Sonntag den 8.April 1928

»Gibt es Schnee, vielleicht wird es noch mal weiß werden im April?« Franz Biberkopf saß am Fenster seiner kleinen Bude, stützte seinen linken Arm auf das Fensterbrett, legte den Kopf in die Hand. Es war nachmittags, Sonntag, warm, mollig in der Stube. Cilly hatte schon geheizt zu Mittag, jetzt schlief sie hinten im Bett mit ihrer kleinen Katze. »Gibt es Schnee? Ist so graue Luft. Wär ganz schön.«

Und wie Franz die Augen zumachte, hörte er Glocken läuten. Er saß minutenlang still, hörte sie läuten: Bum, bim bim bum, bim bam, bumm bum bim. Bis er den Kopf von der Hand nahm und hörte: es waren zwei dumpfe und eine helle Glocke. Sie hörten auf.

Warum läuten sie jetzt, fragte er sich. Da fingen sie mit einmal wieder an, sehr stark, gierig, tosend. Es war ein furchtbarer Krach. Dann hörten sie auf. Mit einem Schlag war es still.

Franz nahm den Arm vom Fensterbrett, trat in die Stube. Cilly saß auf dem Bett, einen kleinen Spiegel in der Hand, hatte Lockennadeln zwischen den Lippen, summte freundlich, als Franz ankam. »Was ist denn heute los, Cilly. Ist Feiertag?« Sie arbeitete an ihrem Kopf. »Na ja, Sonntag.« »Nee Feiertag?« »Vielleicht katholischer, weiß nicht.« »Weil doch die Glocken so doll läuten.« »Wo?« »Na eben.« »Hab nichts gehört. Hast du was gehört, Franz?« »Na ja. Hat ja gedröhnt ordentlich, son Krach.« »Du hast wohl geträumt, Mensch.« Mein Schreck. »Nee, ich hab nicht geträumt. Ich hab da gesessen.« »Bist wohl eingeduselt.« »Nee.« Er blieb dabei, war ganz starr, bewegte sich langsam, setzte sich auf seinen Platz am Tisch. »Was träumt man so was. Ich habs aber doch gehört.« Er goß einen Schluck Bier herunter. Der Schreck wich nicht.

Er sah zu Cilly herüber, die schon ganz weinerlich aussah: »Wer weeß, Cillyken, wem eben was passiert ist.« Und er fragte nach der Zeitung. Sie konnte lachen. »Ist doch jetzt nicht da, Sonntag niemals, Mensch.«

Er suchte in der Morgenzeitung, sah auf die Überschriften: »Lauter Kleinigkeiten. Nee, das ist alles nichts. Ist gar nichts passiert.« »Wenns bei dir läutet, Franz, da wirste wohl in die Kirche gehen.« »Ach, laß mir mit die Pfaffen. Da hab ick nischt mit im Sinn. Bloß, dat ist doch so komisch: man hört was, und wenn man nachsieht, nachher ist nichts.« Er dachte nach, sie stand neben ihm, liebkoste ihn. »Ich geh jetzt mal runter, Luft schnappen, Cilly. Kleenes Stündchen. Will mal hören, ob was passiert ist. Abends gibts die ›Welt‹ oder ›Montag Morgen‹, da muß ich doch mal zusehen.« »Na du, Franz, mit deinem Gegrübel. Wird drinstehen: een Müllwagen hat ne Panne gehabt am Prenzlauer Tor, und der ganze Müll ist runtergelaufen. Oder, warte mal: ein Zeitungshändler hat Geld zu wechseln gehabt und hat aus Versehen richtig rausgegeben.«

Franz lachte: »Na, nu geh ick. Adje, Cillyken.«

»Adjes, Franzeken.«

Darauf ist Franz langsam die vier Treppen heruntergegangen und hat Cilly nicht mehr wiedergesehen.

Sie hat in der Kammer gewartet bis fünf. Wie er nicht kam, ist sie auf die Straße gegangen und hat in den Kneipen bis zur Prenzlauer Ecke nach ihm gefragt. Da war er überall nicht gewesen. Aber er wollte doch in der Zeitung wo nachlesen nach seiner dämlichen Geschichte, dachte sie, was er geträumt hat. Irgendwo ist er doch hingegangen. An der Prenzlauer Ecke sagte die Wirtin: »Nee, hier war er nicht. Aber der Herr Pums hat nach ihm gefragt. Und dann hab ich ihm gesagt, wo Herr Biberkopf wohnt, da wird er wohl hingegangen sein.« »Nee, bei mir war keener.« »Hat vielleicht nicht gefunden.« »Ja.« »Oder hat ihn vor der Tür getroffen.«

Da saß Cilly bis zum späten Abend da. Die Kneipe füllte sich. Sie sah immer nach der Tür. Einmal lief sie auch nach Hause und kam wieder zurück. Bloß Meck kam, er tröstete sie und machte mit ihr ne Viertelstunde Spaß. Er sagte: »Der wird schon wiederkommen; der Junge ist Brotessen gewöhnt. Mach dir man keene Sorge, Cilly.« Aber während er das sagte, fiel ihm ein, wie Lina mal neben ihm gesessen hatte, und die hatte auch Franz gesucht, damals, wie das mit Lüders war, mit den Schnürsenkeln. Und er wäre selbst bald mitgegangen, als Cilly wieder auf die matschige dunkle Straße ging; aber er wollte der doch nicht angst machen, war vielleicht alles Quatsch.

Cilly suchte plötzlich in einem Zorn nach Reinhold; vielleicht hatte der wieder dem Franz ein Weibsbild eingeredet, Franz ließ sie einfach sitzen. Die Bude von Reinhold war verschlossen, kein Mensch da, nicht mal die Trude.

Sie zog langsam wieder in die Kneipe, Prenzlauer Ecke, immer wieder in die Kneipe. Es schneite, aber der Schnee zerfloß. Am Alex riefen die Zeitungshändler den »Montag Morgen« aus, die »Welt am Montag«. Sie kaufte sich von einem fremden Händler ein Blatt, sah selbst hin. Ob wo was passiert wäre, ob er recht gehabt hat heut nachmittag. Na ja, ein Eisenbahnunglück in den Vereinigten Staaten, in Ohio, und Zusammenstoß von Kommunisten mit Hakenkreuzlern, nee, da macht Franz nicht mit, großes Schadenfeuer in Wilmersdorf. Wat soll ick damit. Sie schlenderte an dem strahlenden Haus von Tietz vorbei, ging über den Damm zur finsteren Prenzlauer Straße herüber. Sie ging ohne Schirm, war ganz eingeweicht. An der Prenzlauer Straße vor der kleinen Konditorei stand eine Gruppe Straßenmädchen unter Schirmen und versperrte die Passage. Dicht dahinter sprach sie ein Dicker ohne Hut an, der aus einem Hausflur trat. Sie ging rasch vorbei. Den nächsten nehme ich aber an, wat denkt denn der Junge. So wat Gemeines ist mir noch nicht vorgekommen.

Es war dreiviertel 10. Ein furchtbarer Sonntag. Um diese Zeit lag Franz schon in einer andern Stadtgegend auf dem Boden, den Kopf im Rinnstein, die Beine auf dem Trottoir.


Franz geht die Treppe runter. Eine Stufe, noch eine Stufe, noch eine Stufe, ne Stufe, Stufe, Stufe, vier Treppen, immer runter, runter, runter, noch runter. Dösig ist man, ganz verrammelt im Kopf. Kochste Suppe, Fräulein Stein, haste nen Löffel, Fräulein Stein – haste nen Löffel, Fräulein, kochste Suppe, Fräulein Stein. Nee, damit ist bei mir nichts zu machen, hab ich geschwitzt bei det Luder. Man muß mal an die Luft gehen. Treppengeländer, keene anständige Beleuchtung da, man kann sich ein Nagel einreißen.

Geht im 2. Stock die Türe auf, kommt ein Mann schwerfällig hinterher. Der muß aber ein Bauch haben, daß der so pustet, und noch dazu beim Runtersteigen. Unten steht Franz Biberkopf vor der Tür, die Luft ist grau und weich, wird bald schneien. Der Mann von der Treppe pustet neben ihm, ein kleiner, schwammiger Mann, mit einem aufgeblasenen weißen Gesicht; einen grünen Filzhut hat er auf. »Ist wohl knapp bei Ihnen auf der Brust, Herr Nachbar?« »Ja, das Fett. Und das viele Treppensteigen.« Sie gehen zusammen die Straße lang. Der Kurzatmige pustet: »Heute schon fünfmal vier Treppen gegangen. Rechnen Sie aus: zwanzich Treppen, jede durchschnittlich dreißich Stufen, Wendeltreppen sind kürzer, aber die gehen sich noch schwerer, also dreißich Stufen, fünf Treppen, hundertfuffzich Stufen. Die rauf. Und runter.« »Eigentlich dreihundert. Denn runter strengt Sie ooch an, hab ich gemerkt.« »Stimmt, runter ooch.« »Würde ich mir ein andern Beruf aussuchen.«

Es schneit schwere Flocken, sie drehen sich, es ist schön zu sehen. »Ja, ich geh auf Inserat, und das muß ich nu schon. Das gibt nicht Alltag und Sonntag. Sonntag sogar am meisten. Sonntag inserieren die meisten, da versprechen sie sich am meisten von.« »Ja, weil man da Zeit hat, Zeitung zu lesen. Versteh ich ohne Brille. Schlägt in mein Fach.« »Inserieren Sie ooch?« »Nee, ich verkaufe bloß Zeitungen. Jetzt will ich mal eine lesen gehen.« »Na, ich habe schon alle gelesen. Son Wetter. Habn Se schon mal so was gesehn.« »April, gestern war noch schön. Passen Sie auf, morgen ist wieder ganz blank. Wetten?« Der verpustet sich wieder, die Laternen brennen schon, er holt an einer Laterne ein kleines Notizbuch ohne Deckel heraus, hält es ganz weit von sich ab, liest drin. Franz meint: »Wird Ihnen naß werden.« Der hört nicht, steckt das Heft wieder ein, das Gespräch ist zu Ende, Franz denkt, ich verabschiede mir. Da sieht der Kleine ihn an unter seinem grünen Hut: »Sagen Sie, Herr Nachbar, wovon leben Sie eigentlich?« »Warum meinen Sie? Ich bin Zeitungshändler, freier Zeitungshändler.« »So. Und davon verdienen Sie Ihr Geld?« »Na, es geht.« Was will der bloß, ne putzige Kruke. »Ja. Sie, ich hab das ooch immer gewollt, so irgendwo frei mein Geld verdienen. Muß doch schön sein, man macht, was man will, und wenn man tüchtig ist, dann geht es.« »Manchmal ooch nicht. Aber Sie loofen doch genug, Herr Nachbar. Heute am Sonntag, bei son Wetter, da loofen nicht viele.« »Richtig, richtig. Ich loofe den halben Tag. Und kommt nischt ein, kommt nischt ein. Die Leute sind knapp bei Geld heute.« »Was handeln Sie, Herr Nachbar, wenns erlaubt ist?« »Ich habe meine kleine Rente. Ich wollte nu mal, sehen Sie, ein freier Mann sein, arbeiten, mein Geld verdienen. Na, seit drei Jahren hab ich meine Pension, solange war ich bei der Post, und nu loof ick und loof ick. Also: ich lese in der Zeitung, und dann geh ich hin und seh mir an, was die Leute anzeigen.« »Vielleicht Möbel?« »Was es gibt, gebrauchte Büromöbel, Bechsteinflügel, olle Perserteppiche, Pianolas, Briefmarkensammlungen, Münzen, Nachlaßgarderobe.« »Sterben viele Leute.« »Janzer Schock. Na, dann geh ich rauf un seh mir an, und dann koof ich ooch.« »Und dann verkoofen Sie weiter, versteh.«

Darauf verstummte der Asthmatiker wieder, drückte sich in seinen Mantel, sie schlenderten durch den sanften Schnee. Da holte an der nächsten Laterne der dicke Asthmatiker ein Pack Postkarten aus seiner Tasche, sah Franzen betrübt an, drückte ihm zwei in die Hand: »Lesen Sie, Herr Nachbar.« Auf der Karte stand: »P. P. Datum des Poststempels. Zu meinem Bedauern muß ich von der gestern getroffenen Abmachung widriger Umstände wegen zurücktreten. Hochachtung. Bernhard Kauer.« »Kauer heißen Sie?« »Ja, ist mit einem Kopierapparat abgezogen. Den hab ich mir mal gekooft. Dat ist das einzige, was ich mir gekooft habe. Da mach ich mir die Abzüge alleine mit. Bis fuffzich kann man in der Stunde machen von.« »Wat Sie sagen. Na, wat soll denn det nu eigentlich.« Der Kerl ist nicht richtig im Oberstübchen, klappert auch so mit die Augen. »Lesen Sie doch: zurücktreten wegen widriger Umstände. Ich koofe und kanns dann nicht bezahlen. Ohne Bezahlung gebens die Leute nicht raus. Kann man ihnen ooch nicht verdenken. Und immer wieder loofe ich rauf und koofe und mache ab und freue mir, und die Leute freuen sich ooch, weil das Geschäft so glatt ging, und ich denk mir, was hab ich fürn Schwein, so schöne Sachen gibts, herrliche Münzensammlungen, könnt Sie was erzählen, Leute, die mit einmal kein Geld haben, und da komm ick ruff, seh mir alles an, und die erzählen mir auch gleich, was los ist, was det für ein Elend unter die Leute ist, wenn sie bloß ein paar Pfennig unter die Finger kriegten, bei Sie im Haus hab ich ooch was gekooft, die Leute habens so nötig, ne Wringmaschine und einen kleinen Eisschrank, freuen sich, wenn sie ihn los sind. Und dann geh ich runter, möchte ja ooch so gerne alles koofen, aber unten, da krieg ich dann die dicken Sorgen: keen Geld und keen Geld.« »Und für Absatz haben Sie doch woll eenen, der Ihnen das Zeug abnimmt.« »Lassen Sie man gut sein. Da hab ich mir die Kopiermaschine gekooft, da zieh ich mir die Postkarten ab. Fünf Pfennig kost mich jede Postkarte, das sind noch Spesen. Und denn Schluß und Punkt.«

Franz machte Riesenaugen: »Da platzen mir die Strümpe, Herr Nachbar. Det kann doch nich Ihr Ernst sein.« »Die Spesen, die – verringere ich manchmal, da spar ich fünf Pfennig und schmeiß gleich beim Rausgehen meine Karte den Leuten in ihren Briefkasten.« »Und loofen sich die Beene ab und haben knappe Luft, und wofür denn aber?«

Sie waren am Alexanderplatz.

Da war ein Auflauf, sie traten heran. Der Kleine sah zu Franz wütend auf: »Da leben Sie mal von fünfundachtzig Mark in Monat und kommen nicht weiter.« »Aber Mensch, Sie müssen sich um den Absatz bekümmern. Wenn Sie wollen, werde ich mir mal erkundigen bei meine Bekannten.« »Quatsch, hab ich Sie gar nicht beauftragt, ich mach meine Geschäfte alleene, mach keine Kompaniegeschäfte.« Sie waren mitten im Auflauf, es war eine gewöhnliche Schimpferei. Franz suchte den kleinen Mann, der war weg, verschwunden. Looft der weiter so rum, staunte Franz, ich bin platt wie ne Flunder. Wo ist denn nu bloß mein Unglück passiert? Er trat in eine kleine Kneipe, nahm einen Kümmel, blätterte im Vorwärts, Lokalanzeiger. Steht ooch nich mehr drin als in der Mottenpost, gibt da ein großes Rennen in England, Paris auch; vielleicht haben sie da mächtig auszahlen müssen. Kann ooch ein großes Glück gewesen sein, wenn einem die Ohren so klingen.

Und ist im Begriff, nach Hause zu gehen und kehrt zu machen. Da muß er mal über den Damm und sehen, was im Gedränge los ist. Die große Bockwurst mit Salat! Hier, junger Mann, die große Bockwurst. Montag Morgen, die Welt, die Welt am Montag!

Wat sagen Sie zu die beede; die kloppen sich schon eine halbe Stunde rum, und keen Grund. Mensch, hier bleib ick bis morgen. Sie, Sie haben hier woll uffn Stehplatz abonniert, daß Sie sich so breitmachen. Nee, wat een Floh ist, der kann sich nicht breitmachen. Au Backe, kiek mal, der gibt ihm Saures.

Und wie Franz sich durchgedrängelt hat bis vorn, wer haut sich da mit wem? Zwei Jungen, die kennt er doch, das sind welche von Pums. Wat sagste nu. Klatsch hat der Lange den im Schwitzkasten, klatsch schmeißt er ihn in den Matsch. Junge, von dem läßt du dir schmeißen; bist ja minderwertig. Wat soll denn det Gedrängele, Sie. Au weih, Polente, die Grünen. Polente, Polente, verdrückt euch. Die Regencapes über, schieben sich zwei Grüne durch den Haufen. Schubb, ist der eine Ringer auf, im Gedränge, macht Beine. Der zweite, der Lange, der kommt nicht gleich hoch, der hat ne Wucht in die Rippen gekriegt, aber ne ordentliche. Da pufft sich Franz ganz vorn durch. Werd doch den Mann nicht liegen lassen, ist das ne Gesellschaft, keener faßt an. Und schon hat Franz ihn unter die Arme und rin zwischen die Leute. Die Grünen suchen. »Was is hier los?« »Haben sich zwei gehauen.« »Auseinandergehen, weitergehen.« Die krähen und kommen immer einen Posttag zu spät. Weitergehen, machen wir schon, Herr Wachmeister, nur keene überflüssige Uffregung.

Franz sitzt mit dem Langen in der Prenzlauer Straße in einem schwachbeleuchteten Hausflur; nur zwei Nummern weiter ist das Haus, wo nach cirka 4 Stunden ein Dicker ohne Hut raustreten wird und Cilly anquatschen wird; sie geht weiter, den nächsten wird sie bestimmt nehmen, son Schuft, der Franz, Gemeinheit.

Franz sitzt im Hausflur und schaukelt an dem faulen Emil: »Nun mach mal bloß, Mensch, daß wir in die Kneipe gehen können. Hab dir man nicht, wirst doch ne Wucht vertragen. Wasch dir man ab, schleppst den ganzen Asphalt mit.« Sie gehen über die Straße. »Jetzt setz ich dir in der ersten besten Kneipe ab, Emil, ich muß nach Hause, meine Braut wartet.« Franz drückt ihm die Hand, da dreht sich der andere noch mal um: »Könntest mir eigentlich nen Gefallen tun, Franze. Ich muß heut Ware abholen mit Pums. Loof doch vorbei bei ihm, sind bloß drei Schritt, an der Straße. Geh doch.« »Was soll ich, Mensch, ich hab keine Zeit.« »Bloß bestellen, ick kann heut nicht, der wartet. Der kann nischt machen sonst.«

Flucht Franz, geht los, ein Wetter, immer machen, Mensch, ich will nach Hause, ich kann doch schließlich die Cilly ooch nicht warten lassen. So ein Affe, ich hab doch nicht meine Zeit gestohlen. Er rennt. An einer Laterne steht ein kleiner Mann, liest in einem Heft. Wer ist das eigentlich, den kenn ich doch. Da blickt der her, sofort auf Franz zu: »Ach Sie, Herr Nachbar. Sie sind doch der aus dem Haus, wo die Wringmaschine und der Eisschrank waren. Ja. Hier geben Sie die Karte ab, nachher, wenn Sie nach Haus gehen, sparen wir Porto.« Drückt Franz die Postkarte in die Hand, infolge widriger Umstände zurücktreten. Darauf wandert Franz Biberkopf ruhig weiter, die Postkarte wird er Cilly zeigen, ist ja gar nicht so eilig. Er freut sich über den verrückten Kerl, den kleinen Postfritzen, der immer rumlooft und kooft und hat keen Geld, aber ein Vogel hat er, das ist schon kein gewöhnlicher Piepmatz, das ist ein ausgewachsenes Huhn, wovon ne Familie leben kann.

»Tag, Herr Pums. n Abend. Wundern sich, daß ick zu Ihnen komme. Wat: wat soll ick Ihnen also sagen. Geh ick über den Alex. Ist da an der Landsberger Straße ne Keilerei. Ich denke, ich geh mal hin. Und wer haut sich da? Na? Ihr Emil, der lange, mit einem Kleenen, der heißt wie ick, Franz, Sie werden schon wissen.« Worauf Herr Pums antwortet: er habe schon sowieso an Franz Biberkopf gedacht, er hab schon heut mittag gemerkt, daß zwischen den beiden was ist. »Also, der Lange kommt nicht. Sie springen da ein, Biberkopf.« »Wat du ick?« »Es geht auf sechs. Wir müssen um neun Ware abholen. Biberkopf, heut ist Sonntag, Sie haben sowieso nischt zu tun, Ihre Unkosten ersetze ich Ihnen, und dann gibt es noch drauf – na, sagen wir fünf Mark die Stunde.« Franz wird schwankend: »Fünf Märker.« »Na, ich bin im Druck, die beiden lassen mich im Stich.« »Der Kleine wird noch kommen.« »Also abgemacht, fünf Mark, Ihre Unkosten, na, fünf fuffzig, soll mir nicht drauf ankommen.«

Franz lacht innerlich furchtbar, wie er hinter Pums die Treppe runtergeht. Das ist aber ein glücklicher Sonntag, so was läuft einem nicht bald zwischen die Finger, das ist also doch wahr, die Glocken bedeuten was, jetzt werde ich einstreichen, na, am Sonntag fuffzehn Märker oder zwanzich, was habe ich eigentlich für Unkosten. Und freut sich, die Karte von dem Postfritzen knistert in seiner Tasche, vor der Haustür will er sich von Pums verabschieden. Da staunt der: »Nanu, ich denke, es ist abgemacht, Biberkopf.« »Ist ooch, ist ooch, auf mir ist Verlaß. Ick muß bloß rüber, wissen Sie, hähä, ich hab doch ne Braut, die Cilly, Sie kennen sie vielleicht von Reinhold, früher hat der ihr gehabt. Ich kann doch das Mädchen nicht den ganzen geschlagenen Sonntag alleen aufm Bau lassen.« »Nein, Biberkopf, ich kann Sie jetzt nicht weglassen, nachher zerschlägt sich alles, und ich steh da. Nein, wegen Weibersachen, so was, Biberkopf, das geht nicht, werden uns damit nicht das Geschäft verderben. Die läuft Ihnen nicht weg.« »Det weeß ick, da haben Se mal een wahres Wort gesagt, auf die kann ick mir verlassen. Aber gerade darum. Da werd ick ihr doch nicht sitzen lassen, und sie hört nischt und sieht nischt und weiß nischt. Was ich mache.« »Nun kommen Sie man, das findt sich schon.«

»Was mach ick?« dachte Franz. Sie gingen. Wieder die Ecke Prenzlauer Straße. Es standen schon hier und da Straßenmädchen, dieselben, die Cilly nach einigen Stunden sehen wird, als sie Franz sucht und sucht und herumirrt. Die Zeit rückt vor, es sammelt sich um Franz allerhand; er wird bald auf einem Wagen stehen, man wird ihn anfassen. Jetzt denkt er, wie er die Postkarte von dem verrückten Kerl rasch befördern kann und wie noch einen Moment rasch zu Cilly rauf, das Mädel wartet.

Er geht mit Pums in der Alten Schönhauser Straße zum Seitenflügel rauf, da ist sein Kontor, sagt Pums. Es ist auch Licht oben, die Stube sieht richtig aus wie ein Kontor mit Telephon, Schreibmaschinen. Ne ältere Frau mit strengem Gesicht kommt öfter in die Stube, wo Franz mit Pums sitzt: »Das ist meine Frau, Herr Franz Biberkopf, der will heute mal mitmachen.« Die geht raus, als wenn sie nichts gehört hat. Franz liest, während Pums an seinem Schreibtisch herumarbeitet und nur mal was nachsehen will in einer B. Z., die auf dem Stuhl liegt: 3000 Seemeilen in einer Nußschale von Günther Plüschow, Ferien und Linienläufe, Lania »Konjunktur«, Piskatorbühne im Lessingtheater. Piskator selbst hat die Regie. Was ist Piskator, was Lania? Was Enveloppe und was Inhalt, also Drama? Keine Kinderehen mehr in Indien, ein Friedhof für preisgekröntes Vieh. Kleine Chronik: Bruno Walter dirigiert sein letztes Konzert in dieser Saison Sonntag, 15.April, in der Städtischen Oper. Das Programm bringt die Es-Dur-Sinfonie von Mozart, der Reinertrag ist für den Fonds des Gustav-Mahler-Denkmals in Wien bestimmt. Kraftwagenfahrer verh., 32 Jahr, Fahrschein 2 a, 3 b, sucht Stellung auf Privatgeschäft oder Lastwagen.

Herr Pums sucht auf dem Tisch Streichhölzer für seine Zigarre. Da öffnet die ältere Frau eine Tapetentür, und drei Männer kommen langsam rein. Pums sieht nicht auf. Das sind nun alles Pums’ Leute, Franz schüttelt ihnen die Hand. Das Weib will wieder raus, da winkt Pums Franzen: »Sie, Biberkopf, Sie wollten doch einen Brief besorgt haben? Na, Klara, besorgs mal.« »Das ist aber hübsch von Sie, Frau Pums, wollen Sie mir wirklich den Gefallen tun? Also, ein Brief ist nicht, bloß die Karte, und dann an meiner Braut« – Und er sagt genau, wo er wohnt, schreibts auf ein Geschäftskuvert von Pums, und man soll der Cilly sagen, sie soll sich keine Sorge machen, und er kommt so um 10, und dann noch die Karte –

So, nu ist alles in Butter, er ist ordentlich erlöst. Das magere böse Aas liest in der Küche das Kuvert, steckt es in das Feuer; den Zettel zerknautscht sie, schmeißt ihn in den Müllkasten. Dann kuschelt sie sich an den Herd, trinkt ihren Kaffee weiter, denkt an nichts, sitzt, trinkt, es ist warm. Und Biberkopfs Freude ist stürmisch, als nu noch anschliddert mit ner Schiebermütze, in der grünen dicken Soldatenkluft – wer denn? Wer hat denn solche Senkgruben im Gesicht? Wer latscht, als wenn er immer ein Bein nach dem andern aus dem dicken Lehm zieht? Na, Reinhold. Da fühlt sich Franz zu Hause. Na, das ist fein! Mit dir mach ich mit, Reinhold, kann kommen, was da will. »Wat, du machst mit?« Reinhold nöselt, latscht rum. »Dat is mal n Entschluß von dir.« Und dann fängt Franz an, von der Keilerei auf dem Alex zu erzählen, und wie er dem langen Emil geholfen hat. Die hören gierig zu, die vier, Pums schreibt noch immer, sie stoßen sich an, dann tuscheln sie zu zweit. Einer beschäftigt sich immer mit Franzen.


Um 8 Uhr geht die Fahrt los. Alle sind stark eingemummt, auch Franz kriegt einen Mantel. Er meint und strahlt, den möchte er gern behalten, und die Krimmermütze, Donnerwetter. »Warum nicht«, sagen die, »mußt sie dir verdienen.«

Es geht los, stockfinster ist es draußen und ein furchtbarer Matsch. »Wat machen wir denn?« fragt Franz, wie sie auf der Straße stehen. Sie sagen: »Erst ein Auto haben oder zwei Autos. Und dann die Ware, Äppel und wat es gibt, die holen wir ab.« Sie lassen viele Autos vorbei, an der Metzer Straße stehen zwei, die nehmen sie, und dann rin und los.

Die beiden Autos fahren hintereinander gut ne halbe Stunde, im Dustern wird man aus der Gegend nicht klug, kann Weißensee sein oder Friedrichsfelde. Die Jungs sagen: der Alte will wohl erst was besorgen. Und dann halten sie vor einem Haus, es ist eine breite Allee, vielleicht ist es auch Tempelhof, die andern sagen, sie wissens ooch nich, sie geben mächtig Qualm.

Reinhold sitzt in diesem Auto neben Biberkopf. Was hat dieser Reinhold jetzt für ne andere Stimme! Er stottert nicht, spricht laut, sitzt straff wie ein Hauptmann; der Junge lacht sogar, die andern im Wagen hören auf ihn. Franz hat ihn unterm Arm: »Na, Junge, Reinhold (er flüsterts ihm in den Nakken unter den Hut), na, was sagste zu mir? Hab ich nicht recht gemacht mit die Weiber? Junge, was?« »Na ob, alles gut, alles gut.« Reinhold klatscht ihm auf das Knie; einen Schlag hat der Junge, was sagt man, hat der Junge eine Faust! Franz prustet: »Werden wir uns wegen ein Mädel uffregen, wat. Die müßte erst geboren werden, wat?«

Das Leben in der Wüste gestaltet sich oft schwierig.

Die Kamele suchen und suchen und finden nicht, und eines Tages findet man die gebleichten Knochen.

In einem Zuge fahren jetzt die beiden Autos, wie Pums mit einem Koffer wieder eingestiegen ist, durch die Stadt. Es ist knapp neun, da halten sie am Bülowplatz. Und jetzt gehen sie zu Fuß, getrennt, immer zwei und zwei. Sie gehen unter dem Stadtbahnbogen durch. Franz sagt: »Da sind wir ja bald an der Markthalle.« »Schon; aber erst abholen und dann rüberbringen.«

Plötzlich sind die vorderen nicht mehr sichtbar, es ist an der Kaiser-Wilhelm-Straße, dicht an der Stadtbahn, und dann ist Franz mit seinem Begleiter auch in einem schwarzen offenen Hausflur verschwunden. »Hier ists«, sagt der neben Franz, »die Zigarre kannste jetzt wegschmeißen.« »Warum denn?« Der preßt ihm den Arm, reißt ihm die Zigarre aus dem Mund: »Weil ick et sage.« Der ist über den dunklen Hof weg, ehe Franz was machen kann. Verstehste det, verstehste det, lassen einen im Dustern stehen, wo stecken die denn? Und wie Franz über den Hof tapert, blitzt schon eine Taschenlampe vor ihm auf, er ist geblendet, das ist Pums. »Sie, Sie, wat wollen Sie denn? Sie haben hier nichts zu suchen, Biberkopf, Sie stehen vorn, Sie passen auf. Gehen Sie zurück.« »Nanu, ich denk, ich soll abholen?« »Quatsch, gehen Sie zurück, hat Ihnen denn keiner was gesagt?«

Das Licht geht aus, Franz tapert zurück. Es zittert was in ihm, er schluckt: »Was ist det hier, wo stecken die nur hier?« Er steht schon an der vorderen Haustür, da kommen von hinten zwei an – Raub und Mord, die klauen, die brechen ein, ich will hier weg, weg von hier, eine Eisbahn, eine Rutschbahn, und weg in einem Bogen, auf dem Wasser bis zum Alexanderplatz – die halten ihn, einer ist Reinhold, der hat eine eiserne Klaue: »Hat man dir nischt gesagt? Hier stehste, paßt auf.« »Wer, wer sagt det?« »Mensch, quatsch nich, wir sind im Druck. Haste denn keen Grips; stell dir man nich. Jetzt stehste und pfeifst, wenn was ist.« »Ick...« »Halts Maul, Mensch«, und ein Hieb saust auf Franzens rechten Arm, daß er sich krümmt.

Franz steht allein im schwarzen Hausflur. Er zittert wirklich. Wat steh ich hier? Die haben mir richtig reingelegt. Der Hund hat mir gehauen. Die klauen hinten, wer weiß, was die klauen, das sind doch keene Obsthändler, das sind Einbrecher. Die lange Allee schwarzer Bäume, das eiserne Tor, nach dem Einschluß haben sich sämtliche Gefangenen zur Ruhe zu begeben, im Sommer ist es ihnen gestattet, bis zur Dunkelheit aufzubleiben. Das ist eine Kolonne, Pums kommandiert. Soll ich weg, soll ich nicht weg, soll ick, wat soll ick. Die haben mir hergelockt; sone Gauner. Ick muß Schmiere stehen.

Franz stand da, zitterte, befühlte seinen geknufften Arm. Krankheiten sollen Gefangene nicht verheimlichen, aber auch nicht erdichten; wird bestraft. Totenstill das Haus; vom Bülowplatz her Autotuten. Hinten über den Hof knackte und rumorte es, gelegentlich blitzte eine Taschenlampe auf, husch ging einer mit einer Blendlaterne in den Keller. Die haben mir hier eingesperrt, lieber trockenes Brot und Salzkartoffeln, als hier stehen für sone Gauner. Mehrere Taschenlampen blitzten auf dem Hof, der Mann mit der Postkarte fiel Franz ein, merkwürdiger Kerl, merkwürdiger Kerl. Und er kam nicht weg vom Fleck, er war an die Stelle gebannt; seit Reinhold ihn geschlagen hatte, war das, da war er angenagelt. Er wollte, er mochte, aber es ging nicht, es ließ ihn nicht los. Die Welt ist von Eisen, man kann nichts machen, sie kommt wie eine Walze an, auf einen zu, da ist nichts zu machen, da kommt sie, da läuft sie, da sitzen sie drin, das ist ein Tank, Teufel mit Hörnern und glühenden Augen drin, sie zerfleischen einen, sie sitzen da, mit ihren Ketten und Zähnen zerreißen sie einen. Und das läuft, und da kann keiner ausweichen. Das zuckt im Dunkeln; wenn es Licht ist, wird man alles sehen, wie es daliegt, wie es gewesen ist.

Ich möchte weg, ich möchte weg, die Gauner, die Hunde, ich will das gar nicht. Er zog an seinen Beinen, das wär ja gelacht, wenn ich nicht wegkönnte. Er rührte sich. Als wenn mich einer in Teig geschmissen hätte und krieg das Zeug nicht los. Aber es ging, es ging. Schwer ging es, aber es ging. Ich komm vorwärts, die sollen nur klauen, ick mach mir dünne. Er zog den Mantel aus, ging auf den Hof zurück, langsam, ängstlich, aber den Mantel müßte er denen ins Gesicht schmeißen, ins Dunkel schmiß er den Mantel gegen das Hinterhaus. Da kamen wieder Lichter, zwei Mann liefen an ihm vorbei, mit Mäntel, ganze Bündel, beladen, die beiden Autos hielten vor dem Torweg; im Vorübergehen schlug einer der Männer wieder Franzen auf den Arm, ein eiserner Schlag: »Alles in Ordnung, was?« Das war Reinhold. Jetzt rannten zwei weitere Männer mit Körben vorbei und wieder zwei, hin und her, ohne Licht, an Franzen vorbei, in dem nichts vorging als Zähnebeißen, Fäusteballen. Sie fuhrwerkten wie die Wilden im Hof und über den Flur hin und her im Dustern, sonst hätten sie sich vor Franz erschreckt. Denn das war nicht mehr Franz, der da stand. Ohne Mantel, ohne Mütze, die Augen vorgetrieben, die Hände in den Taschen und lauernd, ob er ein Gesicht erkennt, wer ist denn das, wer ist das, kein Messer da, warte du, vielleicht in der Jacke, Jungekens, ihr kennt Franz Biberkopf nich, werdet ihr erleben, wenn ihr den anfaßt. Da rannten alle vier beladen hintereinander raus, und ein kleiner Runder faßt Franz am Arm: »Komm, Biberkopf, Abfahrt, alles im Lot.«

Und Franz zwischen andere in ein großes Auto verstaut. Reinhold sitzt neben ihm, der preßt Franz hart neben sich, das ist der andere Reinhold. Sie fahren drin ohne Licht. »Was drückst du mir«, flüstert Franz; kein Messer da.

»Halts Maul, halt die Fresse, Kerl; keiner sagt ein Mucks.« Das vordere Auto jagt; der Chauffeur vom zweiten Wagen sieht rechts zurück, gibt Gas, schreit nach rückwärts durch das offene Fenster: »Kommt wer nach.«

Reinhold steckt den Kopf zum Fenster raus: »Dalli, dalli, um die Ecke.« Der Wagen immer nach. Da sieht beim Schein einer Laterne Reinhold Franzens Gesicht: der strahlt, der hat ein glückliches Gesicht. »Wat lachste, Affe, du bist wohl ganz verrückt.« »Kann ick doch lachen, geht dir nischt an.« »Dat du lachst?« So ein Tagedieb, ein Achtgroschenjunge. Und plötzlich blitzt es durch Reinhold, woran er die ganze Fahrt nicht gedacht hatte: das ist der Biberkopf, der ihn hat sitzen lassen, der ihm die Weiber abtreibt, das ist ja bewiesen, dieses freche, dicke Schwein, und dem hab ick auch mal alles erzählt von mir. Plötzlich denkt Reinhold nicht an die Fahrt.

Wasser im schwarzen Wald, ihr liegt so stumm. Furchtbar ruhig liegt ihr. Eure Oberfläche bewegt sich nicht, wenn es im Wald stürmt und die Kiefern ihr Biegen anfangen und die Spinnweben zwischen den Ästen zerreißen und das Splittern losgeht. Der Sturm dringt nicht zu euch herunter.

Dieser Junge, denkt Reinhold, sitzt dick im Fett, und er denkt woll, das Auto hinten wird uns kriegen, und ich sitze hier, und er hat mir Reden gehalten, das Rindsvieh, von Weibern, und ich soll mir beherrschen.

Franz lacht lautlos weiter, er sieht nach rückwärts durch das kleine Autofenster auf die Straße, ja, das Auto verfolgt sie, sie sind entdeckt; warte, das ist ihre Strafe, und wenn ich selbst bei verschütt gehe, die sollen nicht mit mir umspringen, die Gauner, die Strolche, die Verbrecherbande.

Verflucht ist der Mann, spricht Jeremia, der sich auf Menschen verläßt. Er gleicht einem Verlassenen in der Steppe. Er weilt im Dürren auf salzigem Boden, der nicht bewohnt ist. Das Herz ist trügerisch und verderbt; wer mag es kennen?

Da hat Reinhold dem Mann ihm gegenüber ein heimliches Zeichen gegeben, im Wagen wechselt Finsternis und Licht, es wird eine Jagd. Heimlich hat Reinhold seine Hand an den Türdrücker dicht neben Franz geschoben. Sie sausen in eine breite Allee ein. Franz sieht noch nach rückwärts. Er wird mit einmal an der Brust gepackt, nach vorn gezerrt. Er will aufstehen, er schlägt in Reinholds Gesicht. Der ist aber grausig stark. Der Wind braust in den Wagen, Schnee fliegt hinein. Franz wird schräg über die Ballen gegen die offene Tür gestoßen, er greift schreiend nach Reinholds Hals. Da fährt ein Stockhieb von der Seite auf seinen Arm. Der zweite im Wagen versetzt ihm einen schiebenden Stoß gegen die linke Hüfte. Von den Tuchballen herunter wird Franz durch die offene Tür liegend geschoben; er klammert sich mit den Beinen an, woran er kann. Seine Arme halten den Wagentritt umschlungen.

Da trifft ihn ein Stockschlag auf den Hinterkopf. Gebückt über ihm stehend wirft Reinhold den Körper auf die Straße. Die Tür knallt zu. Das Verfolgerauto braust über den Menschen. Die Jagd geht im Schneetreiben weiter.


Freuen wir uns, wenn die Sonne aufgeht und das schöne Licht kommt. Das Gaslicht kann ausgehen, das elektrische. Die Menschen stehen auf, wenn ihr Wecker schnurrt, es hat ein neuer Tag begonnen. Wenn vorher der 8.April war, ist jetzt der 9., wenn es ein Sonntag war, ist jetzt ein Montag. Das Jahr hat sich nicht geändert, der Monat auch nicht, aber es ist eine Änderung eingetreten. Die Welt hat sich weitergewälzt. Die Sonne ist aufgegangen. Es ist nicht sicher, was diese Sonne ist. Die Astronomen beschäftigen sich viel mit diesem Körper. Er ist ja, sagen sie, der Zentralkörper unseres Planetensystems, denn unsere Erde ist nur ein kleiner Planet, und was sind eigentlich wir denn? Wenn so die Sonne aufgeht und man sich freut, sollte man eigentlich betrübt sein, denn was ist man denn, 300 000mal so groß wie die Erde ist die Sonne, und was gibt es alles noch für Zahlen und Nullen, die alle nur sagen, daß wir eine Null sind oder gar nichts, völlig nichts. Eigentlich lächerlich, sich da zu freuen.

Und doch freut man sich, wenn das schöne Licht da ist, weiß und stark, und kommt auf den Straßen, in den Zimmern erwachen alle Farben, und die Gesichter sind da, die Züge. Es ist wohlig, Formen zu tasten mit den Händen, aber es ist ein Glück, zu sehen, zu sehen, Farben zu sehen, Linien. Und man freut sich und kann zeigen, was man ist, man tut, man erlebt. Wir freuen uns auch im April über das bißchen Wärme, wie freuen sich die Blumen, daß sie wachsen können. Es muß ein Irrtum, ein Fehler sein in den schrecklichen Zahlen mit den vielen Nullen.

Geh nur auf, Sonne, du erschreckst uns nicht. Die vielen Kilometer sind uns gleichgültig, der Durchmesser, dein Volumen. Warme Sonne, geh nur auf, helles Licht, geh auf. Du bist nicht groß, du bist nicht klein, du bist eine Freude.


Nun ist sie soeben froh aus dem Pariser Nordexpreß gestiegen, die kleine unscheinbare Gestalt im pelzbesetzten Mantel, mit ihren Riesenaugen und ihren kleinen Pekinesen Black und China im Arm. Photographen und Kurbelrummel. Leise lächelnd läßt Raquil alles über sich ergehen, freut sich am meisten über einen Strauß gelber Rosen der spanischen Kolonie, denn Elfenbein ist ihre Lieblingsfarbe. Mit den Worten: »Ich bin wahnsinnig neugierig auf Berlin«, besteigt die berühmte Frau ihren Wagen und entschwindet der nachwinkenden Menschenmenge in der morgendlichen Stadt.

Berlin Alexanderplatz: Die Geschichte von Franz Biberkopf
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