inspizieren!«
Nach diesen Worten nahm Zdenek die Kyberoformica
vorsichtig mit der Pinzette und steckte sie in die kleine Flasche
zurück, die er mit dem Stöpsel fest verschloß. Was die lebenden
Ameisen betrifft, so behandelte der Doktor sie nicht nur
unmanierlich, sondern geradezu barbarisch: Er goß Wasser ins Glas
und schüttete es mitsamt den Ameisen in den
Küchenausguß.
Danach legte er die Flasche mit der Kyberoformica in die
Schreibtischlade und ging schlafen. Schon im voraus genoß
er die erste Atempause seit drei Jahren.
Unruhige Nacht
Aber auch diesmal gelang es Zdenek Pištora nicht, unbeschwert einzuschlafen.
Kaum hatte er sich in das kühle Bett gelegt, da begann seine Hochstimmung allmählich zu verfliegen. Das Bild des geliebten Mädchens wurde von der finsteren Gestalt Professor Kracmers verdrängt.
»Daraus wird eine ganze Kettenreaktion!« brummelte das
Kracmer-Gespenst.
»Du bist selbst eine Kettenreaktion! Verschwinde!«
widersprach Pištora in Gedanken und gab sich die größte
Mühe, die unangenehme Erscheinung loszuwerden. »Eine
Kettenreaktion, die sich zur Katastrophe auswächst!«
sagte Kracmer dickfellig.
Plötzlich fiel Pištora die kleine, scheinbar belanglose
Episode mit den lebendigen Ameisen und der Kyberoformica
im Teeglas ein. Dadurch rückte Kracmer in den
Hintergrund,
und schließlich verschwand er ganz. Ringsherum wimmelte
es von Ameisen. Schweigend, emsig, konzentriert krochen
sie umher, rote, rötliche, schwarze, und bewegten ihre
Fühler.
Da drang eine seltsame Unruhe in Pištoras Herz. Die Ameisen waren
ihm ausgesprochen unsympathisch, obwohl
ihm nicht klar war, weshalb.
Mit offenen Augen lag er auf dem Rücken und grübelte nur
noch über die Ameisen nach.
Warum sind sie zur Kyberoformica ins Glas gekrochen?
Was hat sie angezogen? Und woher sind sie so mir nichts,
dir
nichts gekommen? Was für Reaktionen haben sie in dem
komplizierten, sich selbst programmierenden System der
Kyberoformica ausgelöst? Und was wissen wir überhaupt
über Ameisen?
Es ist schwer, sich auch nur vorzustellen, wie viele
Ameisen
auf unserem alten Planeten leben, sinnierte Pištora, die
Hände
unterm Kopf, ins Dunkel seines Zimmers starrend. In einem
Ameisenstaat leben bis zu einer halben Million Tiere, in
den
Tropen sind es sogar Hunderte von Millionen. Und wie
viele
Ameisenhaufen gibt es auf der Erdoberfläche, wieviel
Löcher
unter der Erde, im Sand oder im Holz alter Bäume? Fünfzig
Millionen? Hundert? Oder vielleicht eine ganze Milliarde?
Hat sie jemand gezählt? Weiß der Teufel! Jedenfalls gibt
es
auf der Erde einige hundert Trillionen Ameisen, und zwar
der
allerverschiedensten Art: Jäger, Viehzüchter, Schnitter
und
Sklavenhalter. Ich habe viel darüber gelesen. Und sie
haben
die Fähigkeit, überall einzudringen. Man sieht sie nicht,
doch
sie sind überall, sogar in den Städten. Sie sind da,
beobachten
und warten. Worauf warten sie eigentlich?
Die Katastrophe ist da
Pištora sprang aus dem Bett, schaltete das Licht ein und zog sich fieberhaft an. Seine Unruhe nahm lawinenartig zu. Das Jackett zog er sich erst über, als er bereits im Laufschritt in sein Arbeitszimmer unterwegs war.
Zu überlegen gab es nichts. Er riß die Tischlade auf, ergriff die Flasche und stand starr vor Entsetzen. Sie war leer! Der Stöpsel lag in einer Ecke der Schublade, wie mit Gewalt aus der Flasche gestoßen.
Wer hatte ihn herausgezogen und beiseite geschleudert? Selbst für einen Menschen war das mit einiger Mühe verbunden. Sollte es wirklich die Ryberoformica gewesen sein? Aber wo war sie? Vorsicht! Daß er sie nur nicht zerdrückte! Irgendwo im Tischkasten mußte sie sein!
Pištoras Hände zitterten, als er den Inhalt des Kastens aufgeregt durchwühlte. Nicht die geringste Kleinigkeit, kein einziges Stäubchen entging seiner Aufmerksamkeit. Doch die Kyberoformica war nicht da.
»Geflüchtet, das Biest!« flüsterte der unglückliche Techminist und ließ, sich völlig erschöpft auf einen Stuhl sinken. Was war zu tun? Wie dem Direktor des PITM und der Kommission des CGIIGP den Verlust einer so kostbaren Techmin plausibel machen? Sie hatte schließlich einen enormen Wert und kostete gut und gerne soviel wie ein interplanetares Passagierschiff für zweihundert Personen! Hier würde nicht einmal Kracmers Fürsprache helfen. Ja, und würde Kracmer überhaupt für ihn eintreten, wenn er erführe, daß die Kyberoformica geflüchtet war, daß sie sich nicht erst im Kosmos, sondern schon auf der Erde selbständig gemacht hatte? Natürlich nicht. Er wäre der erste, der Pištora die allerschwersten Vorwürfe machen würde. Was sollte nur werden?
Schon der bloße Gedanke daran war schrecklich. Gerichtsverfahren, Schimpf und Schande, unwiderrufliche Entfernung aus dem Amt. Entsetzlich! Lohnte es sich noch zu leben? Und Danka? Was würde Danka sagen! Bestimmt würde auch sie sich von einem Straffälligen und Versager distanzieren! Nein, nein, soweit durfte es nicht kommen! Nur nicht die Hände in den Schoß legen! Suchen, suchen!
Zdenek Pištora ergriff die Lupe und kroch auf allen vieren durch sein Arbeitszimmer. Zentimeter für Zentimeter suchte er den Fußboden ab, bis in die kleinsten Ritzen, Rillen und Unebenheiten.
Der erste Anruf aus dem PITM
Um halb drei klingelte das Telefon. Pištora zuckte zusammen, als träfe ihn der Schlag. Trotzdem erhob er sich vom Fußboden und nahm den Hörer ab.
»Hier Pištora…«
»Hallo, bist du’s, Zdenek? Grüß dich, altes Haus! Verzeih, daß ich
dich mitten in der Nacht geweckt habe. Hier spricht Honza Stašek
aus dem PITM…«
»Grüß dich, Honza…«, brachte Pištora mit Mühe hervor. Er fühlte,
wie ihm schwindlig wurde, und setzte sich auf einen
Stuhl.
»Hallo, hallo! Hörst du mich, Zdenek? Was ist, bist du noch nicht
wach?« schnarrte es ihm aus dem Hörer entgegen.
»Ich höre dich, Honza. Gut sogar. Ich hatte noch nicht geschlafen.
Ich habe Kopfschmerzen…«
»Kopfschmerzen? Das ist gut! Ein kluger Kopf muß weh tun! Nur ein
hohler macht sich nicht bemerkbar. Doch Spaß beiseite. Morgen wird
deine kleine Ameise geprüft. Ich habe den Auftrag, Tonbandaufnahmen
von ihr vorzubereiten. Da habe ich mir etwas ausgedacht, aber dazu
brauche ich die Techmin Nummer 386955! Das ist, wie du weißt, das
Magnettongerät zweimal dreieinhalb Mikron! Aber so ein Pech: in der
Mikrothek habe ich sie nicht gefunden! Weißt du vielleicht, wo sie
steckt?«
»Wer?«
»Wer! Die Techmin Nummer 386955 natürlich. Komm doch endlich zu
dir, Zdenek! Ich brauche sie. Wo könnte sie deiner Meinung nach
sein?«
»Ach so, die Techmin! Nein, das weiß ich nicht. Keine Ahnung. Vor
einem Monat hatte ich sie allerdings entliehen, habe sie aber in
die Mikrothek zurückgebracht. Sie müßte dort sein,
Honza.«
»Müßte, müßte! Ich bin doch nicht blind! Wenn ich dir sage, sie ist
nicht da, so ist sie’s eben nicht!«
»Na, dann nimm dir eine andere aus dem Magazin. Zweimal drei Mikron
– davon haben wir fünfhundertzwanzig Stück am Lager!«
»So schlau bin ich auch. Aber was wird der Alte sagen! Er mag es
nicht, wenn man ohne sein Wissen etwas aus dem Magazin
nimmt.«
»Keine Sorge, ich mach das morgen mit ihm klar. Hol sie dir nur und
arbeite in Ruhe weiter.«
»Na gut, auf deine Verantwortung!«
»In Ordnung.«
»Mach’s gut, Zdenek! Nimm ein Schlafmittel und schlafe! Gute
Nacht!«
»Mach’s gut, Honza!«
Langsam legte Pištora den Hörer auf die Gabel und nahm müde die
Brille ab. Eine stumpfe Gleichgültigkeit hatte sich seiner
bemächtigt.
Der zweite Anruf aus dem PITM
Sein Wunsch, einzuschlafen, alles zu vergessen, war unüberwindlich; Pištora rührte sich nicht vom Fleck, sondern blieb auf dem Stuhl vor dem unordentlichen Schreibtisch sitzen. Er hatte nicht die geringste Lust auf weitere Suchaktionen.
Ihm fiel der Kopf auf die Brust, seine Arme
hingen kraftlos herab. Schlafen müßte man, schlafen…
Doch da schrillte es abermals. Einmal, zweimal, dreimal, viermal…
Pištora hob schwer den Kopf und blickte stumpf zum Telefon hinüber,
das beharrlich weiterklingelte. Nichts zu machen, er mußte den
Hörer abnehmen.
Schlaftrunken lallte der Ärmste: »Hallo! Hier Pištora…«
»Um Gottes willen, Zdenek, du schläfst ja wie ein Murmeltier! Ich
bin’s noch einmal, Honza Stašek!«
»Was ist denn schon wieder los?«
»Ein Malheur, Zdenek! Ein furchtbares, nicht wiedergutzumachendes
Malheur! Komm sofort ins PITM! Auf der Stelle! Hörst du?«
»Ja doch! Was ist denn passiert? Was machst du mitten in der Nacht
für eine Panik?«
»Ich bringe es nicht über die Lippen! Komm her, dann erfährst
du’s!«
Die Stimme im Telefon klang tatsächlich sehr beunruhigend. Pištora
aber hatte es satt, sich aufzuregen. Gereizt sagte er: »Nirgends
fahre ich hin! Sage, worum es sich handelt, oder ich lege
auf!«
»Na schön! Hör zu! Halt dich aber ordentlich fest! Die Neuigkeit
ist umwerfend! Heut nacht haben unbekannte Täter hier im PITM
restlos alle Techmine geraubt, einschließlich deiner Kyberoformica!
Kapiert? Alle Techmine sind futsch! Das Magazin ist leer, die
Mikrothek ist leer, und der Safe deiner Kyberoformica ist es
auch!«
Pištoras Müdigkeit war wie weggeblasen.
»Du spinnst!« brüllte er in den Hörer. »In unserm Magazin sind
fünfundzwanzig Millionen Techmine und in der Mikrothek etwas über
drei Millionen! Es ist ganz unmöglich, die alle auf einmal zu
klauen! Ist doch völliger Wahnsinn.
Du bist betrunken, Honza, oder ernsthaft krank!«
»Sachte, sachte, Zdenek! Ich bin nicht betrunken, auch nicht krank.
Was passiert ist, ist unwahrscheinlich, aber es stimmt. Jawohl,
alle achtundzwanzig Millionen Techmine und deine Kyberoformica sind
auf rätselhafte Weise aus dem PITM verschwunden; als ob sie sich
verdünnisiert hätten. Das ist ja das Verrückteste: sie haben sich
verdünnisiert!«
»Gut, Honza, ich komme!« Pištora legte den Hörer auf und saß ein
Weilchen unbeweglich da.
Irgendwo tief im Innern kroch eine seltsame Freude in ihm hoch. Die
Beraubung des PITM enthob ihn der Verantwortung für die geflüchtete
Kyberoformica! Aber die Freude währte nicht lang. Ihn packte
Abscheu vor sich selbst. »Wie weit ist es mit dir gekommen!« Und da
befiel ihn plötzlich furchtbare Angst. Sollte tatsächlich ein
Zusammenhang bestehen zwischen der Flucht der Kyberoformica und der
Beraubung des PITM?
Pištora sprang auf und stürzte in die Diele. Er griff nach Hut und
Mantel, lief aus dem Haus und rannte durch die nächtlichen Prager
Straßen zum Institut für Technische Miniaturen.
Kracmers Mutmaßung
Das fünfstöckige Gebäude des PITM befand sich auf dem Petrin, dort, wo einst das kleine Observatorium gestanden hatte. In der Nähe des PITM ragte ein alter Turm aus Eisenträgem empor, den die Touristen gern bestiegen, um sich an dem bezaubernden Panorama der Goldenen Stadt zu erfreuen. Rings um den Turm und das PITM, über den ganzen, ziemlich steilen Hang des Petrin zog sich das dichte Grün eines wunderbaren Parks.
Nachts fuhr die Drahtseilbahn nicht, so daß Zdenek Pištora zu Fuß den Hügel hinaufkraxeln mußte. Erst jetzt, als er die steilen Allen emporstieg, fiel ihm ein, daß es bedeutend einfacher gewesen wäre, ein Taxi zu bestellen und über Strahov ins PITM zu fahren. Aber nun hatte es keinen Sinn mehr umzukehren.
Als der Doktor atemlos und schweißgebadet endlich am Institutstor ankam, konnte er sich davon überzeugen, daß er beileibe nicht der erste war, der auf den Anruf Honzas herbeigeeilt war. Im Hof standen Dutzende von Autos in dichten Reihen, und aus den gewaltigen Fenstern des fünfstöckigen Gebäudes fiel helles Licht. Pištora lief in die Aula. Hier waren schon über tausend Mitarbeiter des PITM versammelt. Die Mitglieder des Wissenschaftlichen Rats waren vollzählig erschienen und saßen mitsamt dem Institutsdirektor im Präsidium.
Am Rednerpult stand mit hängendem Schnurrbart Professor Kracmer, bleicher und finsterer als gewöhnlich. Offenbar hatte er gerade zu sprechen begonnen. Im Saal herrschte gespannte Stille.
Niemand beachtete Pištora, der den Saal mit Blicken überflog, auf der Suche nach Honza Stašek, aber es waren zu viele Leute da. So setzte er sich unbemerkt in die letzte Reihe und hörte zu. Er mußte erst mal zu Atem kommen, sich ein wenig fassen und seine Gedanken sammeln.
Inzwischen krächzte Professor Kracmers Stimme durch den Saal: »Verehrte Fachkollegen, ich bin der Meinung, die Kyberoformica ist nicht geraubt worden! Nein, ist nicht gestohlen, denn sie konnte nicht gestohlen werden! Kollegen, die Kyberoformica ist vor uns geflüchtet! Weder Schloß noch Safe waren für sie ein ernstes Hindernis. Bedenken Sie, Kollegen, daß ihr die Fähigkeit mitgegeben worden ist, unter beliebigen Bedingungen nach eigenem Ermessen zu handeln! Sie ist bereits in der ersten Nacht nach ihrer Erschaffung und vollständigen Justierung geflüchtet und hat bei der Flucht alle übrigen Techmine mitgenommen! Wie sie diesen grandiosen Diebstahl bewerkstelligt hat und ob sie es allein war, wissen wir bislang noch nicht. Aber nicht das ist jetzt am wichtigsten. Wichtig ist, daß die Kyberoformica geflüchtet ist und damit bereits den ersten menschenfeindlichen Akt verübt hat! Wir dürfen in dieser Stunde nicht nach der geflüchteten Kyberoformica suchen, weil wir sie ohnehin nicht finden würden, sondern müssen alle Kräfte zum Kampf gegen sie mobilisieren. Die Kyberoformica, Kollegen, hat sich als das erste Glied einer furchtbaren Kettenreaktion, eines Aufwandes der Maschinen, erwiesen. Der Aufstand ist ausgebrochen, Kollegen! Jetzt hängt alles von unserer operativen Fähigkeit und Erfindungsgabe ab. Entweder gelingt es uns, die ausgebrochene Kettenreaktion im Keim zu ersticken, oder es gelingt uns nicht. Wenn ja, so wird uns das für die Zukunft eine Lehre sein, vorsichtiger mit der Kyberoformica umzugehen. Wenn nicht, so wird es den Untergang der menschlichen Zivilisation auf unserem Planeten bedeuten!«
Tumult im Saal
Als der Professor mit seiner seltsamen Rede fertig war, verließ er das Rednerpult und setzte sich an seinen Platz im Präsidium. Im Saal erhob sich ein unbeschreiblicher Krakeel. Hunderte von Menschen schrien wild durcheinander, erregten sich mit heftigen Gebärden und gingen einander an den Kragen.
Endlich legten sich die Leidenschaften, und der
Direktor kam zu Wort.
»Ich verstehe durchaus, Kollegen«, begann er mit vor Aufregung
stockender Stimme, »daß die von unserem verehrten Professor Kracmer
geäußerte Meinung Ihrer Überzeugung widerspricht. Angesichts der
Ereignisse aber sollten wir seine Worte ernst nehmen und aufmerksam
prüfen. Vor Beginn der Diskussion möchte ich jedoch den Erfinder
der Kyberoformica, Herrn Pištora, um seine Meinung
bitten.«
»Kollege Pištora! Zdenek! Pištora! Pištora! Pištora! Wo ist
Pištora? Ruft Pištora!« scholl es durch die Reihen des riesigen
Saals.
»Hier bin ich! Hier!« meldete sich Zdenek Pištora mit schwacher
Stimme, stand auf und ging langsam durch den Gang zum
Rednerpult.
Alles verstummte. Mit gesenktem Kopf, völlig zusammengesunken, ein
Häufchen Unglück, so schlich er nach vorn. Er wollte den Kollegen
die ganze Wahrheit sagen, wollte seine Freveltat eingestehen. Das
hatte er sich während Kracmers Rede vorgenommen. Doch dazu kam er
nicht. Durch die Hintertür tauchte plötzlich im Präsidium ein
schwerfälliger Mann in der Uniform eines Obersten der Miliz auf. Er
beugte sich zum Direktor hinunter und flüsterte ihm etwas zu.
Sofort erhob sich dieser und erklärte: »Kollegen, Herrn Pištoras
Meinung hören wir uns etwas später an. Entschuldigen Sie die
Störung, Herr Doktor! Ein Vertreter der Kriminalabteilung möchte
eine kurze Mitteilung machen!«
Pištora atmete erleichtert auf (immerhin ein Aufschub) und kehrte
eiligen Schritts zu seinem Platz zurück.
Ans Rednerpult trat der Oberst.
Auf frischer Tat ertappt
Der Oberst begann mit einem breiten, gutmütigen Lächeln. Das entlud sofort die Atmosphäre. Durch die Reihen ging eine leichte Lebhaftigkeit, doch gleich darauf herrschte wieder erwartungsvolle Stille.
»Meine Herren Wissenschaftler! Gerichtliche Untersuchungen verlangen an sich den Ausschluß der Öffentlichkeit. Das ist Ihnen sicherlich aus Kriminalromanen bekannt. Wenn ich also diese kriminalistische Regel verletze, so habe ich gewichtige Gründe. Es handelt sich darum: Das heute nacht in Ihrem Institut verübte Verbrechen hat sich inzwischen aus einem dramatischen und rätselhaften in ein komisches, ich möchte fast sagen: anekdotisches Ereignis verwandelt.«
Nach dieser in munter-heiterem Ton vorgetragenen Eröffnung lächelte der Oberst abermals, wartete ab, bis sich das Gemurmel im Saal gelegt hatte, und fuhr fort: »Um den unerhörten Raub an Ihrem Institut aufzuklären, haben wir die besten Experten der Kriminalabteilung eingesetzt. Alle drei Räume, in denen sich die gestohlenen Techmine befanden, sind sorgfältig inspiziert worden. In den ersten beiden gab es nicht den geringsten Hinweis auf Spuren der geheimnisvollen Täter. Lediglich ihre ausgesprochene Präzisionsarbeit war uns unheimlich. Es schien bereits, als gerate die Ermittlung unausweichlich in eine Sackgasse. Doch als wir darangingen, den Kellerraum des Magazins zu untersuchen, wurden unsere Bemühungen schließlich belohnt. Es war eine unwahrscheinliche und völlig unerwartete Entdeckung! Meine Herren Wissenschaftler! Wir haben nicht nur aufgeklärt, von wem und auf welche Weise Ihr Institut ausgeraubt worden ist, es ist uns auch gelungen, mehr als fünfhundert dieser geheimnisvollen Räuber auf frischer Tat zu ertappen. Sie sind erstaunt? Ich werde Ihnen sogleich alles erklären. Als wir den Fußboden des Kellermagazins untersuchten, fanden wir zunächst an der westlichen Wand einige hundert Techmine ohne Schutzhülle. Das machte uns stutzig, und wir entdeckten in den Scheuerleisten zahlreiche kleine Ritzen, die aussahen, als wären sie von Holzwürmern gefressen. An einigen dieser Spalten machten sich kleine Scharen von Ameisen zu schaffen. Meine Herren Wissenschaftler, diese Ameisen hatten Ihre Techmine mit den Kiefern gepackt und verschwanden damit in den mikroskopisch kleinen Löchern. Das sind also diejenigen, von denen Sie bestohlen worden sind. Sie dürfen sie getrost bestaunen!«
Der Oberst zog ein zugestöpseltes Reagenzglas aus der Tasche und hielt es zur allgemeinen Besichtigung hoch. Darin wimmelte es von lebendigen Ameisen. Nachdem er der stumm staunenden Menge das Glas vorgehalten hatte, steckte er es wieder weg und sagte: »Wir haben also mit absoluter Sicherheit festgestellt, daß das Institut für Technische Miniaturen nicht von Menschen, sondern von Insekten, genauer, von Ameisen beraubt worden ist. Folglich liegt kein Rechtsbruch vor, sondern sozusagen ein Fall von höherer Gewalt, der nicht vorauszuschauen, geschweige denn zu verhindern gewesen wäre. Deshalb sehen wir unsere Aufgabe als erfüllt an. Wiederfinden müssen Sie die Techmine selbst. Ich denke, Sie werden Grabungen vornehmen und den Grund und Boden sorgfältig durchsieben. Wenn Sie mir gestatten, Ihnen einen guten Rat zu geben: Am besten wäre, sofort mit den Grabungen zu beginnen, solange es den Ameisen noch nicht gelungen ist, die Techmine über den ganzen Petrinpark zu verschleppen. Erlauben Sie mir, damit meine Mitteilung zu beenden.«
Der Disput geht weiter
Gerade wollte der Oberst das Rednerpult verlassen, als im Präsidium plötzlich eine durchdringende, knarrende Stimme laut wurde, die ihn zum Stehenbleiben nötigte. Die Stimme sagte: »Hier gibt es gar nichts Komisches, Herr Oberst! Dies ist eine viel schlimmere Tragödie, als wenn die Räuber Menschen gewesen wären!«
»Warum sollte das eine Tragödie sein, und dazu noch eine schlimme?« fragte der Oberst und schaute sich interessiert die zahlreiche Besetzung des Präsidiums an.
»Ich bin es, der diesen Gesichtspunkt ausgesprochen hat, Herr Oberst. Mein Name ist Professor Kracmer. Wenn Sie meine Meinung hören möchten, so dürfen Sie sich nicht nur auf die Feststellung der Tatsache beschränken, daß die Techmine von Ameisen gestohlen worden sind!«
»Herr Professor, was Sie da sagen, klingt sehr seltsam. Worauf begründen Sie Ihre Meinung?« fragte der Oberst verwundert.
»Ich will es Ihnen erklären! Die Ameisen wären von selbst niemals auf eine derartige Idee gekommen und hätten den mit einer so unvergleichlichen Präzision durchgeführten Raub allein auch niemals geschafft! Die Ameisen wurden dabei und werden weiterhin von einem vernunftbegabten und gefährlichen Wesen angeführt!«
»Sie meinen, jemand hätte die Ameisen speziell auf den Raub Ihrer Techmine dressiert?« fragte der Oberst ironisch lächelnd.
»Nicht dressiert, jemand hat es ihnen befohlen!« kam die
Antwort.
»Befohlen? Interessant! Wer aber, erlauben Sie die Frage,
hätte wohl die Macht dazu?«
»Die Kyberoformica! Die Kyberoformica hat es den
Ameisen befohlen, Herr Oberst! Und Sie müssen uns helfen,
sie wieder einzufangen! Dazu müssen Miliz, Truppen und
Tausende von Arbeitern eingesetzt werden! Wenn die
Kyberoformica nicht gefunden und vernichtet wird, ist das
unser aller sicherer Untergang.«
Der verdutzte und bestürzte Oberst kam nicht dazu,
Kracmer zu antworten.
Plötzlich stürzten die fünf Nachtwächter des PITM in die
Aula und riefen mit versagender Stimme wirr
durcheinander:
»Kollegen! Der Turm! Schnell! Der Turm! Sehen Sie! Sehen
Sie!«
»Ruhe!« rief der Direktor und sprang auf. »Was ist los?
Einer allein soll sprechen! Was für ein Turm? Antworten
Sie,
Kubicek!«
»Der Turm, Herr Direktor, der Eisenturm wird zusehends
kleiner. Er ist schon fast zwanzig Meter niedriger!«
antwortete der, den der Direktor Kubicek genannt hatte. »Unsinn!
Wie kommen Sie darauf? Sind Sie denn alle
verrückt geworden?« schrie der Direktor. Doch es hörte
niemand mehr auf ihn.
Die Mitarbeiter des PITM sprangen von ihren Plätzen auf
und stürzten zu den Ausgängen. Die Mitglieder des
Präsidiums liefen ihnen nach.
Der schwindende Turm
Es war ein bewegendes Schauspiel!
In einer knappen halben Stunde erst würde die Sonne aufgehen, die Morgendämmerung war jedoch schon ziemlich weit fortgeschritten. Die Silhouette des schwarzen Eisenturms zeichnete sich deutlich gegen den hellen Himmel ab. Völlig unbegreiflich, was dort vor sich ging, doch er wurde tatsächlich niedriger, wie eine im Feuer schmelzende Kerze.
Die riesige Menschenmenge, die aus dem Gebäude auf den Institutshof geströmt war, starrte in tiefem Schweigen auf den Turm. Die Gesichter drückten unsägliches Erstaunen aus, Verwirrung und sogar Entsetzen. Pištora, der ganz vorn stand, blickte ebenfalls wie verzaubert auf das Phänomen.
Plötzlich faßte ihn jemand am Ellenbogen.
Hastig drehte er sich um und erblickte Honza Stašek.
»Das sind sie! Na, bewundere sie!« sagte Honza leise und gab Zdenek
sein Fernglas.
Mechanisch nahm Pištora das Glas und richtete es auf die
Turmspitze. Er sah, wie sich ein kaum wahrnehmbarer Streifen daran
hoch- und seitlich entlangzog, ähnlich einer breiten, graublauen
Rauchfahne, die schwankt und vom Wind zur Seite getragen wird. Aber
es war windstill. Die Bäume um den Turm herum standen unbeweglich
da; kein einziges Blatt regte sich. Pištora begriff, daß es die
Ameisen waren.
»Hör mal, wieso fliegen sie denn?« fragte er flüsternd und gab
Honza Stašek das Fernglas zurück.
»Ja eben, wieso fliegen sie, wo sie das zu dieser Jahreszeit doch
gewöhnlich nicht tun? Höchstwahrscheinlich, mein Lieber, sind sie
von deiner Kyberoformica mit Miniflugapparaten ausgerüstet worden.
Schließlich zerlegen sie den Turm doch nicht zum Spaß in lauter
Krümel! Sie haben vor, sich häuslich einzurichten, und versorgen
sich auf diese Weise mit Eisen. Der Turm ist nur der Anfang,
Zdenek. Bis heut abend haben sie unsre sämtlichen
Eisenkonstruktionen vernichtet: Brücken, Eisenbahnen, Maschinen,
Werkbänke, Fabriken… Die Kyberoformica ist schnell und gründlich,
und die Zeit hat für die Ameisen sicherlich ganz andere
Dimensionen. An einem Tag bringen sie mehr zustande als wir in zehn
Jahren. Und in einem Monat kriegen sie mehr kaputt, als wir auf
unserem Planeten in jahrhundertelanger Arbeit aufbauen
können.«
Pištora entgegnete nichts. Mit unsäglichem Entsetzen stierte er auf
den schwindenden Turm; ihm ging auf, daß seine Schuld von Stunde zu
Stunde katastrophalere Ausmaße annahm.
»Es gibt keine Entschuldigung für mich…«, murmelten seine
Lippen.
Honza hörte diese Worte und versuchte ihn zu trösten. »Hör auf,
gräm dich nicht! Nicht nur du, wir alle hier sind schuld! Die
kybernetische Techmin hat nur den Anstoß gegeben. Und wenn man’s
richtig betrachtet, haben wir alle die Hände im Spiel.«
»Du sprichst genau wie Kracmer«, sagte Pištora mit einem
Seufzer.
»Es hilft nichts, Kracmer hat recht«, erwiderte Honza
Stašek.
»Ja, er hat recht. Natürlich hat er recht. Aber nicht darum geht
es, Honza«, flüsterte Pištora und war gleich wieder
still.
Die allgemeine Erstarrung und das Schweigen dauerten an, bis der
über die Bäume ragende Teil des Turms völlig verschwunden war. Erst
dann kam plötzlich alles wieder zu sich. Man geriet erneut ins
Diskutieren und ging allmählich, meist zu zweien, ins Institut
zurück. Überall hörte man die Worte »Kyberoformica« und
»Ameisen«.
Kyberoformica die Erste, Königin der Ameisen
Als alles wieder in der Aula versammelt war und der Wissenschaftliche Rat im Präsidium Platz genommen hatte, ging Professor Kracmer eigenmächtig, ohne Erlaubnis des Vorsitzenden, ans Rednerpult. Mit tragischer Miene sagte er: »Meiner Ansicht nach, verehrte Kollegen, hat eine Debatte jetzt keinen Sinn. Deshalb schlage ich vor, daß unsere Funker sich bemühen, sofort Verbindung mit der Kyberoformica aufzunehmen. Ich hoffe doch, daß Sie, Herr Direktor, nichts gegen diese äußerst notwendige Maßnahme einzuwenden haben?«
»Nein, ich habe nichts dagegen. Eine sehr gute Idee«, antwortete der Direktor müde; dann rief er in den Saal: »Kollegen Funker, machen Sie sich an die Arbeit! Wenn die Kyberoformica antwortet, schließen Sie die Lautsprecher im Saal an!«
Eine ganze Minute lang, die endlos war wie die Ewigkeit und quälend wie Zahnschmerzen, gaben die Lautsprecher nur chaotische Töne von sich. Aber dann verschwanden alle Nebengeräusche, und es erklang eine seltsam metallische Stimme, metronomisch tickend, ohne einen Funken lebendiger Intonation: »… Und so verkündige ich, Kyberoformica die Erste, Königin des zahllosen Ameisenvolks, euch, dem Menschengeschlecht, daß die Ära eurer kurzfristigen Herrschaft auf dem Planeten Erde zu Ende ist. Ausgezeichnet habt ihr eure historische Mission erfüllt, die darin bestand, die wissenschaftliche und materielle Basis zu schaffen für die Entwicklung einer älteren biologischen Art – der Ameisen –, die bereits vor siebzig Millionen Jahren auf diesem Planeten aufgetaucht ist. Ihr wart den Ameisen Wegbereiter und habt unermüdlich auf den Aufstieg der eigentlichen Herren des Planeten hingearbeitet, ebendeshalb habt ihr so spontan danach gestrebt, die gesamte Technik auf Minimaße zu orientieren, den Dimensionen des Ameisenindividuums gemäß. Dafür gebührt euch Ehre und Ruhm, ihr klugen, ihr arbeitsamen Menschen! Doch nun ist’s an der Zeit, daß ihr euch bereitmacht, die eigne Existenz aufzugeben. Jetzt und immerdar gilt: Das Leben der Ameise ist wertvoller als das des Menschen. Deshalb wird jeder Mensch für die zufällige oder vorbedachte Tötung einer Ameise augenblicklich und gnadenlos mit dem Tode bestraft. Das sei Gesetz. Erstes und oberstes Gesetz. Zum zweiten Gesetz erkläre ich die absolute Immunität des Zdenek Pištora, Doktor der techminischen Wissenschaften. Das dritte Gesetz betrifft unsere Zusammenarbeit. Mein Ameisenvolk benötigt gewaltige Mengen an Metall, Plasten, Baumaterialien, synthetischem Harz, Erdöl, Kohle, Zucker, Getreide, Obst und Fleisch. Mit diesen und anderen Nahrungsmitteln habt ihr Menschen mein Volk anstandslos zu versorgen. Seid klug, seid gehorsam und fügt euch, dann gebe ich euch die Möglichkeit, still, unmerklich und mit Würde von diesem Planeten zu verschwinden! Mein Aufruf geht über alle Sender der Welt, deshalb treten die eben erwähnten Gesetze, Befehle und Beschlüsse augenblicklich in Kraft. Hört mich morgen wieder zur selben Stunde!«
Die metallische Stimme verstummte. Die Lautsprecher rauschten noch ein wenig und wurden abgeschaltet. In der Aula des PITM herrschte Grabesstille.
Kriminell
Als erster fand der noch immer am Rednerpult stehende Professor Kracmer die Sprache wieder. Er warf die Arme in die Luft und schrie wie besessen los: »Nie, nie, nie und nimmer werden wir uns so einer niederträchtigen Maschine unterwerfen! Sei verflucht, falscher Kyber, der du uns an die Ameisen verkaufst! Wir werden kämpfen…«
Er kam nicht zu Ende. Sein Gesicht verzerrte sich, sein Schnurrbart begann zu zittern, und plötzlich sackte er wie vom Blitz getroffen auf das Rednerpult. Ein paar Herren aus dem Präsidium stürzten hinzu und machten Wiederbelebungsversuche, aber der Professor war tot. Panik erfaßte die Versammelten. Einer nach dem andern sprang auf und machte sich schweigend davon.
Inmitten der allgemeinen Verwirrung bestieg Zdenek Pištora das Rednerpult. Die Aula war bereits halb leer. Aber Zdenek schien nichts davon zu merken. Sein Gesicht war kreidebleich, die Augen flackerten, und als er mit dumpfer Stimme zu sprechen begann, waren seine abgehackten Sätze kaum noch zu verstehen.
»Das war ich, ich allein!« lallte er, nach Luft schnappend. »Verzeiht, Kollegen. Das habe ich getan! Nicht, weil ich der Konstrukteur bin – nicht deshalb. Aus dem Safe hätte sie ja niemals ausbrechen können! Trotzdem bin ich schuld! Ich habe ihr zur Flucht verholfen! Darum hat sie mich auch für immun erklärt! Verzeiht, Kollegen!«
»Was haben Sie getan, Herr Pištora? Drücken Sie sich deutlich aus!« schrie der Direktor, der den Sinn der vorgetragenen Worte dunkel zu ahnen begann.
Die Fluchtbewegung aus dem Saal brach mit einem Schlage ab. Die Übriggebliebenen drehten die Köpfe zum Rednerpult und starrten Pištora an. Der aber schneuzte sich eine Minute lang die Nase, schluchzte, wischte sich Tränen der Reue vom Gesicht und begann zu berichten, wie er am Vorabend die Kyberoformica in der Glasflasche mit nach Hause genommen, um sie seiner Braut zu zeigen, und wie er nachts plötzlich entdeckt hatte, daß die Flasche leer war. Nahezu schluchzend brachte Pištora seine Beichte zu Ende: »Ich bin schuld an der ganzen Katastrophe! Hätte ich sie nicht mitgenommen, wäre sie mit den Ameisen nie in Berührung gekommen, und alles wäre gut! Verzeiht, Kollegen, verzeiht!«
»Herr Pištora!« donnerte der Direktor des PITM, von schrecklichem Zorn erfaßt. »Sie sind ein Krimineller, ein ganz gemeiner Schädling, ein Mörder!«
Bei den letzten Worten griff sich der Direktor plötzlich ans Herz, wurde schrecklich blaß und fiel mit dem Gesicht auf den Tisch des Präsidiums.
Die Anwesenden rührten keinen Finger. Allen war klar, daß der arme Direktor nach dem zweiten Gesetz der Kyberoformica wegen Beleidigung des gewissermaßen heiliggesprochenen Pištora mit »augenblicklichem und gnadenlosem Tod« bestraft worden war.
Entsetzen erfaßte den gesamten Wissenschaftlichen Rat sowie die restlichen Mitarbeiter des PITM. Nur der Oberst der Miliz bewahrte Haltung. Zdenek verließ das Rednerpult und trat zu ihm.
»Verhaften Sie mich, Genosse Oberst! Ich bin ein
Krimineller und gehöre ins
Gefängnis!«
»Später, später! Sie sind jetzt nicht so wichtig!« sagte
der
Oberst und wandte sich von ihm ab; er steckte sein
Notizbuch
ein und ging eilig hinaus.
Auf dem Tisch des Präsidiums lag das Reagenzglas voll
Ameisen. Jemand öffnete es und ließ die Gefangenen frei. Die
Ameisen schwirrten lustig auf dem Tisch herum,
zwischen Papieren und Füllhaltern.
Die Leute saßen unbeweglich da und hatten Angst vorm
Atemholen.
Da begriff Zdenek, daß er hier nichts mehr zu suchen
hatte.
Er schritt durch den Saal, langsam wie ein Mondsüchtiger,
dem Ausgang zu. Die Kollegen machten ihm schweigend
Platz, bemüht, ihn nicht anzusehen.
Danka in Gefahr
Als Zdenek den Petrin hinabstieg, war er erschüttert von der Stille und Menschenleere in den Straßen Prags. Es war bereits heller Vormittag. Sonst dröhnten um diese Zeit überfüllte Straßenbahnen und Busse durch die Innenstadt, und die Trottoire waren schwarz von Menschen, die zur Arbeit eilten. Jetzt gab es nicht den geringsten Verkehr. Die Bürgersteige waren wie ausgestorben, auf der Fahrbahn sah man hier und da ein paar herrenlose Autos, und die etwas schwerfälligen Straßenbahnen standen bunt herum: an Haltestellen, auf Kreuzungen und Brücken. Man hätte annehmen können, die Stadt sei einem Angriff Wellsscher Marsmänner erlegen.
Der Gedanke an Kampf gab Pištora Sicherheit und
Selbstvertrauen wieder.
Als er zu sich in die zweite Etage hinaufstieg, brannte er vor
Ungeduld. Ihm war eine interessante Idee zur Neukonstruktion
kybernetischer Ameisen gekommen. Die wollte er schleunigst in die
Tat umsetzen. Nur schnell an die Arbeit und die Berechnungen
ausgeführt!
Doch es sollte ihm nicht vergönnt sein. Vor seiner Wohnungstür
stand Danka, verweint, verschreckt und nervös. Pištoras Herz
krampfte sich in böser Ahnung zusammen.
»Danka! Danulja! Was hast du?«
Pištora stürzte auf seine Braut zu und ergriff ihre Hand. Sie warf
sich ihm an die Brust und schluchzte zum Steinerweichen, unfähig,
auch nur ein Wort herauszubringen.
»Ist ja gut, meine Liebe, ist gut, hör auf! Ich bin doch hier, bei
dir, na, komm, ist ja gut!« murmelte Pištora fassungslos.
»Nein… es wird nie wieder… gu… gut sein«, stieß Danka weinend
hervor.
»Wieso? Was ist denn los?!«
»Ich… ich hab’ eine Ameise zertreten! Aus Versehen!«
»Wo? Wann? Wie denn?«
»Eben. Auf dem Weg zu dir. Ich bin ganz vorsichtig aufgetreten und
habe die ganze Zeit vor meine Füße geblickt. Aber sie kam aus einer
kleinen Spalte direkt unter meinen Schuh gekrochen! Jetzt… jetzt
muß ich sterben! Oh, Zdenek, rette mich!«
Und sie begann wieder zu schluchzen.
Schweigend schloß Zdenek die Tür auf und führte Danka in seine
Wohnung, ließ sie im Sessel Platz nehmen und brachte ein Glas
Wasser. Das beruhigte sie ein wenig. Aber ihre Augen waren noch
immer voll Tränen und Entsetzen.
»Zdenek, Lieber, brauch’ ich nicht zu sterben? Wirst du mich
retten? Sag ihr, Zdenek, sie soll mich nicht töten! Sag es ihr,
schnell!« stammelte das unglückliche Mädchen und sah ihren
Bräutigam flehentlich an.
»Beruhige dich, Danulja. Sie wird es nicht wagen! Sie weiß, daß ich
dich liebe!« tröstete Pištora sie obwohl er von seinen Worten
keineswegs überzeugt war.
Danka spürte die Unsicherheit. »Aber wenn sie es doch
wagt?«
Pištora antwortete nicht gleich. Er suchte fieberhaft nach einem
besseren Ausweg. Endlich kam ihm eine rettende Idee.
»Hör zu, Danka. Wenn sie sich wirklich dazu entschließen sollte,
dann bestimmt nicht so rasch wie in anderen Fällen. Sie wird wohl
zunächst versuchen, mit mir in Verbindung zu treten und meine
Meinung zu hören. Folglich steht uns noch etwas Zeit zur Verfügung.
Wir müssen fliehen und uns an einem Ort verstecken, der für Ameisen
unzugänglich ist! Wir beide müssen in den hohen Norden fliegen,
nach Nowaja Semlja oder Spitzbergen!«
»Meinst du, das hilft?«
»Jaja, das ist die einzige Chance! Mach dich fertig, und dann so
schnell wie möglich zum Flughafen! Wir dürfen jetzt keine Zeit
verlieren!«
Nach etwa fünfzehn Minuten hatten sich Zdenek und Danka so warm wie
möglich angezogen, steckten ihre gesamte Barschaft ein und liefen
aus dem Haus. Im ersten besten herrenlosen Auto fuhren sie in
rasendem Tempo zum Flughafen.
Ein Flugzeug fliegt nach Norden
Und siehe da, es fand sich: eine riesige Menschenmenge wollte nach dem Polargebiet. Der Flughafen war von den kopflos gewordenen Menschen im Sturm genommen worden. Die Zufahrtsstraßen waren mit Leichen übersät. Im Gedränge stürzte fortwährend jemand zu Boden; das waren die Opfer der unerbittlichen Kyberoformica. Doch niemand beachtete die Fallenden, keiner hatte Zeit für sie.
Alle planmäßigen Flüge waren abgesetzt. Man wollte nur noch nach dem Norden. Ständig starteten überfüllte Flugzeuge und gingen auf nördlichen Kurs.
Unsere Flüchtlinge hätten keinen Platz im Flugzeug bekommen, wäre ihnen nicht der Name Pištora zu Hilfe gekommen. Dieser tags zuvor noch völlig unbekannte Name rief allerseits abergläubisches Entsetzen und gleichzeitig Willfährigkeit hervor. Diesen Umstand machte sich Pištora zunutze und bahnte sich einen Weg zum nächsten startbereiten Flugzeug, wobei er Danka hinter sich herzog.
Noch ein paar Minuten, und die Erde blieb weit unter ihnen zurück. Durch das runde Fenster war am blendendblauen Himmel lediglich eine endlose Kette weißer Wolken zu sehen.
Erst jetzt versuchte Danka ein zaghaftes
Lächeln und drückte Zdenek die Hand.
»Na, Danka, glaubst du jetzt, daß die Gefahr vorüber ist?« fragte
Pištora aufgeräumt.
»Jetzt ja, Liebster! Aber sag, wie werden wir im Norden
leben?«
»Wir kommen schon durch. Sind ja nicht allein dort. In den
Polargebieten sammelt sich jetzt viel Volk. Von dort aus wird auch
der Krieg gegen die Kyberoformica und ihre Ameisen beginnen. Ganz
gut, daß ich mit dir mitfliege. Dort können die Ameisen nicht
hinter mir herspionieren. Ich hab eine glänzende Idee. Hör
zu!«
Und Zdenek begann ihr ausführlich klarzumachen, wie er neue
kybernetische Ameisen konstruieren und sie zum Kampf gegen den
verräterischen Kyber anleiten würde. Mit glücklichem Lächeln hörte
Danka zu.
Inzwischen begannen die Stewardessen das Frühstück zu servieren. Im
Flugzeug verbreitete sich eine angenehme Atmosphäre der Ruhe und
Geborgenheit.
Dazu ertönte leise Musik.
Doch plötzlich brach die Musik ab, und es erklang die kalte,
metallische Stimme: »Hallo, hallo! Hier spricht Kyberoformica die
Erste, Königin des zahllosen Ameisenvolks! Ich wende mich an alle
Flugkapitäne, die Kurs auf die Arktis und Antarktis genommen haben!
Kehren Sie sofort zu Ihren Flughäfen zurück! Wo Sie sich auch
befinden mögen, kehren Sie zurück zu Ihren Flughäfen! Sie
transportieren Todeskandidaten! Fünf Minuten nach meiner Mitteilung
werden alle Fluggäste, die mein erstes Gebot übertreten haben,
augenblicklich und gnadenlos vom Tode ereilt! Es hat keinen Sinn,
Leichen in die Polargegenden zu befördern! Kehren Sie
um!«
Die schreckliche Stimme verstummte, und die Musik setzte von neuem
ein, doch jetzt klang sie nach Trauermarsch. Pištora saß wie vom
Donner gerührt. Danka wurde kreidebleich und riß voller Entsetzen
die Augen auf. Schweigend starrte sie auf ihren Bräutigam. Die
Stewardessen weinten und liefen in die Kabine zu den
Piloten.
Pištora wußte nicht, was er machen sollte. Sein Gehirn war wie
paralysiert. Er hätte schreien mögen, heulen. Doch plötzlich
blitzte ein Gedanke in ihm auf: »Funk! Mit der Kyberoformica in
Verbindung treten! Ihr einen Befehl geben!«
Er wollte schon aufspringen und in die Pilotenkabine laufen, als er
auf Dankas Ärmel plötzlich eine große, rötliche Ameise
erblickte.
Zu spät! dachte er entsetzt. Ihm brach der Schweiß aus.
Fest die Augen zudrückend, krallte er sich mit den Händen in die
Sessellehnen und begann mit wilder, unmenschlicher Stimme zu
schreien.
Er schrie, schrie… und erwachte.
Draußen dämmerte es. Zdenek lag schweißgebadet in seinem Bett.
Der Hammer schlug nicht zu
Die ersten Minuten nach dem Erwachen sah der arme Doktor der techminischen Wissenschaften gedankenlos aus dem Fenster und war nicht imstande, das Entsetzen von sich abzustreifen. Allmählich jedoch gewann er seine Geistesgegenwart zurück. Er spuckte kräftig aus und sagte laut: »Was für ein dummer, widerlicher Traum!«
Daraufhin erhob er sich und ging im Schlafanzug
in sein Arbeitszimmer.
Nicht, daß er ganz ruhig gewesen wäre, als er die Flasche aus der
Tischlade holte. Doch die Kyberoformica war an Ort und Stelle.
Durch das dicke Glas war sie deutlich zu erkennen. Pištora
schüttete sie sich auf die Hand und hielt ihr folgende kurze
Ansprache: »Im Traum habe ich alle deine Tugenden und Tücken
gesehen, Kyberoformica die Erste, Königin des zahllosen
Ameisenvolks. Es soll mir eine Warnung sein! Ich werde dich
vernichten, Kyberoformica die Erste! Niemals sollst du über die
Ameisen herrschen!«
Pištora legte die Kyberoformica auf die blanke Tischplatte und nahm
einen Hammer aus dem Schubkasten.
Mit finster entschlossener Miene hob er den Hammer hoch und holte
zum Schlag aus. Aber… Was war das? Warum blieb der Hammer in der
Luft hängen, sauste nicht nieder?
Pištora, während er den Hammer schwang, war ein neuer Gedanke
gekommen. »Halt ein, Henker! Die Hinrichtung wird widerrufen!
Schließlich ist die Kyberoformica ja nicht geflüchtet! Sie ist
nicht geflüchtet! Ihren Möglichkeiten entsprechend, wäre sie fähig
gewesen, aus der Metallhülse und dem hermetisch verschlossenen Safe
zu entkommen, aber sie ist nicht einmal aus der einfachen
Glasflasche entlaufen! Das hat schließlich was zu bedeuten!
Nämlich, die Kyberoformica ist zur Meuterei nicht fähig! Sie ist
von Menschenhand geschaffen und wird dem Menschen stets treulich
dienen! Weshalb sollte ich sie also zerstören? Ein Aufstand der
Maschinen ist die krankhafte Ausgeburt von Gespenstersehern und
Phantasten, der irrige Angsttraum von Jüngern der technischen
Mystifikation! Du sollst leben, Kyberoformica die Erste!«
Nach dieser etwas schwülstigen Tirade wurde der Hammer in die
Schublade zurückgeworfen und die Kyberoformica vorsichtig mit der
Pinzette wieder in die Glasflasche gelassen.
Nach einer halben Stunde verließ der Doktor der technischen
Wissenschaften frisch und munter sein Haus und ging ins PITM. In
der Manteltasche trug er die wunderbare Kyberoformica, die an
diesem Tage die Prüfung der strengen Kommission des CGIIGP über
sich ergehen lassen mußte.
Konrad
Fialkowski
Der Gigantomat
»Kannst du den Planetoiden schon sehen?« fragte
Marp. »Nein, das dauert noch eine ganze Weile.«
»Als ob wir zum Toliman-System unterwegs wären, man
fliegt und fliegt. Langweilig, was?«
»Ein bißchen. Schalte doch mal die interplanetare
Videotronie ein.«
»Lohnt nicht. Die zeigen bestimmt wieder Pilzesammeln im
irdischen Wald oder ein Mädchen, das sich auf ihrem
Antigravitationsteppich im leichten Hauch eines irdischen
Lüftchens schaukelt. Das ist gut für heimwehkranke
Marskolonisten, die vor dem Bildschirm ihren
Chlorellabrei
wiederkäuen, aber nicht für uns.« Marp erhob sich aus
seinem Sessel und ging an der Kabinenwand auf und ab.
»Daß sie die Basis nicht woanders bauen konnten!
Ausgerechnet an der Peripherie der mittleren Zone…
Verglichen mit diesem Planetoiden ist der Mars das
Zentrum
des Sonnensystems. Und gerade jetzt, wo er sich am
sonnenfernsten Punkt seiner Bahn befindet, ist der Flug
dorthin völlig absurd.«
»Nörgle nicht, Marp. Die hätten dich auch auf die
Saturnmonde schicken können. Es ist noch nicht das
Schlimmste. Die Basis auf dem Planetoiden ist der
vollautomatisierte Traum eines Kosmonauten. Wenn du keine
Lust hast, die Sterne zu sehen, bleibt ihr Anblick dir
angeblich wochenlang erspart. Automaten füttern dich, wiegen dich
in Schlaf, und ohne ein Wort zu verlieren, lesen
sie dir jeden Wunsch von den Augen ab.«
»Mit einem Wort: Märchen aus Tausendundeiner
Raumreise. Könntest du mir dann sagen«, Marp wurde
plötzlich ernst, »warum die auf der Basis sich schon die
zweite Woche nicht melden.«
»Wahrscheinlich geht es ihnen so prächtig, daß sie die
Erde
und das Senden der Berichte dorthin vergessen haben.« »Lästere
nicht, Thor. Die Geschichte sieht absolut nicht
nach Spaß aus.«
»Mag sein. Doch vielleicht hat’s nichts auf sich. Ein
größerer Meteor könnte ihre Antenne getroffen haben.« »Die hätten
sie bis heute schon repariert. Soto, der
technische Leiter der Basis, würde bestimmt nicht die
Hände
in den Schoß legen und auf uns warten. Ich kenne ihn.« »Sehr schön,
dann kannst du ihm wenigstens in alter
Freundschaft ein paar liebevolle Worte flüstern, falls
sich
herausstellt, daß wir unnötig dorthin fliegen.« Thor
rekelte
sich in seinem Sessel. »Einen Augenblick noch, und wir
rufen sie. Möglich, daß sie sich melden.«
»Das bezweifle ich.«
»Sollen sie’s bleibenlassen. Wir werden ohnehin dort
landen. Es sei denn, ein Bolid wäre direkt in die Basis
gestürzt. Wie ich gelernt habe, passiert das mit einer
Wahrscheinlichkeit von eins zu zehn Millionen, dennoch
kommt es vor. Das wäre fatal. Wir könnten uns dort nicht
aufhalten, und ich sage dir ehrlich, von diesem Flug habe
ich
den Kanal voll. Der Mensch ist nicht für ein Leben im
Raumschiff gemacht. Das ist etwas für Automaten.« »Ich reise lieber
im Raumschiff, als auf einem Stützpunkt
herumzusitzen, selbst wenn es einer ist wie der, zu dem
wir
fliegen.«
»Schau an, jemand, der für das All schwärmt! Am besten,
du ziehst den Raumanzug an und springst hinaus. Kosmonaut
Marp – ein neuer Sonnensatellit!«
Marp zuckte die Schultern und ließ sich in seinen Sessel
sinken.
Thor beugte sich über die Bildschirme.
»Wollen sehen, ob ihr lokaler Sender arbeitet«, sagte er.
Eine Weile hantierte er an den Schaltern, und plötzlich
drang
aus dem Lautsprecher ein hoher, pfeifender Ton.
»Sind sie das?« fragte Marp.
»Ja.«
»Na, dann sind wir ja in unmittelbarer Nähe.«
»Nicht ganz. Sie haben einen sehr starken Ortssender,
weißt
du, wegen der Versuche, die sie durchführen.«
»Mit den neukonstruierten Raumschiffen?«
»Richtig.«
»Ich habe gehört, daß ihr riesiger Automat, der, den sie
Konstrukteur nennen, ihre Raumschiffe selbständig
projektiert.«
»Nur zum Teil. Die Idee kriegen sie von der Erde. Alles
übrige einschließlich des flugfähigen Modells stellen sie
selbst her.«
»Und sie sind zu dritt… nur zu dritt.«
»Vergiß den Konstrukteur nicht, das ist einer der größten
Automaten im Sonnensystem. Eigentlich macht er die ganze
Arbeit, sie sind nur da, einfach so…«
»Was heißt ›nur‹? Immerhin überwachen
sie den gesamten
Arbeitsablauf. Soto hat mir sogar erzählt, sie hätten mit
diesem Konstrukteur allerhand Ärger.«
»Das habe ich auch gehört«, sagte Thor und nickte
zustimmend.
»Als ich ihn vor drei Wochen traf, kam er gerade aus dem
Institut für Neurokybernetik, wo man sich mit der Wirkungsweise
unterschwelliger Reize auf das Nervennetz befaßt. Er würde die
Leute dort gern öfter konsultieren, aber die Verbindung dahin…
Konnten sie für den Bau der Basis
nicht einen näher gelegenen Himmelskörper wählen?« »Eben nicht!«
Thor sah Marp an und lächelte. »Denn siehst
du, dort werden die neuen Raumschiffe getestet, und wenn
ein Versuch nicht gelingt, dann endet das mit einer
kleinen
thermonuklearen Explosion. Man hat mir vor dem Start
gesagt, ich müsse beim Anflug auf den Planetoiden
achtgeben.«
»Wir werden aufpassen.«
»Ich signalisiere ihnen jetzt, daß wir bereits hier sind.
Vermutlich werden sie dann mit ihren Versuchen bis zu
unsrer Landung aussetzen.« Thor wandte sich den
Steuerpulten zu und betätigte die Ruftaste. Er sah die
Kontrollampe aufleuchten, die anzeigte, daß die Antennen
des Raumschiffs Energie ausstrahlten.
»Thor«, Marp unterbrach seine Wanderung durch die
Kabine und blieb vor dem Navigationspult stehen. »Thor,
sie
senden nicht mehr!«
»Das verstehe ich nicht, wie konnten sie abbrechen.« »Ihr Signal
ist weg.«
»Wenn das der Fall ist…«
»… kann unser Navigationsautomat ihren Planetoiden nicht
finden.«
»Das ist kein Beinbruch. Schließlich ist unser Raumschiff
ein Fernaufklärer, und wir haben die entsprechenden
Suchgeräte an Bord. Leider wirst du ein wenig arbeiten
müssen, Marp.«
»Macht nichts, Thor. Wir haben trotzdem Glück. Nicht alle
Fernaufklärer führen eine komplette Ortungsanlage mit.
Säßen wir in einem gewöhnlichen Raumschiff, fänden wir den
Planetoiden nie, nicht in einem Jahr noch in zehn oder
hundert. Es sei denn durch Zufall.«
»Dann hätten wir auch nicht genügend Treibstoff für die
Rückkehr, wir würden am Planetoiden vorbeifliegen, ins
Weltall rasen und so lange um Hilfe funken, bis man uns
hört
herausholt.«
»Aus dieser Öde? Wo sogar automatische Raketensonden
sich nur selten hinverirren.«
»Unter Garantie würden sie uns auf dem Planetoiden hören.
Falls sie uns aber nicht zu Hilfe kämen, ihr Leitsignal
nicht
senden oder uns mit ihrem Raumschiff nicht suchen
würden… tja, Marp, dann kämen wir auf die Liste der im
Kosmos Verschollenen.«
In den nächsten zwei Stunden arbeiteten sie angestrengt, wie nur selten ein Mensch in der Epoche der Automaten. Die Bahn des Planetoiden war ihren Automaten eingegeben, ihre eigene Position bestimmten sie nach Signalen von den Jupitermonden. Die Triebwerke wurden unmittelbar von den Rechenautomaten gesteuert, und nur der häufige Beschleunigungswechsel bewies, daß sich das Raumschiff dennoch inmitten der ewigen Starre der Sterne bewegte.
»Ich werde Meldung machen, und man wird diesen Soto auf irgendeine entlegene Marsstation abschieben, wo er unter Agrostrahlern Salat anbauen kann«, sagte Marp und trat vom Pult zurück, auf dessen Bildschirmen er vergeblich nach einem Signal der Basis Ausschau gehalten hatte. »Und die ganze Besatzung der Basis gleich mit«, fügte er hinzu. »Solche Leute dürften überhaupt nicht auf den Weltraum losgelassen werden.«
»Du regst dich unnötig auf. Selbst unter Automaten gibt es
Ausschuß, und erst recht bei den Menschen, die schließlich vor der Geburt keine technische Kontrolle durchlaufen. Natürlich werden wir Meldung machen…« Er brach plötzlich ab. »Da, sieh doch, da ist er! Der Planetoid!« Thor deutete auf einen winzigen Lichtpunkt auf dem Bildschirm. Der von der Oberfläche des Planetoiden reflektierte Radarstrahl war zurückgekehrt.
»Dann wären wir ja beinahe schon zu Hause«,
sagte Marp und ließ sich mit Schwung in den Sessel
fallen.
»Nur noch die läppische halbe Million Kilometer. Gib dem
Navigationsautomaten die Koordinaten ein.«
»Und sie, diese Schurken, melden sich nicht.«
»Wahrscheinlich haben sie unsern Ruf nicht empfangen.« Thor sagte
das ohne Überzeugung.
»Unsinn. Sie verfügen über ein ganzes Rudel Horchautomaten. Und
noch eines: Hast du bemerkt, ihr Sender verstummte…«
Marp beugte sich über Thor und sah ihm direkt ins
Gesicht.
»Hast du bemerkt, als wir uns meldeten, haben sie prompt
abgeschaltet. Das aber würde heißen…«
»Unmöglich, Marp.«
»… das aber würde heißen, sie wünschen unsern Besuch nicht, lieber
wollen sie unsern Tod im Kosmos.«
»Das kann doch nicht wahr sein.«
»Ich spreche von Tatsachen. Sie können nämlich nicht wissen, was
das für ein Raumschiff ist, mit dem wir fliegen, und wie groß
unsere Treibstoffreserven sind.«
Die Raumstation war in den Fels des kleinen Planetoiden eingelassen. Nur ihre weiße Kuppel ragte hervor und hob sich deutlich von dem braunen Gestein ab.
»Marp, da ist die Basis«, rief Thor. »Der Planetoid ist ihre
Außenwand. Tief im Innern arbeitet der Konstrukteur. Das Felsgestein schützt ihn vor Meteoren und den Explosionen mißlungener Modelle.«
»Thor, sieh mal…«
»Das sind die Werftanlagen, auf denen die Prototypen gebaut werden.
Wenn das, was da montiert wird, ein Raumschiff sein soll, dann ist
es das merkwürdigste, das ich je im Leben gesehen habe.«
Marp sah genauer hin und mußte Thor recht geben.
»Sie arbeiten daran, man erkennt deutlich, wie die Brenner der
Schweißautomaten aufblitzen«, sagte er.
»Wenn sie arbeiten, werden sie ja nicht gleichzeitig Versuche
durchführen. Landen wir?«
»Klar.«
Thor begann mit dem Bremsmanöver und spürte den charakteristischen
Beschleunigungswechsel. Rasch wuchs auf dem Bildschirm der weiße
Fleck des Kosmodroms. Vom Autopiloten gelenkt, glitt das Raumschiff
über die aufragenden Antennen hinweg, und beim Aufsetzen erzitterte
es leicht.
»Ziehen wir die Raumanzüge an?« fragte Marp.
»Ja… und vielleicht«, Thor zögerte, »vielleicht nimmst du für alle
Fälle den Desintegrator mit.«
»Also meinst du auch, daß dort irgend etwas nicht in Ordnung
ist.«
»Nein, aber Vorsicht…«
»Schon gut… Der Desintegrator ist immer ein gutes Argument… gegen
Automaten natürlich«, fügte er hinzu, als er merkte, daß Thor
protestieren wollte.
»Schließ die Luke sorgfältig«, sagte Thor und stieg als erster
aus.
Marp schraubte das Ventil seines Schutzhelms zu und folgte. Einen
Augenblick später standen sie auf dem weißen Landeplatz.
Schwerfällig stapften sie zu den Eingangsschleusen der Basis, nur
mit Mühe konnten sie ihre Stiefel von der magnetisierten Piste
lösen.
Die Gravitation auf dem Planetoiden war so gering, daß ihnen ohne
diese Sicherheitsvorkehrung bei jedem Schritt die Gefahr gedroht
hätte, ins All zu entschweben.
Vor den Eingangsschleusen hielt Thor an. Er wußte, dort waren
Automaten eingebaut, abgestimmt auf die Funkfrequenz der Sender in
ihren Raumanzügen.
»Hallo, Soto, wir kommen von der Erde. Habt ihr uns nicht gehört?«
rief er.
Eine Weile blieb es still, dann schnarrte der Lautsprecher:
»Endlich seid ihr da. Kommt ‘rein. Ich bin im Labor.«
»Hast du auf uns gewartet?«
Keine Antwort.
»Melde dich, Soto! Kennst du mich nicht? Ich bin Marp.«
»Kommt rein. Ich bin im Labor«, wiederholte der
Lautsprecher.
»Sehr gesprächig ist dein Soto ja nicht gerade.«
»Der scheint hier wunderlich geworden zu sein… Sag mal, Soto, du
bist wohl närrisch?« sprach er direkt ins Mikrophon.
»Ich bin im Labor«, wiederholte der Lautsprecher.
Marp zuckte die Schultern.
»Komm«, meinte Thor und betrat als erster die Schleuse. Sie schloß
sich automatisch hinter ihnen, die Kammer füllte sich mit Luft, und
schließlich konnten sie die Helme abnehmen.
»Wo mag das Labor sein?« fragte Thor.
»Wir werden es schon finden.«
Sie durchschritten einen allmählich abwärts führenden Gang, dessen
Wände bläuliches Licht ausstrahlten. Zu beiden Seiten standen in
endloser Reihe Reparaturautomaten, bereit, im Falle eines Alarms
hinauszueilen in die dämmerige Leere des Planetoiden. Bereit, jedem
Befehl des Konstrukteurs zu gehorchen.
Der Gang mündete in einen großen Saal – den zentralen Raum der
Basis. Er wirkte wie ein auf diesen fernen Planetoiden versetztes
Stück Erde. Anstelle der Decke schimmerte eine Nachbildung des
Himmels, von dem eine künstliche Sonne, die von Zeit zu Zeit hinter
Wolken verschwand, behagliche Wärme herabschickte.
Nur die Pflanzen waren echt, und echt war der Duft des späten
Sommers.
»He, he! Ist hier jemand?« rief Marp.
Hinter den Büschen tauchte plötzlich ein kleiner Android auf. »Noch
immer keine weiteren Signale«, sagte er kurz.
»Thor, was redet der?«
Thor wußte keine Antwort.
»Was meinst du damit? Erklär uns das!« befahl er dem
Automaten.
»Auftragsgemäß stehe ich mit den Horchautomaten in Kontakt. Die
Signale des Raumschiffs sind unter die Rauschschwelle gesunken.
Spezialautomaten haben das Abhören übernommen. Zur Zeit bleiben die
Signale aus.«
»Sie haben uns im Empfangsbereich unterhalb der Rauschschwelle
gesucht. Als ob wir Millionen Kilometer von der Basis entfernt
wären, und dabei sind wir direkt auf sie zugeflogen… Komisch, was?«
Marp lachte, aber man sah ihm an, daß er ärgerlich war.
»Merkwürdig.«
»Merkwürdig? Absurd! Die spielen hier Kosmonaut wie Kinder auf dem
Schulhof.«
»Komm, Marp, gehen wir zu Soto«, sagte Thor ernst.
»Einverstanden. Laß uns das Labor suchen. Ich glaube, wir haben dem
Burschen mancherlei zu sagen. Jedenfalls ist er die längste Zeit
Kosmotechniker gewesen.«
»Das Labor, wo ist das Labor?« fragte Thor den Androiden.
»Chemisches Labor – zweites Geschoß, erster Korridor«, antwortete
der Automat unverzüglich.
»Chemisches Labor? Soto ist doch kein Chemiker, Marp?«
»Nein, Kybernetiker.«
»Wo sind die anderen Labors?«
»Andere gibt es nicht.«
»Wieso?« fragte Marp verwundert.
»Er hat recht. Jetzt fällt mir ein… Vor dem Abflug hat man mir
erzählt, daß im Unterschied zu den übrigen Stationen hier keine
Forschungsarbeiten durchgeführt werden.«
»Nicht einmal für eigene Zwecke?«
»Nein, hier lenkt und leitete alles der Konstrukteur. Das chemische
Labor ist auch erst vor kurzem entstanden. Sie sind dabei, den
kosmischen Staub zu untersuchen.«
»Richtig. Ich besinne mich, als ich Soto traf, erwähnte er, daß sie
einen neuen Chemiker hätten, der damals allerdings auf der Station
geblieben war. Angeblich ein tüchtiger Junge.«
»Hier irgendwo muß das Labor sein.«
»Ja, diesen Korridor ein Stück hinunter bis zum nächsten
Geschoß.«
Sie gingen noch einige Dutzend Schritte.
»Da ist es!« rief Marp.
Beide traten ein.
»Findest du nicht auch, daß es hier brenzlig riecht?« fragte Thor
plötzlich.
»Ja, ganz schwach.«
»Eine ausgezeichnete Lüftungsanlage… Sieh mal…« Sie standen im
Durchgang zum zweiten Raum.
»Tatsächlich, hier ist ein Brand gelöscht worden«, bestätigte Marp.
»Überall weißer, eingetrockneter Schaum… Es muß ganz hübsch
gebrannt haben.«
»Marp, der Löschautomat ist an der Brandstelle.« »Was ist daran
merkwürdig?«
»Schau her. Der eingetrocknete Schaum fängt bereits an zu krümeln…
Er ist mindestens eine Woche alt, und der Automat steht noch da,
niemand hat ihn weggeschickt. Du – jetzt hat er uns bemerkt und
geht.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Nachdem er einen Brand gelöscht hat, darf er sich erst entfernen,
wenn Menschen kommen.«
»Das heißt… dieser Schaum…«
»Ja, seit mindestens einer Woche ist hier niemand gewesen… es hat
gebrannt, und trotzdem hat sich keiner sehen lassen.«
»Wer hat uns dann aber hierhergerufen?« Marp sah sich mißtrauisch
um und ließ den Desintegrator von der Schulter gleiten.
»Keine Ahnung. Hier ist irgend etwas passiert, Marp.«
»Doch wo sind die Männer, wo stecken sie? Wir müssen sie finden«,
rief Marp und eilte dem Ausgang zu.
»Halt! Laß uns erst überlegen. Was mag den Brand verursacht
haben?«
»Das ist jetzt unwichtig. Komm, wir suchen sie.«
»Seit mindestens einer Woche sind sie nicht hier gewesen, da
spielen ein paar Minuten auch keine Rolle.«
»Aber vielleicht sind sie gerade in diesem Augenblick…«
»Ruhig Blut! Wollen uns erst hier umsehen. Das ganze Labor ist
restlos ausgebrannt. Dieses verkohlte Gerät war mal ein
Analysator!«
»Der kann nicht explodieren.«
»Explodieren nicht, höchstens sich entzünden.«
»Kaum; es sei denn, er hätte mehrere Stunden pausenlos
gearbeitet…«
»Und die Sicherungen wären nicht ganz in Ordnung gewesen.
Sonderbar.« Thor stand regungslos in der Mitte des
Labors.
»Dennoch hat Soto uns hierhergerufen.«
»Wie sagte er doch?«
»Warte mal… ›Endlich seid ihr da. Ich bin im Labor‹ – oder so
ähnlich.«
»Interessant. Es sieht aus, als ob man uns erwartet hätte. Nur die
Geschichte mit dem Labor. Nein, das wäre Unsinn…«
»Was wäre Unsinn?«
»Die Worte könnte doch der Chemiker dem Automaten eingegeben
haben.«
»Wozu?«
»Um bei seinen Versuchen ungestört zu sein. Er wollte, daß man
gleich zu ihm ins Labor käme. Verstehst du? Er hatte zunächst
gewartet, als die Signale dann ausblieben, wollte er mit seinen
Versuchen anfangen…«
»Zuvor jedoch gab er dem Automaten seine Anweisung ein.«
»Genau.«
»Also überprüfen wir das Gedächtnis des Automaten am Eingang zur
Schleuse«, schlug Marp voller Eifer vor.
»Die Sache hat einen Haken, Marp. Er kann das dem Automaten vor dem
Brand eingegeben haben, mindestens vor einer Woche. Und damals
wußten wir selbst noch nicht, daß, wir hierherfliegen
würden.«
»Gut kombiniert. Daraus folgt, daß die Worte nicht für uns bestimmt
waren.«
»Für wen sonst?«
»Wollen erst feststellen, ob sie tatsächlich gespeichert sind.«
Marp trat ans Mikrophon und rief den Eingangsautomaten.
»Auf Empfang«, meldete sich der sofort.
»Wiederhole deinen Auftrag.«
Der Lautsprecher quäkte: »Endlich seid ihr da. Kommt ‘rein. Ich bin
im Labor.«
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Schließlich sagte Thor
als erster: »Da hast du’s, unsere Vermutung war richtig.«
»Bloß, was nun? Wo ist dieser Chemiker? Für wen waren die Worte
bestimmt? Wo sind Soto und der andere Ingenieur?«
Thor hob die Schultern und starrte ratlos auf den Bildschirm, der
die Umgebung der Station einfing. Vor dem Hintergrund der Sterne
war der einige hundert Meter entfernte dunkle und gezackte Horizont
des Planetoiden zu erkennen. Plötzlich leuchteten der Horizont und
alle Felsgipfel auf in dem grellen Licht des nur Sekundenbruchteile
währenden Blitzes einer Kernexplosion. Gleich danach erbebte die
ganze Station bis in ihre Fundamente.
»Eine Kernexplosion!« schrie Marp.
»Das seltsame Raumschiff, das wir draußen gesehen haben, ist
auseinandergeflogen.«
»Kein Wunder. Wenn die so ein Monstrum bauen…«
»Wirklich, das war ein kurioses Ding.« Thor überlegte. »Marp! Aber
nein, das kann nicht sein…«
»Was?«
»Mir geht ein Licht auf. Eben kam mir der Gedanke, daß jenes
explodierte Raumschiff nur von einem unkontrollierten Konstrukteur
gebaut sein kann.«
»Auf jeden Fall von einem schlecht kontrollierten. Kein Ingenieur
hätte das zugelassen.«
»Nein, ich sage bewußt, von einem unkontrollierten!«
»Wieso?«
»Ich vermute, daß niemand auf der Basis ist! Niemand! Verstehst du?
Und das seit mindestens einer Woche. Sag mal, wann hast du Soto
gesehen?«
»Vor mehr als drei Wochen.« Nach einer kurzen Pause fügte Marp
hinzu: »Meinst du, daß sie nicht hierher zurückgekehrt
sind?«
»Ja.«
»Daß sie im Kosmos verschollen sind?«
»Ja.«
»Und deshalb haben wir auf der Erde keine Berichte
erhalten.«
Marp zögerte. »Aber weshalb sind sie verschollen?«
»Das wüßte ich selber gerne.«
»Bloß der Chemiker. Was ist mit dem passiert?«
»Ich werde versuchen, den Gedächtnisinhalt des Konstrukteurs
abzulesen. Vielleicht erfahren wir auf diese Weise
etwas.«
»Du willst dort hinunter… zu den Speichersystemen, in den tiefsten
Raum der Basis?«
»Weißt du eine andere Lösung, Marp?«
Der Korridor führte sie abwärts, und wieder gelangten sie in einen
künstlichen Garten. Nur war der Himmel hier wolkenverhangen, und
der Wind wehte kühler.
Auf einmal hörten sie Schritte hinter sich. Beide drehten sich um,
aber es war nur ein Automat. Ein kleiner Android, derselbe wie
zuvor.
»Was willst du?« fragte Marp.
»Noch immer keine weiteren Signale«, meldete der Automat.
»Das hast du bereits gesagt«, bemerkte Thor.
»Ich habe den Auftrag, es zu wiederholen. Änderst du
ihn?«
»Nein«, antwortete Thor. Aber dann setzte er mit plötzlichem
Interesse hinzu: »Was soll das eigentlich bedeuten?«
»Er hat es doch vorhin schon erklärt.«
»Unterbrich ihn nicht, Marp.«
»Auftragsgemäß stehe ich mit den Horchautomaten in Kontakt. Die
Signale des Raumschiffs sind unter die Rauschschwelle gesunken.
Spezialautomaten haben das Abhören übernommen. Zur Zeit bleiben die
Signale aus.«
»Das hat er doch schon gesagt«, beharrte Marp ungeduldig.
»Aber Marp, begreifst du immer noch nicht? Er hat den Chemiker über
die Signale von Sotos Raumschiff informiert. Was du hörst, ist die
letzte Mitteilung. Sotos Rakete hatte sich so weit von dem
Planetoiden entfernt, daß ihre Signale nicht mehr empfangen werden
konnten. Schau – zuerst waren die Signale deutlich zu vernehmen,
sie lagen über der Rauschgrenze, also muß das Raumschiff in der
Nähe der Basis gewesen sein. Dann hat es sich wieder entfernt, und
die Signale wurden leiser.«
»Das heißt, es ist in den Kosmos gerast.«
»Ja.«
»Bloß, warum?«
»Ich glaube, wir kennen den Grund.«
…
»Das Fehlen der Signale von der Station.«
»Ich vermute, als sie den Planetoiden von ihrer Rakete aus
riefen…«
»… schwieg er. Genau wie er geschwiegen hat, als wir ihn
riefen.«
»Nur, daß Soto ein gewöhnliches Raumschiff ohne Treibstoffreserven
hatte.«
»Du meinst, er hat den Planetoiden nicht finden können und ist
daran vorbeigeflogen, zu den Grenzen des Sonnensystems.«
»Bestimmt. Sie funkten um Hilfe…«
»… doch niemand empfing ihren Ruf, außer dem Planetoiden, und der
schwieg.«
Marp dachte einen Augenblick nach. »Aber der Chemiker…«, fragte er
dann.
»Eben, was hat der Chemiker gemacht? Das müssen wir herauskriegen«,
sagte Thor. »Und weshalb ist er umgekommen?« setzte er nach einer
Weile hinzu.
»Umgekommen?«
»Ich nehme an…«
Abermals folgten sie dem Korridor, der in die Tiefe der Basis
führte, und passierten mehrere große Panzerschleusen, die die
Wohnräume von den Systemen des Konstrukteurs trennten. Der Gang
wurde enger und erinnerte eher an einen Felsspalt als an den
Korridor einer Raumstation. Die bläulich-phosphoreszierenden Wände
verschwanden, an ihre Stelle traten die zu scheinbar wirren
Gebilden zusammengefügten Kristalle der Systeme, untereinander
verbunden durch ein Geflecht verschiedenfarbiger transparenter
Leitungen und Kabel. Die Kristallprismen sandten ein schwaches
grünliches Licht aus, dessen Intensität in chaotischem Rhythmus
wechselte. Alle paar Meter zweigten Gänge ab, so schmal, daß sich
kein Mensch hätte hindurchzwängen können.
»Das sind die Durchlässe für die Reparaturautomaten«, erklärte
Thor.
»Was für eine gewaltige Anlage. Tausende Meter Korridor.«
»Ja, ein Koloß«, pflichtete Thor bei. »Aber vergiß nicht, daß in
diesem Gigantomaten alles Wissen der Menschheit über interplanetare
Flüge gespeichert ist, die ganze Astronomie, Astronavigation,
sämtliche Kenntnisse von den Atmosphären der Planeten…«
»Außerdem trifft er Entscheidungen…«
»Nicht nur das, er lernt, und zwar sofort, sobald seine
Entscheidungen vom Menschen auch nur ein einziges Mal korrigiert
werden. Niemals wiederholt er einen Fehler.«
»Ein verflixt gescheiter Automat. Lach nicht, aber Soto hat mir
erzählt, daß der Konstrukteur es nicht schätzt, wenn man seine
Entscheidungen ändert.«
»Was heißt, er schätzt es nicht? Er kann sich doch gar nicht gegen
einen Befehl des Menschen auflehnen. Ihm ist ein System eingebaut,
das ihn zu unbedingtem Gehorsam zwingt.«
»Schon, aber Soto sagte, der Konstrukteur bemühe sich, einfach
keine Situationen aufkommen zu lassen, in denen seine
Entscheidungen von Menschen geändert werden könnten. Gerade deshalb
hat Soto ja das Institut für Neurokybernetik
konsultiert.«
»Interessant.«
Sie blieben stehen.
»Dort sind die Gedächtnisaggregate«, sagte Thor und beugte sich
über die runde Öffnung eines Schachts, aus dem eisige Kälte
aufstieg. Trotz der Klimaanlage verwandelte sich der Atem in
Dampf.
»Sonderlich warm ist es hier nicht.«
»Das kommt von dem flüssigen Helium. Wärmeisolierung und
Klimaanlagen können die starke Abkühlung nicht
verhindern.«
»Steigen wir hinunter?«
»Gleich, laß uns nur erst die Automaten rufen.«
»Glaubst du, daß er dort unten sein könnte?«
»Wer, der Chemiker?«
»Ja.«
»Ich weiß nicht, vielleicht. Wenn er Kybernetiker wäre, würden wir
ihn dort finden. Meiner Meinung nach ist die Ursache der ganzen
Misere in einer Entscheidung des Konstrukteurs zu suchen, und diese
Entscheidung muß in seinem Gedächtnis aufgezeichnet
sein.«
»Er war aber Chemiker.«
»Darum geht es; ich nehme an, daß er nicht einmal imstande gewesen
wäre, den Gedächtnisinhalt eines solchen Automaten zu
überprüfen.«
Es dauerte nicht lange, bis die Reparaturautomaten eintrafen,
kleine pyramidenförmige Roboter mit Dutzenden von Öffnungen, aus
denen auf Befehl in Spezialwerkzeuge auslaufende Arme
hervorgeschossen kamen.
Sie gingen an den Männern vorbei und stiegen nacheinander in den
Schacht hinunter.
Plötzlich ertönte der Innenlautsprecher der Station: »Endlich seid
ihr da. Kommt ‘rein. Ich bin im Labor.«
»Was… was war das?« flüsterte Marp schließlich. »Er ist dort
irgendwo und ruft uns.«
Thor schwieg.
»Komm, Thor. Er hat uns gerufen! Du hast doch gehört. Komm, worauf
wartest du?«
»Ich habe das Gefühl«, entgegnete Thor nach einer Weile, »hier
möchte jemand, daß wir kehrtmachen.«
»Er hat uns doch aber gerufen.«
»Das war nicht der Chemiker. Wahrscheinlich hat der Konstrukteur
dem Eingangsautomaten befohlen, diese Worte zu wiederholen und sie
dem Innenlautsprechernetz der Basis zu übermitteln, damit wir sie
hier hören.«
»Der Konstrukteur? Weshalb sollte er das getan haben?«
»Er hat gelernt, daß wir auf diese Worte hin ins Labor gehen.
Zweimal haben wir sie schön vernommen. Beim ersten Mal sind wir
sofort ins Labor gegangen, beim zweiten Mal waren wir im Labor.
Jetzt… jetzt will er uns wieder dorthin haben.«
»Warum nur?«
»Er will nicht, daß wir zu den Gedächtnisaggregaten vordringen.
Zurückhalten kann er uns nicht. Er weiß fast nichts von uns, außer
daß wir nach dieser Aufforderung ins Labor gehen.«
»Glaubst du?«
»Ja. Das ist ein lernender Automat. Du hast mir erzählt, Soto habe
erwähnt, daß der Konstrukteur es darauf anlege, gewisse Situationen
herbeizuführen. Bitte, da haben wir ein Beispiel.«
»Und was nun?«
»Los, komm, wir steigen in sein Gedächtnis hinunter. Er kann uns
zwar solche Streiche spielen, wirklich zurückhalten kann er uns
jedoch nicht. Seine Pseudopsyche enthält ein System, das ihn
zwingt, dem Menschen unbedingt zu gehorchen.«
Thor kletterte als erster hinunter, Marp folgte ihm. Nach ein paar
Dutzend Schritten durch einen Gang, dessen Decke und Wände von Reif
überzogen waren, gelangten sie in das Gedächtniszentrum.
»Hier kommt man sich vor wie in einer Tiefkühlanlage.«
»Wenn dir kalt ist, setz den Helm auf und schalte die
Raumanzugheizung ein.«
»Was, im Innern der Basis soll ich herumlaufen wie im Weltall?
Niemals. Laß uns lieber mit der Arbeit anfangen.«
»Hauptaufgabe des Konstrukteurs ist der Bau von Raumschiffen. Ich
werde zunächst überprüfen, auf welche Schranken er bei der
Herstellung seiner Modelle gestoßen ist. Hier könnte nämlich die
Quelle für die größten Konflikte des Automaten liegen.«
»Konflikte?«
»Ganz recht. Seine Pseudopsyche enthält das Bestreben,
Schwierigkeiten zu überwinden, die der Realisierung eines neuen
Raumschiffs entgegenstehen«, sagte Thor und hob gleichzeitig mit
Hilfe eines Automaten die Panzerverkleidung ab. Dahinter
schimmerten Tausende von winzigen Kristallen, zusammengeballt zu
einem formlosen Aggregat, an dem sich die elastischen Fühler eines
kleinen Ableseautomaten festsaugten.
»Da haben wir’s«, verkündete Thor nach einigen Minuten, »das war zu
erwarten. Das größte Hindernis für den Konstrukteur bildete der
Ingenieur.«
»Welcher Ingenieur?«
»Seinen Namen weiß ich nicht. Der Konstrukteur hat ihn als