Stanislaw Lem
Existieren Sie, Mr. Johns?

Personen Richter
Anwalt
Donovan, Präsident der Cybernetics Company Harry Johns
Sein Bruder

Richter Das Gericht kommt zur Verhandlung in Sachen Cybernetics Company contra Harry Johns. Die Parteien sind anwesend?

Anwalt Jawohl, Euer Ehren.
Richter Wen vertreten Sie?
Anwalt Ich bin Justitiar der Firma Cybernetics Company. Richter Wo ist der Beklagte?
Johns Hier, Euer Ehren.
Richter Wollen Sie bitte Ihre Personalien angeben? Johns Gern, Euer Ehren. Ich heiße Harry Johns und wurde am

6. April 1917 in New York geboren.
Anwalt Gestatten Sie eine Bemerkung grundsätzlicher Art,
Euer Ehren. Der Beklagte sagt eine Unwahrheit: er ist
überhaupt nicht geboren.
Johns Bitte, hier ist meine Geburtsurkunde. Außerdem sitzt
dort mein Bruder, und…
Anwalt Das ist nicht Ihre Geburtsurkunde, und die Person
dort ist nicht Ihr Bruder.
Johns Nicht? Wessen denn? Ihrer vielleicht?
Richter Ich bitte um Ruhe. Später, Herr Justitiar. Also, Mr.
Johns?
Johns Mein Vater, der selige Lexington Johns, besaß eine
Automobilwerkstatt, und er weckte in mir die Leidenschaft
für diesen Beruf. Mit siebzehn Jahren nahm ich zum
erstenmal an einem Autorennen teil. Seitdem ging ich
siebenunndachtzigmal als Profi an den Start und errang bis
heute sechzehn Siege, einundzwanzig zweite Plätze… Richter Danke, diese Einzelheiten gehören nicht zur Sache. Johns Drei Goldpokale, drei Goldpokale…
Richter Ich sagte danke!
Johns Und einen Silberkranz.
Donovan Oh, jetzt hat er sich verheddert!
Johns Das werden Sie nicht erleben.
Richter Ich bitte um Ruhe! Haben Sie einen Rechtsbeistand? Johns Nein, ich verteidige mich selbst. Meine Sache ist rein
wie Quellwasser.
Richter Ihnen sind die Forderungen bekannt, die die
Cybernetics Company gegen Sie erhebt?
Johns Sie sind mir bekannt. Ich bin das Opfer niederträchtiger
Machenschaften hinterhältiger Industriehaie…
Richter Ich danke. Herr Justitiar Jenkins, tragen Sie dem
Gericht den Inhalt der Klage vor.
Anwalt Jawohl, Euer Ehren. Vor zwei Jahren verunglückte
der Beklagte bei einem Autorennen in Chicago und verlor
ein Bein. Damals wandte er sich an unsere Firma. Wie Sie
wissen, stellt die Cybernetics Company Prothesen für Arme
und Beine, künstliche Nieren und Herzen und ähnlichen
Organersatz her. Der Beklagte erwarb auf Raten die
Prothese eines linken Beins und leistete die erste Zahlung.
Vier Monate später wandte er sich erneut an uns und
bestellte Prothesen für beide Arme, den Brustkorb und das
Genick.
Johns Lüge! Das Genick war im Frühjahr, nach dem
Bergrennen.
Richter Unterbrechen Sie nicht.
Anwalt Nach dieser zweiten Transaktion schuldete der
Beklagte der Firma 2967 Dollar. Weitere fünf Monate drauf
wandte sich im Namen des Beklagten sein Bruder an uns.
Der Beklagte befand sich zu jener Zeit im Krankenhaus
Monte Rosa bei New York. In Erfüllung des neuen Auftrags
lieferte die Firma nach Erhalt einer Anzahlung eine Reihe
von Prothesen – das detaillierte Verzeichnis liegt den Akten
bei. Unter anderem gehört dazu ein Elektronenhirn der
Marke Geniak, das eine Gehirnhalbkugel ersetzt und 26500
Dollar kostet. Hohes Gericht, ich mache darauf
aufmerksam, daß der Beklagte das Luxusmodell bestellte,
eine volltransistorisierte Ausführung mit einer Apparatur für
Träume in natürlichen Farben, einem Verdrußfilter und
einem Sorgendämpfer, obwohl all das seine finanziellen
Möglichkeiten ganz offensichtlich überstieg.
Johns Klar, euch wär’s lieber, ich würde jetzt mit eurem
Serienbregen herumhinken!
Richter Ich bitte um Ruhe!
Anwalt Für die bewußte und böswillige Absicht des
Beklagten, der Firma die gelieferten Teile nicht zu
bezahlen, spricht auch die Tatsache, daß er keine
gewöhnliche Armprothese, sondern eine Spezialprothese
bestellte, in die eine auf achtzehn Steinen laufende
Schweizer Uhr der Marke Schaffhausen eingebaut ist. Als
die Schulden des Beklagten auf 29863 Dollar gestiegen
waren, verlangten wir die Rückgabe sämtlicher Prothesen.
Das Gericht des zuständigen Bundesstaats wies unsere
Klage mit der Begründung ab, der Entzug der Prothesen
würde dem Beklagten eine Fortexistenz unmöglich machen, da zu diesem Zeitpunkt nur noch eine Gehirnhälfte von dem
einstigen Mr. Johns übrig war.
Johns Was heißt hier einstiger Mr. Johns? Sie werden wohl
von der Firma für Ihre Beschimpfungen bezahlt, Sie
Winkeladvokat?
Richter Ich bitte um Ruhe. Mr. Johns, Sie erhalten eine
Ordnungsstrafe, wenn Sie die Gegenpartei beleidigen. Johns Aber er beleidigt doch mich!
Anwalt In diesem Zustand, das heißt verschuldet und von der
Cybernetics Company, die ihm so viel Herz bewiesen hatte
und allen seinen Wünschen prompt nachgekommen war,
von Kopf bis Fuß aus Prothesen zusammengesetzt, machte
der Beklagte unsere Erzeugnisse überall in der
Öffentlichkeit schlecht und beanstandete ihre Qualität. Das
hinderte ihn jedoch nicht, nach weiteren drei Monaten
abermals bei uns vorzusprechen. Er klagte über eine Reihe
von Unpäßlichkeiten und Beschwerden, die nach
Feststellung unserer Experten daher rührten, daß sich die
alte Gehirnhalbkugel in der neuen, völlig aus Prothesen
bestehenden Umgebung nicht wohl fühlte. Vom
humanitären Empfinden geleitet, gab die Firma den Bitten
des Beklagten abermals nach und erklärte sich
einverstanden, ihn vollständig zu genialisieren, das heißt,
seine eigene, alte Gehirnhälfte gegen ein Zwillingsgerät der
Marke Geniak auszutauschen. Zur Deckung der neuen
Forderungen stellte uns der Beklagte Wechsel über einen
Betrag von 26950 Dollar aus, von denen er bisher erst 232
Dollar und 18 Cent bezahlt hat. Angesichts dieses
Sachverhalts… Hohes Gericht, der Beklagte erschwert mir
auf böswillige Weise das Sprechen, indem er mich durch
Zischen, Zirpen und Knirschen zu übertönen sucht. Ich bitte
das hohe Gericht, ihn zurechtzuweisen.
Richter Mr. Johns…
Johns Das bin ich nicht, es ist mein Geniak. Er macht das
immer, wenn ich angestrengt nachdenke. Soll ich etwa für
die Cybernetics Company geradestehen? Hohes Gericht,
weisen Sie Präsident Donovan für die Schluderarbeit
zurecht!
Anwalt Angesichts dieses Sachverhalts richtet die Firma an
das Gericht die Forderung, sie in die vollen
Eigentumsrechte an dem von ihr produzierten und hier
anwesenden usurpatorischen Prothesenaggregat
einzusetzen, das sich widerrechtlich als Harry Johns
ausgibt.
Johns Unverschämtheit! Und wo ist Johns Ihrer Meinung
nach, wenn nicht hier?
Anwalt Hier im Gerichtssaal gibt es keinen Johns, denn die
sterblichen Überreste dieses berühmten Autorennfahrers
ruhen verstreut auf den Autobahnen Amerikas. Mit einem
vom Gericht zu unseren Gunsten gefällten Urteil wird somit
keine physische Person geschädigt, denn die Firma nimmt
nur in Besitz, was ihr von der Nylonhaut bis zum kleinsten
Schräubchen Rechtens zusteht.
Johns Ja freilich! Sie wollen mich auseinandernehmen, in
Prothesen zerlegen!
Donovan Es geht Sie nichts an, was wir mit unserem
Eigentum machen!
Richter Herr Präsident, ich bitte Sie, ruhig zu bleiben. Ich
danke Ihnen, Herr Justitiar. Was haben Sie dazu zu sagen,
Mr. Johns?
Anwalt Euer Ehren, ich möchte nur noch grundsätzlich darauf
hinweisen, daß der Beklagte eigentlich gar kein Beklagter
ist, sondern lediglich ein materieller Gegenstand, der
behauptet, sich selbst zu gehören. In Wirklichkeit aber, da
er tot ist…
Johns Kommen Sie ein bißchen näher, dann können Sie sich
überzeugen, ob ich tot bin.
Richter Ja… Hm, das ist in der Tat ein sehr, sehr
merkwürdiger Fall. Hm, Herr Justitiar, die Frage, ob der
Beklagte tot ist oder nicht, setze ich aus bis zur
Urteilsverkündung, denn sonst wird uns der normale Gang
des Verfahrens erschwert. Mr. Johns, Sie haben das Wort. Johns Hohes Gericht, Bürger der Vereinigten Staaten, die ihr
Augenzeugen niederträchtiger Bemühungen eines großen
Konzerns seid, die freie, denkende Persönlichkeit zu
vernichten…
Richter Bitte sprechen Sie nur zum Gericht. Sie sind nicht auf
einer Kundgebung.
Johns Jawohl, Euer Ehren. Die Sache sieht so aus: Ich habe
tatsächlich in der Firma Cybernetics Company ein paar
Prothesen gekauft…
Donovan Ein paar Prothesen! Großartig!
Johns Hohes Gericht, bitte rufen Sie diesen Herrn zur
Ordnung. Also ich habe diese Prothesen gekauft. Es geht
hier nicht so sehr darum, ob sie was taugen. Es geht nicht so
sehr darum, daß es mir dauernd, ob ich gehe oder sitze, esse
oder schlafe, so im Schädel brummt, daß mein Bruder
nachts nicht schlafen konnte und ich deshalb in ein anderes
Zimmer ziehen mußte. Außerdem habe ich von den hier so
angepriesenen Geniaks, die umgebaute Rechenmaschinen
aus Heeresbeständen sind, den Tick bekommen, alles zu
zählen: Hunde und Katzen, Zäune und Bäume und weiß
Gott was noch. Darüber also will ich mich hier gar nicht
auslassen. Jedenfalls hatte ich die ehrliche Absicht, alle
Schulden zu bezahlen. Aber ich komme nur zu Geld, wenn
ich Autorennen gewinne. Und ich hatte gerade eine
Pechsträhne, ich war niedergeschlagen, hatte den Kopf
verloren…
Anwalt Der Beklagte gibt selber zu, daß er den Kopf verloren
hat! Ich bitte das Gericht, dies zur Kenntnis zu nehmen. Johns Lassen Sie mich ausreden! So habe ich das nicht
gemeint. Ich verlor den Kopf und begann an der Börse zu
spielen, hatte aber kein Glück und mußte Schulden machen.
Bei alldem fühlte ich mich hundeelend. Ich hatte das Reißen
im linken Bein, vor den Augen flimmerte es, ich träumte
idiotisches Zeug von Nähmaschinen und Strickmaschinen,
die Psychoanalytiker stellten einen Ödipuskomplex fest,
denn meine Mutter hatte immer auf der Maschine genäht,
als ich klein war. In dieser Zeit, als ich hinfällig war und
kaum ein Glied rühren konnte, begann die Firma, mich von
einem Gericht zum anderen zu schleppen. Die Zeitungen
schrieben darüber, und im Ergebnis bösartiger
Verleumdungen verschloß die Gemeinde der Methodisten,
der ich angehöre, vor mir die Tür ihres Gotteshauses. Anwalt Darüber beklagen Sie sich? Glauben Sie etwa an ein
Leben im Jenseits?
Johns Allerdings. Aber was geht das Sie an?
Anwalt Es geht mich etwas an, denn Mr. Harry Johns lebt
bereits im Jenseits, und Sie sind ein gewöhnlicher
Usurpator.
Johns Nehmen Sie sich mit Ihren Worten in acht!
Richter Ich bitte die Parteien, Ruhe zu bewahren.
Johns Hohes Gericht, als ich mich in dieser so schwierigen
Lage befand, verklagte mich die Firma, und als das Gericht
ihre schändlichen Ansprüche abgewiesen hatte, kam ein
gewisser Goas zu mir, ein fauler Kunde, den Präsident
Donovan abgeschickt hatte. Das wußte ich aber damals
noch nicht. Dieser Goas stellte sich als Elektromonteur vor
und behauptete, für alle meine Beschwerden, für dieses
Reißen und Flimmern gebe es nur ein Heilmittel: ich müßte
mich vollends genialisieren lassen. Bei dem Gesundheitszustand, in dem ich mich befand, war an Autorennen nicht einmal zu denken, was sollte ich also tun? Ich gab meine Zustimmung, hohes Gericht, und Goas führte mich am nächsten Tag in die Montageabteilung der
Cybernetics Company…
Richter Das heißt, es wurde Ihnen etwas herausgenommen?… Johns Aber ja!
Richter Und dafür etwas eingebaut?…
Johns Aber ja, ich begriff nur nicht, weshalb sie das so
bereitwillig taten, zu so günstigen Bedingungen und mit
einem so langfristigen Kredit. Jetzt allerdings weiß ich es
ganz genau! Hohes Gericht, sie wollten, daß ich meine alte
Halbkugel loswerde! Vorher hatte nämlich das Gericht ihre
Ansprüche abgewiesen, weil dieses arme Stück meines alten
Kopfes nicht hätte weiterleben können, wenn sie mir den
Rest genommen hätten, folglich war ihnen gar nichts
zugesprochen worden! Und deshalb wollten sie meine
Naivität und meine durch die Unfälle bewirkte geistige
Mattigkeit ausnutzen und schickten mir diesen Goas, damit
ich von mir aus zustimmte, jenes alte Stück zu entfernen,
und ihnen in ihr teuflisches Netz ging. Aber zum Glück
steht dieser Irrsinn auf wackligen Beinen! Was sind denn
ihre Überlegungen wert, hohes Gericht? Sie sagen, sie
hätten Anspruch auf meine Person. Mit welchem Recht
denn? Nehmen wir an, beim Krämer kauft jemand auf
Kredit Lebensmittel, Mehl, Zucker, Fleisch und so weiter,
und nach einiger Zeit geht der Krämer zum Gericht und
verlangt, daß ihm der Schuldner zum Eigentum übergeben
wird, weil die Substanzen des Körpers, wie aus der Medizin
bekannt ist, beim Stoffwechsel ständig durch die
Nahrungsmittel ersetzt werden, so daß jetzt, nach einigen
Monaten, der ganze Schuldner mitsamt Kopf und Leber,
Armen und Beinen aus dem Fett, dem Eiweiß und den Kohlehydraten besteht, die ihm der Krämer auf Kredit gegeben hat. Welches Gericht auf der Welt würde den Forderungen dieses Krämers stattgeben? Leben wir im Mittelalter, wo Shylock von seinem Schuldner ein Pfund lebendigen Fleisches forderte? Wir haben hier doch eine analoge Situation! Ich bin der Autorennfahrer Harry Johns
und keine Maschine!
Donovan Lüge! Eine Maschine sind Sie!
Johns Sooo? Wen verklagt denn hier eigentlich die Firma?
An wen ist die Vorladung des Gerichts adressiert? An eine
Maschine oder an mich, an Mr. Johns? Vielleicht können
Sie diese Frage klären, Euer Ehren?
Richter Hm. Ja, die Vorladung ist an Harry Johns, New York,
44th Avenue, gerichtet.
Johns Hören Sie, Mr. Donovan? Außerdem, Euer Ehren,
gestatten Sie noch eine Frage zum Verfahren: Sehen die
Gesetze der Vereinigten Staaten überhaupt vor, daß man
gerichtlich gegen eine Maschine vorgehen kann? Daß man
sie zum Beispiel vor Gericht laden und veranlagen kann? Richter Nun… äh… nein. Nein, das sehen die Gesetze nicht
vor.
Johns Dann ist die Sache ganz einfach: entweder bin ich eine
Maschine, dann darf diese Verhandlung überhaupt nicht
stattfinden, weil eine Maschine keine Partei in einem
Gerichtsverfahren sein kann, oder ich bin keine Maschine,
sondern eine Person – welche Rechte maßt sich dann irgend
so eine Firma mir gegenüber an? Soll ich vielleicht ihr
Sklave sein? Will Mr. Donovan Sklavenhalter werden? Donovan So eine Dreistigkeit… Aber immerhin… unsere
Geniaks… was?
Johns Von wegen Ihre Geniaks! Hohes Gericht, eine Tatsache
soll zeigen, welcher Methoden sich die Firma bedient. Als
ich, von der langen Krankheit geschwächt und gerade noch einmal davongekommen, das Krankenhaus verließ und zum Strandbad ging, um frische Luft zu schnappen, bemerkte ich, daß mir die Leute in Schwärmen nachliefen. Man hatte mir die Aufschrift Made by Cybernetics Company auf den Rücken gedruckt, und ich mußte es auf eigene Kosten herausschneiden und Flicken darauf setzen lassen! Und jetzt stellen sie mir nach! Ja, der Arme ist stets dem Zorn der Reichen ausgeliefert, das haben schon meine
unvergeßlichen Eltern immer gesagt…
Donovan Ihre Eltern! Ihr Vater und Ihre Mutter ist die
Cybernetics Company!
Richter Ich bitte um Ruhe! Sind Sie fertig, Mr. Johns? Johns Nein. Ich möchte mit Nachdruck feststellen, daß die
Firma für meinen Unterhalt aufkommen muß, denn ich habe
nichts zum Leben. Der Vorstand des Automobilklubs hat
meinen Start bei den panamerikanischen Rennen vor einem
Monat für ungültig erklärt und dazu mitgeteilt, mein Wagen
sei von einer automatischen, nichtmenschlichen Anlage
gesteuert worden. Wer hat mir das eingebrockt? Sie, die
Firma Cybernetics Company, die dem Automobilklub einen
Brief voller Verleumdungen und Schmähungen geschrieben
hat! Sie nimmt mir das Brot, also soll sie meinen Unterhalt
bezahlen und mir Ersatzteile liefern! Ist es meine Schuld,
daß ich dauernd durchbrenne, jedesmal an einer anderen
Stelle? Und dann wird man noch von den Angestellten und
vor allem von den Eigentümern der Firma bei jeder
persönlichen Begegnung beschimpft!
Präsident Donovan hat mir vorgeschlagen, die Sache gütlich
beizulegen – ich soll täglich acht Stunden als
Schaufensterpuppe für ihn Reklame stehen! Als ich ihm
sagte, das sei eines Rennfahrers unwürdig und er solle sich
mit solchen Ideen zum Teufel scheren, antwortete er, ich
hätte mich ja schon Stück für Stück zum Teufel geschert, was ihn 56000 Dollar gekostet hätte! Für solche und andere Beleidigungen werde ich die Firma verklagen! Und jetzt bitte ich das hohe Gericht, meinen Bruder als Zeugen zu
vernehmen, da er die Einzelheiten des Falles genau kennt. Anwalt Euer Ehren, ich erhebe Einspruch dagegen, daß der
Bruder des Beklagten als Zeuge zugelassen wird. Richter Wegen der Verwandtschaft?
Anwalt Ja und nein… Die Sache liegt so, daß der Bruder des
Beklagten in der vergangenen Woche mit dem Flugzeug
abgestürzt ist.
Richter Aha, und deshalb kann er nicht vor Gericht
erscheinen.
Bruder Doch, ich kann! Hier bin ich.
Anwalt Natürlich, er kann. Aber die Sache liegt so, daß der
Flugzeugabsturz einen für ihn tragischen Verlauf
genommen und die Firma auf Bestellung der Ehefrau einen
neuen Bruder des Beklagten angefertigt hat.
Richter Einen neuen was?
Anwalt Einen neuen Bruder und damit einen neuen Ehemann
der früheren Witwe.
Richter Ach so…
Johns Was ist denn dabei? Weshalb soll mein Bruder nicht
aussagen? Meine Schwägerin hat ihn doch schließlich bar
bezahlt.
Richter Ich bitte um Ruhe! Das Gericht sieht sich genötigt,
neu eingetretene Umstände zu prüfen. Die Verhandlung
wird vertagt!

Ilja Warschawski
Das Molekular-Café

Der Zeiger des elektronischen Meßgeräts für Mischkas Betragen stand die ganze Woche auf »sehr gut«, und wir beschlossen, dieses Ereignis zu feiern.

Ljulja machte den Vorschlag, ein Konzert suggerierter Empfindungen zu besuchen, ich wäre am liebsten in das Museum für Gerüche alkoholischer Getränke gegangen, und Mischka wollte ins Molekular-Café.

Natürlich fuhren wir ins Café, denn es war schließlich Mischka gewesen, der sich gut benommen hatte, darum konnten wir nicht so ungerecht sein, ihm das Recht der Wahl zu nehmen.

Mit dem Denkflieger sausten wir hin. Unterwegs rüttelte es uns nur ein einziges Mal, als mir der Gedanke kam, wie schön es wäre, einen Abstecher in das Museum zu machen. Glücklicherweise blieb das unbemerkt.

Im Café steuerten wir auf ein rotes Tischchen zu, aber Ljulja sagte, ihr sei das aus hellem Erdöl synthetisch gefertigte Essen lieber als das aus dunklem Erdöl.

Ich erinnerte sie daran, daß in der Zeitung gestanden hatte, beide seien völlig gleichwertig.
Ljulja antwortete, daß sei bei ihr vielleicht nur eine Schrulle, aber wenn man etwas zu seinem Vergnügen tue, warum solle man dann nicht auch auf eine Schrulle Rücksicht nehmen?
Wir stritten nicht mit ihr, denn wir lieben unsere Ljulja sehr und wollten, daß der Cafébesuch ihr soviel Vergnügen wie möglich spende.
Nachdem wir uns an einem weißen Tisch niedergelassen hatten, erschien auf einem Bildschirm ein Roboter in weißem Kittel und mit weißer Mütze. Lächelnd erklärte er uns, das Café für Molekularsynthese biete dreihundertsechzig Gerichte an. Um das gewünschte Gericht zu erhalten, müßten wir seine Nummer auf einer Wählerscheibe wählen, dann würde es vor uns auf dem Teller synthetisch zubereitet werden. Er fügte hinzu, wenn wir etwas haben wollten, was nicht auf der Speisekarte stehe, müßten wir uns die Antenne auf den Kopf setzen und uns das Gericht vorstellen, dann würde ein Automat unsern Wunsch erfüllen.
Ich warf einen Blick auf Mischka und wußte, daß wir nur Gerichte bestellen würden, die nicht auf der Karte standen.
Ljulja bestellte sich eine Portion Plinsen und ich mir ein Pseudobeefsteak. Es war braun gebraten und sah sehr appetitlich aus, und Ljulja sagte, soviel Plinsen schaffe sie nie, ich solle ihr die Hälfte abnehmen. Das tat ich und gab ihr die Hälfte von meinem Beefsteak.
Während wir damit beschäftigt waren, stocherte Mischka mißmutig mit der Gabel in dem Gericht, das er selbst zusammengestellt hatte und das aus Salzgurken, Hering, Pflaumenmus und Himbeermarmelade bestand. Er versuchte zu ergründen, warum eine Zusammenstellung der besten Speisen mitunter so scheußlich schmeckt.
Er tat mir leid, darum schob ich seinen Teller in den Destruktor, und Ljulja sagte ihm, beim Erfinden einer Speise müsse man sich mehr konzentrieren.
Mischka machte sich daran, einen Kuchen zu bereiten, der wie ein Raumschiff aussah. Währenddessen versuchte ich mir vorzustellen, wie eins von den Getränken hier schmecken würde, wenn man ein Tröpfchen Kognak dazugäbe. Das wäre mir fast gelungen, aber plötzlich leuchtete ein rotes Signal auf, auf dem Bildschirm erschien der Roboter und sagte, in diesem Café dürfen solche Dinge nicht zubereitet werden.
Ljulja streichelte mir die Hand, nannte mich »Ärmster« und fügte hinzu, sie werde mit Mischka nach Hause fahren, und ich könnte noch das Museum besuchen. Sie sorgt sich stets um andere mehr als um sich. Ich wußte, daß sie gern ins Konzert suggerierter Empfindungen gegangen wäre, und sagte, ich würde mit Mischka nach Hause fahren und sie solle doch das Konzert besuchen. Da antwortete sie, wir würden am besten zusammen nach Hause fahren und uns einen gemütlichen Abend machen.
Ich wollte ihr eine Freude bereiten und dachte mir eine Frucht aus, die in der Form an eine Apfelsine, im Geschmack an Eis und im Geruch an ihr Lieblingsparfüm erinnerte. Sie lächelte und biß tapfer ein großes Stück ab.
Ich mag es, wenn Ljulja lächelt, dann liebe ich sie noch mehr.
Als wir uns in den Denkflieger setzten, um nach Hause zu fahren, sagte Ljulja, diese altmodischen Molekular-Cafés seien sehr hübsch und das Essen schmecke dort weit besser als das zu Hause, das von einer Zentralstation aus synthetisch zubereitet wurde.
Ich dachte mir, das rühre sicherlich daher, daß sich bei der Synthese per Draht verschiedene Störungen einschlichen.
Abends brach Ljulja plötzlich in Tränen aus. Sie sagte, synthetische Nahrung sei ekelhaft, sie hasse die Kybernetik und wolle am Busen der Natur liegen, zu Fuß gehen, eine Ziege melken und richtige Milch trinken, mit leckerem Roggenbrot dazu. Außerdem sagte sie, die suggerierten Empfindungen seien eine Parodie auf menschliche Gefühle.
Mischka fing auch zu heulen an und erklärte, das Meßgerät für Betragen sei eine gemeine Erfindung und im Altertum habe ein Junge namens Tom Sawyer gelebt, der sei prima ohne ausgekommen. Mischka fügte hinzu, er sei in einen Elektronikzirkel eingetreten, nur um zu lernen, wie er das Meßgerät bemogeln könne, und wenn ihm das nicht gelänge, werde er sich ein Katapult bauen und den dämlichen Automaten damit erschießen.
Ich beruhigte die beiden, so gut ich konnte, obwohl mir auch der Gedanke kam, daß das Museum der Gerüche keine so großartige Erfindung sei, außerdem dachte ich an das Pseudobeefsteak. Aber wahrscheinlich waren wir nur müde vom Bestellen im Café.
Wir gingen schlafen.
In der Nacht träumte ich, ich hätte einen Zweikampf mit einem Bären zu bestehen, danach saßen wir am Feuer und aßen leckeres Bärenfleisch, das nach Blut und Rauch duftete.
Mischka stopfte sich gewaltige Stücke in den Mund, und Ljulja lächelte ihr wunderschönes, ein bißchen verlegenes Lächeln.
Ich war unvorstellbar glücklich im Traum, denn – habe ich es Ihnen schon gesagt? – ich liebe Ljulja und Mischka sehr.

Ilja Warschawski
Das Duell

Auf dem letzten Treppenabsatz machte er einen Satz übers Geländer und stürmte piroggenkauend durchs Vestibül.

Es blieb gerade noch soviel Zeit, um am Anfang der Allee Posten zu beziehen. Dort würde er sich auf eine Bank fläzen, in aller Ruhe das »zweite Studienjahr« abwarten und sie zum Fußball einladen. Anschließend könnten sie im Studentencafé zu Abend essen und danach… Über das Danach war er sich noch nicht schlüssig. Er verließ sich aber ganz auf seine Intuition.

In Gedanken war er schon im Park, da ertönte aus dem Lautsprecher eine Stimme: »Student Mucharinski, erstes Studienjahr, Phenotyp-Index 1386/16 mb, wird gebeten, sich unverzüglich beim Dekan der Fakultät für Hoch- und Niederfrequenztechnik zu melden.«

Auf Biegen oder Brechen mußte er sich etwas einfallen lassen. Bis zur rettenden Tür waren es nur ein paar Schritte. Er schürzte die Lippen, stellte mit den Fingern seine Ohren auf, kniff das linke Auge zu und begann das rechte Bein nachzuziehen. So, dachte er, könnte er sich leichter am Phenotyp-Analysator vorüberschlängeln.

»Lassen Sie die Albernheiten, Mucharinski!«
Das war eindeutig die Stimme des Dekans.
Zu spät!
Während des Bruchteils einer Sekunde hatte die analytische

Anlage ihn nach dem vorgegebenen Index unter einigen tausend Studenten herausgefunden. Und nun schmückte seine fratzenschneidende, hinkende Gestalt den Bildschirm im Arbeitszimmer des Dekans.

Mucharinski stellte sein normales Aussehen wieder her. Das Auge kniff er allerdings auch dann noch zu, als er sein Knie zu massieren begann. Damit wollte er beim Dekan den Eindruck erwecken, als hätte er plötzlich einen Rheumaanfall.

Ächzend und humpelnd stieg er zum zweiten Stock hoch.

Interessiert nahm der Dekan ihn ein Weilchen in Augenschein. Dem feierlichen Augenblick gemäß hatte Mucharinskis Gesicht einen Ausdruck wehmütiger Konzentration angenommen. In Gedanken überschlug er, wieviel Zeit er brauchte, um die Kleine aus dem zweiten Studienjahr einzuholen, wenn der Dekan…

»Sagen Sie mal, Mucharinski, interessiert Sie überhaupt etwas im Leben?«
Nach Mucharinskis Meinung eine rein rhetorische Frage. Schließlich interessierte ihn mancherlei. Erstens, wem er den Vorzug geben sollte, Natascha oder Mussja; zweitens der Tabellenplatz von »Spartak« in der Oberliga; drittens die Puppe aus dem zweiten Studienjahr; viertens… mit einem Wort, sein Interessengebiet war groß. Den Dekan einzuweihen, lohnte sich natürlich nicht.
»Der Beruf des Rundfunkingenieurs«, sagte er bescheiden.
Das war fast die Wahrheit, denn all sein Sinnen und Trachten verband sich mit dem Aufenthalt in der Studentenstadt, in die man bekanntlich zieht, um… und so weiter.
»Dann können Sie mir vielleicht auch erklären, warum Sie am Ende des zweiten Semesters nicht eine Zwischenprüfung bestanden haben.«
Gemeinheit, dachte er, ich fresse einen Besen, wenn sie mich nicht exmatrikulieren.
»Vielleicht ist das Spezifikum der maschinellen Ausbildung…«, begann Mucharinski zögernd.
»Genau das ist es, das Spezifikum«, unterbrach ihn der Dekan. »Drei Lehrautomaten haben es bereits aufgegeben, sich mit Ihnen zu befassen. Worauf spekulieren Sie eigentlich?«
Taktisch unklug wäre es, die Frage direkt zu beantworten.
Gedankenverloren trommelte der Dekan auf dem Tisch herum. Mucharinski sah zum Fenster hinaus. Die Rotblonde aus dem zweiten Studienjahr ging gerade durch die Allee. In Begleitung. Der lange Lulatsch in hellblauem Sporthemd hatte Paddel geschultert. Klarer Fall, wie’s schien. Die Karte fürs Fußballspiel konnte nun jemand anders bekommen. Es gibt dort immer eine ganze Menge hübsche Medizinerinnen.
»Ich möchte Sie nicht exmatrikulieren, ohne mich von der absoluten Aussichtslosigkeit des Unterfangens, Ihnen eine Ingenieurausbildung zu vermitteln, überzeugt zu haben.«
Am liebsten hätte Mucharinski jetzt einen Kopfstand gemacht, doch das war riskant.
»Ich freue mich«, sagte er, den Niedergeschlagenen spielend, »daß Sie noch eine Möglichkeit für mich sehen…«
»Ginge es um Ihre Möglichkeiten, so wären Sie schon längst nicht mehr hier. Ich spreche von den Möglichkeiten der Lehrautomaten, und die sehe ich, dessen kann ich Sie versichern. Haben Sie jemals etwas vom UDR vernommen?«
»Gewiß, das ist doch…«
Die Pause wurde bedrückend.
»Natürlich, ausgerechnet Sie haben davon gehört«, sagte grinsend der Dekan. »Sie lesen wahrscheinlich auch alle Arbeiten des Lehrstuhls für Lehrautomaten. Der UDR ist ein Universaldozent mit Rückführung. Ich hoffe, Sie wissen, was Rückführung bedeutet.«
»In groben Zügen«, sagte Mucharinski vorsichtig.
»Ich werde den UDR auf dem Internationalen Kongreß in Wien vorführen. Im Augenblick unterrichtet er zur Ermittlung seiner Funktionstüchtigkeit eine Studentenkontrollgruppe. Ich möchte nicht administrativ den durchschnittlichen Leistungsstand seiner Schüler senken, aber der elementarste Anstand eines Wissenschaftlers verlangt, daß der Automat auch an einem solchen… hm… einem solchen… nun, mit einem Wort, an Ihnen getestet wird. Der langen Rede kurzer Sinn: Ich schließe Sie der Kontrollgruppe an.«
»Danke.«
»Ich nehme an, er wird Ihnen wenigstens ein Minimum an Wissen beibringen, sein Schema…«
Die Schemata des Automaten waren Mucharinski schnuppe. Er behielt den Ausdruck angestrengter Aufmerksamkeit bei, dachte aber mit Bedauern daran, daß die erste Halbzeit sicherlich schon zu Ende ging und Natascha zu guter Letzt…
»… Auf diese Weise bildet Ihr Gehirn während des Unterrichts eine Einheit mit der analytischen Anlage des Automaten, der ununterbrochen die Unterrichtstaktik verändert, je nach der Aufnahmefähigkeit des Studenten. Verstanden?«
»Verstanden.«
»Gott sei Dank! Sie können gehen.«

… tausenddreihundertzweiundvierzigster logischer Vorstoß, sechzehnte Variante des Lehrsatzbeweises! Und wieder gibt die Blockieranlage das Signal: »Der Lehrstoff wurde nicht aufgenommen.« Veränderung der Taktik. Ein neuer logischer Vorstoß. Der Beweis des Lehrsatzes verlangt Elementarkenntnisse im Rahmen des Oberschulpensums. Kommando: »Vermittlung von Grundlagen der Algebra.«

Signal: »Der Stoff wurde nicht verstanden.« Umschaltung auf den Lehrsatzbeweis. Am Ende des Beweises das Signal: »Grundkenntnisse sind verschüttet.« Wieder das Umschaltkommando. Abermals logischer Vorstoß. Am Armaturenbrett flackert ein Signal auf: Kurzschluß. Rauch entweicht dem Leistungstransformator. Der Automat schaltet sich aus.

Mucharinski nimmt den Dipol vom Kopf und wischt sich den Schweiß ab. Das war noch nicht da! Jetzt empfindet er beinahe Sympathie für den alten elektronischen LektorExaminator. Mit ihm war es unvergleichlich leichter: Die ganze Lektion konnte man getrost verschlafen und die Fragen später einfach nicht beantworten. Der UDR läßt nicht einmal den Gedanken an Schlaf zu! Ein Glück nur, daß die automatische Sicherung ihn von Zeit zu Zeit ausschaltet.

Ein Klingelzeichen des Videophons unterbricht Mucharinskis Überlegungen. Auf dem Bildschirm zeigt sich der Dekan.

»Warum sitzen Sie ‘rum?«
»Der Automat muß sich abkühlen.«
Zu allem Unglück leuchtet am Armaturenbrett die grüne

Lampe auf.

Mucharinski seufzt und befestigt den Dipol am Kopf. Erneut ein logischer Vorstoß. In Mucharinskis Gehirn dringen die verhaßten Gleichungen. Er will es mit dem Automaten aufnehmen und denkt pausenlos daran, was gewesen wäre, wenn Dementjew nicht zu Ende der zweiten Halbzeit über die Latte geschossen hätte. Er versucht, sich die Puppe aus dem zweiten Studienjahr in den verfänglichsten Situationen vorzustellen, doch alles vergeblich.

… Logischer Vorstoß. Signal. Kommando. Umschaltung. Taktikveränderung. Signal. Logischer Vorstoß…

Nach sieben Tagen erschien – o Wunder – Mucharinski der Unterricht nicht mehr ganz so unerträglich. Der Automat hatte sich offensichtlich auch an ihn gewöhnt. Immer häufiger leuchtete das Kurzschlußsignal auf.

Und nach einer weiteren Woche tönte es wieder aus dem Lautsprecher durchs Institutsgebäude: »Der Student des ersten Studienjahrs Mucharinski, Phenotyp-Index 1386/16 mb, wird gebeten, sich beim Dekan der Fakultät für Hochund Niederfrequenztechnik zu melden.«

Diesmal versteckte er sich nicht vor dem allsehenden Auge des Phenotyp-Analysators.
»Gratuliere, Mucharinski«, sagte der Dekan. »Sie haben bemerkenswerte Fähigkeiten entwickelt.«
Zum ersten Mal in seinem Leben wurde Mucharinski rot.
»Ich nehme an«, antwortete er bescheiden, »es wäre richtiger, von den bemerkenswerten Fähigkeiten des UDR zu sprechen. Tatsächlich eine einzigartige Erfindung.«
»Wenn ich von Ihren Fähigkeiten spreche, so meine ich die und keine anderen. Der zweiwöchige Umgang mit Ihnen blieb für den UDR nicht ohne Folgen, das kann man wohl sagen. Er ist heute kein ordinärer Automat mehr, sondern ein Don Juan, ein Casanova oder, damit’s Ihnen ein Begriff ist, ein Schürzenjäger. Die besten Noten verteilt er an Studentinnen mit dem auffälligsten Make-up. Obendrein hat er sich in einen Fußballfan verwandelt. Die ganze Kontrollgruppe hat er schon mit seinem Fußballtick verseucht. Ein Faulpelz wie er im Buche steht. Morgen nehmen wir ihn auseinander. Und Sie, nun, Sie verstehen schon…«
»Ja, natürlich. Ich wünsche Ihnen jedenfalls viel Erfolg beim Unterrichten der… nun, mit einem Wort, Studenten.«
Er machte eine vollendete Verbeugung und ging zur Tür.
»Wohin?«
»Was heißt ›wohin‹? Eine Fahrkarte kaufen, um nach Hause zu fahren. Schließlich haben Sie mich rausgeschmissen.«
»Als Student sind Sie tatsächlich exmatrikuliert. Dafür haben wir Sie zum Cheflaboranten für Lehrautomaten ernannt. Kein Automat mit Rückführung verläßt von heute an das Labor, ohne Sie im Duell besiegt zu haben. Sie sind für uns ein einmaliger Fund! Versprechen Sie mir, bei uns zu bleiben, Mucharinski.«

Wladimir Firsow
Meuterei auf dem Mond

»Innokenti Borissowitsch, die Verbindung muß jeden Augenblick abreißen. Sie fällen schon den Mast!« rief Lebedinski.

Er kauerte in einem unbequemen Stahlrohrsessel vor dem Videofon und versuchte langsam und kurz zu atmen.
Schade, dachte er, daß man die wunderbare Luft nicht mitnehmen kann. Erst hier auf dem Mond hatte er sie zum ersten Mal richtig schätzengelernt. Wie herrlich ist es, tief durchzuatmen ohne Angst vor dem unerbittlich vorrückenden Zeiger des Manometers. Wenn ich zur Erde zurückkomme, werde ich meine ganze Freizeit irgendwo an einem Flußufer liegend verbringen und nach der Yoga-Methode atmen.
Draußen vor dem Bullauge flackerte rhythmisch eine Flamme. Die revoltierenden Roboter waren dabei, die massiven Pfeiler der Funkmaste zu zerstören. Aus der Dunkelheit löste sich, von Atombrennern angestrahlt, die gespenstischen Umrisse der Automaten, und lange Schatten tanzten über die zerklüfteten Kraterhänge.
Schon neigte sich der Mast; fiele er, würde der VideofonBildschirm erlöschen. Die Verbindung mit der Station war dann nur noch über Satelliten möglich, vorausgesetzt, daß die Roboter nicht bis zur Kuppelantenne vordrangen. Die Satelliten tauchten jedoch nicht allzu häufig über der Basis auf. Zur Mondumkreisung brauchten sie immerhin zwei Stunden. Und wenn Fedossejew nicht gefunden wird? dachte Lebedinski. Dann bin ich geliefert.
»Fjodor Iljitsch, was geht da draußen vor?« erkundigte sich Professor Smolny per Videofon.
Lebedinski zuckte schweigend mit den Schultern.
»Beobachten Sie alles genau. Ich glaube, es kann für Fedossejew wichtig sein.«
Lebedinski sah auf den Infrarot-Bildschirm. Die Nacht brach gerade erst an. Auf dem Bildschirm waren deutlich klobige Lastwagen zu erkennen, die lange Stahlträger – eigentlich für den Bau des Observatoriums bestimmt – zur Kratermitte schleiften, wo eine phantastische Anlage entstand. Flinke Bau-Roboter waren eifrig am Werk, beschnupperten, befühlten und korrigierten dauernd irgendwas. Die Wagen fuhren in strenger Reihenfolge, wie es ihnen der mechanische Wille des zentralen Kristallhirns vorschrieb.
Etwas abseits vom Trubel zerstückelte ein ReparaturRoboter sachkundig Lebedinskis Geländefahrzeug. Die abmontierten Teile warf er auf eine gehorsam wartende »Flunder«.
»Etwas muß bei der Konstruktion der Maschinen außer acht gelassen worden sein«, sagte Lebedinski. »Auf der Erde waren sie zahm wie Lämmer. Ich hatte meine helle Freude dran.«
»Fjodor Iljitsch, vielleicht machen Sie doch den Sprengstoff fertig: Für den Fall, daß man Fedossejew nicht findet. Sonst schlagen die Roboter noch alles kurz und klein.«
»Nicht doch immer dieses Thema, Innokenti Borissowitsch! Ich verstehe durchaus, daß der Internationale Rat Ihnen die Hölle heiß macht. Aber Fedossejew wird sich schon einfinden. Ein Mensch ist schließlich keine Stecknadel. Noch ist Zeit.«
Professor Smolny nickte und überlegte: Natürlich hatte der Rat Radikalmittel vorgeschlagen. Sprengstoff gab es auf der Basis genug, und dem »Nilpferd«, so wurde der RoboterKoordinator genannt, einen Schuß vor den Bug zu geben machte selbst im unbequemen Skaphander keine Schwierigkeiten. Lebedinski hätte genügend Zeit, sich vor der Explosion in die Kuppel zu retten. Doch mit der Zerstörung des zentralen Kristallhirns wäre auch der Bau des Observatoriums in Frage gestellt. Menschen können nicht wie Roboter vierundzwanzig Stunden hintereinander arbeiten. Drei Schichten zu je zwanzig Mann, rechnete Smolny aus. Auf jede Maschine ein Mann. Nicht einmal die Hälfte der Leute könnte auf der Station untergebracht werden. Die Zeit drängte, denn in drei Monaten sollte die »Ozean« zum Mars starten. Die Planeten warteten nicht. Den Start verschieben hieße aber das fertige Raumschiff auf den Schrotthaufen werfen. Innerhalb von zwei Jahren würde es hoffnungslos veralten.
Aus alter Gewohnheit wollte sich der Professor über den Bart streichen. Augenblicklich ließ er die Hand sinken. Den Bart hatte er sich schon vor Monaten abnehmen lassen. Auf dem Mond trug man halt keinen. Im Skaphander war er unbequem und gefährlich.
Lebedinski starrte aufs Videofon. Hinter dem Professor war der Funker aufgetaucht. Er reichte dem Professor einen Funkspruch.
»Von den Amerikanern«, sagte der Chef der Station, während er den Text überflog. »Die ›Potomac‹ hat manövriert und nimmt Kurs auf den Mond. Foster teilt uns mit: Er will es schaffen, er nimmt jedes Risiko in Kauf.«
»Gott mit ihm.« Lebedinski seufzte. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie er bei dem Flug fast vierundzwanzig Stunden herausholen will!«
»Die ›Potomac‹ hat nahezu direkten Kurs mit zehnfacher Beschleunigung. Der Treibstoffverbrauch ist unwahrscheinlich hoch. Fosters ganzer Monatsvorrat geht für den einen Flug drauf. Dafür gewinnt er Zeit.«
»Foster ist ein feiner Kerl«, sagte Lebedinski nachdenklich. »Er hat’s jetzt nicht leicht.«
Er seufzte wieder und blickte auf die Uhr.
Auf dem Bildschirm des Videofons erschien zum zweiten Mal die Gestalt des Funkers.
»Innokenti Borissowitsch, ein Raketogramm von Tscherednitschenko!«
»Da hören Sie, Fjodor Iljitsch«, sagte Smolny mit gespielter Munterkeit. »Tscherednitschenko will zwei Minuten gewinnen. Prachtjungs, diese Fahrer. Ihre Aufgabe wird nun bedeutend leichter. Doch für den Fall der Fälle, halten Sie den Sprengstoff bereit.« Der Bildschirm erlosch.
Aus, dachte Lebedinski. Sie haben den Mast gefällt. Jetzt bleibt nichts weiter übrig als zu warten. Und wenn Fedossejew nicht gefunden wird?
Er langte zum Pult und schaltete den überflüssig gewordenen Apparat aus.
In der offenen Schleusenkammer stand der KundschafterRoboter in Bereitschaft und lockerte seine acht Gliederfüße. Es sah aus, als bebe er vor Erregung über die bevorstehende wilde Jagd. Lebedinski wußte natürlich, daß es eine ganz gewöhnliche Funktionskontrolle nach Eingabe des neuen Programms war. Ein Automat kann nicht vor Erregung beben.
Lebedinski trat aus der Luftschleuse und schloß hinter sich die hermetische Tür. Er hatte keine allzu große Hoffnung, daß sein Plan gelang. Wahrscheinlich würde auch dieser Roboter den Gehorsam verweigern, sobald er sich außerhalb der Kuppel befand. Genau wie die anderen vor ihm. Zwei Bau-Roboter, die untätig unter dem Schutzdach gestanden hatten, waren, als Lebedinski ihnen die Lochkarten mit dem Programm eingeschoben hatte, einer nach dem anderen zu den Revoltierenden übergelaufen. Aber eine andere Wahl gab es für Lebedinski nicht. Unter der Kuppel zu atmen fiel ihm immer schwerer.
Ein dummer Zufall. Lebedinski war auf die Basis gekommen, um die automatische Rakete mit den Bauelementen für das geplante Observatorium in Empfang zu nehmen. Die Roboter hatten friedlich gearbeitet und eine Trasse zum Bauplatz gelegt. Gesteuert wurden sie vom »Nilpferd«, dem Roboter-Koordinator, einer gedrungenen Maschine mit fester Titanpanzerung, die das leistungsstarke Kristallgehirn vor Meteoriteneinschlägen schützen sollte, Lebedinski hatte das Programm des »Nilpferds« verändert, und die Roboter waren folgsam hinter dem Geländefahrzeug her zum Kosmodrom marschiert. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden hatten sie die Rakete entladen. Bis Sonnenuntergang waren noch ein paar Stunden verblieben, und Lebedinski hatte sich schon gefreut, daß er zur Station zurückkehren konnte, ehe es dunkel wurde. Als die Roboter den letzten Träger am Straßenrand ausgeladen halten und die Rakete abgeflogen war, war er aus der Kuppel getreten, um die Roboter zum Bauplatz zurückzuschicken. Doch als er das Programm unter dem Panzer des »Nilpferds« hervorzog, ertönte plötzlich das Alarmsignal.
Die Ursache? Eine ganz gewöhnliche Sonneneruption. Lebedinski handelte genau nach Weisung. Er verkroch sich unter der Schutzkuppel und wartete, bis die Strahlungsquelle nachließ. Er mußte lange warten. Endlich erlosch am Schaltpult die rote Lampe des Indikators. Lebedinski ging hinaus und erblickte ein Bild unwahrscheinlicher Verwüstung.
Im Krater tat sich Unbeschreibliches. Dort, wo vor kurzem die Rakete gestanden hatte, ragte ein seltsames, gerüstähnliches Gebilde empor. Geschäftig eilten die Roboter hin und her. Helle Funken sprühten auf. Zwei Roboter schweißten eifrig den eben erst von der Rakete angelieferten Träger für das Teleskop an das Gerüst. Die Antennen der Funkmeßanlagen waren umgelegt, an Lebedinskis Geländefahrzeug fehlten die Raupenketten. Ein leuchtend gelb gestrichener Reparatur-Roboter nahm es fein säuberlich auseinander. Aus dem Geländewagen ergoß sich ein silbriger Strahl und fiel weiß geflockt zu Boden. Lebedinski kam nicht gleich darauf, daß aus dem aufgeschlitzten Schlauch die Reste seines Sauerstoffvorrates entwichen.
An Sauerstoff dachte er im ersten Augenblick gar nicht. Er versuchte Verbindung zu den Robotern aufzunehmen, um sie auszuschalten. Sie reagierten jedoch überhaupt nicht auf seine Signale. Der erschrockene Ingenieur machte einen Satz nach vorn und stellte sich den Robotern in den Weg, denn es war noch nie vorgekommen, daß die Maschinen vor einem Menschen nicht haltgemacht hätten. Doch diesmal warf ihn der toll gewordene Mechanismus um, und nur wie durch ein Wunder konnte er sich vor den Raupenketten retten.
Lebedinski begriff, daß die Dinge schlecht standen. Er ging in die Kuppel zurück und erstattete dem Chef der Station Bericht über die unverständliche Revolte der Roboter.
»Wieviel Sauerstoff haben Sie noch?« erkundigte sich Smolny.
Lebedinski blickte auf den Armaturengurt seines Skaphanders. Das trübe Indikatorauge zeigte an, daß die Flaschen nur noch wenig Sauerstoff, etwa für zwei Stunden, enthielten. Höchste Zeit, sie aufzuladen, beschloß Lebedinski in Gedanken, aber da fielen ihm die weißen Flocken am Geländefahrzeug ein. Bleibt mir nichts weiter übrig, als in der Kuppel auszuharren, dachte er. In der Kuppel gibt es immerhin einen Monatsvorrat an Sauerstoff. Um sein Gewissen zu beruhigen, kontrollierte er den Manometerstand und erstarrte. Der Zeiger stand auf Null.
»Innokenti Borissowitsch, irgend etwas ist nicht in Ordnung!« rief er. »Ich sehe gleich mal nach.«
Er klappte die Helmgitter herunter und verließ die Kuppel durch die Luftschleuse.
Der Sauerstoffvorrat der Basis wurde in großen Flaschen aufbewahrt, die in Reih und Glied unter dem Meteoritenschutzdach an der Außenwand standen. Diese Stelle war zum Auffüllen der leeren Behälter besonders günstig. Lebedinski erschrak. Nicht eine Flasche stand mehr an ihrem Platz. Die Roboter hatten also auch hier gehaust. Davon zeugten die zerfetzten Sauerstoffbehälter und die ihm nur zu gut bekannten weißen Flocken zu seinen Füßen.
Blitzschnell überrechnete er die Ausmaße der Kuppel. Ungefähr sechs Stunden könnte die Luft unter der Kuppel reichen. Für zwei Stunden eigener Vorrat. Machte zusammen acht Stunden. Bis zur Station waren es fünfhundert Kilometer. Für ein Geländefahrzeug zehn Stunden Weg. Im günstigsten Falle neun. Das hieß also, ein Geländefahrzeug schaffte es nie und nimmer. Ausgerechnet jetzt war die »Rubin«, mit der man diese Strecke in fünfzehn Minuten bewältigen konnte, auf der erdnahen Orbital-Station zum Triebwerkwechsel.
Zehn Minuten nach Lebedinskis Bericht verließ das superschnelle Raupenfahrzeug »Grashüpfer 3« die Station und nahm bei Maximalgeschwindigkeit Kurs auf die Basis. Fahrer waren Schröder und Bek-Nasarow. Nach weiteren fünfzehn Minuten jagte Stepan Tscherednitschenko, der beste Fahrer auf dem Mond, mit seinem Fahrzeug und Mironow als zweiten Mann hinterher.
Über Funk gingen Hilferufe an die Erde und an die amerikanische Station Little America, die sich am Nordufer des Meeres der Gefahren befand. Eine Stunde später war die UNO über die Ereignisse auf dem Mond informiert. Das eben erst von einer Zwischenumlaufbahn gestartete amerikanische Mondschiff »Potomac« änderte seinen Kurs und flog mit Höchstgeschwindigkeit zum Mond. Auf Dutzenden von Forschungs- und Raumstationen, auf den künstlichen Satelliten und in den Rechenzentren der Erde herrschte Alarmstufe eins. Dreieinhalbtausend Mann kämpften um das Leben eines Kosmonauten.
Die Station war am Südabhang des halbzerstörten Torricelli-Kraters errichtet worden – am Rande des Meeres der Ruhe. Ein idealer Ort für den ersten Stützpunkt. Hier hatte die Erforschung des Mondes ihren Anfang genommen. Die Station war weit genug vom Äquator entfernt, um nicht der unerträglichen Hitze des langen Mondmittags ausgesetzt zu sein. Die nördlicher gelegenen tausendkilometerlangen Ebenen der beiden Grenzmeere, des Meeres der Ruhe und des Meeres der Heiterkeit, die Geländefahrzeugen kaum ernst zu nehmende Hindernisse boten, ließen schnelle und fruchtbare Forschungsarbeit zu. Im Süden wurde die Station von den gigantischen, schluchtenreichen Kettengebirgen mit den Kraterriesen Theophilus und Cyrillus begrenzt. Hier schlummerten unzählige faszinierende Geheimnisse. Hundert Jahre würden nicht ausreichen, sie zu lüften. Doch das Wichtigste war, in dieser Gegend gab es Wasser. Tausende Kubikmeter Eis lagen dicht unter der Mondoberfläche. So fiel der teure Wasser- und Sauerstofftransport von der Erde fort. Der Atomreaktor der Station erzeugte genügend Energie, so daß durch Elektrolyse praktisch unbegrenzte Mengen des wertvollen Sauerstoffs gewonnen werden konnten. Mit Wasserstoff war es schlechter bestellt, daran herrschte ständig Mangel. Die EL-Triebwerke der »Rubin« fraßen ungeheure Wasserstoffmengen. Immerhin erzeugte der Reaktor den Treibstoff für die Mondschiffe. So war man nicht auf Erdlieferungen angewiesen. Das erhöhte natürlich des Tempo der wissenschaftlichen Forschungsarbeiten.
Bei allen Vorteilen hatte der für die Station gewählte Ort aber einen großen Nachteil: Das schlackeartige Mondgestein, aus der die mehr oder weniger ebene Mondlandschaft bestand, hielt der Belastung durch die Mondschiffe nicht stand. Für die »Rubin« war daher in der Nähe der Station extra eine kleine Piste angelegt worden. Die schweren Versorgungsraketen dagegen mußten die Äquatorialbasis anfliegen, wo die Natur in einem zentral gelegenen kleinen Krater auf der dem Erdball zugekehrten Mondseite einen ausgezeichneten Kosmodrom auf festem Basaltmassiv geschaffen hatte. Der weitere Transport der Frachten erfolgte dann auf den Mondstraßen.
Die Geländefahrzeuge, die zu Lebedinskis Rettung unterwegs waren, mußten also fünfhundert Kilometer von der Station bis zur Basis zurücklegen. Elektronenrechner hatten einen exakten Fahrplan ausgearbeitet und die optimale Variante gewählt. Lebedinski sollte den Geländefahrzeugen sieben Stunden nach deren Abfahrt entgegengehen. Zu diesem Zeitpunkt würde das erste Fahrzeug hundertfünfzig Kilometer von der Basis entfernt sein. In zwei Stunden – so lange reichte der Sauerstoff in den Flaschen gerade noch – könnte der Geländewagen noch weitere hundert Kilometer zurücklegen. Die letzten fünfzig Kilometer müßte Lebedinski allein schaffen. Zu Fuß war das ausgeschlossen. Ihm blieb aber noch der Kundschafter-Roboter, der auf ebener Strecke eine Geschwindigkeit von maximal zwanzig Stundenkilometern erreichen konnte. Die Frage war nur, ob der Roboter den Kommandos gehorchen oder sich seinen revoltierenden Kumpanen anschließen würde.
Nur Pjotor Iwanowitsch Fedossejew, der Konstrukteur der Roboter, hätte hierauf eine Antwort geben können. Aber auf dem ganzen Planeten wußte niemand, wo er sich aufhielt. Auf der Erde war ausgerechnet Sonntag, und in den Wäldern um Moskau gab es für leidenschaftliche Jäger wie Fedossejew genug verschwiegene Winkel.
Die Experten aus dem Luna-Institut hatten vorgeschlagen, von den Beobachtungsstationen für Raumschiffe kapazitive, gebündelte Funkwellen auf die Basis zu richten. Die Radarstrahlen, so meinten sie, würden jede Funkwellenverbindung zwischen den Robotern und dem zentralen Kristallhirn unmöglich machen und dem Kundschafter-Roboter das Revoltieren verwehren. Die Berechnungen ergaben jedoch, daß es ausgeschlossen war, mit der vorhandenen Technik das gesamte von den Robotern benutzte Frequenzband zu überdecken. Zu allem Übel wußte man nicht, auf welche Frequenz der Kundschafter-Roboter ansprach. Das herauszubekommen in der noch verbliebenen Zeit war ein Ding der Unmöglichkeit. Dennoch ermittelten die Rechenzentren für alle großen Radarstationen und Radioteleskope Programme, und Dutzende von Antennen richteten ihre Gitterschirme auf den winzigen Punkt am Rande der Zentralbucht aus.
Noch nie war der Nachrichtenweg von der Erde zum Mond so in Anspruch genommen wie jetzt. Professor Klein, Vizepräsident des Internationalen Luna-Rates, ließ sich ständig über den Standort der Geländewagen und das Befinden Lebedinskis berichten. Gemeinsam mit dem Chef der Station, Professor Smolny, legte er die Einzelheiten der Operation fest. Er hatte auch vorgeschlagen, die Verbindung zwischen Station und Basis über das NachrichtensatellitenSystem herzustellen. Und so wurde, bereits dreißig Minuten nachdem die wild gewordenen Roboter alle Radarmaste gefällt hatten, die Verbindung von der Station zur Basis wiederhergestellt. Doch nun mußten die von der Stationsantenne angestrahlten Funkwellen einen enorm langen Weg vom Mond bis zum Nachrichtensatelliten zurücklegen, der sich sechsunddreißigtausend Kilometer von der Erdoberfläche entfernt befand. Von hier aus gelangten sie zur Erde, legten einige hundert Kilometer bis zu den Riesenantennen des Zentrums für kosmische Fernverbindung zurück und pflanzten sich von da aus zum Mond fort, bis sie den schlanken Antennenmast über der Basiskuppel erreichten. Die Verbindung war einseitig, die Signale des schwachen Basis-Senders drangen nicht bis zur Erde. Aber alle vierzig Minuten tauchte einer der drei ÄquatorNachrichtensatelliten des Mondes über der Basis auf, und Lebedinski wurde in der Station gehört.
»Und dennoch bestehe ich auf unserm Plan«, sagte Professor Klein erregt zum Chef der Station. »Die Funkwellenbündel geben uns keine volle Garantie für den Erfolg des Durchbruchs. Verweigert der KundschafterRoboter den Gehorsam, dann ist der Tod Ihres Kollegen so gut wie sicher. Die ›Potomac‹ schafft es auch nicht. Bestenfalls erreicht sie die Basis dreißig Minuten eher als das Geländefahrzeug. Mehr kann man beim besten Willen nicht aus dem Mondschiff herausholen. Ich wundere mich überhaupt, daß Foster noch am Leben ist und die Funkverbindung noch besteht.«
»Ich habe mit Lebedinski gesprochen«, sagte Smolny. »Er lehnt die Zerstörung des ›Nilpferds‹ kategorisch ab.«
»Nein, Sie sind wirklich unbelehrbar.« Klein klatschte in die Hände. »So seid ihr Russen, denkt immer an euch selbst zuletzt. Jede idiotische Maschine bedeutet euch mehr als die eigene Haut. Ich wiederhole noch einmal: Ich verlange von Ihnen, dem Chef der Station, daß Sie Herrn Lebedinski befehlen, das Kristallhirn in die Luft zu sprengen. Und je eher, desto besser.«
»Gut, ich erteile ihm den Befehl«, gab sich der Professor geschlagen. »Ich fürchte nur, Lebedinski wird nicht auf mich hören. Er ist überzeugt, daß man Fedossejew findet.«
Smolny sah auf das große Zifferblatt über dem Bildschirm. Sechs Stunden waren die Geländefahrzeuge bereits unterwegs. Er stellte sich vor, wie Lebedinski bewegungslos in seinem Sessel kauert und ebenfalls den kreisenden Sekundenzeiger verfolgt. Jede Runde eine Minute. Und das noch sechzigmal. In genau einer Stunde werden sich von den Antennen der Erd- und Raumstationen mächtige Ströme von Radioimpulsen lösen. Sie werden sich in anderthalb Sekunden im Raum zwischen Erde und Mond ausbreiten bis hin zu dem dreihundert Meter langen Krater, der in undurchdringlicher Dunkelheit liegt. Sie werden auf Felsen stoßen, zurückgeworfen werden, sich brechen, sich überlagern und den schweigenden Äther mit unheimlichen, dem menschlichen Ohr nicht vernehmbaren Zirpen erfüllen. Äußerlich wird sich im Krater nichts verändern, bis die tollwütigen Roboter plötzlich in ihren Bewegungen stocken. Im Wirbel der Funkwellenbündel ersterben die Kommandos des zentralen Kristallhirns. Die Roboter stehen still. Dann öffnet sich die Luftschleuse, und heraus tritt eine häßliche Metallspinne, die den Geländefahrzeugen entgegeneilt. In ihren Klauen hält sie eine unbewegliche Gestalt im Skaphander.
Die Elektronenrechner haben jeden Meter Weg, jeden Liter Sauerstoff in den Flaschen berechnet. Eine Stunde und dreiundfünfzig Minuten verbleiben Lebedinski noch, wenn er das Ventil des Sauerstoffgeräts ganz aufgedreht hat, um sein gelähmtes Gehirn zu reinigen und Kraft zu finden, bis zur Schleuse zu kommen. Das wird genau anderthalb Minuten in Anspruch nehmen. In einhundertdreizehn Minuten trägt ihn der Roboter vierzig Kilometer. Mehr schafft er nicht, auch nicht mit der roten Havarielochkarte im Rechenwerk. Nur die Erkundungsgeländewagen, die »Grashüpfer«, kommen auf der Mondoberfläche schneller voran. Ihre Maximalgeschwindigkeit beträgt auf ebener Fläche fünfzig Stundenkilometer. In dem Augenblick, wo Lebedinski das Ventil schließt und sich den hermetischen Helm überstülpt, befindet sich Tscherednitschenkos Fahrzeug hundertfünfzig Kilometer weit von der Basis entfernt. Lebedinski fehlen dreißig Minuten zum Überleben.
Erregt legte der Professor den Lochstreifen der Rechenmaschine beiseite und schwenkte seinen Sessel herum, zu dem am Hauptpult sitzenden Tewossian. Jeden Augenblick müßten die Raketogramme von den Geländefahrzeugen eintreffen. Dann würde sich herausstellen, ob es Tscherednitschenko gelungen war, die Berechnungen zu korrigieren und wenigstens einiges von den verfluchten dreißig Minuten gutzumachen. Unwillkürlich wird man abergläubisch, ging es Smolny durch den Kopf. Mißbilligend musterte er Tewossians schief ausrasierten Nacken.
Die Tonbandspulen auf dem Hauptpult kreisten. Smolny blickte zur Uhr. Schröder ist pünktlich wie immer, dachte er. Sein Bericht traf genau auf die Sekunde ein.
Der zweite Geländewagen interessierte den Chef der Station jetzt nicht sonderlich. Schröders »Grashüpfer« sollte mit Höchstgeschwindigkeit zur Basis fahren, ohne jedoch die im Alarmzustand zugelassene Grenze zu überschreiten. Inzwischen war er, obwohl fünfzehn Minuten eher gestartet, weit hinter Tscherednitschenko zurückgeblieben. In diesen fünfzehn Minuten hatte Tscherednitschenko allen Ballast von seinem Geländewagen geworfen, einschließlich der schweren Sauerstoffflaschen mit einem Vorrat für mehrere Tage. Sein Sauerstoff reichte nun nicht einmal mehr für die Rückfahrt. Das war aber nicht weiter gefährlich, da der zweite Geländewagen unmittelbar folgte. Tscherednitschenkos »Grashüpfer« konnte dadurch einiges an Zeit herausholen. Das hatte Professor Smolny einkalkuliert, als er in die riskante, laut Instruktion streng verbotene Fahrt einwilligte.
Professor Smolny kannte Tscherednitschenko gut, diesen unverwüstlichen Fighter und mehrfachen Landesmeister in den technischen Disziplinen. Ein Draufgänger. Für riskante, doch wohlbegründete Entscheidungen der geeignete Mann. Deshalb hatte er ihm diese schwere Aufgabe übertragen, von deren Lösung Lebedinskis Leben abhing. Wie kein zweiter steuerte Tscherednitschenko den Wagen, und das im Gefahrenzustand, wenn die roten Lampen am Schaltpult eine Überbelastung ankündigten und nur noch die Intuition des Fahrers eine Katastrophe verhindern konnte. Unwahrscheinlicher Mut und Willenskraft gehörten dazu. Der Professor wußte, Tscherednitschenko würde durchhalten.
Insgeheim mußte sich Smolny eingestehen, daß er Mironow, dem zweiten Fahrer des ersten Geländewagens, nicht so fest vertraute. Der kleine Geophysiker war erst seit kurzem auf der Station, und niemand von der jetzigen Besatzung kannte ihn von früher. Der Professor erinnerte sich an eine halbvergessene Episode aus der Zeit gleich nach Mironows Ankunft auf dem Mond. Ein Meteorit hatte eine Wasserzisterne beschädigt, die gerade erst zum Eingang des Stationsgebäudes geschafft worden war. Jeder Tropfen Wasser war damals noch eine Kostbarkeit gewesen! Zum Transport waren automatische Zisternen mit Elektroheizung verwendet worden, denn heißes Wasser ließ sich besser umfüllen. Der Meteorit hatte ein anständiges Loch in die Zisterne geschlagen. Der austretende Heißwasserstrahl gefror sofort auf dem Boden. Mironow aber, vom Alarmsignal herbeigerufen, überprüfte erst pedantisch seinen Skaphander, obwohl Bek-Nasarow es schon vorher getan und ihm versichert hatte, daß alles in Ordnung wäre. Mironows Verhalten entsprach genau der Instruktion, die jeden verpflichtete, beim Verlassen der Gebäude persönlich den Skaphander zu kontrollieren. Einige hundert Liter waren ausgelaufen, und der Wasservorrat war dahin. Der reguläre Start der »Rubin« mußte verschoben werden. Gewiß, dafür waren die Stationsbewohner unversehens zu einer herrlichen Eisbahn gekommen, und eine allgemeine Begeisterung fürs Schlittschuhlaufen brach aus. Einige Tage lang aber hatte sich Bek-Nasarow Mironow gegenüber betont reserviert verhalten.
Eigentlich war an diesem Vorfall nichts Besonderes. Schließlich ist Wasser bloß Wasser. Im unkontrollierten Skaphander hinauszugehen konnte hingegen den schnellen und sicheren Tod bedeuten. Der Professor hatte einerseits Verständnis für das Verhalten des Neuen. Andererseits mißfiel ihm Mironows Mißtrauen einem Kameraden gegenüber, auch wenn es unbeabsichtigt war. Jedenfalls hinterließ diese Episode ein unangenehmes Gefühl.
Es hatte noch andere Kleinigkeiten gegeben, die im pulsierenden Mondalltag unbeachtet geblieben waren. Jetzt aber fielen sie dem Professor wieder ein und beunruhigten ihn. Er bedauerte schon, Mironow mitgeschickt zu haben. Aber eine andere Möglichkeit hatte es nicht gegeben. Weder Schröder noch Bek-Nasarow, die Besatzung von »Grashüpfer 3«, waren meisterhafte Fahrer. Und andere standen im Moment nicht zur Verfügung.
Wieder betrachtete der Stationschef Tewossians lächerliche Frisur. Wenn wir Verstärkung bekommen, muß unbedingt ein Friseur dabeisein, dachte er. Die Jungs verschandeln sich ja gegenseitig.
Er sah auf die Uhr. Von Tscherednitschenko fehlte immer noch jede Nachricht.
Neben dem dunklen Bildschirmoval flackerte beharrlich ein grünes Lämpchen. Die Erde war sprechbereit. Smolny drückte auf einen Knopf.
»Innokenti Borissowitsch, wir haben Fedossejews Frau gefunden«, rief der junge Sekretär des Astro-Rates mit sich überschlagender Stimme. Er arbeitete erst seit einigen Tagen beim kosmischen Nachrichtenstab und war vor der Kamera immer noch schrecklich aufgeregt. »Sie sagt, Pjotr Iwanowitsch wollte sich heute unbedingt das Fußballspiel ansehen. Er hat den Fernseher mit im Wagen.«
»Was für ein Fußballspiel?« fragte Smolny begriffsstutzig. Im gleichen Augenblick fiel ihm aber ein, daß die ganze Station der Halbfinalbegegnung um den Weltpokal gespannt entgegensah, die aus London über Kosmovision übertragen wurde. Die zweite Halbzeit mußte bereits laufen.
Fußball interessierte den Chef der Station jetzt am allerwenigsten. Im Moment beschäftigte ihn einzig und allein die Frage, warum Tscherednitschenkos Raketogramm ausgeblieben war.
»Hören Sie selbst«, sagte der Sekretär.
Aus dem Lautsprecher kam zweihunderttausendstimmiges Geschrei. Der Reporter drang kaum durch. Rotweiß gekleidete Spieler stürmten auf das Tor der sowjetischen Mannschaft zu.
»… und nun ist der schnelle Mittelstürmer am Ball. Seine exakten Abgaben sind immer sehr gefährlich. Und jetzt umspielt er die Verteidigung, gleich wird er ein Tor schießen! Gleich ist es passiert!«
Der Lautsprecher dröhnte. Smolny verzog das Gesicht. Der Ball flog hoch über die Latte in die Zuschauertribüne.
»Der Spielstand bleibt unverändert«, vernahm der Professor schließlich. »Ich möchte die kurze Spielpause benutzen, um die Zuschauer daran zu erinnern…«
Jäh riß die Stimme ab, eine kurze Stille trat ein. Dann war der Ton wieder da.
»Liebe Fernsehzuschauer!« sagte jemand. »Ich wende mich in einer dringenden Angelegenheit an Sie. Wahrscheinlich sieht sich auch Pjotr Iwanowitsch Fedossejew dieses Spiel an. Er wird von der Luna-Station verlangt. Pjotr Iwanowitsch! Setzen Sie sich bitte unverzüglich mit dem Astro-Rat in Verbindung! Ein Mensch schwebt in Lebensgefahr.«
Die Kamera hatte den Torwart erfaßt, der den Ball ins Mittelfeld schlug. Dann verschwand das Stadion vom Bildschirm, und wieder erschien der aufgeregte Sekretär.
»Haben Sie gehört?« fragte er. »Ich glaube bestimmt, daß sich Fedossejew jetzt bald meldet.«
»Hoffentlich«, brummte der Professor. »Sicherlich sitzt er irgendwo vor seinem Fernseher und hat darüber die Jagd vergessen.«
Keine schlechte Idee, die Fernsehdurchsage, dachte er. Fedossejew wird bestimmt wissen, wie seine Roboter zur Vernunft zu bringen sind. Hauptsache Tscherednitschenko schafft es.
Doch Tscherednitschenko schwieg, obwohl der vereinbarte Zeitpunkt für seine Meldung längst verstrichen war. Er schwieg auch nach einer Stunde noch, als es Zeit wurde, das Kristallhirn durch die Funkwellenbündel lahmzulegen. Ob Lebedinski einem Geländefahrzeug, das als vermißt gelten mußte, entgegengehen oder ob er in der Kuppel bleiben sollte, in qualvoller Agonie, allein gelassen mit der vagen Hoffnung auf die »Potomac«, darüber galt es augenblicklich neu zu entscheiden.
Tscherednitschenko schwieg, weil sein Geländewagen weitab von der Straße, inmitten unpassierbarer Felsen zertrümmert lag.
Die Straße zur Basis war gleichzeitig mit der Station gebaut worden. Das hatte keine große Mühe gekostet, denn der Südzipfel des Meeres der Ruhe ist eine ebene Fläche. Nur stellenweise hatte man den Boden glätten und hell gestrichene Metallmarkierungen mit Lichtsignalanlagen für die Nacht aufstellen müssen. Selbst bei völliger Dunkelheit war es kein Problem, ein Geländefahrzeug durch die beiden Markierungsreihen hindurchzusteuern. Die Markierungen waren überdies ausgezeichnet auf dem Radarschirm zu erkennen Mit einem Wort, das Fahren auf dieser Straße machte zu keiner Tageszeit Schwierigkeiten. Sogar die Transport-Roboter, die »Flundern« mit ihrem primitiven Kristallhirn, legten den Weg zwischen Basis und Station immer ohne Zwischenfälle zurück.
Von der ersten Sekunde an hatte Tscherednitschenko alles aus dem Fahrzeug herausgeholt. Er hatte den Beschleunigungshebel weit hinter die Sperre gedrückt und den Wagen vorwärts gejagt, daß die Motoren stöhnten.
Die breite, tiefhängende Erdsichel gab genügend Licht, so daß die an die Finsternis gewöhnten Augen alle Einzelheiten der Mondoberfläche gut unterscheiden konnten. Tscherednitschenko hatte nicht einmal die Scheinwerfer eingeschaltet.
Mironow saß schweigend hinter ihm und kämpfte mit dem aufkommenden Brechreiz.
Die schnelle Fahrt im »Grashüpfer« hatte ihre Tücken. Das schwere Fahrzeug stampfte bei der hohen Geschwindigkeit wie ein Schiff und hob sich mitunter fast vorn Boden ab. Die an sich ausgezeichnete Federung fing das Stampfen nicht etwa ab, sondern verstärkte es nur noch. Es war, als pflüge der Wagen eine wildbewegte See, als schösse er über Wellenberge und Täler.
Bei den Probefahrten auf der Erde war nichts dergleichen beobachtet worden. Erst auf dem Mond, unter den Bedingungen der verringerten Schwerkraft, hatte sich dieser Mangel herausgestellt. An eine Korrektur war nicht mehr zu denken gewesen. Im übrigen war das Schlingern und Stampfen in Kauf genommen worden, zumal noch niemand mit Höchstgeschwindigkeit hatte fahren müssen.
Der »Grashüpfer« schaukelte jetzt fürchterlich. Mironow stellte mit einiger Verwunderung fest, daß sein Magen sehr empfindlich auf jede Bewegung des Fahrzeugs reagierte. Eine lange Fahrt stand bevor. Entsetzen packte ihn, sobald er daran dachte.
Auf dem Bildschirm zeigte sich bald ein kleiner Punkt: »Grashüpfer 3«. Über Funk tauschte Tscherednitschenko mit Schröder und Bek-Nasarow »Grußbotschaften« aus. Dann blieb »Grashüpfer 3« zurück, und für Tscherednitschenko und Mironow wurde es Zeit, die Plätze zu wechseln.
Auf dem Fahrersitz erging es Mironow noch schlechter. Und zum ersten Mal seit seiner Ankunft auf dem Mond leuchteten vor ihm am Pult zwei rote Lampen auf. Warnsignale. Die Apparaturen waren an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit. Das beunruhigte Mironow. Rundherum gähnte, hunderte Kilometer weit, luftleerer Raum, durchsetzt von kosmischen Strahlungsströmen. Lange, zermürbende Stunden einer wahnwitzigen Hetzjagd in undurchdringlichem Dunkel standen noch bevor. Die dreihundert Stunden währende eisige Mondnacht hatte gerade erst begonnen, der Sauerstoff in den Flaschen reichte aber nicht einmal für vierundzwanzig Stunden. Mironow durchzuckte der Gedanke, daß eine Panne des anderen Geländewagens auch für sie beide schicksalhaft werden könnte.
Aus dem mit einer dicken Bio-Schutzhülle abgeschirmten Heck strömte die unbändige Kraft der Neutronenwirbel. Mit voller Kapazität speiste der Kernreaktor die Triebwerke. Alle energieschluckenden Apparaturen – Sender, Scheinwerfer, Kabinenbeleuchtung und -heizung – waren ausgeschaltet. Schon seit geraumer Zeit lag die Geschwindigkeit des »Grashüpfers« an der obersten Grenze. Trotzdem reichte sie nicht, den vom Elektronenrechner ausgeklügelten Fahrplan wenigstens etwas zu unterbieten.
Tscherednitschenko überlegte. Mehr war aus dem Fahrzeug offenbar nicht herauszuholen. Das riskante Wettrennen mit dem Tod hatte jeden Sinn verloren, denn Lebedinskis Sauerstoff ging unweigerlich dreißig Minuten vor ihrem Zusammentreffen zu Ende. Irgend etwas mußte geschehen.
Das Geländefahrzeug besaß Triebwerke für schwerste Bedingungen. Irgend so ein Schlaukopf hatte sie mit großen Leistungsreserven projektiert. Tscherednitschenko wußte nur zu gut, daß der Reaktor nicht mehr hergab, denn die Regelstäbe hielten den Reaktorhaushalt genau in den vorgeschriebenen Grenzen.
Die Stäbe waren aber so weit angehoben, daß das beabsichtigte Leistungsniveau längst erreicht war. Die einzige Möglichkeit, noch etwas aus dem Reaktor herauszuholen, bestand darin, sie ganz zu entfernen.
Tscherednitschenko hatte am Bau und an der Erprobung der ersten »Grashüpfer« teilgenommen. Außer einer Überhitzung konnte nicht allzuviel passieren, wenn man einen Teil der Stäbe entfernte.
Er schloß seinen hermetischen Helm und öffnete die Tür zur Triebwerkkammer.
Als er, den Schweiß von der Stirn wischend, wieder in der Fahrerkabine auftauchte, flackerten am Schaltpult mehrere rote Warnlampen auf.
»Was haben Sie gemacht?« fuhr Mironow ihn an. »Wir können jeden Moment in die Luft fliegen!«
»Ich habe ein paar Regelstäbe rausgenommen«, sagte Tscherednitschenkow und betätigte den Beschleunigungshebel.
Sofort erhöhte sich die Geschwindigkeit des Fahrzeugs. Kurze Zeit später erschien allerdings ein weiterer roter Punkt am Schaltpult.
Die Überhitzung des Reaktors hatte begonnen.
Zum ersten Mal in seinem Leben empfand Mironow Todesangst. Er hatte das Gefühl, als verwandle sich das Geländefahrzeug allmählich in eine entsicherte Bombe, die beim geringsten Stoß explodiert. Ihm schien es, als flöge sie mit ihnen durch die nachtschwarze Wand direkt in den Sternenhimmel hinein.
Die rettenden Kontrollautomaten waren ausgeschaltet, sonst hätten sie sich längst in die Steuerung eingemischt. Der Beschleunigungshebel, der weit hinter der Sperre lag, vibrierte unter Mironows Fingern, als wollte er sich jeden Augenblick losreißen. Plötzlich wurde Mironow von dem Wunsch übermannt, den Hebel für den Bruchteil einer Sekunde loszureißen, damit sein Magen wieder zur Ruhe kam und die Alarmsignale am Pult erlöschten. Nur mit Mühe bezwang er sich. Der geringste Temporückgang bedeutete Lebedinskis sicheren Tod, das wußte Mironow.
Er sah zur Uhr. Das Geländefahrzeug war knappe zwei Stunden unterwegs. Noch sieben Stunden Höllenqual, dachte er. Das halte ich nicht aus!
Er geriet in Wut über den endlosen Weg, über die revoltierenden Roboter, über Tscherednitschenko, der sich hinten auf dem Sitz lümmelte, als sei nichts geschehen, über die eigene Ohnmacht und über die grausame Mondwelt, deren Erforschung derartige Strapazen mit sich brachte. Und die Wut half ihm durchzustehen.
Zum Glück war es inzwischen Zeit, das Raketogramm durchzugeben. Tscherednitschenko setzte sich auf den Fahrersitz und nahm das Mikrofon zur Hand. Mironow rang mit letzter Kraft die Magenkrämpfe nieder und überprüfte die Geräte auf ihre Funktionstüchtigkeit.
Auf dem Dach des Geländefahrzeugs wurden in kurzen Vertikalrohren vier kleine Raketen mitgeführt. In einer diesen Raketen drehten sich jetzt die Spulen eines winzigen Tonbands, dessen feiner Stahldraht Tscherednitschenkos Worte aufnahm. Wenige Minuten später stieg die Rakete in hundert Kilometer Höhe auf; dabei wurden die Antennen ausgefahren und gerichtet. Auf dem Gipfelpunkt, wo die Krümmung der Mondoberfläche die Station nicht mehr verbarg, gaben die Bänder die gespeicherten Informationen an den Äther ab. Die Instrumente der Station zeichneten das, Raketogramm auf genauso feinen Stahldraht auf. Anschließend wurde es auf ein gewöhnliches Tonbandgerät übertragen, und die Information konnte abgehört werden.
Von diesem Raketogramm hatte Smolny Lebedinski, wenige Minuten bevor die Funkverbindung abriß, unterrichtet.
Nach sechs Stunden führte die Straße hinauf in die Berge, die das »Meer der Ruhe« von der Zentralbucht trennen. Tscherednitschenko vertiefte sich in die Karte und überlegte.
Das vom Ballast befreite Fahrzeug kam in rasantem Tempo voran. Dennoch reichte seine Geschwindigkeit nicht, um rechtzeitig bei Lebedinski zu sein.
Es blieb eine letzte Chance. Tscherednitschenko hatte beim Bau der Straße mitgearbeitet und kannte sich hier aus. Nach einigen Kilometern machte die Straße, ehe sie ins Gebirge abbog, einen scharfen Knick, den einzigen auf der Strecke. Seinerzeit war der Vorschlag gemacht worden, diesen Umweg zu vermeiden. Beim Abstecken der Trassen hatte Tscherednitschenko die gesamte Strecke abgefahren. Später hatte man sich aber doch für die Umgehungsvariante entschieden, obwohl ein Teil der geraden Strecke schon markiert worden war.
Tscherednitschenko stoppte das Geländefahrzeug. Mironow ächzte.
»Was ist los?« fragte er in krächzendem Flüsterton.
»Es bleibt uns nichts weiter übrig, als den geraden Weg zu nehmen, Oleg Nikolajewitsch. Sonst schaffen wir’s nicht«, sagte Tscherednitschenko.
Die letzten Kilometer hatten Mironow endgültig zermürbt. Kraftlos hing er in seinem Sessel. Er nahm sich mit aller Gewalt zusammen, um Tscherednitschenko nicht an den Kragen zu gehen und dessen Hände von der Schaltung zu reißen. Wäre nicht der regelmäßig wiederkehrende Brechreiz gewesen, hätte Mironow am Ende noch das Bewußtsein verloren.
Tscherednitschenko bemerkte sehr wohl den Zustand seines Kameraden, war jedoch außerstande, ihm zu helfen. Dazu hätte er die Geschwindigkeit verringern müssen. Das aber konnte er nicht. Die verfluchte Schaukelei wirkte sich allmählich auch auf seinen gestählten Organismus aus. Aber noch hielt er sich aufrecht. Gleich zu Anfang der Fahrt hatte Tscherednitschenko Mironow am Schaltpult abgelöst und den »Grashüpfer« allein gesteuert.
Mironow war mit Tscherednitschenkos plötzlichem Entschluß einverstanden, obwohl er wußte, was sie erwartete. Den Paragraphen der Instruktion, der nächtliche Fahrten im Gebirge streng untersagte, kannte er in- und auswendig. Aber im Augenblick dachte er nicht an die bevorstehenden Gefahren, hielt sie sogar für irreal. Er war zu jedem Risiko bereit, wenn nur die Schaukelei bald aufhörte.
Riesige, glanzlose Sterne hingen über dem Fahrzeug. Brillant-Staubwolken ballten sich über dem Weg zusammen. Die Flügel majestätisch ausgebreitet, schwamm der Schwan im Sternenmeer, den riesigen Smaragd des Deneb im Schnabel. Über dem Geländefahrzeug hing der Erdball, eingehüllt im blauen Dunst der Atmosphäre. Unter dem Fahrzeug tauchte mit einemmal eine doppelte Feuerpunktlinie auf, machte einen scharfen Knick nach links und verschwand hinter dem unsichtbaren, von Sternentüpfelchen gezeichneten Horizont.
Tscherednitschenko langte zum Pult und schaltete die Scheinwerfer ein. Sie warfen aber nur einzelne Lichtpunkte auf die Einöde.
»Alarmstufe eins. Helm runterlassen, anschnallen!« Tscherednitschenko blickte zur Uhr.
Das Geländefahrzeug ruckte an, walzte einen der nächsten Markierungsstäbe nieder und verließ die Straße.
Zuerst ging alles verhältnismäßig gut, doch plötzlich war die Hölle los.
Der »Grashüpfer«, ein ideales Fahrzeug für die Mondoberfläche, wurde von Gliederfüßen in RaupenkettenPantoffeln ohne die geringste Schwierigkeit über alle Unebenheiten des Bodens getragen. Dort, wo weder Raupenketten-Geländewagen noch Kugelgleiter oder andere Mondfahrzeuge durchkamen, bahnte sich der »Grashüpfer« beinahe mühelos seinen Weg.
Doch jetzt hatte selbst dieser unverwüstliche Koloß zu kämpfen. Seine Geschwindigkeit verringerte sich, die Sperrklinke am Beschleunigungshebel mußte mit der Hand gehalten werden. Tscherednitschenko ließ sich dadurch nicht beirren. Ihm ging es einzig und allein darum, die Richtung einzuhalten.
Das blieb jedoch ein frommer Wunsch. Plötzlich bemerkte Tscherednitschenko, daß das Steinchaos bedrohliche Ausmaße annahm. Der hell leuchtende Deneb war zwar ein sicherer Orientierungspunkt, dennoch schien der »Grashüpfer« bei dem Zickzackkurs von der befahrbaren Route abgekommen zu sein. In der absoluten Dunkelheit war nichts mehr zu erkennen. Lediglich vorn klaffte in der Wand aus Finsternis ein phantastisches, von Scheinwerferlicht gebohrtes Loch. Und dort tanzten undurchdringliche schwarze Schatten.
Zweimal zerschnitten breite Spalten den Weg. Mit Leichtigkeit sprang der »Grashüpfer« über sie hinweg. Die Sprünge in dem vom Ballast befreiten Fahrzeug kosteten Tscherednitschenko keine große Anstrengung. Doch bald brach unter den Gliederfüßen eine lockere Steinkante weg, und das Fahrzeug legte sich zur Seite. Es kippte und rutschte bergab. Der automatische Stabilisator verhinderte ein Überschlagen, und Tscherednitschenko, mit dem Kopf nach unten in den Haltegurten hängend, konnte gerade noch alle rechten Füße des Fahrzeugs zur Seite auswerfen und die linken einholen.
Der »Grashüpfer« richtete sich auf, rührte sich aber nicht vom Fleck. Tscherednitschenko war kaum noch imstande, einen klaren Gedanken zu fassen. Er warf einen Blick auf die Instrumente. Anscheinend war alles in Ordnung. Vor seinen Augen tanzten weiße Flocken. Er wollte sie wegwischen, stieß jedoch an die Helmscheibe.
»Wie steht’s, Oleg Nikolajewitsch?« fragte er mit undeutlicher Stimme.
»Ich lebe«, rauschte es aus Mironows Sprechfunkanlage.
Das Geländefahrzeug setzte sich langsam wieder in Bewegung, geriet aber auf dem Geröll ins Rutschen. Vorwärts, nichts als vorwärts, dachte Tscherednitschenko. Trotz alledem, wir schaffen es. Nur vertikale Wände sind für den »Grashüpfer« unüberwindbar. Er sah zur Uhr. In einigen Minuten würde Lebedinski die Kuppel verlassen. Höchste Zeit, das Raketogramm abzuschicken.
Das Raketogramm ging nie ab. Die leichten Abschußrohre waren, als das Fahrzeug umgekippt war, völlig plattgedrückt worden.
In der folgenden Stunde fand ein einziges wahnsinniges Wettrennen mit dem Sekundenzeiger statt. Wie ein Eisbrecher das Packeis, so nahm der »Grashüpfer« die Steinriesen im Sturm. Er wurde über die erstarrten Wellen des Steinmeers geschleudert, kraxelte und überschlug sich, sprang und glitt aus. Schon in der ersten Viertelstunde rissen zwei Raupenketten. Infolge der heftigen Stöße versagten die Geräte. Vergeblich blickte Tscherednitschenko auf den Indikator, der über alle Erscheinungen im Funkbereich der Nachrichtensatelliten informierte. Der Indikator leuchtete nicht auf, obwohl die Satelliten mindestens zweimal über dem Geländefahrzeug hinweggeflogen sein mußten. Die Stöße waren mitunter so stark, daß die Anschnallgurte Tscherednitschenkos Brustkorb beinahe eindrückten. Außerdem schien das System der Wärmeregulierung defekt zu sein. Die Temperatur im Skaphander stieg zusehends. Die Heizung mußte ganz abgestellt werden.
Als das Fahrzeug für Sekunden stehenblieb und Anlauf zur Überwindung eines neuen Hindernisses nahm, hielt Tscherednitschenko blitzschnell nach dem wegweisenden Deneb Ausschau. Der ferne, gleichgültige Stern blickte kalt und starr auf sie herab. Der Abstand zu ihm schien seit dem Antritt der wahnwitzigen Fahrt unverändert. Tscherednitschenko wußte jedoch, daß der Eindruck trog und es bis zur Straße nicht mehr weit sein konnte.
Und es war wirklich nicht weit. Keine zwei Kilometer. Da verlor Tscherednitschenko die Gewalt über das Fahrzeug. Der »Grashüpfer« rutschte in eine Spalte, kippte um und tat keinen Muckser mehr.

Am schwersten fiel es, sich zu einem Blick auf die Uhr zu zwingen. Der Schädel wollte platzen, so unerträglich waren die Kopfschmerzen. Dumpf raunte die Stimme des Stationschefs – sie mahnte, forderte, befahl. Das Rauschen in den Ohren vermochte die Worte nicht zu übertönen, doch blieb ihr Sinn unklar. Eins nur vergegenwärtigte sich Lebedinski immer wieder: Wenn ich das Bewußtsein verliere, ist es aus. Mit unwahrscheinlicher Anstrengung zwang er sich, die Sekunden auf dem großen Zifferblatt zu zählen. Er wußte nicht mehr warum, aber er zählte und zählte.

Alles andere wäre zu ertragen gewesen, nur nicht diese nervtötende Stimme. Dabei konnte man sich nicht konzentrieren. Mit letzter Kraft drückte Lebedinski auf einen Knopf am Gürtel, um die Stimme zum Schweigen zu bringen. Vergeblich. Lebedinski war nicht einmal mehr imstande, sich zu wundern. Doch da fiel ihm der Sender wieder ein. Er beugte sich weit vor, lag fast über dem Schaltpult und tastete mit dem Handschuh die Knöpfe ab. Die Stimme dröhnte mit fürchterlicher Lautstärke. Sie war nicht zu überhören.

»Fjodor Iljitsch, Sie müssen jetzt hinausgehen. Weshalb sagen Sie nichts? Antworten Sie bitte. Hören Sie mich? Der Satellit ist über Ihnen. Antworten Sie, Fjodor Iljitsch. Schalten Sie die Sauerstoffzufuhr ein. Schließen Sie den Helm. Stehen Sie auf!«

Die Stimme des Professors hallte unter der Kuppel wider und bohrte sich in Lebedinskis Gehirn. Sie mahnte, forderte, befahl. Schließlich begriff Lebedinski, daß er aufstehen mußte.

Nach einigen vergeblichen Versuchen gelang es ihm endlich, aber er fiel gleich wieder zu Boden.
Der Schmerz des Aufpralls brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Ohne sich zu erheben, drehte er das Ventil auf und spürte sogleich, wie der lebenspendende Sauerstoff in seine Lungen drang. Er schloß den Helm, um keinen einzigen Liter des wertvollen Gases ungenutzt ausströmen zu lassen. Dann stützte er sich mit Händen und Füßen ab und blickte zur Uhr.
»Ich gehe«, sagte er und stand auf. »Senden Sie die Funkwellenbündel aus.«
Anderthalb Sekunden später wurden seine Wort auf der Erde vernommen. Sofort breiteten sich unsichtbare Energieströme im Weltraum aus. In der Station stellte Professor Smolny die Kontrollstoppuhr. Von nun an unterwarf sich alles dem Lauf ihres Zeigers, der Lebedinskis Minuten, vielleicht die letzten, zählte.
Mit einer Drehung des Hebelschalters stellte Lebedinski die Kuppelscheinwerfer ein, gleißendes Licht ergoß sich über den Krater. Jetzt konnte er hinaustreten.
Doch vergeblich drückte er gegen die Tür der Schleusenkammer. Sie gab nicht nach. Hastig prüfte er, ob sie entriegelt war. Noch ein Blick auf den Druckanzeiger. Alles in Ordnung. Die Tür öffnete sich aber nicht. Furcht packte ihn. Er nahm Anlauf und stieß mit aller Gewalt gegen die Tür, riskierte dabei, seinen Skaphander zu beschädigen. Sie gab nicht einen Millimeter nach. Voller Verzweiflung sah sich Lebedinski in der Kuppel nach einem schweren Gegenstand um, mit dem er die verfluchte Tür einschlagen konnte. Er hatte wohl gestöhnt, denn Smolny fragte sofort, was los wäre.
Die Stimme des Chefs zwang ihn, sich zusammenzunehmen.
»Alles in Ordnung«, sagte er. »Gleich öffne ich die Luftschleuse.«
Noch einmal blickte er auf die Instrumente. Was war bloß geschehen? Was hatte er nicht beachtet? Der fürchterliche Gedanke, daß die revoltierenden Roboter die Tür von draußen zuhalten könnten, durchzuckte ihn. Die Signalanlage zeigte jedoch an, daß die Außentür offenstand und der in der Schleuse stehende Kundschafter-Roboter durch die undurchdringlichen Wände gegen die Funkbefehle des »Nilpferds« sicher abgeschirmt war.
Einige Stunden zuvor hatte sich die Tür noch ganz leicht öffnen lassen, daran erinnerte sich Lebedinski. Was mochte inzwischen vor sich gegangen sein?
Bei unterschiedlichen inneren und äußeren Druckverhältnissen verhinderte die automatische Blockierung das Öffnen der Tür. Der Druckmesser bewies jedoch eindeutig, daß in der Schleusenkammer normale Druckverhältnisse herrschten.
Plötzlich fiel es Lebedinski wie Schuppen von den Augen. Viele Stunden schon befand er sich in einem verschlossenen Raum, in dem der Luftvorrat nicht aufgefüllt worden war. Die menschliche Lunge entnahm der Luft bei jedem Atemzug bis zu vier Prozent Sauerstoff und verwandelte ihn in Kohlendioxid, den die exakt funktionierenden Regeneratoren störungsfrei eliminierten. Der Druck unter der Kuppel war gefallen, zwar nur minimal, um zwei bis drei Prozent etwa, aber doch genug, um einen Druck auf die Tür von einigen hundert Kilogramm zu erzeugen.
Schnell begann Lebedinski, den Druck in der Schleuse auszugleichen. Die Tür öffnete sich. Nach anderthalb Minuten stelzte der Kundschafter-Roboter im Licht der Scheinwerfer durch die Außentür. Links, hundert Meter von der Kuppel entfernt, begann der Weg zur Station. Der Roboter aber schwenkte nach rechts. Dorthin, wo seine Kumpane emsig hin und her rannten.
Das ist das Ende. Sollen all die Qualen vergebens gewesen sein? dachte Lebedinski. Absolute Gleichgültigkeit bemächtigte sich seiner. Aber dennoch erstattete er dem Chef der Station ordnungsgemäß Meldung.
»Kehren Sie sofort in die Kuppel zurück«, befahl Smolny. »In der Apotheke ist ein Schlafmittel. Nehmen Sie drei Tabletten. Verringern Sie die Sauerstoffzufuhr, legen Sie sich hin und warten Sie auf das Geländefahrzeug.«
»Das ist sinnlos«, sagte Lebedinski resigniert. »Außerdem will ich nicht im Schlaf sterben.«
»Führen Sie den Befehl aus«, wurde er von Smolny unterbrochen. »Verlieren Sie keine…«
Mitten im Satz hielt der Professor inne. Lebedinski vernahm plötzlich gedämpftes Stimmengewirr. Dann ertönte in seinem Helm eine unendlich ferne, unbekannte Stimme: »Fjodor Iljitsch! Hier spricht Fedossejew. Berichten Sie bitte sofort, was die Roboter bauen. Hören Sie mich? Antworten Sie!«
Fedossejew war schwer zu verstehen. Anscheinend hatte der Nachrichtensatellit den Bereich der Funksicht wieder verlassen.
»Ich habe Sie verstanden«, sagte Lebedinski akzentuiert. »Doch was sie bauen, läßt sich schwer beschreiben. Hohe Träger, auf denen Neigungsgitter befestigt sind. Das Ganze erinnert an ein Radioteleskop.«
»Und was für ein Programm hat das ›Nilpferd‹?« fragte Fedossejew erregt. Seine Stimme, die über mehrere Fernsprechvermittlungen und Relaisstationen aus der kleinen Siedlung bei Moskau kam, war kaum noch zu hören.
»Das Programm habe ich vor der Sonneneruption rausgenommen«, sagte Lebedinski. Blitzartig schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf.
»Programmieren Sie sofort, hören Sie mich?« Fedossejews Stimme wurde noch undeutlicher. »Programmieren Sie…«
Die Stimme verschwand. Aber Lebedinski wußte, was er zu tun hatte. Er drehte sich um und hastete zur Schleuse.

Eisige Kälte brachte Mironow wieder zu sich. Er hing in den Anschnallgurten. In der Kabine herrschte absolute Dunkelheit. Mironow tastete den Verschluß ab und drückte auf einen Knopf. Die Gurte hakten aus, und er fiel. Halt suchend, auf den abschüssigen Boden.

Er kniete sich hin, schaltete die Kopflampe ein, aber an stelle hellen Lichts nahm er nur ein verschwommenes Flimmern wahr.

Bin ich etwa blind? dachte er entsetzt und griff an seinen Helm.
Silbergrauer, von vereinzelten Funken erhellter Nebel schwamm ihm vor den Augen. Mironow versuchte den Helm zu öffnen, aber das Helmgitter gab nicht nach. Plötzlich merkte er, was los war, und bekam einen Schreck.
Die Helmscheibe war innen mit einer dicken Reifschicht bedeckt. Offensichtlich hatte die hermetische Isolierung der Fahrzeugkabine einen Defekt, denn jetzt herrschte hier kosmische Kälte. Fieberhaft betätigte Mironow die Taste für die Beheizung der Helmscheibe. Nach wenigen Minuten rann ihm eisiges Wasser den Hals hinab. Die Scheibe würde wieder klar.
Kraftlos mit den Armen baumelnd, hing Tscherednitschenko in den Gurten des Fahrersitzes. Im Schein der Lampe glitzerten Splitter von Instrumenten, blinkte die Pfütze einer erstarrten Flüssigkeit.
Mironow fühlte, daß er am Ende war. Sein Gehirn arbeitete mechanisch weiter. Er berechnete die kläglichen Sauerstoffreste, überschlug in Gedanken die Kilometer durch das unpassierbare Gebirge und erwog die allerletzten Chancen. Er wußte nur zu gut, daß das alles zu nichts führen konnte. Einzig und allein das anerzogene Gefühl für Disziplin ließ ihn im Geiste sinnlose Varianten für ihre Rettung aufzählen. Dumpfe Gleichgültigkeit erfaßte ihn. Dennoch ging er zu seinem Kameraden und löste dessen Gurte. Tscherednitschenko stöhnte auf.
Das war Musik in Mironows Ohren. Er drehte das Ventil an Tscherednitschenkos Sauerstoffflasche ganz auf und drückte auf den blauen Knopf an dessen Gürteltastatur. Unter Tscherednitschenkos Helm zersprang eine kleine Ampulle. Ein belebendes Gas-Tonikum drang in Tscherednitschenkos Lungen. Nach wenigen Sekunden erhob er sich taumelnd.
Noch nie im Leben hatte Tscherednitschenko einen Auftrag nicht erfüllt. Kaum war seine Helmscheibe abgetaut, blickte er auf die Uhr am Ärmel seines Skaphanders. Lebedinski mußte schon unterwegs sein.
Tscherednitschenko sprang zum Schaltpult und betätigte den Beschleunigungshebel. Das mechanische Herz des Fahrzeugs erzitterte, sein nach unten gesunkener Bug hob sich ein wenig. Das war alles.
Die Freude beim Anrucken des Fahrzeugs und die Enttäuschung, daß es dabei blieb, waren der letzte Schlag für Mironows bis zum Zerreißen gespannte Nerven. Die Vorstellung, in dieser Steinwüste, vierhunderttausend Kilometer vom Heimatplaneten entfernt, begraben zu sein, lähmte ihn vollends. Er dachte nicht mehr an Lebedinski, dessen Minuten gezählt waren, und auch nicht an seinen Gefährten.
Ein einziger Gedanke hämmerte in seinem Kopf: Hätten wir die Straße nicht verlassen, wären wir jetzt nicht in dieser fatalen Lage.
Sein starrer Blick war auf Tscherednitschenko gerichtet, der ihm etwas zurief. Mironow verstand kein Wort.
Tscherednitschenko nahm einen kleinen Havarieballon aus der Wandhalterung und befestigte ihn bei sich an der Brust. Die großen Rückenballons ohne fremde Hilfe auszuwechseln war schwer, doch das Havarieventil an der linken Schulter ließ im Notfall die Befestigung beliebiger Ballons am Skaphander zu.
»Fangen Sie in einer Stunde an, Signalraketen abzufeuern«, sagte er zu Mironow. »Alle fünf Minuten eine Rakete. Achten Sie auch auf die Satelliten.«
Etwas unsicher ging er über den geneigten Boden der Fahrerkabine und öffnete ein Wandschränkchen. Aufmerksam verfolgte Mironow jede seiner Bewegungen, ohne jedoch zu begreifen, was der andere vorhatte. Tscherednitschenko nahm einen Raketengurt heraus.
Das zwanzigste Jahrhundert kannte viele neue technische Sportarten, die schnell wie die Menschheit selbst waren. Gewöhnliche Auto- und Motorradrennen, Fallschirm- und Segelflugsport waren von Wasserski- und Unterwasserbootsport abgelöst worden. Seit der Entwicklung der Kosmonautik hatten sich Tausende begeistert dem Raketenflugsport verschrieben.
Tscherednitschenko gehörte zu den ersten Landesmeistern in dieser neuen Sportart. Sprünge von einem halben Kilometer waren für ihn eine Kleinigkeit. Seinen letzten Rekord hielt er bereits über drei Jahre.
Alle Kosmonauten beherrschten die Kunst, mit dem Raketengurt zu fliegen. Wegen der schwer einzuschätzenden Entfernung und der möglichen schlimmen Folgen wurden die Gurte auf dem Mond nicht verwendet. Tscherednitschenko hatte, weil sich kein Partner fand, immer allein trainiert. Nie trennte er sich von seinem Raketengurt. Die geringere Anziehungskraft des Mondes – auf der Erde betrug sie das Sechsfache – erlaubte ihm Sprünge, von denen er auf der Erde nicht zu träumen gewagt hätte. Mit geübtem Handgriff schloß Tscherednitschenko die Gurtschlösser. Und erst da begriff Mironow, daß er allein bleiben sollte, in dem beschädigten Fahrzeug inmitten unwegsamer Felsen, und daß vor ihm die dreihundert Stunden währende eisige Mondnacht lag.
Was wird aus mir? dachte er in panischer Furcht. Er machte einen Schritt auf Tscherednitschenko zu, um ihn zurückzuhalten. Auf der Eiskruste rutschte er aus und fiel, lächerlich mit den Armen rudernd, auf den Rücken. Tscherednitschenko beugte sich über ihn und bemerkte hinter Mironows Helmscheibe angstvoll aufgerissene Augen. Hätte er Zeit gehabt, dieser Blick hätte ihn nachdenklich gemacht. Aber der unerbittliche Zeiger zählte nicht mehr die Minuten, sondern die Sekunden, die Lebedinski verblieben waren. Das war jetzt wichtiger als alles andere.
Tscherednitschenko reichte Mironow die Hand und half ihm beim Aufstehen.
»Ich fliege Lebedinski entgegen«, sagte er. »In einer Stunde, wenn Schröders ›Grashüpfer‹ naht, gehen Sie mit dem Signalwerfer hinaus. Vergessen Sie nicht, die Peilwinkel anzugeben. Die ›Potomac‹ ist nicht mehr weit, sie hilft uns bei der Suche nach Ihnen. Sauerstoff haben Sie genug.« Er wandte sich zur Ausstiegsluke.
Über dem beschädigten »Grashüpfer« schienen, ohne zu flackern, gleichgültig die Sterne. Tiefschwarze Nacht ringsum. Tscherednitschenko suchte den Himmel nach dem Deneb ab. Da war er. Leuchtete, als wäre nichts geschehen…
Für Sekunden wurde Tscherednitschenko von Grauen gepackt. Er war sich der Gefahren eines solchen Nachtflugs bewußt. Sobald man sich vom Boden abgehoben hatte, verlor man jedes Gefühl für Höhe und Tiefe. Man wußte nicht, wohin man flog, ob hinauf zu den Sternen oder auf gratige Felsen hinab. Unwillkürlich malte er sich aus, wie er auf einem Berg aufschlagen würde. Das schnürte ihm die Kehle zu.
Langsam legte er die Hände auf den Steuerhebel des Raketengürtels…
Dieser Flug war zweifellos Tscherednitschenkos beste Leistung. Aber in keinem Kampfrichterprotokoll wurde sie festgehalten. Für sie gab es weder Urkunde noch Auszeichnung. Dennoch waren sich alle Fachleute einig, daß Tscherednitschenko einen unvorstellbaren Rekord aufgestellt hatte, der in Dutzenden von Jahren nicht zu brechen war.
Tscherednitschenko versicherte später, der Flug sei gar nicht so schwierig gewesen. Wer sollte das nachprüfen? Niemand hatte den Mut, das Husarenstück zu wiederholen.
Der Flug im Raketengurt hatte nicht lange gedauert. Nach drei Minuten hatte Tscherednitschenko unter sich die doppelten Markierungslichter erblickt. Schwebend setzte er auf der Straße auf. Dann hastete er mit Riesensprüngen weiter, bis der Treibstoff im Raketengurt verbraucht war. Nach zehn Minuten erblickte er im Lichtschein seiner Lampe eine häßliche Metallspinne, die in ihren Vorderklauen einen Mann im Skaphander trug.
Er eilte Lebedinski mitten auf der Straße entgegen, wobei er hastig den Havarieballon löste…
Nach einer guten Stunde leuchteten die Scheinwerfer des zweiten Geländefahrzeugs auf, und bald darauf meldete Schröder, dem es gelungen war, mit der »Potomac« Funkverbindung aufzunehmen, Foster habe Mironows Peilwinkel empfangen.

Fünf Tage später, nachdem die »Rubin« neue Triebwerke bekommen hatte, landete Fedossejew auf dem Mond.

Im Krater der Basis, von Scheinwerfern angestrahlt, schalteten und walteten die Roboter. Ihr Bauwerk war bereits abgetragen und die gefällten Maste und Antennen standen wieder an Ort und Stelle. Nur ein Haufen zersägter Balken, der neben der Basiskuppel lag, erinnerte an die turbulenten Ereignisse der letzten Stunden.

Nachdem Fedossejews Assistenten ihre Instrumente aufgestellt und funktionsbereit gemacht hatten, wurden die Roboter angehalten. Die langwierige Untersuchung des »Nilpferds« begann. Nach achtundvierzig Stunden verkündete Fedossejew endlich ihren Abschluß. Im Krater wimmelte es wieder von Robotern. Fedossejew lehnte es ab, zur Station zu fliegen, so verlockend der Gedanke an eine Ruhepause auch war. Er vertrug die geringere Schwerkraft des Mondes nicht und zog es vor, so schnell wie möglich in seine gewohnte Erdumgebung zurückzukehren.

Smolny und Lebedinski begleiteten den Gast. Natürlich galt ihre erste Frage der Ursache für das Verhalten der Roboter.
»Das Paradoxe an der Geschichte ist, daß die Erscheinung, mit der wir es hier zu tun haben, schon über zwanzig Jahre bekannt ist«, erklärte Fedossejew. »Bei Untersuchungen des menschlichen Gehirns ist man daraufgestoßen. Daß sie auch bei Robotern auftreten kann, hat uns allerdings überrascht.
Sie erinnern sich vielleicht, wieviel Diskussionen es in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren um den Mechanismus des Gedächtnisses gegeben hat. Das Problem schien nicht sonderlich kompliziert zu sein, seine Lösung wurde jeden Tag erwartet. Allein bis heute ist es nicht restlos gelungen, das Geheimnis zu lüften. Deshalb mußten bei der Entwicklung von Rechenautomaten und später auch beim Bau von Robotern Gedächtnisspeicher konstruiert werden, die nichts mit dem menschlichen Gehirn gemein hatten und auf ganz anderen Prinzipien beruhten.
Unsere ersten Roboter waren wegen des begrenzten Umfangs gespeicherter Informationen primitiv. Die Entwicklung des Kristallgehirns erlaubte uns schließlich, den Automaten bei gleichem Gewicht und Ausmaß der Speicherwerke hundertmal mehr Informationen einzugeben. Dennoch unterschieden sich die Automaten mit Kristallgehirn im Grunde nicht von den ersten mit Röhren bestückten Rechnern der vierziger Jahre. Sie wissen sicherlich, daß beispielsweise die Mondroboter nur ganz einfache Operationen selbständig durchführen können. Um sie komplex einsatzfähig zu machen, bedurfte es eines zentralen Kristallgehirns, des ›Nilpferds‹, dessen Volumen vier Kubikmeter übersteigt.
Im übrigen haben die Wissenschaftler herausgefunden, daß das menschliche Gehirn über gigantische, uns noch unbekannte Gedankenspeicher verfügt. Jasper und Penfield haben seinerzeit in der Gehirnrinde Bereiche entdeckt, in denen unter Stromeinwirkung ganz unwahrscheinliche Erscheinungen auftraten. Menschen erlangten die Fähigkeit, sich an Dinge zu erinnern, die sie längst vergessen hatten. Während einer Testseance deklamierte eine Frau plötzlich seitenlang griechische Verse, obwohl sie die Sprache gar nicht kannte. Wie sich bei einer Überprüfung dann ergab, hatte sie die Verse als Kind von ihrem Bruder, einem Gymnasiasten, gehört. Menschen ohne musikalisches Empfinden, die noch nie ein Instrument in der Hand gehabt hatten, konnten vor Jahren gehörte Melodien richtig wiedergeben. Bis heute ist das Wesen dieser Erscheinung noch nicht erforscht. Wie seltsam das auch klingen mag, es ist nicht einmal geklärt, auf welche Art die Informationsspeicherung vor sich geht, auf biologischer, chemischer oder physikalischer Grundlage.
Allerdings hätten wir nie vermutet, daß nicht nur das menschliche, sondern auch das künstliche Gehirn eine derartige Fähigkeit zur Gedankenspeicherung besitzt. Wir waren der Ansicht, mit der Konstruktion des Kristallhirns die Bereiche und den Umfang der Informationsspeicherung festgelegt zu haben. Das heißt, nur nach Eingabe eines neuen Programms sollten die gespeicherten Informationen abgerufen und entsprechende Impulse ausgelöst werden, um die Maschine programmgemäß in Aktion zu setzen. Sobald das Programm gelöscht war, sollte sich das Kristallhirn aus einem aktiv wirkenden Zentrum wieder in einen passiven Speicher verschiedener voneinander isolierter Nachrichtenelemente verwandeln.
Bei der verhältnismäßig kleinen Gehirnmasse der Arbeitsroboter war das auch so. Im großen Kristallgehirn entstanden jedoch uns bekannte Verbindungen, so daß es die Fähigkeit errang, alle irgendwann einmal ausgeführten Programme zu speichern. Die Aufzeichnungen waren sehr schwach. Unsere Instrumente registrierten sie nur, weil wir wußten, was wir suchten. Unter normalen Bedingungen können sich diese ›zusätzlich‹ gespeicherten Informationen nicht auf die Funktion der Automaten auswirken. Dennoch muß man zugeben, daß die Speicherkapazität des Kristallhirns nicht unseren Berechnungen entspricht, sondern um ein mehrfaches größer ist.
Hätte Lebedinski nicht vor der Sonneneruption das Programm herausgenommen, wären wir nie auf diese unerwarteten Vorgänge im Kristallhirn gestoßen. Die durch ein Programm aus den Gedächtnisspeichern abgerufenen Signale sind so stark, daß sie die schwachen Signale von den zusätzlichen Informationen vollständig überdecken. Da das Programm aber herausgenommen war, löste der starke Radiationsstrom der Sonneneruption die gleiche Wirkung auf das Kristallhirn aus wie der elektrische Strom bei den Versuchen von Jasper und Penfield auf das Gehirn ihrer Patienten. Die alten Programmaufzeichnungen übernahmen die Funktion echter Programme. Und nur die Einführung des wirklichen Programms beendete im konkreten Fall das Chaos.

Jetzt erscheint alles klar und einleuchtend, doch als ich von der Meuterei erfuhr, ahnte ich noch nicht, daß der Grund dafür das fehlende Programm sein konnte. Zuerst hielt ich das Ganze für eine gewöhnliche Panne. Erst als Lebedinski meldete, die Roboter seien dabei, ein Radioteleskop zu errichten, kam ich darauf.

Es gibt ein Projekt, eine Reihe von Untersuchungen auf der Venus nur mit Robotern durchzuführen. So sollen mögliche Opfer eines Angriffs von Flugechsen vermieden werden. Um von den Robotern durch die dichte Ionosphäre der Venus Informationen erhalten und ihre Tätigkeit kontrollieren zu können, ist die Errichtung von neuartigen VenusObservatorien vorgesehen, die die Verbindung zur Erde und den Satelliten ermöglichen. Kurz vor dem Abtransport der Roboter auf den Mond wurden in der Wüste Gobi entsprechende Versuche gemacht. Irgend so ein Neunmalkluger ließ die Roboter dort Baumaterial beschaffen. In der Überzeugung, daß auf der Venus keine Menschen existieren, blockierte er kurzerhand die Sicherungsketten zum Schutze der Menschen. Ich habe erst davon erfahren, als es zu spät war. Bei meiner Ankunft hatten die Roboter schon eine geologische Expedition in die Flucht geschlagen und einen Bohrturm demontiert. Viel hätte nicht gefehlt, und die Geologen hätten mich auseinandergenommen.

Aber alles hat eben zwei Seiten. Diese Geschichte wird uns die Möglichkeit geben, die Speicherkapazität des Kristallhirns vorerst um das Hundertfache zu erhöhen – und das bei unverändertem Lichtraumprofil. Sollten sich meine Vermutungen als richtig erweisen, so kann Ihr gewichtiges ›Nilpferd‹ bald von einem winzigen ›Mäuschen‹ abgelöst werden. Rechenautomaten werden sich in der Tasche unterbringen lassen. Jeder Student kann eine ganze Bibliothek mit ins Examen nehmen. In drei, vier Jahren, denke ich, haben wir das Problem gelöst. Übrigens wollte ich Sie noch konsultieren. Was halten Sie davon, wenn wir die hier entdeckte Erscheinung ›Lebedinski-Effekt‹ nennen?«

Fedossejews Abflug war zur Mondmitternacht anberaumt worden. Eine Stunde vor dem Start der »Rubin« traf »Grashüpfer 3« auf der Basis ein, und Fedossejew lernte endlich Stepan Tscherednitschenko kennen.

»Mironow konnte leider nicht mitkommen«, erklärte Professor Smolny dem Gast. »Unser Arzt meint, seine Blutergüsse und Schrammen müßten im Krankenhaus behandelt werden. Er erlaubt Mironow nicht, die Station zu verlassen. Dafür ist Tscherednitschenko gesund und munter…«

Es ging auf Mitternacht zu. Für Fedossejew wurde es Zeit abzufliegen. Neben der startbereiten »Rubin« verabschiedete er sich von den »Männern im Mond«. Achtundvierzig Stunden im Skaphander mit nur kurzen Ruhepausen in der engen Kuppel hatten ihn sehr mitgenommen, und er wünschte sich nur eins: endlich mal wieder richtig schlafen.

Er stieg zum Mondschiff empor und drehte sich an der Luke noch einmal um.
Unten standen die Männer in ihren Raumanzügen. Sie warfen dichte schwarze Schatten bis unter die Rakete. Im Scheinwerferlicht tummelten sich die Roboter und beseitigten die letzten Spuren ihrer Zerstörungswut.
Fedossejew winkte und trat in die Schleuse. Die Einstiegsvorrichtung glitt langsam in den Flugkörper.
Auf einer geräuschlosen, himbeerroten Flammensäule stieg die »Rubin« zum Zenit empor und verschwand, verlor sich zwischen den Sternen.
Der Professor sah ihr nach und wandte sich dann an Tscherednitschenko. »Auf dem Rückflug werden zwei Geologen mitkommen. Im Morgengrauen steht Ihnen die Erkundung der Plinia bevor.«
Tscherednitschenko nickte bedächtig. Er ahnte nicht, daß er von dieser Erkundung nicht zurückkehren würde.

Alexander Lomm
Die gestohlenen Techmine

Ein ungelegener Gast

Zdenek Pištora, Doktor der techminischen Wissenschaften, verließ das Institut heute wesentlich früher als gewöhnlich. Es war vier Uhr nachmittags, als ihn der Dienstwagen – ein Tatra – nach Hause brachte.

Im zweiten Stock blieb er, um nach Luft zu schnappen, stehen, zog eine kleine, geschliffene Flasche aus der Tasche, riß ungeduldig den Glasstöpsel heraus und schüttete sich einen schwarzen Krümel auf die Hand, der aussah wie drei zusammengeklebte Schrotkörnchen verschiedenen Kalibers.

»Heil und ganz, Freundchen, völlig unversehrt!« murmelte er hocherfreut. Doch gleich darauf sah er sich unruhig um und ließ seinen Schatz wieder verschwinden.

Nun stieg er in aller Ruhe die Treppe weiter hinauf. Als er seine Etage erreicht hatte, blieb er wie vom Blitz getroffen stehen.

Vor seiner Wohnungstür stand ein älterer Herr mit bleichem, quadratischem Gesicht und einem großen schwarzen Schnurrbart. Professor Kracmer, sein Abteilungsleiter.

Sollte er tatsächlich Wind bekommen haben? schoß es Pištora durch den Kopf. Ein Zittern überlief seinen langen, hageren Körper.

»Wundern Sie sich bitte nicht über meinen Besuch, lieber Kollege! Zufällig erfuhr ich, daß Sie heute mit der Arbeit für das CGIIGP fertig geworden sind. Ich muß mit Ihnen sprechen.«

Nein, er ahnt nichts! Dem armen Doktor fiel ein Stein vom Herzen; mühsam gewann er Gewalt über seine schlotternden Knie und ging dem Chef entgegen.

»Verzeihen Sie, Herr Professor! Es kommt für mich so überraschend, daß ich ganz durcheinander bin…«, murmelte er aufgeregt, während er den Schlüssel hervorkramte und die Tür aufschloß.

»Das macht nichts, macht gar nichts«, beruhigte ihn Kracmer und seufzte mitfühlend. »Wie sehen Sie nur aus! Die neue Techmin scheint Sie ja sehr mitgenommen zu haben?«

Pištora preßte sich ein kurzes Lachen ab, stieß die Tür auf und sagte mit gespielter Munterkeit: »Aber ich bitte Sie! Ich fühle mich gesund wie ein Fisch im Wasser. Treten Sie näher!«

Angst vor der Kyberoformica

Sie traten in den engen Vorraum, legten die Mäntel ab, und Pištora bat den Gast in sein Arbeitszimmer.

»Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?« fragte er liebenswürdig, während der Professor in dem Sessel neben dem niedrigen, runden Rauchtisch Platz nahm.

»Nein, danke. Ich will mich nicht lange aufhalten. Setzen Sie sich, und hören Sie an, was ich zu sagen habe.«
Zdenek nahm Platz und zündete sich eine Zigarette an. Seine Finger zitterten merklich.
Einige Augenblicke schaute Kracmer schweigend vor sich hin, wie um seine Gedanken zu sammeln. Dann schnaubte er sich die Nase, glättete sorgfältig seinen Schnurrbart und fing langsam an: »Was ich Ihnen sagen möchte, lieber Kollege, ist nichts für fremde Ohren. Ich rechne auf Ihre absolute, kristallreine Ehrlichkeit und verlange deshalb gar nicht erst Ihr Wort.«
Als Pištora von seiner Ehrlichkeit reden hörte, bekam er rote Ohren. Aber Kracmer blickte nach wie vor zur Seite und bemerkte seine Verwirrung nicht.
»Lieber Kollege, Sie kennen meine Meinung zur Kybernetik«, fuhr der Professor mit knarrender Stimme fort. »Ich bin gewiß, daß die heutige Begeisterung für Kybernetik äußerst verderblich ist und gefährliche Folgen mit sich bringt. Sie werden vielleicht einwenden, daß wir alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen haben. Das stimmt. Aber meinen Sie, daß restlos vorauszusehen wäre, wann und wo die Katastrophe beginnt? Wir tappen im dunkeln und müssen jeden Augenblick gewärtig sein, in eine Falle zu geraten. Wenn der Aufstand der von uns geschaffenen Maschinenwesen erst einmal ausgebrochen ist, wenn die geheimnisvollen Kräfte des Bösen erst mal erwacht sind, dann ist es zu spät. Wir haben keine Gegenmittel in der Hand. Heute nun, lieber Kollege, haben Sie die Arbeit an der Kyberoformica beendet. Und ich bin wohl der letzte, der diese erstaunliche Techmin samt ihrer ungeheuerlichen Perspektive nicht durchschaute! Eine gefährliche, eine haarsträubende Erfindung! Es gehört nicht viel dazu, sich auszumalen, was sie anzurichten imstande ist, wenn sie sich eines Tages selbständig macht…«
Pištora zuckte zusammen.
»Soweit wird es nicht kommen, Herr Professor«, sagte er leise.
»Morgen übergeben wir sie dem CGIIGP, und in einer Woche fliegt sie in den Kosmos, um bestimmte wissenschaftliche Aufgaben zu erfüllen.«
»Noch schlimmer, in den Kosmos!« wandte Kracmer bitter ein. »Gerade dort wird sie sich selbständig machen!«
»Das verstehe ich nicht…«
»Wieso? Das ist doch das Einfachste von der Welt. Die Dinger haben volle Bewegungsfreiheit. Will’s der Teufel, kehren sie auf eigne Faust zur Erde zurück, und dann… Na, das haben Sie mit Ihrem Gewissen abzumachen! Aber unter uns gesagt, wenn morgen die Kommission des CGIIGP an der Kyberoformica ernste Mängel entdecken und die Abnahme verweigern sollte, würde ich niemanden zur Verantwortung ziehen. Mehr noch, ich würde mich bemühen, die Kommission und unseren Wissenschaftlichen Rat davon zu überzeugen, daß die Kyberoformica nach dem vorliegenden Projekt nicht zu realisieren ist…«
»Aber Herr Professor!«
»Das ist meinerseits alles, lieber Kollege.«
Sprach’s, stand auf und empfahl sich mit einer zeremoniellen Verbeugung.

Mini ist Trumpf

Hier muß gesagt werden, was das ist, so eine Techmin. Es ist die Abkürzung von »Technische Miniatur«. Die von uns beschriebene Zeit war eine Zeit regelrechter Begeisterung für Minitechnik. Täglich kamen neue winzige Geräte auf, und ihre Konstrukteure rissen sich fast ein Bein aus, um einander zu überbieten. Niemand wunderte sich mehr über Radioapparate von der Größe eines Stecknadelkopfes, über Filmkameras und Fotoapparate, die man unterm Fingernagel verstecken konnte, oder über Magnettongeräte, die in einem Knopfloch Platz hatten.
Die praktische Anwendung der technischen Miniaturen oder

Techmine, wie man sie bald nannte, war mit großen Unannehmlichkeiten verbunden. Man verlor sie andauernd.

Leute mit Verstand schlugen die Hände überm Kopf zusammen.
»Was soll der Unsinn? Der Mensch ist so gebaut, daß er greifbare Gegenstände benötigt. Sagen Sie um Himmels willen, wozu einen Schweißapparat konstruieren, den allenfalls ein Marienkäfer zu benutzen imstande wäre?«
Doch die Erfinder der Techmine wollten von solchen Bedenken nichts wissen. Sie hatten tausend Rechtfertigungsgründe zur Hand.
Mal arbeiteten sie auf dem Sektor Medizin und produzierten Geräte, die sich in Gelatineoblaten verschlucken ließen, mal wandten sie sich der Kosmonautik zu, um Ausrüstungen für winzige Raumforschungsraketen zu entwickeln, dann wieder stellten sie sich in den Dienst der Kriminalistik.
Was denkt sich der findige Menschengeist nicht alles aus!
Na, und ein Hitzkopf kam eben auch auf die Idee, ein mechanisches Insekt herzustellen, konstruiert nach dem Prinzip vollkommener kybernetischer Maschinen – sich selbst programmierend, sich selbst steuernd, sich selbst vervollkommnend, sich selbst aufladend und was nicht noch alles selbst vollbringend. Die Wahl fiel auf eine Ameise aus der Unterfamilie der Darylinae, die zur Art der Polyergus gehört. Die Ehre, diese geniale Idee zu realisieren, hatte der wissenschaftliche Mitarbeiter des PITM (Prager Institut für technische Miniaturen), Doktor der techminischen Wissenschaften Zdenek Pištora.

Delikt aus Liebe

Warum aber war Zdenek Pištora angesichts seines Chefs von einer so merkwürdigen Aufregung befallen worden? Das ist weiter kein Geheimnis. Der Schöpfer der Kyberoformica war verliebt und wollte vor seiner Braut mit der soeben fertiggestellten Techmin brillieren. Mit anderen Worten, er wollte ihr zeigen, was für ein As er war, er, Zdenek Pištora.

Um die Wahrheit zu sagen, Danka war ohnehin überzeugt, ihr bebrillter, lang aufgeschossener Techminist sei der tüchtigste aller Männer. Aber Pištora hatte ständig den Eindruck, daß sich ihre Überzeugung noch nicht genügend gefestigt habe. Deshalb hatte er sich in den Kopf gesetzt, ihr seine wunderbare mikroskopische Schöpfung vorzuführen.

Danka in das Allerheiligste des PITM zu schmuggeln war völlig undenkbar. Viel einfacher war es, die kleine Kyberoformica für eine Nacht aus dem Institut zu entführen.

Genau das hatte Zdenek Pištora getan.
Ohne jemandem ein Sterbenswörtchen zu verraten, hatte er die kybernetische Ameise heimlich, still und leise in die Flasche gesteckt und mit nach Hause genommen.
Er war sich natürlich bewußt, daß sein Tun überaus verwerflich war und schon an Frevel grenzte. Deshalb ging ihm die Sache auch so zu Herzen.
Als der Chef gegangen war, dauerte es eine Weile, bis Pištora sich beruhigt hatte. Der unerwartete Besuch hatte ihn zu sehr aus der Fassung gebracht. Was für ein dummer Zufall! Erst als er sich vergewissert hatte, daß die Gefahr vorüber war, bekam er sich wieder in die Gewalt und rief sich das kurze Gespräch mit Kracmer ins Gedächtnis zurück. Es war mehr als klar: Der Professor fürchtete die Kyberoformica und schlug vor, sie zurückzuziehen.
»Unseliger Angsthase!« sagte er laut und spürte, wie sich sein Herz zusammenzog vor Zorn, Kränkung und Eifersucht um die großartige Kyberoformica.

Besuch im Teeglas

Danka ließ nicht auf sich warten. Wer hätte auch die Gelegenheit verpassen wollen, den unvergleichlichen Zdenek wiederzusehen und gleichzeitig den Kyber zu besichtigen, der bald ins Zentrum der Galaxis reisen würde!

Ein Telefongespräch, und keine halbe Stunde verging, da beugten sich zwei Köpfe – ein schwarzer mit Igelschnitt und ein wuschliger aschfarbener – über das Glas, in den, eifrig mit dem Antennenschnauzbart wedelnd, die wunderbare künstliche Ameise herumkroch.

Zunächst konnte Danka nicht fassen, daß das schwarze Insekt nicht natürlichen Ursprungs sei. Allzu ähnlich war die Kyberoformica ihren lebenden Artgenossen. Doch Zdenek fiel es nicht schwer, ihre Zweifel zu zerstreuen. Er nahm eine Lupe mit hundertfacher Vergrößerung und zeigte Danka den Stempel des PITM und seinen eigenen Namen, der der Kyberoformica auf den Bauch graviert war.

Entzückt rief Danka: »Oh, Zdenek, du bist ein As!« Der Herr Doktor wurde vor Freude knallrot, rückte seine

Brille zurecht und sagte bescheiden: »Was du nicht sagst!« Doch dann nahm er Haltung an und setzte hinzu: »Übrigens
war das gar nicht so einfach! Wenn du wüßtest, was der
Kyber alles in sich hat! Hundertfünfzig Geräte und
Steuerungssysteme! In normaler Größe würden die nicht
einmal im Gebäude des PITM Platz finden!«
»Tatsächlich? Kaum zu glauben. Und das hast du alles
selbst gemacht?«
»Was heißt ›selbst gemacht‹? Daran haben über fünfhundert
Mann gearbeitet. Ich habe nur Montage und Justierung
geleitet und als Erfinder und Chefkonstrukteur die
Oberaufsicht gehabt. Deshalb steht neben dem
Institutsstempel auch mein Name. Wenn man bedenkt, daß
dieser Name ins Zentrum unserer Galaxis fliegen wird…« »Oh, Zdenek! Schrecklich, wie berühmt du bald sein wirst!« Und das aschfarbene Köpfchen sank ihm zärtlich an die
Brust.
Rund zwei Stunden später, nachdem er seine Braut bis an
die Straßenbahnhaltestelle gebracht hatte, kehrte der
glückliche Bräutigam nach Hause zurück, stürzte als erstes zu
dem Glas, warf einen Blick hinein und rief verwundert: »Das
ist ja allerhand!«
Statt einer Ameise erblickte er mindestens ein Dutzend
dieser flinken Insekten. Die Gäste unterschieden sich
allerdings in Färbung. Ausmaß und Benehmen so stark von
ihrer Gastgeberin, daß es durchaus nicht notwendig war, zur
Lupe zu greifen, um unter den gewöhnlichen, lebendigen
Ameisen die kostbare Techmin herauszufinden. Die neu
angekommenen Ameisen waren kleiner und bedeutend heller
als die künstliche. In dichten Scharen umkreisten sie die
Kyberoformica, betasteten sie mit ihren Fühlern und staunten
sie offenbar nicht weniger an, als Danka es getan hatte. Die
Kyberoformica selbst verhielt sich würdevoll und befühlte
ihrerseits mit den Antennen in aller Ruhe der Reihe nach ihre
Gäste, studierte sie und nahm sie mit ihrer gesamten
komplizierten Apparatur zur Kenntnis.
»Nein, meine Liebe, das ist keine Beschäftigung für dich!
Dir steht weit Höheres bevor, als dumme irdische Ameisen
zu inspizieren!«
Nach diesen Worten nahm Zdenek die Kyberoformica
vorsichtig mit der Pinzette und steckte sie in die kleine Flasche zurück, die er mit dem Stöpsel fest verschloß. Was die lebenden Ameisen betrifft, so behandelte der Doktor sie nicht nur unmanierlich, sondern geradezu barbarisch: Er goß Wasser ins Glas und schüttete es mitsamt den Ameisen in den
Küchenausguß.
Danach legte er die Flasche mit der Kyberoformica in die
Schreibtischlade und ging schlafen. Schon im voraus genoß
er die erste Atempause seit drei Jahren.

Unruhige Nacht

Aber auch diesmal gelang es Zdenek Pištora nicht, unbeschwert einzuschlafen.

Kaum hatte er sich in das kühle Bett gelegt, da begann seine Hochstimmung allmählich zu verfliegen. Das Bild des geliebten Mädchens wurde von der finsteren Gestalt Professor Kracmers verdrängt.

»Daraus wird eine ganze Kettenreaktion!« brummelte das

Kracmer-Gespenst.
»Du bist selbst eine Kettenreaktion! Verschwinde!«
widersprach Pištora in Gedanken und gab sich die größte
Mühe, die unangenehme Erscheinung loszuwerden. »Eine Kettenreaktion, die sich zur Katastrophe auswächst!«
sagte Kracmer dickfellig.
Plötzlich fiel Pištora die kleine, scheinbar belanglose
Episode mit den lebendigen Ameisen und der Kyberoformica
im Teeglas ein. Dadurch rückte Kracmer in den Hintergrund,
und schließlich verschwand er ganz. Ringsherum wimmelte
es von Ameisen. Schweigend, emsig, konzentriert krochen
sie umher, rote, rötliche, schwarze, und bewegten ihre Fühler.
Da drang eine seltsame Unruhe in Pištoras Herz. Die Ameisen waren ihm ausgesprochen unsympathisch, obwohl
ihm nicht klar war, weshalb.
Mit offenen Augen lag er auf dem Rücken und grübelte nur
noch über die Ameisen nach.
Warum sind sie zur Kyberoformica ins Glas gekrochen?
Was hat sie angezogen? Und woher sind sie so mir nichts, dir
nichts gekommen? Was für Reaktionen haben sie in dem
komplizierten, sich selbst programmierenden System der
Kyberoformica ausgelöst? Und was wissen wir überhaupt
über Ameisen?
Es ist schwer, sich auch nur vorzustellen, wie viele Ameisen
auf unserem alten Planeten leben, sinnierte Pištora, die Hände
unterm Kopf, ins Dunkel seines Zimmers starrend. In einem
Ameisenstaat leben bis zu einer halben Million Tiere, in den
Tropen sind es sogar Hunderte von Millionen. Und wie viele
Ameisenhaufen gibt es auf der Erdoberfläche, wieviel Löcher
unter der Erde, im Sand oder im Holz alter Bäume? Fünfzig
Millionen? Hundert? Oder vielleicht eine ganze Milliarde?
Hat sie jemand gezählt? Weiß der Teufel! Jedenfalls gibt es
auf der Erde einige hundert Trillionen Ameisen, und zwar der
allerverschiedensten Art: Jäger, Viehzüchter, Schnitter und
Sklavenhalter. Ich habe viel darüber gelesen. Und sie haben
die Fähigkeit, überall einzudringen. Man sieht sie nicht, doch
sie sind überall, sogar in den Städten. Sie sind da, beobachten
und warten. Worauf warten sie eigentlich?

Die Katastrophe ist da

Pištora sprang aus dem Bett, schaltete das Licht ein und zog sich fieberhaft an. Seine Unruhe nahm lawinenartig zu. Das Jackett zog er sich erst über, als er bereits im Laufschritt in sein Arbeitszimmer unterwegs war.

Zu überlegen gab es nichts. Er riß die Tischlade auf, ergriff die Flasche und stand starr vor Entsetzen. Sie war leer! Der Stöpsel lag in einer Ecke der Schublade, wie mit Gewalt aus der Flasche gestoßen.

Wer hatte ihn herausgezogen und beiseite geschleudert? Selbst für einen Menschen war das mit einiger Mühe verbunden. Sollte es wirklich die Ryberoformica gewesen sein? Aber wo war sie? Vorsicht! Daß er sie nur nicht zerdrückte! Irgendwo im Tischkasten mußte sie sein!

Pištoras Hände zitterten, als er den Inhalt des Kastens aufgeregt durchwühlte. Nicht die geringste Kleinigkeit, kein einziges Stäubchen entging seiner Aufmerksamkeit. Doch die Kyberoformica war nicht da.

»Geflüchtet, das Biest!« flüsterte der unglückliche Techminist und ließ, sich völlig erschöpft auf einen Stuhl sinken. Was war zu tun? Wie dem Direktor des PITM und der Kommission des CGIIGP den Verlust einer so kostbaren Techmin plausibel machen? Sie hatte schließlich einen enormen Wert und kostete gut und gerne soviel wie ein interplanetares Passagierschiff für zweihundert Personen! Hier würde nicht einmal Kracmers Fürsprache helfen. Ja, und würde Kracmer überhaupt für ihn eintreten, wenn er erführe, daß die Kyberoformica geflüchtet war, daß sie sich nicht erst im Kosmos, sondern schon auf der Erde selbständig gemacht hatte? Natürlich nicht. Er wäre der erste, der Pištora die allerschwersten Vorwürfe machen würde. Was sollte nur werden?

Schon der bloße Gedanke daran war schrecklich. Gerichtsverfahren, Schimpf und Schande, unwiderrufliche Entfernung aus dem Amt. Entsetzlich! Lohnte es sich noch zu leben? Und Danka? Was würde Danka sagen! Bestimmt würde auch sie sich von einem Straffälligen und Versager distanzieren! Nein, nein, soweit durfte es nicht kommen! Nur nicht die Hände in den Schoß legen! Suchen, suchen!

Zdenek Pištora ergriff die Lupe und kroch auf allen vieren durch sein Arbeitszimmer. Zentimeter für Zentimeter suchte er den Fußboden ab, bis in die kleinsten Ritzen, Rillen und Unebenheiten.

Der erste Anruf aus dem PITM

Um halb drei klingelte das Telefon. Pištora zuckte zusammen, als träfe ihn der Schlag. Trotzdem erhob er sich vom Fußboden und nahm den Hörer ab.

»Hier Pištora…«
»Hallo, bist du’s, Zdenek? Grüß dich, altes Haus! Verzeih, daß ich dich mitten in der Nacht geweckt habe. Hier spricht Honza Stašek aus dem PITM…«
»Grüß dich, Honza…«, brachte Pištora mit Mühe hervor. Er fühlte, wie ihm schwindlig wurde, und setzte sich auf einen Stuhl.
»Hallo, hallo! Hörst du mich, Zdenek? Was ist, bist du noch nicht wach?« schnarrte es ihm aus dem Hörer entgegen.
»Ich höre dich, Honza. Gut sogar. Ich hatte noch nicht geschlafen. Ich habe Kopfschmerzen…«
»Kopfschmerzen? Das ist gut! Ein kluger Kopf muß weh tun! Nur ein hohler macht sich nicht bemerkbar. Doch Spaß beiseite. Morgen wird deine kleine Ameise geprüft. Ich habe den Auftrag, Tonbandaufnahmen von ihr vorzubereiten. Da habe ich mir etwas ausgedacht, aber dazu brauche ich die Techmin Nummer 386955! Das ist, wie du weißt, das Magnettongerät zweimal dreieinhalb Mikron! Aber so ein Pech: in der Mikrothek habe ich sie nicht gefunden! Weißt du vielleicht, wo sie steckt?«
»Wer?«
»Wer! Die Techmin Nummer 386955 natürlich. Komm doch endlich zu dir, Zdenek! Ich brauche sie. Wo könnte sie deiner Meinung nach sein?«
»Ach so, die Techmin! Nein, das weiß ich nicht. Keine Ahnung. Vor einem Monat hatte ich sie allerdings entliehen, habe sie aber in die Mikrothek zurückgebracht. Sie müßte dort sein, Honza.«
»Müßte, müßte! Ich bin doch nicht blind! Wenn ich dir sage, sie ist nicht da, so ist sie’s eben nicht!«
»Na, dann nimm dir eine andere aus dem Magazin. Zweimal drei Mikron – davon haben wir fünfhundertzwanzig Stück am Lager!«
»So schlau bin ich auch. Aber was wird der Alte sagen! Er mag es nicht, wenn man ohne sein Wissen etwas aus dem Magazin nimmt.«
»Keine Sorge, ich mach das morgen mit ihm klar. Hol sie dir nur und arbeite in Ruhe weiter.«
»Na gut, auf deine Verantwortung!«
»In Ordnung.«
»Mach’s gut, Zdenek! Nimm ein Schlafmittel und schlafe! Gute Nacht!«
»Mach’s gut, Honza!«
Langsam legte Pištora den Hörer auf die Gabel und nahm müde die Brille ab. Eine stumpfe Gleichgültigkeit hatte sich seiner bemächtigt.

Der zweite Anruf aus dem PITM

Sein Wunsch, einzuschlafen, alles zu vergessen, war unüberwindlich; Pištora rührte sich nicht vom Fleck, sondern blieb auf dem Stuhl vor dem unordentlichen Schreibtisch sitzen. Er hatte nicht die geringste Lust auf weitere Suchaktionen.

Ihm fiel der Kopf auf die Brust, seine Arme hingen kraftlos herab. Schlafen müßte man, schlafen…
Doch da schrillte es abermals. Einmal, zweimal, dreimal, viermal… Pištora hob schwer den Kopf und blickte stumpf zum Telefon hinüber, das beharrlich weiterklingelte. Nichts zu machen, er mußte den Hörer abnehmen.
Schlaftrunken lallte der Ärmste: »Hallo! Hier Pištora…«
»Um Gottes willen, Zdenek, du schläfst ja wie ein Murmeltier! Ich bin’s noch einmal, Honza Stašek!«
»Was ist denn schon wieder los?«
»Ein Malheur, Zdenek! Ein furchtbares, nicht wiedergutzumachendes Malheur! Komm sofort ins PITM! Auf der Stelle! Hörst du?«
»Ja doch! Was ist denn passiert? Was machst du mitten in der Nacht für eine Panik?«
»Ich bringe es nicht über die Lippen! Komm her, dann erfährst du’s!«
Die Stimme im Telefon klang tatsächlich sehr beunruhigend. Pištora aber hatte es satt, sich aufzuregen. Gereizt sagte er: »Nirgends fahre ich hin! Sage, worum es sich handelt, oder ich lege auf!«
»Na schön! Hör zu! Halt dich aber ordentlich fest! Die Neuigkeit ist umwerfend! Heut nacht haben unbekannte Täter hier im PITM restlos alle Techmine geraubt, einschließlich deiner Kyberoformica! Kapiert? Alle Techmine sind futsch! Das Magazin ist leer, die Mikrothek ist leer, und der Safe deiner Kyberoformica ist es auch!«
Pištoras Müdigkeit war wie weggeblasen.
»Du spinnst!« brüllte er in den Hörer. »In unserm Magazin sind fünfundzwanzig Millionen Techmine und in der Mikrothek etwas über drei Millionen! Es ist ganz unmöglich, die alle auf einmal zu klauen! Ist doch völliger Wahnsinn.
Du bist betrunken, Honza, oder ernsthaft krank!«
»Sachte, sachte, Zdenek! Ich bin nicht betrunken, auch nicht krank. Was passiert ist, ist unwahrscheinlich, aber es stimmt. Jawohl, alle achtundzwanzig Millionen Techmine und deine Kyberoformica sind auf rätselhafte Weise aus dem PITM verschwunden; als ob sie sich verdünnisiert hätten. Das ist ja das Verrückteste: sie haben sich verdünnisiert!«
»Gut, Honza, ich komme!« Pištora legte den Hörer auf und saß ein Weilchen unbeweglich da.
Irgendwo tief im Innern kroch eine seltsame Freude in ihm hoch. Die Beraubung des PITM enthob ihn der Verantwortung für die geflüchtete Kyberoformica! Aber die Freude währte nicht lang. Ihn packte Abscheu vor sich selbst. »Wie weit ist es mit dir gekommen!« Und da befiel ihn plötzlich furchtbare Angst. Sollte tatsächlich ein Zusammenhang bestehen zwischen der Flucht der Kyberoformica und der Beraubung des PITM?
Pištora sprang auf und stürzte in die Diele. Er griff nach Hut und Mantel, lief aus dem Haus und rannte durch die nächtlichen Prager Straßen zum Institut für Technische Miniaturen.

Kracmers Mutmaßung

Das fünfstöckige Gebäude des PITM befand sich auf dem Petrin, dort, wo einst das kleine Observatorium gestanden hatte. In der Nähe des PITM ragte ein alter Turm aus Eisenträgem empor, den die Touristen gern bestiegen, um sich an dem bezaubernden Panorama der Goldenen Stadt zu erfreuen. Rings um den Turm und das PITM, über den ganzen, ziemlich steilen Hang des Petrin zog sich das dichte Grün eines wunderbaren Parks.

Nachts fuhr die Drahtseilbahn nicht, so daß Zdenek Pištora zu Fuß den Hügel hinaufkraxeln mußte. Erst jetzt, als er die steilen Allen emporstieg, fiel ihm ein, daß es bedeutend einfacher gewesen wäre, ein Taxi zu bestellen und über Strahov ins PITM zu fahren. Aber nun hatte es keinen Sinn mehr umzukehren.

Als der Doktor atemlos und schweißgebadet endlich am Institutstor ankam, konnte er sich davon überzeugen, daß er beileibe nicht der erste war, der auf den Anruf Honzas herbeigeeilt war. Im Hof standen Dutzende von Autos in dichten Reihen, und aus den gewaltigen Fenstern des fünfstöckigen Gebäudes fiel helles Licht. Pištora lief in die Aula. Hier waren schon über tausend Mitarbeiter des PITM versammelt. Die Mitglieder des Wissenschaftlichen Rats waren vollzählig erschienen und saßen mitsamt dem Institutsdirektor im Präsidium.

Am Rednerpult stand mit hängendem Schnurrbart Professor Kracmer, bleicher und finsterer als gewöhnlich. Offenbar hatte er gerade zu sprechen begonnen. Im Saal herrschte gespannte Stille.

Niemand beachtete Pištora, der den Saal mit Blicken überflog, auf der Suche nach Honza Stašek, aber es waren zu viele Leute da. So setzte er sich unbemerkt in die letzte Reihe und hörte zu. Er mußte erst mal zu Atem kommen, sich ein wenig fassen und seine Gedanken sammeln.

Inzwischen krächzte Professor Kracmers Stimme durch den Saal: »Verehrte Fachkollegen, ich bin der Meinung, die Kyberoformica ist nicht geraubt worden! Nein, ist nicht gestohlen, denn sie konnte nicht gestohlen werden! Kollegen, die Kyberoformica ist vor uns geflüchtet! Weder Schloß noch Safe waren für sie ein ernstes Hindernis. Bedenken Sie, Kollegen, daß ihr die Fähigkeit mitgegeben worden ist, unter beliebigen Bedingungen nach eigenem Ermessen zu handeln! Sie ist bereits in der ersten Nacht nach ihrer Erschaffung und vollständigen Justierung geflüchtet und hat bei der Flucht alle übrigen Techmine mitgenommen! Wie sie diesen grandiosen Diebstahl bewerkstelligt hat und ob sie es allein war, wissen wir bislang noch nicht. Aber nicht das ist jetzt am wichtigsten. Wichtig ist, daß die Kyberoformica geflüchtet ist und damit bereits den ersten menschenfeindlichen Akt verübt hat! Wir dürfen in dieser Stunde nicht nach der geflüchteten Kyberoformica suchen, weil wir sie ohnehin nicht finden würden, sondern müssen alle Kräfte zum Kampf gegen sie mobilisieren. Die Kyberoformica, Kollegen, hat sich als das erste Glied einer furchtbaren Kettenreaktion, eines Aufwandes der Maschinen, erwiesen. Der Aufstand ist ausgebrochen, Kollegen! Jetzt hängt alles von unserer operativen Fähigkeit und Erfindungsgabe ab. Entweder gelingt es uns, die ausgebrochene Kettenreaktion im Keim zu ersticken, oder es gelingt uns nicht. Wenn ja, so wird uns das für die Zukunft eine Lehre sein, vorsichtiger mit der Kyberoformica umzugehen. Wenn nicht, so wird es den Untergang der menschlichen Zivilisation auf unserem Planeten bedeuten!«

Tumult im Saal

Als der Professor mit seiner seltsamen Rede fertig war, verließ er das Rednerpult und setzte sich an seinen Platz im Präsidium. Im Saal erhob sich ein unbeschreiblicher Krakeel. Hunderte von Menschen schrien wild durcheinander, erregten sich mit heftigen Gebärden und gingen einander an den Kragen.

Endlich legten sich die Leidenschaften, und der Direktor kam zu Wort.
»Ich verstehe durchaus, Kollegen«, begann er mit vor Aufregung stockender Stimme, »daß die von unserem verehrten Professor Kracmer geäußerte Meinung Ihrer Überzeugung widerspricht. Angesichts der Ereignisse aber sollten wir seine Worte ernst nehmen und aufmerksam prüfen. Vor Beginn der Diskussion möchte ich jedoch den Erfinder der Kyberoformica, Herrn Pištora, um seine Meinung bitten.«
»Kollege Pištora! Zdenek! Pištora! Pištora! Pištora! Wo ist Pištora? Ruft Pištora!« scholl es durch die Reihen des riesigen Saals.
»Hier bin ich! Hier!« meldete sich Zdenek Pištora mit schwacher Stimme, stand auf und ging langsam durch den Gang zum Rednerpult.
Alles verstummte. Mit gesenktem Kopf, völlig zusammengesunken, ein Häufchen Unglück, so schlich er nach vorn. Er wollte den Kollegen die ganze Wahrheit sagen, wollte seine Freveltat eingestehen. Das hatte er sich während Kracmers Rede vorgenommen. Doch dazu kam er nicht. Durch die Hintertür tauchte plötzlich im Präsidium ein schwerfälliger Mann in der Uniform eines Obersten der Miliz auf. Er beugte sich zum Direktor hinunter und flüsterte ihm etwas zu. Sofort erhob sich dieser und erklärte: »Kollegen, Herrn Pištoras Meinung hören wir uns etwas später an. Entschuldigen Sie die Störung, Herr Doktor! Ein Vertreter der Kriminalabteilung möchte eine kurze Mitteilung machen!«
Pištora atmete erleichtert auf (immerhin ein Aufschub) und kehrte eiligen Schritts zu seinem Platz zurück.
Ans Rednerpult trat der Oberst.

Auf frischer Tat ertappt

Der Oberst begann mit einem breiten, gutmütigen Lächeln. Das entlud sofort die Atmosphäre. Durch die Reihen ging eine leichte Lebhaftigkeit, doch gleich darauf herrschte wieder erwartungsvolle Stille.

»Meine Herren Wissenschaftler! Gerichtliche Untersuchungen verlangen an sich den Ausschluß der Öffentlichkeit. Das ist Ihnen sicherlich aus Kriminalromanen bekannt. Wenn ich also diese kriminalistische Regel verletze, so habe ich gewichtige Gründe. Es handelt sich darum: Das heute nacht in Ihrem Institut verübte Verbrechen hat sich inzwischen aus einem dramatischen und rätselhaften in ein komisches, ich möchte fast sagen: anekdotisches Ereignis verwandelt.«

Nach dieser in munter-heiterem Ton vorgetragenen Eröffnung lächelte der Oberst abermals, wartete ab, bis sich das Gemurmel im Saal gelegt hatte, und fuhr fort: »Um den unerhörten Raub an Ihrem Institut aufzuklären, haben wir die besten Experten der Kriminalabteilung eingesetzt. Alle drei Räume, in denen sich die gestohlenen Techmine befanden, sind sorgfältig inspiziert worden. In den ersten beiden gab es nicht den geringsten Hinweis auf Spuren der geheimnisvollen Täter. Lediglich ihre ausgesprochene Präzisionsarbeit war uns unheimlich. Es schien bereits, als gerate die Ermittlung unausweichlich in eine Sackgasse. Doch als wir darangingen, den Kellerraum des Magazins zu untersuchen, wurden unsere Bemühungen schließlich belohnt. Es war eine unwahrscheinliche und völlig unerwartete Entdeckung! Meine Herren Wissenschaftler! Wir haben nicht nur aufgeklärt, von wem und auf welche Weise Ihr Institut ausgeraubt worden ist, es ist uns auch gelungen, mehr als fünfhundert dieser geheimnisvollen Räuber auf frischer Tat zu ertappen. Sie sind erstaunt? Ich werde Ihnen sogleich alles erklären. Als wir den Fußboden des Kellermagazins untersuchten, fanden wir zunächst an der westlichen Wand einige hundert Techmine ohne Schutzhülle. Das machte uns stutzig, und wir entdeckten in den Scheuerleisten zahlreiche kleine Ritzen, die aussahen, als wären sie von Holzwürmern gefressen. An einigen dieser Spalten machten sich kleine Scharen von Ameisen zu schaffen. Meine Herren Wissenschaftler, diese Ameisen hatten Ihre Techmine mit den Kiefern gepackt und verschwanden damit in den mikroskopisch kleinen Löchern. Das sind also diejenigen, von denen Sie bestohlen worden sind. Sie dürfen sie getrost bestaunen!«

Der Oberst zog ein zugestöpseltes Reagenzglas aus der Tasche und hielt es zur allgemeinen Besichtigung hoch. Darin wimmelte es von lebendigen Ameisen. Nachdem er der stumm staunenden Menge das Glas vorgehalten hatte, steckte er es wieder weg und sagte: »Wir haben also mit absoluter Sicherheit festgestellt, daß das Institut für Technische Miniaturen nicht von Menschen, sondern von Insekten, genauer, von Ameisen beraubt worden ist. Folglich liegt kein Rechtsbruch vor, sondern sozusagen ein Fall von höherer Gewalt, der nicht vorauszuschauen, geschweige denn zu verhindern gewesen wäre. Deshalb sehen wir unsere Aufgabe als erfüllt an. Wiederfinden müssen Sie die Techmine selbst. Ich denke, Sie werden Grabungen vornehmen und den Grund und Boden sorgfältig durchsieben. Wenn Sie mir gestatten, Ihnen einen guten Rat zu geben: Am besten wäre, sofort mit den Grabungen zu beginnen, solange es den Ameisen noch nicht gelungen ist, die Techmine über den ganzen Petrinpark zu verschleppen. Erlauben Sie mir, damit meine Mitteilung zu beenden.«

Der Disput geht weiter

Gerade wollte der Oberst das Rednerpult verlassen, als im Präsidium plötzlich eine durchdringende, knarrende Stimme laut wurde, die ihn zum Stehenbleiben nötigte. Die Stimme sagte: »Hier gibt es gar nichts Komisches, Herr Oberst! Dies ist eine viel schlimmere Tragödie, als wenn die Räuber Menschen gewesen wären!«

»Warum sollte das eine Tragödie sein, und dazu noch eine schlimme?« fragte der Oberst und schaute sich interessiert die zahlreiche Besetzung des Präsidiums an.

»Ich bin es, der diesen Gesichtspunkt ausgesprochen hat, Herr Oberst. Mein Name ist Professor Kracmer. Wenn Sie meine Meinung hören möchten, so dürfen Sie sich nicht nur auf die Feststellung der Tatsache beschränken, daß die Techmine von Ameisen gestohlen worden sind!«

»Herr Professor, was Sie da sagen, klingt sehr seltsam. Worauf begründen Sie Ihre Meinung?« fragte der Oberst verwundert.

»Ich will es Ihnen erklären! Die Ameisen wären von selbst niemals auf eine derartige Idee gekommen und hätten den mit einer so unvergleichlichen Präzision durchgeführten Raub allein auch niemals geschafft! Die Ameisen wurden dabei und werden weiterhin von einem vernunftbegabten und gefährlichen Wesen angeführt!«

»Sie meinen, jemand hätte die Ameisen speziell auf den Raub Ihrer Techmine dressiert?« fragte der Oberst ironisch lächelnd.

»Nicht dressiert, jemand hat es ihnen befohlen!« kam die

Antwort.
»Befohlen? Interessant! Wer aber, erlauben Sie die Frage,
hätte wohl die Macht dazu?«
»Die Kyberoformica! Die Kyberoformica hat es den
Ameisen befohlen, Herr Oberst! Und Sie müssen uns helfen,
sie wieder einzufangen! Dazu müssen Miliz, Truppen und
Tausende von Arbeitern eingesetzt werden! Wenn die
Kyberoformica nicht gefunden und vernichtet wird, ist das
unser aller sicherer Untergang.«
Der verdutzte und bestürzte Oberst kam nicht dazu,
Kracmer zu antworten.
Plötzlich stürzten die fünf Nachtwächter des PITM in die
Aula und riefen mit versagender Stimme wirr durcheinander:
»Kollegen! Der Turm! Schnell! Der Turm! Sehen Sie! Sehen
Sie!«
»Ruhe!« rief der Direktor und sprang auf. »Was ist los?
Einer allein soll sprechen! Was für ein Turm? Antworten Sie,
Kubicek!«
»Der Turm, Herr Direktor, der Eisenturm wird zusehends
kleiner. Er ist schon fast zwanzig Meter niedriger!«
antwortete der, den der Direktor Kubicek genannt hatte. »Unsinn! Wie kommen Sie darauf? Sind Sie denn alle
verrückt geworden?« schrie der Direktor. Doch es hörte
niemand mehr auf ihn.
Die Mitarbeiter des PITM sprangen von ihren Plätzen auf
und stürzten zu den Ausgängen. Die Mitglieder des
Präsidiums liefen ihnen nach.

Der schwindende Turm

Es war ein bewegendes Schauspiel!

In einer knappen halben Stunde erst würde die Sonne aufgehen, die Morgendämmerung war jedoch schon ziemlich weit fortgeschritten. Die Silhouette des schwarzen Eisenturms zeichnete sich deutlich gegen den hellen Himmel ab. Völlig unbegreiflich, was dort vor sich ging, doch er wurde tatsächlich niedriger, wie eine im Feuer schmelzende Kerze.

Die riesige Menschenmenge, die aus dem Gebäude auf den Institutshof geströmt war, starrte in tiefem Schweigen auf den Turm. Die Gesichter drückten unsägliches Erstaunen aus, Verwirrung und sogar Entsetzen. Pištora, der ganz vorn stand, blickte ebenfalls wie verzaubert auf das Phänomen.

Plötzlich faßte ihn jemand am Ellenbogen. Hastig drehte er sich um und erblickte Honza Stašek.
»Das sind sie! Na, bewundere sie!« sagte Honza leise und gab Zdenek sein Fernglas.
Mechanisch nahm Pištora das Glas und richtete es auf die Turmspitze. Er sah, wie sich ein kaum wahrnehmbarer Streifen daran hoch- und seitlich entlangzog, ähnlich einer breiten, graublauen Rauchfahne, die schwankt und vom Wind zur Seite getragen wird. Aber es war windstill. Die Bäume um den Turm herum standen unbeweglich da; kein einziges Blatt regte sich. Pištora begriff, daß es die Ameisen waren.
»Hör mal, wieso fliegen sie denn?« fragte er flüsternd und gab Honza Stašek das Fernglas zurück.
»Ja eben, wieso fliegen sie, wo sie das zu dieser Jahreszeit doch gewöhnlich nicht tun? Höchstwahrscheinlich, mein Lieber, sind sie von deiner Kyberoformica mit Miniflugapparaten ausgerüstet worden. Schließlich zerlegen sie den Turm doch nicht zum Spaß in lauter Krümel! Sie haben vor, sich häuslich einzurichten, und versorgen sich auf diese Weise mit Eisen. Der Turm ist nur der Anfang, Zdenek. Bis heut abend haben sie unsre sämtlichen Eisenkonstruktionen vernichtet: Brücken, Eisenbahnen, Maschinen, Werkbänke, Fabriken… Die Kyberoformica ist schnell und gründlich, und die Zeit hat für die Ameisen sicherlich ganz andere Dimensionen. An einem Tag bringen sie mehr zustande als wir in zehn Jahren. Und in einem Monat kriegen sie mehr kaputt, als wir auf unserem Planeten in jahrhundertelanger Arbeit aufbauen können.«
Pištora entgegnete nichts. Mit unsäglichem Entsetzen stierte er auf den schwindenden Turm; ihm ging auf, daß seine Schuld von Stunde zu Stunde katastrophalere Ausmaße annahm.
»Es gibt keine Entschuldigung für mich…«, murmelten seine Lippen.
Honza hörte diese Worte und versuchte ihn zu trösten. »Hör auf, gräm dich nicht! Nicht nur du, wir alle hier sind schuld! Die kybernetische Techmin hat nur den Anstoß gegeben. Und wenn man’s richtig betrachtet, haben wir alle die Hände im Spiel.«
»Du sprichst genau wie Kracmer«, sagte Pištora mit einem Seufzer.
»Es hilft nichts, Kracmer hat recht«, erwiderte Honza Stašek.
»Ja, er hat recht. Natürlich hat er recht. Aber nicht darum geht es, Honza«, flüsterte Pištora und war gleich wieder still.
Die allgemeine Erstarrung und das Schweigen dauerten an, bis der über die Bäume ragende Teil des Turms völlig verschwunden war. Erst dann kam plötzlich alles wieder zu sich. Man geriet erneut ins Diskutieren und ging allmählich, meist zu zweien, ins Institut zurück. Überall hörte man die Worte »Kyberoformica« und »Ameisen«.

Kyberoformica die Erste, Königin der Ameisen

Als alles wieder in der Aula versammelt war und der Wissenschaftliche Rat im Präsidium Platz genommen hatte, ging Professor Kracmer eigenmächtig, ohne Erlaubnis des Vorsitzenden, ans Rednerpult. Mit tragischer Miene sagte er: »Meiner Ansicht nach, verehrte Kollegen, hat eine Debatte jetzt keinen Sinn. Deshalb schlage ich vor, daß unsere Funker sich bemühen, sofort Verbindung mit der Kyberoformica aufzunehmen. Ich hoffe doch, daß Sie, Herr Direktor, nichts gegen diese äußerst notwendige Maßnahme einzuwenden haben?«

»Nein, ich habe nichts dagegen. Eine sehr gute Idee«, antwortete der Direktor müde; dann rief er in den Saal: »Kollegen Funker, machen Sie sich an die Arbeit! Wenn die Kyberoformica antwortet, schließen Sie die Lautsprecher im Saal an!«

Eine ganze Minute lang, die endlos war wie die Ewigkeit und quälend wie Zahnschmerzen, gaben die Lautsprecher nur chaotische Töne von sich. Aber dann verschwanden alle Nebengeräusche, und es erklang eine seltsam metallische Stimme, metronomisch tickend, ohne einen Funken lebendiger Intonation: »… Und so verkündige ich, Kyberoformica die Erste, Königin des zahllosen Ameisenvolks, euch, dem Menschengeschlecht, daß die Ära eurer kurzfristigen Herrschaft auf dem Planeten Erde zu Ende ist. Ausgezeichnet habt ihr eure historische Mission erfüllt, die darin bestand, die wissenschaftliche und materielle Basis zu schaffen für die Entwicklung einer älteren biologischen Art – der Ameisen –, die bereits vor siebzig Millionen Jahren auf diesem Planeten aufgetaucht ist. Ihr wart den Ameisen Wegbereiter und habt unermüdlich auf den Aufstieg der eigentlichen Herren des Planeten hingearbeitet, ebendeshalb habt ihr so spontan danach gestrebt, die gesamte Technik auf Minimaße zu orientieren, den Dimensionen des Ameisenindividuums gemäß. Dafür gebührt euch Ehre und Ruhm, ihr klugen, ihr arbeitsamen Menschen! Doch nun ist’s an der Zeit, daß ihr euch bereitmacht, die eigne Existenz aufzugeben. Jetzt und immerdar gilt: Das Leben der Ameise ist wertvoller als das des Menschen. Deshalb wird jeder Mensch für die zufällige oder vorbedachte Tötung einer Ameise augenblicklich und gnadenlos mit dem Tode bestraft. Das sei Gesetz. Erstes und oberstes Gesetz. Zum zweiten Gesetz erkläre ich die absolute Immunität des Zdenek Pištora, Doktor der techminischen Wissenschaften. Das dritte Gesetz betrifft unsere Zusammenarbeit. Mein Ameisenvolk benötigt gewaltige Mengen an Metall, Plasten, Baumaterialien, synthetischem Harz, Erdöl, Kohle, Zucker, Getreide, Obst und Fleisch. Mit diesen und anderen Nahrungsmitteln habt ihr Menschen mein Volk anstandslos zu versorgen. Seid klug, seid gehorsam und fügt euch, dann gebe ich euch die Möglichkeit, still, unmerklich und mit Würde von diesem Planeten zu verschwinden! Mein Aufruf geht über alle Sender der Welt, deshalb treten die eben erwähnten Gesetze, Befehle und Beschlüsse augenblicklich in Kraft. Hört mich morgen wieder zur selben Stunde!«

Die metallische Stimme verstummte. Die Lautsprecher rauschten noch ein wenig und wurden abgeschaltet. In der Aula des PITM herrschte Grabesstille.

Kriminell

Als erster fand der noch immer am Rednerpult stehende Professor Kracmer die Sprache wieder. Er warf die Arme in die Luft und schrie wie besessen los: »Nie, nie, nie und nimmer werden wir uns so einer niederträchtigen Maschine unterwerfen! Sei verflucht, falscher Kyber, der du uns an die Ameisen verkaufst! Wir werden kämpfen…«

Er kam nicht zu Ende. Sein Gesicht verzerrte sich, sein Schnurrbart begann zu zittern, und plötzlich sackte er wie vom Blitz getroffen auf das Rednerpult. Ein paar Herren aus dem Präsidium stürzten hinzu und machten Wiederbelebungsversuche, aber der Professor war tot. Panik erfaßte die Versammelten. Einer nach dem andern sprang auf und machte sich schweigend davon.

Inmitten der allgemeinen Verwirrung bestieg Zdenek Pištora das Rednerpult. Die Aula war bereits halb leer. Aber Zdenek schien nichts davon zu merken. Sein Gesicht war kreidebleich, die Augen flackerten, und als er mit dumpfer Stimme zu sprechen begann, waren seine abgehackten Sätze kaum noch zu verstehen.

»Das war ich, ich allein!« lallte er, nach Luft schnappend. »Verzeiht, Kollegen. Das habe ich getan! Nicht, weil ich der Konstrukteur bin – nicht deshalb. Aus dem Safe hätte sie ja niemals ausbrechen können! Trotzdem bin ich schuld! Ich habe ihr zur Flucht verholfen! Darum hat sie mich auch für immun erklärt! Verzeiht, Kollegen!«

»Was haben Sie getan, Herr Pištora? Drücken Sie sich deutlich aus!« schrie der Direktor, der den Sinn der vorgetragenen Worte dunkel zu ahnen begann.

Die Fluchtbewegung aus dem Saal brach mit einem Schlage ab. Die Übriggebliebenen drehten die Köpfe zum Rednerpult und starrten Pištora an. Der aber schneuzte sich eine Minute lang die Nase, schluchzte, wischte sich Tränen der Reue vom Gesicht und begann zu berichten, wie er am Vorabend die Kyberoformica in der Glasflasche mit nach Hause genommen, um sie seiner Braut zu zeigen, und wie er nachts plötzlich entdeckt hatte, daß die Flasche leer war. Nahezu schluchzend brachte Pištora seine Beichte zu Ende: »Ich bin schuld an der ganzen Katastrophe! Hätte ich sie nicht mitgenommen, wäre sie mit den Ameisen nie in Berührung gekommen, und alles wäre gut! Verzeiht, Kollegen, verzeiht!«

»Herr Pištora!« donnerte der Direktor des PITM, von schrecklichem Zorn erfaßt. »Sie sind ein Krimineller, ein ganz gemeiner Schädling, ein Mörder!«

Bei den letzten Worten griff sich der Direktor plötzlich ans Herz, wurde schrecklich blaß und fiel mit dem Gesicht auf den Tisch des Präsidiums.

Die Anwesenden rührten keinen Finger. Allen war klar, daß der arme Direktor nach dem zweiten Gesetz der Kyberoformica wegen Beleidigung des gewissermaßen heiliggesprochenen Pištora mit »augenblicklichem und gnadenlosem Tod« bestraft worden war.

Entsetzen erfaßte den gesamten Wissenschaftlichen Rat sowie die restlichen Mitarbeiter des PITM. Nur der Oberst der Miliz bewahrte Haltung. Zdenek verließ das Rednerpult und trat zu ihm.

»Verhaften Sie mich, Genosse Oberst! Ich bin ein

Krimineller und gehöre ins Gefängnis!«
»Später, später! Sie sind jetzt nicht so wichtig!« sagte der
Oberst und wandte sich von ihm ab; er steckte sein Notizbuch
ein und ging eilig hinaus.
Auf dem Tisch des Präsidiums lag das Reagenzglas voll
Ameisen. Jemand öffnete es und ließ die Gefangenen frei. Die Ameisen schwirrten lustig auf dem Tisch herum,
zwischen Papieren und Füllhaltern.
Die Leute saßen unbeweglich da und hatten Angst vorm
Atemholen.
Da begriff Zdenek, daß er hier nichts mehr zu suchen hatte.
Er schritt durch den Saal, langsam wie ein Mondsüchtiger,
dem Ausgang zu. Die Kollegen machten ihm schweigend
Platz, bemüht, ihn nicht anzusehen.

Danka in Gefahr

Als Zdenek den Petrin hinabstieg, war er erschüttert von der Stille und Menschenleere in den Straßen Prags. Es war bereits heller Vormittag. Sonst dröhnten um diese Zeit überfüllte Straßenbahnen und Busse durch die Innenstadt, und die Trottoire waren schwarz von Menschen, die zur Arbeit eilten. Jetzt gab es nicht den geringsten Verkehr. Die Bürgersteige waren wie ausgestorben, auf der Fahrbahn sah man hier und da ein paar herrenlose Autos, und die etwas schwerfälligen Straßenbahnen standen bunt herum: an Haltestellen, auf Kreuzungen und Brücken. Man hätte annehmen können, die Stadt sei einem Angriff Wellsscher Marsmänner erlegen.

Der Gedanke an Kampf gab Pištora Sicherheit und Selbstvertrauen wieder.
Als er zu sich in die zweite Etage hinaufstieg, brannte er vor Ungeduld. Ihm war eine interessante Idee zur Neukonstruktion kybernetischer Ameisen gekommen. Die wollte er schleunigst in die Tat umsetzen. Nur schnell an die Arbeit und die Berechnungen ausgeführt!
Doch es sollte ihm nicht vergönnt sein. Vor seiner Wohnungstür stand Danka, verweint, verschreckt und nervös. Pištoras Herz krampfte sich in böser Ahnung zusammen.
»Danka! Danulja! Was hast du?«
Pištora stürzte auf seine Braut zu und ergriff ihre Hand. Sie warf sich ihm an die Brust und schluchzte zum Steinerweichen, unfähig, auch nur ein Wort herauszubringen.
»Ist ja gut, meine Liebe, ist gut, hör auf! Ich bin doch hier, bei dir, na, komm, ist ja gut!« murmelte Pištora fassungslos.
»Nein… es wird nie wieder… gu… gut sein«, stieß Danka weinend hervor.
»Wieso? Was ist denn los?!«
»Ich… ich hab’ eine Ameise zertreten! Aus Versehen!«
»Wo? Wann? Wie denn?«
»Eben. Auf dem Weg zu dir. Ich bin ganz vorsichtig aufgetreten und habe die ganze Zeit vor meine Füße geblickt. Aber sie kam aus einer kleinen Spalte direkt unter meinen Schuh gekrochen! Jetzt… jetzt muß ich sterben! Oh, Zdenek, rette mich!«
Und sie begann wieder zu schluchzen.
Schweigend schloß Zdenek die Tür auf und führte Danka in seine Wohnung, ließ sie im Sessel Platz nehmen und brachte ein Glas Wasser. Das beruhigte sie ein wenig. Aber ihre Augen waren noch immer voll Tränen und Entsetzen.
»Zdenek, Lieber, brauch’ ich nicht zu sterben? Wirst du mich retten? Sag ihr, Zdenek, sie soll mich nicht töten! Sag es ihr, schnell!« stammelte das unglückliche Mädchen und sah ihren Bräutigam flehentlich an.
»Beruhige dich, Danulja. Sie wird es nicht wagen! Sie weiß, daß ich dich liebe!« tröstete Pištora sie obwohl er von seinen Worten keineswegs überzeugt war.
Danka spürte die Unsicherheit. »Aber wenn sie es doch wagt?«
Pištora antwortete nicht gleich. Er suchte fieberhaft nach einem besseren Ausweg. Endlich kam ihm eine rettende Idee.
»Hör zu, Danka. Wenn sie sich wirklich dazu entschließen sollte, dann bestimmt nicht so rasch wie in anderen Fällen. Sie wird wohl zunächst versuchen, mit mir in Verbindung zu treten und meine Meinung zu hören. Folglich steht uns noch etwas Zeit zur Verfügung. Wir müssen fliehen und uns an einem Ort verstecken, der für Ameisen unzugänglich ist! Wir beide müssen in den hohen Norden fliegen, nach Nowaja Semlja oder Spitzbergen!«
»Meinst du, das hilft?«
»Jaja, das ist die einzige Chance! Mach dich fertig, und dann so schnell wie möglich zum Flughafen! Wir dürfen jetzt keine Zeit verlieren!«
Nach etwa fünfzehn Minuten hatten sich Zdenek und Danka so warm wie möglich angezogen, steckten ihre gesamte Barschaft ein und liefen aus dem Haus. Im ersten besten herrenlosen Auto fuhren sie in rasendem Tempo zum Flughafen.

Ein Flugzeug fliegt nach Norden

Und siehe da, es fand sich: eine riesige Menschenmenge wollte nach dem Polargebiet. Der Flughafen war von den kopflos gewordenen Menschen im Sturm genommen worden. Die Zufahrtsstraßen waren mit Leichen übersät. Im Gedränge stürzte fortwährend jemand zu Boden; das waren die Opfer der unerbittlichen Kyberoformica. Doch niemand beachtete die Fallenden, keiner hatte Zeit für sie.

Alle planmäßigen Flüge waren abgesetzt. Man wollte nur noch nach dem Norden. Ständig starteten überfüllte Flugzeuge und gingen auf nördlichen Kurs.

Unsere Flüchtlinge hätten keinen Platz im Flugzeug bekommen, wäre ihnen nicht der Name Pištora zu Hilfe gekommen. Dieser tags zuvor noch völlig unbekannte Name rief allerseits abergläubisches Entsetzen und gleichzeitig Willfährigkeit hervor. Diesen Umstand machte sich Pištora zunutze und bahnte sich einen Weg zum nächsten startbereiten Flugzeug, wobei er Danka hinter sich herzog.

Noch ein paar Minuten, und die Erde blieb weit unter ihnen zurück. Durch das runde Fenster war am blendendblauen Himmel lediglich eine endlose Kette weißer Wolken zu sehen.

Erst jetzt versuchte Danka ein zaghaftes Lächeln und drückte Zdenek die Hand.
»Na, Danka, glaubst du jetzt, daß die Gefahr vorüber ist?« fragte Pištora aufgeräumt.
»Jetzt ja, Liebster! Aber sag, wie werden wir im Norden leben?«
»Wir kommen schon durch. Sind ja nicht allein dort. In den Polargebieten sammelt sich jetzt viel Volk. Von dort aus wird auch der Krieg gegen die Kyberoformica und ihre Ameisen beginnen. Ganz gut, daß ich mit dir mitfliege. Dort können die Ameisen nicht hinter mir herspionieren. Ich hab eine glänzende Idee. Hör zu!«
Und Zdenek begann ihr ausführlich klarzumachen, wie er neue kybernetische Ameisen konstruieren und sie zum Kampf gegen den verräterischen Kyber anleiten würde. Mit glücklichem Lächeln hörte Danka zu.
Inzwischen begannen die Stewardessen das Frühstück zu servieren. Im Flugzeug verbreitete sich eine angenehme Atmosphäre der Ruhe und Geborgenheit.
Dazu ertönte leise Musik.
Doch plötzlich brach die Musik ab, und es erklang die kalte, metallische Stimme: »Hallo, hallo! Hier spricht Kyberoformica die Erste, Königin des zahllosen Ameisenvolks! Ich wende mich an alle Flugkapitäne, die Kurs auf die Arktis und Antarktis genommen haben! Kehren Sie sofort zu Ihren Flughäfen zurück! Wo Sie sich auch befinden mögen, kehren Sie zurück zu Ihren Flughäfen! Sie transportieren Todeskandidaten! Fünf Minuten nach meiner Mitteilung werden alle Fluggäste, die mein erstes Gebot übertreten haben, augenblicklich und gnadenlos vom Tode ereilt! Es hat keinen Sinn, Leichen in die Polargegenden zu befördern! Kehren Sie um!«
Die schreckliche Stimme verstummte, und die Musik setzte von neuem ein, doch jetzt klang sie nach Trauermarsch. Pištora saß wie vom Donner gerührt. Danka wurde kreidebleich und riß voller Entsetzen die Augen auf. Schweigend starrte sie auf ihren Bräutigam. Die Stewardessen weinten und liefen in die Kabine zu den Piloten.
Pištora wußte nicht, was er machen sollte. Sein Gehirn war wie paralysiert. Er hätte schreien mögen, heulen. Doch plötzlich blitzte ein Gedanke in ihm auf: »Funk! Mit der Kyberoformica in Verbindung treten! Ihr einen Befehl geben!«
Er wollte schon aufspringen und in die Pilotenkabine laufen, als er auf Dankas Ärmel plötzlich eine große, rötliche Ameise erblickte.
Zu spät! dachte er entsetzt. Ihm brach der Schweiß aus.
Fest die Augen zudrückend, krallte er sich mit den Händen in die Sessellehnen und begann mit wilder, unmenschlicher Stimme zu schreien.
Er schrie, schrie… und erwachte.
Draußen dämmerte es. Zdenek lag schweißgebadet in seinem Bett.

Der Hammer schlug nicht zu

Die ersten Minuten nach dem Erwachen sah der arme Doktor der techminischen Wissenschaften gedankenlos aus dem Fenster und war nicht imstande, das Entsetzen von sich abzustreifen. Allmählich jedoch gewann er seine Geistesgegenwart zurück. Er spuckte kräftig aus und sagte laut: »Was für ein dummer, widerlicher Traum!«

Daraufhin erhob er sich und ging im Schlafanzug in sein Arbeitszimmer.
Nicht, daß er ganz ruhig gewesen wäre, als er die Flasche aus der Tischlade holte. Doch die Kyberoformica war an Ort und Stelle. Durch das dicke Glas war sie deutlich zu erkennen. Pištora schüttete sie sich auf die Hand und hielt ihr folgende kurze Ansprache: »Im Traum habe ich alle deine Tugenden und Tücken gesehen, Kyberoformica die Erste, Königin des zahllosen Ameisenvolks. Es soll mir eine Warnung sein! Ich werde dich vernichten, Kyberoformica die Erste! Niemals sollst du über die Ameisen herrschen!«
Pištora legte die Kyberoformica auf die blanke Tischplatte und nahm einen Hammer aus dem Schubkasten.
Mit finster entschlossener Miene hob er den Hammer hoch und holte zum Schlag aus. Aber… Was war das? Warum blieb der Hammer in der Luft hängen, sauste nicht nieder?
Pištora, während er den Hammer schwang, war ein neuer Gedanke gekommen. »Halt ein, Henker! Die Hinrichtung wird widerrufen! Schließlich ist die Kyberoformica ja nicht geflüchtet! Sie ist nicht geflüchtet! Ihren Möglichkeiten entsprechend, wäre sie fähig gewesen, aus der Metallhülse und dem hermetisch verschlossenen Safe zu entkommen, aber sie ist nicht einmal aus der einfachen Glasflasche entlaufen! Das hat schließlich was zu bedeuten! Nämlich, die Kyberoformica ist zur Meuterei nicht fähig! Sie ist von Menschenhand geschaffen und wird dem Menschen stets treulich dienen! Weshalb sollte ich sie also zerstören? Ein Aufstand der Maschinen ist die krankhafte Ausgeburt von Gespenstersehern und Phantasten, der irrige Angsttraum von Jüngern der technischen Mystifikation! Du sollst leben, Kyberoformica die Erste!«
Nach dieser etwas schwülstigen Tirade wurde der Hammer in die Schublade zurückgeworfen und die Kyberoformica vorsichtig mit der Pinzette wieder in die Glasflasche gelassen.
Nach einer halben Stunde verließ der Doktor der technischen Wissenschaften frisch und munter sein Haus und ging ins PITM. In der Manteltasche trug er die wunderbare Kyberoformica, die an diesem Tage die Prüfung der strengen Kommission des CGIIGP über sich ergehen lassen mußte.

Konrad Fialkowski
Der Gigantomat

»Kannst du den Planetoiden schon sehen?« fragte Marp. »Nein, das dauert noch eine ganze Weile.«
»Als ob wir zum Toliman-System unterwegs wären, man

fliegt und fliegt. Langweilig, was?«
»Ein bißchen. Schalte doch mal die interplanetare
Videotronie ein.«
»Lohnt nicht. Die zeigen bestimmt wieder Pilzesammeln im
irdischen Wald oder ein Mädchen, das sich auf ihrem
Antigravitationsteppich im leichten Hauch eines irdischen
Lüftchens schaukelt. Das ist gut für heimwehkranke
Marskolonisten, die vor dem Bildschirm ihren Chlorellabrei
wiederkäuen, aber nicht für uns.« Marp erhob sich aus
seinem Sessel und ging an der Kabinenwand auf und ab.
»Daß sie die Basis nicht woanders bauen konnten!
Ausgerechnet an der Peripherie der mittleren Zone…
Verglichen mit diesem Planetoiden ist der Mars das Zentrum
des Sonnensystems. Und gerade jetzt, wo er sich am
sonnenfernsten Punkt seiner Bahn befindet, ist der Flug
dorthin völlig absurd.«
»Nörgle nicht, Marp. Die hätten dich auch auf die
Saturnmonde schicken können. Es ist noch nicht das
Schlimmste. Die Basis auf dem Planetoiden ist der
vollautomatisierte Traum eines Kosmonauten. Wenn du keine
Lust hast, die Sterne zu sehen, bleibt ihr Anblick dir
angeblich wochenlang erspart. Automaten füttern dich, wiegen dich in Schlaf, und ohne ein Wort zu verlieren, lesen
sie dir jeden Wunsch von den Augen ab.«
»Mit einem Wort: Märchen aus Tausendundeiner
Raumreise. Könntest du mir dann sagen«, Marp wurde
plötzlich ernst, »warum die auf der Basis sich schon die
zweite Woche nicht melden.«
»Wahrscheinlich geht es ihnen so prächtig, daß sie die Erde
und das Senden der Berichte dorthin vergessen haben.« »Lästere nicht, Thor. Die Geschichte sieht absolut nicht
nach Spaß aus.«
»Mag sein. Doch vielleicht hat’s nichts auf sich. Ein
größerer Meteor könnte ihre Antenne getroffen haben.« »Die hätten sie bis heute schon repariert. Soto, der
technische Leiter der Basis, würde bestimmt nicht die Hände
in den Schoß legen und auf uns warten. Ich kenne ihn.« »Sehr schön, dann kannst du ihm wenigstens in alter
Freundschaft ein paar liebevolle Worte flüstern, falls sich
herausstellt, daß wir unnötig dorthin fliegen.« Thor rekelte
sich in seinem Sessel. »Einen Augenblick noch, und wir
rufen sie. Möglich, daß sie sich melden.«
»Das bezweifle ich.«
»Sollen sie’s bleibenlassen. Wir werden ohnehin dort
landen. Es sei denn, ein Bolid wäre direkt in die Basis
gestürzt. Wie ich gelernt habe, passiert das mit einer
Wahrscheinlichkeit von eins zu zehn Millionen, dennoch
kommt es vor. Das wäre fatal. Wir könnten uns dort nicht
aufhalten, und ich sage dir ehrlich, von diesem Flug habe ich
den Kanal voll. Der Mensch ist nicht für ein Leben im
Raumschiff gemacht. Das ist etwas für Automaten.« »Ich reise lieber im Raumschiff, als auf einem Stützpunkt
herumzusitzen, selbst wenn es einer ist wie der, zu dem wir
fliegen.«
»Schau an, jemand, der für das All schwärmt! Am besten,
du ziehst den Raumanzug an und springst hinaus. Kosmonaut
Marp – ein neuer Sonnensatellit!«
Marp zuckte die Schultern und ließ sich in seinen Sessel
sinken.
Thor beugte sich über die Bildschirme.
»Wollen sehen, ob ihr lokaler Sender arbeitet«, sagte er.
Eine Weile hantierte er an den Schaltern, und plötzlich drang
aus dem Lautsprecher ein hoher, pfeifender Ton.
»Sind sie das?« fragte Marp.
»Ja.«
»Na, dann sind wir ja in unmittelbarer Nähe.«
»Nicht ganz. Sie haben einen sehr starken Ortssender, weißt
du, wegen der Versuche, die sie durchführen.«
»Mit den neukonstruierten Raumschiffen?«
»Richtig.«
»Ich habe gehört, daß ihr riesiger Automat, der, den sie
Konstrukteur nennen, ihre Raumschiffe selbständig
projektiert.«
»Nur zum Teil. Die Idee kriegen sie von der Erde. Alles
übrige einschließlich des flugfähigen Modells stellen sie
selbst her.«
»Und sie sind zu dritt… nur zu dritt.«
»Vergiß den Konstrukteur nicht, das ist einer der größten
Automaten im Sonnensystem. Eigentlich macht er die ganze
Arbeit, sie sind nur da, einfach so…«
»Was heißt ›nur‹? Immerhin überwachen sie den gesamten
Arbeitsablauf. Soto hat mir sogar erzählt, sie hätten mit
diesem Konstrukteur allerhand Ärger.«
»Das habe ich auch gehört«, sagte Thor und nickte
zustimmend.
»Als ich ihn vor drei Wochen traf, kam er gerade aus dem
Institut für Neurokybernetik, wo man sich mit der Wirkungsweise unterschwelliger Reize auf das Nervennetz befaßt. Er würde die Leute dort gern öfter konsultieren, aber die Verbindung dahin… Konnten sie für den Bau der Basis
nicht einen näher gelegenen Himmelskörper wählen?« »Eben nicht!« Thor sah Marp an und lächelte. »Denn siehst
du, dort werden die neuen Raumschiffe getestet, und wenn
ein Versuch nicht gelingt, dann endet das mit einer kleinen
thermonuklearen Explosion. Man hat mir vor dem Start
gesagt, ich müsse beim Anflug auf den Planetoiden
achtgeben.«
»Wir werden aufpassen.«
»Ich signalisiere ihnen jetzt, daß wir bereits hier sind.
Vermutlich werden sie dann mit ihren Versuchen bis zu
unsrer Landung aussetzen.« Thor wandte sich den
Steuerpulten zu und betätigte die Ruftaste. Er sah die
Kontrollampe aufleuchten, die anzeigte, daß die Antennen
des Raumschiffs Energie ausstrahlten.
»Thor«, Marp unterbrach seine Wanderung durch die
Kabine und blieb vor dem Navigationspult stehen. »Thor, sie
senden nicht mehr!«
»Das verstehe ich nicht, wie konnten sie abbrechen.« »Ihr Signal ist weg.«
»Wenn das der Fall ist…«
»… kann unser Navigationsautomat ihren Planetoiden nicht
finden.«
»Das ist kein Beinbruch. Schließlich ist unser Raumschiff
ein Fernaufklärer, und wir haben die entsprechenden
Suchgeräte an Bord. Leider wirst du ein wenig arbeiten
müssen, Marp.«
»Macht nichts, Thor. Wir haben trotzdem Glück. Nicht alle
Fernaufklärer führen eine komplette Ortungsanlage mit.
Säßen wir in einem gewöhnlichen Raumschiff, fänden wir den Planetoiden nie, nicht in einem Jahr noch in zehn oder
hundert. Es sei denn durch Zufall.«
»Dann hätten wir auch nicht genügend Treibstoff für die
Rückkehr, wir würden am Planetoiden vorbeifliegen, ins
Weltall rasen und so lange um Hilfe funken, bis man uns hört
herausholt.«
»Aus dieser Öde? Wo sogar automatische Raketensonden
sich nur selten hinverirren.«
»Unter Garantie würden sie uns auf dem Planetoiden hören.
Falls sie uns aber nicht zu Hilfe kämen, ihr Leitsignal nicht
senden oder uns mit ihrem Raumschiff nicht suchen
würden… tja, Marp, dann kämen wir auf die Liste der im
Kosmos Verschollenen.«

In den nächsten zwei Stunden arbeiteten sie angestrengt, wie nur selten ein Mensch in der Epoche der Automaten. Die Bahn des Planetoiden war ihren Automaten eingegeben, ihre eigene Position bestimmten sie nach Signalen von den Jupitermonden. Die Triebwerke wurden unmittelbar von den Rechenautomaten gesteuert, und nur der häufige Beschleunigungswechsel bewies, daß sich das Raumschiff dennoch inmitten der ewigen Starre der Sterne bewegte.

»Ich werde Meldung machen, und man wird diesen Soto auf irgendeine entlegene Marsstation abschieben, wo er unter Agrostrahlern Salat anbauen kann«, sagte Marp und trat vom Pult zurück, auf dessen Bildschirmen er vergeblich nach einem Signal der Basis Ausschau gehalten hatte. »Und die ganze Besatzung der Basis gleich mit«, fügte er hinzu. »Solche Leute dürften überhaupt nicht auf den Weltraum losgelassen werden.«

»Du regst dich unnötig auf. Selbst unter Automaten gibt es

Ausschuß, und erst recht bei den Menschen, die schließlich vor der Geburt keine technische Kontrolle durchlaufen. Natürlich werden wir Meldung machen…« Er brach plötzlich ab. »Da, sieh doch, da ist er! Der Planetoid!« Thor deutete auf einen winzigen Lichtpunkt auf dem Bildschirm. Der von der Oberfläche des Planetoiden reflektierte Radarstrahl war zurückgekehrt.

»Dann wären wir ja beinahe schon zu Hause«, sagte Marp und ließ sich mit Schwung in den Sessel fallen.
»Nur noch die läppische halbe Million Kilometer. Gib dem Navigationsautomaten die Koordinaten ein.«
»Und sie, diese Schurken, melden sich nicht.«
»Wahrscheinlich haben sie unsern Ruf nicht empfangen.« Thor sagte das ohne Überzeugung.
»Unsinn. Sie verfügen über ein ganzes Rudel Horchautomaten. Und noch eines: Hast du bemerkt, ihr Sender verstummte…«
Marp beugte sich über Thor und sah ihm direkt ins Gesicht.
»Hast du bemerkt, als wir uns meldeten, haben sie prompt abgeschaltet. Das aber würde heißen…«
»Unmöglich, Marp.«
»… das aber würde heißen, sie wünschen unsern Besuch nicht, lieber wollen sie unsern Tod im Kosmos.«
»Das kann doch nicht wahr sein.«
»Ich spreche von Tatsachen. Sie können nämlich nicht wissen, was das für ein Raumschiff ist, mit dem wir fliegen, und wie groß unsere Treibstoffreserven sind.«

Die Raumstation war in den Fels des kleinen Planetoiden eingelassen. Nur ihre weiße Kuppel ragte hervor und hob sich deutlich von dem braunen Gestein ab.

»Marp, da ist die Basis«, rief Thor. »Der Planetoid ist ihre

Außenwand. Tief im Innern arbeitet der Konstrukteur. Das Felsgestein schützt ihn vor Meteoren und den Explosionen mißlungener Modelle.«

»Thor, sieh mal…«
»Das sind die Werftanlagen, auf denen die Prototypen gebaut werden. Wenn das, was da montiert wird, ein Raumschiff sein soll, dann ist es das merkwürdigste, das ich je im Leben gesehen habe.«
Marp sah genauer hin und mußte Thor recht geben.
»Sie arbeiten daran, man erkennt deutlich, wie die Brenner der Schweißautomaten aufblitzen«, sagte er.
»Wenn sie arbeiten, werden sie ja nicht gleichzeitig Versuche durchführen. Landen wir?«
»Klar.«
Thor begann mit dem Bremsmanöver und spürte den charakteristischen Beschleunigungswechsel. Rasch wuchs auf dem Bildschirm der weiße Fleck des Kosmodroms. Vom Autopiloten gelenkt, glitt das Raumschiff über die aufragenden Antennen hinweg, und beim Aufsetzen erzitterte es leicht.
»Ziehen wir die Raumanzüge an?« fragte Marp.
»Ja… und vielleicht«, Thor zögerte, »vielleicht nimmst du für alle Fälle den Desintegrator mit.«
»Also meinst du auch, daß dort irgend etwas nicht in Ordnung ist.«
»Nein, aber Vorsicht…«
»Schon gut… Der Desintegrator ist immer ein gutes Argument… gegen Automaten natürlich«, fügte er hinzu, als er merkte, daß Thor protestieren wollte.
»Schließ die Luke sorgfältig«, sagte Thor und stieg als erster aus.
Marp schraubte das Ventil seines Schutzhelms zu und folgte. Einen Augenblick später standen sie auf dem weißen Landeplatz.
Schwerfällig stapften sie zu den Eingangsschleusen der Basis, nur mit Mühe konnten sie ihre Stiefel von der magnetisierten Piste lösen.
Die Gravitation auf dem Planetoiden war so gering, daß ihnen ohne diese Sicherheitsvorkehrung bei jedem Schritt die Gefahr gedroht hätte, ins All zu entschweben.
Vor den Eingangsschleusen hielt Thor an. Er wußte, dort waren Automaten eingebaut, abgestimmt auf die Funkfrequenz der Sender in ihren Raumanzügen.
»Hallo, Soto, wir kommen von der Erde. Habt ihr uns nicht gehört?« rief er.
Eine Weile blieb es still, dann schnarrte der Lautsprecher: »Endlich seid ihr da. Kommt ‘rein. Ich bin im Labor.«
»Hast du auf uns gewartet?«
Keine Antwort.
»Melde dich, Soto! Kennst du mich nicht? Ich bin Marp.«
»Kommt rein. Ich bin im Labor«, wiederholte der Lautsprecher.
»Sehr gesprächig ist dein Soto ja nicht gerade.«
»Der scheint hier wunderlich geworden zu sein… Sag mal, Soto, du bist wohl närrisch?« sprach er direkt ins Mikrophon.
»Ich bin im Labor«, wiederholte der Lautsprecher.
Marp zuckte die Schultern.
»Komm«, meinte Thor und betrat als erster die Schleuse. Sie schloß sich automatisch hinter ihnen, die Kammer füllte sich mit Luft, und schließlich konnten sie die Helme abnehmen.
»Wo mag das Labor sein?« fragte Thor.
»Wir werden es schon finden.«
Sie durchschritten einen allmählich abwärts führenden Gang, dessen Wände bläuliches Licht ausstrahlten. Zu beiden Seiten standen in endloser Reihe Reparaturautomaten, bereit, im Falle eines Alarms hinauszueilen in die dämmerige Leere des Planetoiden. Bereit, jedem Befehl des Konstrukteurs zu gehorchen.
Der Gang mündete in einen großen Saal – den zentralen Raum der Basis. Er wirkte wie ein auf diesen fernen Planetoiden versetztes Stück Erde. Anstelle der Decke schimmerte eine Nachbildung des Himmels, von dem eine künstliche Sonne, die von Zeit zu Zeit hinter Wolken verschwand, behagliche Wärme herabschickte.
Nur die Pflanzen waren echt, und echt war der Duft des späten Sommers.
»He, he! Ist hier jemand?« rief Marp.
Hinter den Büschen tauchte plötzlich ein kleiner Android auf. »Noch immer keine weiteren Signale«, sagte er kurz.
»Thor, was redet der?«
Thor wußte keine Antwort.
»Was meinst du damit? Erklär uns das!« befahl er dem Automaten.
»Auftragsgemäß stehe ich mit den Horchautomaten in Kontakt. Die Signale des Raumschiffs sind unter die Rauschschwelle gesunken. Spezialautomaten haben das Abhören übernommen. Zur Zeit bleiben die Signale aus.«
»Sie haben uns im Empfangsbereich unterhalb der Rauschschwelle gesucht. Als ob wir Millionen Kilometer von der Basis entfernt wären, und dabei sind wir direkt auf sie zugeflogen… Komisch, was?« Marp lachte, aber man sah ihm an, daß er ärgerlich war.
»Merkwürdig.«
»Merkwürdig? Absurd! Die spielen hier Kosmonaut wie Kinder auf dem Schulhof.«
»Komm, Marp, gehen wir zu Soto«, sagte Thor ernst.
»Einverstanden. Laß uns das Labor suchen. Ich glaube, wir haben dem Burschen mancherlei zu sagen. Jedenfalls ist er die längste Zeit Kosmotechniker gewesen.«
»Das Labor, wo ist das Labor?« fragte Thor den Androiden.
»Chemisches Labor – zweites Geschoß, erster Korridor«, antwortete der Automat unverzüglich.
»Chemisches Labor? Soto ist doch kein Chemiker, Marp?«
»Nein, Kybernetiker.«
»Wo sind die anderen Labors?«
»Andere gibt es nicht.«
»Wieso?« fragte Marp verwundert.
»Er hat recht. Jetzt fällt mir ein… Vor dem Abflug hat man mir erzählt, daß im Unterschied zu den übrigen Stationen hier keine Forschungsarbeiten durchgeführt werden.«
»Nicht einmal für eigene Zwecke?«
»Nein, hier lenkt und leitete alles der Konstrukteur. Das chemische Labor ist auch erst vor kurzem entstanden. Sie sind dabei, den kosmischen Staub zu untersuchen.«
»Richtig. Ich besinne mich, als ich Soto traf, erwähnte er, daß sie einen neuen Chemiker hätten, der damals allerdings auf der Station geblieben war. Angeblich ein tüchtiger Junge.«
»Hier irgendwo muß das Labor sein.«
»Ja, diesen Korridor ein Stück hinunter bis zum nächsten Geschoß.«
Sie gingen noch einige Dutzend Schritte.
»Da ist es!« rief Marp.
Beide traten ein.
»Findest du nicht auch, daß es hier brenzlig riecht?« fragte Thor plötzlich.
»Ja, ganz schwach.«
»Eine ausgezeichnete Lüftungsanlage… Sieh mal…« Sie standen im Durchgang zum zweiten Raum.
»Tatsächlich, hier ist ein Brand gelöscht worden«, bestätigte Marp. »Überall weißer, eingetrockneter Schaum… Es muß ganz hübsch gebrannt haben.«
»Marp, der Löschautomat ist an der Brandstelle.« »Was ist daran merkwürdig?«
»Schau her. Der eingetrocknete Schaum fängt bereits an zu krümeln… Er ist mindestens eine Woche alt, und der Automat steht noch da, niemand hat ihn weggeschickt. Du – jetzt hat er uns bemerkt und geht.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Nachdem er einen Brand gelöscht hat, darf er sich erst entfernen, wenn Menschen kommen.«
»Das heißt… dieser Schaum…«
»Ja, seit mindestens einer Woche ist hier niemand gewesen… es hat gebrannt, und trotzdem hat sich keiner sehen lassen.«
»Wer hat uns dann aber hierhergerufen?« Marp sah sich mißtrauisch um und ließ den Desintegrator von der Schulter gleiten.
»Keine Ahnung. Hier ist irgend etwas passiert, Marp.«
»Doch wo sind die Männer, wo stecken sie? Wir müssen sie finden«, rief Marp und eilte dem Ausgang zu.
»Halt! Laß uns erst überlegen. Was mag den Brand verursacht haben?«
»Das ist jetzt unwichtig. Komm, wir suchen sie.«
»Seit mindestens einer Woche sind sie nicht hier gewesen, da spielen ein paar Minuten auch keine Rolle.«
»Aber vielleicht sind sie gerade in diesem Augenblick…«
»Ruhig Blut! Wollen uns erst hier umsehen. Das ganze Labor ist restlos ausgebrannt. Dieses verkohlte Gerät war mal ein Analysator!«
»Der kann nicht explodieren.«
»Explodieren nicht, höchstens sich entzünden.«
»Kaum; es sei denn, er hätte mehrere Stunden pausenlos gearbeitet…«
»Und die Sicherungen wären nicht ganz in Ordnung gewesen. Sonderbar.« Thor stand regungslos in der Mitte des Labors.
»Dennoch hat Soto uns hierhergerufen.«
»Wie sagte er doch?«
»Warte mal… ›Endlich seid ihr da. Ich bin im Labor‹ – oder so ähnlich.«
»Interessant. Es sieht aus, als ob man uns erwartet hätte. Nur die Geschichte mit dem Labor. Nein, das wäre Unsinn…«
»Was wäre Unsinn?«
»Die Worte könnte doch der Chemiker dem Automaten eingegeben haben.«
»Wozu?«
»Um bei seinen Versuchen ungestört zu sein. Er wollte, daß man gleich zu ihm ins Labor käme. Verstehst du? Er hatte zunächst gewartet, als die Signale dann ausblieben, wollte er mit seinen Versuchen anfangen…«
»Zuvor jedoch gab er dem Automaten seine Anweisung ein.«
»Genau.«
»Also überprüfen wir das Gedächtnis des Automaten am Eingang zur Schleuse«, schlug Marp voller Eifer vor.
»Die Sache hat einen Haken, Marp. Er kann das dem Automaten vor dem Brand eingegeben haben, mindestens vor einer Woche. Und damals wußten wir selbst noch nicht, daß, wir hierherfliegen würden.«
»Gut kombiniert. Daraus folgt, daß die Worte nicht für uns bestimmt waren.«
»Für wen sonst?«
»Wollen erst feststellen, ob sie tatsächlich gespeichert sind.« Marp trat ans Mikrophon und rief den Eingangsautomaten.
»Auf Empfang«, meldete sich der sofort.
»Wiederhole deinen Auftrag.«
Der Lautsprecher quäkte: »Endlich seid ihr da. Kommt ‘rein. Ich bin im Labor.«
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Schließlich sagte Thor als erster: »Da hast du’s, unsere Vermutung war richtig.«
»Bloß, was nun? Wo ist dieser Chemiker? Für wen waren die Worte bestimmt? Wo sind Soto und der andere Ingenieur?«
Thor hob die Schultern und starrte ratlos auf den Bildschirm, der die Umgebung der Station einfing. Vor dem Hintergrund der Sterne war der einige hundert Meter entfernte dunkle und gezackte Horizont des Planetoiden zu erkennen. Plötzlich leuchteten der Horizont und alle Felsgipfel auf in dem grellen Licht des nur Sekundenbruchteile währenden Blitzes einer Kernexplosion. Gleich danach erbebte die ganze Station bis in ihre Fundamente.
»Eine Kernexplosion!« schrie Marp.
»Das seltsame Raumschiff, das wir draußen gesehen haben, ist auseinandergeflogen.«
»Kein Wunder. Wenn die so ein Monstrum bauen…«
»Wirklich, das war ein kurioses Ding.« Thor überlegte. »Marp! Aber nein, das kann nicht sein…«
»Was?«
»Mir geht ein Licht auf. Eben kam mir der Gedanke, daß jenes explodierte Raumschiff nur von einem unkontrollierten Konstrukteur gebaut sein kann.«
»Auf jeden Fall von einem schlecht kontrollierten. Kein Ingenieur hätte das zugelassen.«
»Nein, ich sage bewußt, von einem unkontrollierten!«
»Wieso?«
»Ich vermute, daß niemand auf der Basis ist! Niemand! Verstehst du? Und das seit mindestens einer Woche. Sag mal, wann hast du Soto gesehen?«
»Vor mehr als drei Wochen.« Nach einer kurzen Pause fügte Marp hinzu: »Meinst du, daß sie nicht hierher zurückgekehrt sind?«
»Ja.«
»Daß sie im Kosmos verschollen sind?«
»Ja.«
»Und deshalb haben wir auf der Erde keine Berichte erhalten.«
Marp zögerte. »Aber weshalb sind sie verschollen?«
»Das wüßte ich selber gerne.«
»Bloß der Chemiker. Was ist mit dem passiert?«
»Ich werde versuchen, den Gedächtnisinhalt des Konstrukteurs abzulesen. Vielleicht erfahren wir auf diese Weise etwas.«
»Du willst dort hinunter… zu den Speichersystemen, in den tiefsten Raum der Basis?«
»Weißt du eine andere Lösung, Marp?«
Der Korridor führte sie abwärts, und wieder gelangten sie in einen künstlichen Garten. Nur war der Himmel hier wolkenverhangen, und der Wind wehte kühler.
Auf einmal hörten sie Schritte hinter sich. Beide drehten sich um, aber es war nur ein Automat. Ein kleiner Android, derselbe wie zuvor.
»Was willst du?« fragte Marp.
»Noch immer keine weiteren Signale«, meldete der Automat.
»Das hast du bereits gesagt«, bemerkte Thor.
»Ich habe den Auftrag, es zu wiederholen. Änderst du ihn?«
»Nein«, antwortete Thor. Aber dann setzte er mit plötzlichem Interesse hinzu: »Was soll das eigentlich bedeuten?«
»Er hat es doch vorhin schon erklärt.«
»Unterbrich ihn nicht, Marp.«
»Auftragsgemäß stehe ich mit den Horchautomaten in Kontakt. Die Signale des Raumschiffs sind unter die Rauschschwelle gesunken. Spezialautomaten haben das Abhören übernommen. Zur Zeit bleiben die Signale aus.«
»Das hat er doch schon gesagt«, beharrte Marp ungeduldig.
»Aber Marp, begreifst du immer noch nicht? Er hat den Chemiker über die Signale von Sotos Raumschiff informiert. Was du hörst, ist die letzte Mitteilung. Sotos Rakete hatte sich so weit von dem Planetoiden entfernt, daß ihre Signale nicht mehr empfangen werden konnten. Schau – zuerst waren die Signale deutlich zu vernehmen, sie lagen über der Rauschgrenze, also muß das Raumschiff in der Nähe der Basis gewesen sein. Dann hat es sich wieder entfernt, und die Signale wurden leiser.«
»Das heißt, es ist in den Kosmos gerast.«
»Ja.«
»Bloß, warum?«
»Ich glaube, wir kennen den Grund.«

»Das Fehlen der Signale von der Station.«
»Ich vermute, als sie den Planetoiden von ihrer Rakete aus riefen…«
»… schwieg er. Genau wie er geschwiegen hat, als wir ihn riefen.«
»Nur, daß Soto ein gewöhnliches Raumschiff ohne Treibstoffreserven hatte.«
»Du meinst, er hat den Planetoiden nicht finden können und ist daran vorbeigeflogen, zu den Grenzen des Sonnensystems.«
»Bestimmt. Sie funkten um Hilfe…«
»… doch niemand empfing ihren Ruf, außer dem Planetoiden, und der schwieg.«
Marp dachte einen Augenblick nach. »Aber der Chemiker…«, fragte er dann.
»Eben, was hat der Chemiker gemacht? Das müssen wir herauskriegen«, sagte Thor. »Und weshalb ist er umgekommen?« setzte er nach einer Weile hinzu.
»Umgekommen?«
»Ich nehme an…«
Abermals folgten sie dem Korridor, der in die Tiefe der Basis führte, und passierten mehrere große Panzerschleusen, die die Wohnräume von den Systemen des Konstrukteurs trennten. Der Gang wurde enger und erinnerte eher an einen Felsspalt als an den Korridor einer Raumstation. Die bläulich-phosphoreszierenden Wände verschwanden, an ihre Stelle traten die zu scheinbar wirren Gebilden zusammengefügten Kristalle der Systeme, untereinander verbunden durch ein Geflecht verschiedenfarbiger transparenter Leitungen und Kabel. Die Kristallprismen sandten ein schwaches grünliches Licht aus, dessen Intensität in chaotischem Rhythmus wechselte. Alle paar Meter zweigten Gänge ab, so schmal, daß sich kein Mensch hätte hindurchzwängen können.
»Das sind die Durchlässe für die Reparaturautomaten«, erklärte Thor.
»Was für eine gewaltige Anlage. Tausende Meter Korridor.«
»Ja, ein Koloß«, pflichtete Thor bei. »Aber vergiß nicht, daß in diesem Gigantomaten alles Wissen der Menschheit über interplanetare Flüge gespeichert ist, die ganze Astronomie, Astronavigation, sämtliche Kenntnisse von den Atmosphären der Planeten…«
»Außerdem trifft er Entscheidungen…«
»Nicht nur das, er lernt, und zwar sofort, sobald seine Entscheidungen vom Menschen auch nur ein einziges Mal korrigiert werden. Niemals wiederholt er einen Fehler.«
»Ein verflixt gescheiter Automat. Lach nicht, aber Soto hat mir erzählt, daß der Konstrukteur es nicht schätzt, wenn man seine Entscheidungen ändert.«
»Was heißt, er schätzt es nicht? Er kann sich doch gar nicht gegen einen Befehl des Menschen auflehnen. Ihm ist ein System eingebaut, das ihn zu unbedingtem Gehorsam zwingt.«
»Schon, aber Soto sagte, der Konstrukteur bemühe sich, einfach keine Situationen aufkommen zu lassen, in denen seine Entscheidungen von Menschen geändert werden könnten. Gerade deshalb hat Soto ja das Institut für Neurokybernetik konsultiert.«
»Interessant.«
Sie blieben stehen.
»Dort sind die Gedächtnisaggregate«, sagte Thor und beugte sich über die runde Öffnung eines Schachts, aus dem eisige Kälte aufstieg. Trotz der Klimaanlage verwandelte sich der Atem in Dampf.
»Sonderlich warm ist es hier nicht.«
»Das kommt von dem flüssigen Helium. Wärmeisolierung und Klimaanlagen können die starke Abkühlung nicht verhindern.«
»Steigen wir hinunter?«
»Gleich, laß uns nur erst die Automaten rufen.«
»Glaubst du, daß er dort unten sein könnte?«
»Wer, der Chemiker?«
»Ja.«
»Ich weiß nicht, vielleicht. Wenn er Kybernetiker wäre, würden wir ihn dort finden. Meiner Meinung nach ist die Ursache der ganzen Misere in einer Entscheidung des Konstrukteurs zu suchen, und diese Entscheidung muß in seinem Gedächtnis aufgezeichnet sein.«
»Er war aber Chemiker.«
»Darum geht es; ich nehme an, daß er nicht einmal imstande gewesen wäre, den Gedächtnisinhalt eines solchen Automaten zu überprüfen.«
Es dauerte nicht lange, bis die Reparaturautomaten eintrafen, kleine pyramidenförmige Roboter mit Dutzenden von Öffnungen, aus denen auf Befehl in Spezialwerkzeuge auslaufende Arme hervorgeschossen kamen.
Sie gingen an den Männern vorbei und stiegen nacheinander in den Schacht hinunter.
Plötzlich ertönte der Innenlautsprecher der Station: »Endlich seid ihr da. Kommt ‘rein. Ich bin im Labor.«
»Was… was war das?« flüsterte Marp schließlich. »Er ist dort irgendwo und ruft uns.«
Thor schwieg.
»Komm, Thor. Er hat uns gerufen! Du hast doch gehört. Komm, worauf wartest du?«
»Ich habe das Gefühl«, entgegnete Thor nach einer Weile, »hier möchte jemand, daß wir kehrtmachen.«
»Er hat uns doch aber gerufen.«
»Das war nicht der Chemiker. Wahrscheinlich hat der Konstrukteur dem Eingangsautomaten befohlen, diese Worte zu wiederholen und sie dem Innenlautsprechernetz der Basis zu übermitteln, damit wir sie hier hören.«
»Der Konstrukteur? Weshalb sollte er das getan haben?«
»Er hat gelernt, daß wir auf diese Worte hin ins Labor gehen. Zweimal haben wir sie schön vernommen. Beim ersten Mal sind wir sofort ins Labor gegangen, beim zweiten Mal waren wir im Labor. Jetzt… jetzt will er uns wieder dorthin haben.«
»Warum nur?«
»Er will nicht, daß wir zu den Gedächtnisaggregaten vordringen. Zurückhalten kann er uns nicht. Er weiß fast nichts von uns, außer daß wir nach dieser Aufforderung ins Labor gehen.«
»Glaubst du?«
»Ja. Das ist ein lernender Automat. Du hast mir erzählt, Soto habe erwähnt, daß der Konstrukteur es darauf anlege, gewisse Situationen herbeizuführen. Bitte, da haben wir ein Beispiel.«
»Und was nun?«
»Los, komm, wir steigen in sein Gedächtnis hinunter. Er kann uns zwar solche Streiche spielen, wirklich zurückhalten kann er uns jedoch nicht. Seine Pseudopsyche enthält ein System, das ihn zwingt, dem Menschen unbedingt zu gehorchen.«
Thor kletterte als erster hinunter, Marp folgte ihm. Nach ein paar Dutzend Schritten durch einen Gang, dessen Decke und Wände von Reif überzogen waren, gelangten sie in das Gedächtniszentrum.
»Hier kommt man sich vor wie in einer Tiefkühlanlage.«
»Wenn dir kalt ist, setz den Helm auf und schalte die Raumanzugheizung ein.«
»Was, im Innern der Basis soll ich herumlaufen wie im Weltall? Niemals. Laß uns lieber mit der Arbeit anfangen.«
»Hauptaufgabe des Konstrukteurs ist der Bau von Raumschiffen. Ich werde zunächst überprüfen, auf welche Schranken er bei der Herstellung seiner Modelle gestoßen ist. Hier könnte nämlich die Quelle für die größten Konflikte des Automaten liegen.«
»Konflikte?«
»Ganz recht. Seine Pseudopsyche enthält das Bestreben, Schwierigkeiten zu überwinden, die der Realisierung eines neuen Raumschiffs entgegenstehen«, sagte Thor und hob gleichzeitig mit Hilfe eines Automaten die Panzerverkleidung ab. Dahinter schimmerten Tausende von winzigen Kristallen, zusammengeballt zu einem formlosen Aggregat, an dem sich die elastischen Fühler eines kleinen Ableseautomaten festsaugten.
»Da haben wir’s«, verkündete Thor nach einigen Minuten, »das war zu erwarten. Das größte Hindernis für den Konstrukteur bildete der Ingenieur.«
»Welcher Ingenieur?«
»Seinen Namen weiß ich nicht. Der Konstrukteur hat ihn als