Hasenheide, Neue Welt, wenns nicht das eine ist,
ist es das andere, man muß sich das Leben nicht
schwerer machen als es ist

Und Franz sitzt bei Fräulein Lina Przyballa in der Stube, lacht sie an: »Weeßt du, Lina, was eine Lageristin ist?« Er gibt ihr einen Puff. Die gafft: »Na, die Fölsch, die ist doch Lageristin, die muß Platten raussuchen bei dem Musikfritzen.« »Mein ich nich. Wenn ich dir einen Schups gebe und du liegst aufm Sofa und ich daneben, dann bist du ne Lageristin und ich der Lagerist.« »Ja, so siehst du aus.« Sie kreischte.

Und so wollen wir noch einmal, wollen wir noch einmal, valle ralle ralle lala, lustig sein, lustig sein, trallalala. Und so wollen wir noch mal, wollen wir noch einmal lustig sein, lustig sein.

Und sie stehen auf vom Sofa – Sie sind doch nicht krank, Herr, sonst gehen Sie zum Onkel Doktor – und wandeln lustig nach der Hasenheide, in die Neue Welt, wo es hoch einhergeht, wo die Freudenfeuer brennen, Prämiierung der schlanksten Waden. Die Musik saß im Tiroler Kostüm auf der Bühne. Sachte ging es: »Trink, trink, Brüderlein, trink, Lasse die Sorgen zu Haus, Meide den Kummer und meide den Schmerz, Dann ist das Leben ein Scherz, Meide den Kummer und meide den Schmerz, Dann ist das Leben ein Scherz.«

Und das ging in die Beine, mit jedem Takt, und zwischen den Bierseideln schmunzelten sie, summten mit, bewegten die Arme im Takt: »Sauf, sauf, Brüderlein, sauf, Lasse die Sorgen zu Haus, Sauf, sauf, Brüderlein, sauf, Lasse die Sorgen zu Haus, Meide den Kummer und meide den Schmerz, Dann ist das Leben ein Scherz.«

Charlie Chaplin war in eigner Person da, flüsterte nordöstliches Deutsch, watschelte in den weiten Hosen mit den Riesenschuhen oben auf dem Geländer, faßte eine nicht allzu junge Dame am Bein und sauste mit ihr die Rutschbahn runter. Zahlreiche Familien kleckerten um einen Tisch. Du kannst einen langen Stock mit Papierpuscheln dran kaufen für 50 Pfennig und damit jede beliebige Verbindung herstellen, der Hals ist empfindlich, die Kniekehle auch, nachher hebt man das Bein und dreht sich um. Wer ist denn hier alles? Zivilisten beiderlei Geschlechts, ferner eine Handvoll Reichswehr mit Anschluß. Trink, trink, Brüderlein, trink, lasse die Sorgen zu Haus.

Es wird gequalmt, Wolken aus Pfeifen, Zigarren, Zigaretten in die Luft, daß die ganze Riesenhalle vernebelt. Der Rauch sucht, wenn es ihm zu rauchig wird, vermöge seiner Leichtigkeit oben zu entweichen, findet auch richtig Ritzen, Löcher und Ventilatoren, die bereit sind, ihn zu befördern. Draußen jedoch, draußen ist schwarze Nacht, Kälte. Da bereut der Rauch seine Leichtigkeit, sträubt sich gegen seine Konstitution, aber es ist nichts rückgängig zu machen infolge einseitiger Drehung der Ventilatoren. Zu spät. Von physikalischen Gesetzen sieht er sich umgeben. Der Rauch weiß nicht, wie ihm ist, er faßt sich an die Stirn und sie ist nicht da, er will denken und kann nicht. Der Wind, die Kälte, die Nacht hat ihn, und ward nicht mehr gesehn.

An einem Tisch sitzen zwei Paare und blicken auf die Passanten. Der Herr in Pfeffer und Salz neigt sein schnurrbärtiges Gesicht über den vorhandenen Busen einer schwarzen Dikken. Ihre süßen Herzen zittern, ihre Nasen schnüffeln, er über ihrem Busen, sie über seinem eingefetteten Hinterkopf.

Nebenan lacht eine Gelbkarierte. Ihr Kavalier legt den Arm um ihren Stuhl. Sie hat vorstehende Zähne, Monokel, das offene linke Auge ist wie erloschen, sie lächelt, pafft, schüttelt den Kopf: »Was du auch fragst.« Ein junges Huhn mit blonden Wasserwellen sitzt am Nebentisch, beziehungsweise deckt mit ihrem kräftig entwickelten, aber verhüllten Hinterteil die Eisenplatte eines niedrigen Gartenstuhls. Sie näselt und summt glücklich zur Musik unter der Wirkung eines Beefsteaks und dreier Glas Helles. Sie plappert, plappert, legt den Kopf um seinen Hals, um den Hals des zweiten Einrichters einer Neuköllner Firma, dessen viertes Verhältnis dieses Huhn in diesem Jahr ist, während umgekehrt er ihr zehntes, beziehungsweise elftes ist, wenn man ihren Großvetter hinzurechnet, der aber ihr ständiger Verlobter ist. Sie reißt die Augen auf, denn oben kann Chaplin jeden Augenblick runterfallen. Der Einrichter greift mit beiden Händen nach der Rutschbahn, wo sich auch was begibt. Sie bestellen Salzbrezeln.

Ein 36jähriger Herr, Mitinhaber eines kleinen Lebensmittelgeschäfts, kauft sich sechs große Luftballons à 50 Pfennig, läßt im Gang vor der Kapelle einen nach dem andern hochgehen, wodurch es ihm mangels sonstiger Reize gelingt, die Aufmerksamkeit einsamer oder paarweis wandernder Mädchen, Frauen, Jungfrauen, Witwen, Geschiedenen, Treue- und Ehebrecherinnen auf sich zu ziehen und bequem Anschluß zu finden. Man zahlt 20 Pfennig im Verbindungsgang für Gewichtstemmen. Ein Blick in die Zukunft: Man tupfe mit dem gut angefeuchteten Finger auf das chemische Präparat in dem Kreise zwischen beiden Herzen und wische damit einige Male über das obige leere Blatt und das Bild des Zukünftigen erscheint. Sie sind seit Kindheit auf dem rechten Pfade. Ihr Herz kennt kein Falsch, und dennoch wittern Sie mit feinem Gefühl jeden Hinterhalt, den Ihnen mißgünstige Freunde legen möchten. Vertrauen Sie auch fernerhin Ihrer Lebenskunst, denn Ihr Stern, unter dessen Leuchten Sie diese Welt betraten, wird Ihnen der beständige Führer sein und Ihnen auch zu dem Lebensgenossen verhelfen, der Ihr Glück vollkommen machen soll. Der Gefährte, dem Sie vertrauen können, ist gleichen Charakters wie Sie. Sein Werben kommt nicht mit Ungestüm, aber um so dauerhafter wird das stille Glück an seiner Seite.

In der Nähe der Garderobe im Seitensaal blies eine Kapelle vom Balkon herunter. Diese Kapelle hatte rote Westen an und schrie immer, sie hätte nichts zu trinken. Unten stand ein beleibter Mann im Gehrock von biederem Wesen. Er hatte eine merkwürdige gestreifte Papiermütze auf und wollte, während er sang, sich eine Papiernelke ins Knopfloch stecken, was ihm aber infolge von acht Hellen, zwei Punschen und vier Kognaks mißlang. Er sang im Getümmel zu der Kapelle auf, dann schwofte er mit einer alten, ungeheuer auseinandergeratenen Person Walzer, mit der er karusselartig weite Kreise um sich zog. Im Tanzen floß die Person noch mehr auseinander, sie hatte aber genug Instinkt, kurz vor ihrer Explosion sich auf drei Stühle zu setzen.

Franz Biberkopf und dieser Mann im Gehrock fanden sich in einer Pause unter dem Balkon, auf dem die Musik nach Bier schrie. Und ein strahlend blaues Auge stierte Franz an, holder Mond, du gehst so stille, das andere Auge war blind, sie hoben ihre weißen Bierkrüge, dieser Invalide krächzte: »Du bist auch solch Verräter, die andern sitzen an der Futterkrippe.« Er schluckte: »Schau mir nicht so tief ins Auge, schau mich an, wo hast du gedient?«

Sie prosteten sich zu, Tusch der Kapelle, wir haben nichts zu trinken, wir haben nichts zu trinken. Sie, unterlassen Sie das, Kinder, gemütlich, immer gemütlich, ein Prosit, ein Prosit der Gemütlichkeit. »Bist du ein deutscher Mann, bist du kerndeutsch? Wie heißt du?« »Franz Biberkopf. Dicke, der kennt mich nicht.« Der Invalide flüsterte, die Hand vor dem Mund, er rülpste: »Bist du ein deutscher Mann, Hand aufs Herz. Du gehst nicht mit den Roten, sonst bist du ein Verräter. Wer ein Verräter ist, der ist nicht mein Freund.« Er umarmte Franz: »Die Polen, die Franzosen, das Vaterland, wofür wir geblutet haben, das ist der Dank der Nation.« Dann raffte er sich zusammen, tanzte mit der wieder gesammelten weitläufigen Person weiter, immer alten Walzer zu jeder Musik. Er torkelte und suchte. Franz brüllte: »Hier.« Lina holte ihn, da tanzte er erst mit Lina, Arm in Arm mit ihr erschien er vor Franz an dem Ausschank: »Entschuldigen Sie, mit wem habe ich das Vergnügen, die Ehre. Ihr werter Name, bitte.« Trink, trink, Brüderlein, trink, lasse die Sorgen zu Haus, meide den Kummer und meide den Schmerz, dann ist das Leben ein Scherz.

Zwo Eisbeine, einmal Pökelkamm, die Dame hatte Meerrettich, die Garderobe, ja, wo haben Sie denn abgegeben, es gibt hier zwei Garderoben, dürfen eigentlich Gefangene in Untersuchung Trauringe tragen? Ich sage nein. Im Ruderklub hat es bis vier Uhr gedauert. Die Wege da für Autos, die sind ja unter aller Kanone, da hopst du immer bis an die Decke vom Wagen, da kannste Tauchbäder nehmen.

Der Invalide und Franz sitzen umschlungen am Ausschank: »Ich kann dir sagen, du, mir haben sie die Rente gekürzt, ich geh zu den Roten. Wer uns aus dem Paradies vertreibt mit Flammenschwert, ist der Erzengel, und daraufhin kehren wir dahin nicht zurück. Sitzen wir oben am Hartmannsweilerkopf, sag ich zu meinem Hauptmann, der ist aus Stargard wie ich.« »Storkow?« »Nee, Stargard. Jetzt hab ich meine Nelke verloren, nee, da hängt sie.« Wer einmal am Strande des Meeres geküßt, von tänzelnden Wellen belauscht, der weiß, was das Schönste auf Erden ist, der hat mit der Liebe geplauscht. Franz handelt nun völkische Zeitungen. Er hat nichts gegen die Juden, aber er ist für Ordnung. Denn Ordnung muß im Paradiese sein, das sieht ja wohl ein jeder ein. Und der Stahlhelm, die Jungens hat er gesehn, und ihre Führer auch, das ist was. Er steht am Ausgang der Untergrundbahn Potsdamer Platz, in der Friedrichstraße an der Passage, unter dem Bahnhof Alexanderplatz. Er ist einer Meinung mit dem Invaliden aus der Neuen Welt, mit dem einäugigen, dem mit der dicken Madame.

Dem deutschen Volke zum 1. Advent: Zertrümmert endlich euer Truggebilde und straft, die euch in Gauklerspielen wiegen! Dann kommt der Tag, da steigt vom Kampfgefilde mit ihres Rechtes Schwert und blankem Schilde die Wahrheit auf, der Feinde zu obsiegen.

»Während diese Zeilen geschrieben werden, tagt die Verhandlung gegen die Ritter vom Reichsbanner, denen eine etwa 15–20fache Übermacht derartige Äußerungen sowohl ihres programmäßigen Pazifismus als ihres gesinnungsmäßigen Mutes gestattete, daß sie eine Handvoll Nationalsozialisten überfielen, niederschlugen und dabei unsern P. G. Hirschmann in viehischster Weise töteten. Sogar aus den Aussagen der Angeklagten, die von Rechts wegen die Erlaubnis und von Partei wegen vermutlich den Befehl haben, zu lügen, geht hervor, mit welch vorsätzlicher Roheit, die das zugrunde liegende System deutlich offenbart, hier vorgegangen wurde.«

»Wahrer Föderalismus ist Antisemitismus, Kampf gegen das Judentum ist auch Kampf für die Eigenstaatlichkeit Bayerns. Schon lange vor Beginn war der große Mathäser Festsaal dicht gefüllt, und immer neue Besucher drängten nach. Bis zur Eröffnung der Versammlung erfreute unsere stramme S. A. Kapelle mit dem schneidigen Vortrag flotter Märsche und Weisen. Um achteinhalb Uhr eröffnete P. G. Oberlehrer die Versammlung mit einer herzlichen Begrüßung und erteilte dann dem P. G. N. Walter Ammer das Wort.«

In der Elsasser Straße die Brüder lachen sich schief, wenn er mittags antritt in der Kneipe, die Binde vorsichtigerweise in der Tasche, sie ziehen sie ihm raus. Franz sägt sie ab.

Dem arbeitslosen jungen Schlosser sagt er, und der setzt seine große Molle vor Staunen ab: »Also, du lachst mir aus, Richard, vielleicht warum? Weil du verheiratet bist? Du bist einundzwanzig und deine Frau ist achtzehn, und was hast du gesehn vom Leben? Nischt weniger drei. Dir sage ich, Richard, wenn wir uns mal von Mädels unterhalten, wo du auch einen kleinen Jungen hast, da sollst du recht haben wegen dem Schreihals. Was aber sonst? Nanu.«

Der Schleifer Georg Dreske, 39 Jahre alt, jetzt ausgesperrt, schwenkt Franzens Binde. »Auf der Binde, Orge, kuck sie dir nur genau an, da steht nichts drauf, was man nicht verantworten kann. Ich bin doch auch getürmt draußen, Mensch, genau wie du, habe ich auch gemacht, aber was ist denn nachher gewesen. Ob einer ne rote Bauchbinde hat oder ne goldene oder ne schwarzweißrote, davon schmeckt die Zigarre auch nicht besser. Auf den Tabak kommt es an, alter Junge, Oberblatt, Unterblatt und richtig gewickelt und getrocknet und woher. Sag ich. Was haben wir denn gemacht, Orge, sag doch mal.«

Der legt ganz ruhig die Binde vor sich auf den Schanktisch, schluckt sein Bier, spricht sehr zögernd, manchmal stottert er, feuchtet sich öfter an: »Ich seh dich bloß an, Franz, und ich sage bloß und ich kenn dich doch schon lange von Arras und von Kowno, und sie haben dich schön eingeseift.« »Wegen die Binde, meinst du?« »Und wegen alles. Laß man. Das hast du nich nötig, so unter die Menschen rumzulaufen.«

Nun steht Franz auf, schiebt den jungen Schlosser Richard Werner mit dem grünen Schillerkragen beiseite, wo der ihn grade was fragen will: »Nee, nee, Richardchen, bist ne gute Haut, aber das sind hier Männersachen. Weil du Wahlrecht hast, kannst du zwischen mir und Orge noch lange nicht mitreden.« Dann steht er nachdenklich neben dem Schleifer am Schanktisch, der Wirt in der großen blauen Schürze steht innen vor dem Kognakgestell aufmerksam gegenüber, die dikken Hände in dem Spülkasten. »Also Orge, was war mit Arras?« »Was soll damit sein? Weißt du alleine. Und warum du getürmt bist. Und dann die Binde. Mensch, Franz, lieber häng ich mir daran auf. Dir haben sie wirklich eingeseift.«

Franz hat einen sehr sicheren Blick, hält den Schleifer, der stottert und den Kopf wirft, fest im Auge: »Das mit Arras will ich noch wissen. Wolln wir noch befühlen. Wenn du bei Arras warst!« »Du spinnst wohl, Franz, will mal gar nichts gesagt haben, du hast wohl einen sitzen.« Franz wartet, denkt, ich werd ihn schon reinlegen, der tut, als versteht er nichts, der spielt den Oberschlauen. »Also natürlich, Orge, bei Arras sind wir natürlich gewesen, mit Arthur Böse und Bluhm und dem kleinen Feldwebelleutnant, wie hieß der eben noch, der hieß so komisch.« »Hab ich vergessen.« Laß den reden, der hat einen sitzen, die andern merkens auch. »Warte mal, wie der hieß, Bista oder Biskra oder so was, der Kleine.« Laß ihn reden, ich sag gar nichts, der verhaspelt sich, dann sagt er gar nichts mehr. »Ja, die kennen wir alle. Bloß das mein ich nicht. Wo wir nachher gewesen sind, bei Arras, wie es aus war, nach achtzehn, wie die andere Kiste losging, hier in Berlin und in Halle und in Kiel und wo...«

Entschlossen lehnte Georg Dreske ab, das ist mir zu dämlich, für son Quatsch steh ich hier nich in der Kneipe: »Nee, hör schon uf, ich zieh gleich ab. Erzähl das dem kleinen Richard. Komm, Richard.« »Vor mir tut er ja so großartig, der Herr Baron. Der geht jetzt bloß mit Baronen um. Daß der noch zu uns in die Kneipe kommt, der hohe Herr.« Klare Augen in Dreskes unruhige: »Also das meine ich, akkurat das, Orge, wo wir bei Arras standen nach achtzehn, Feldartillerie oder Infanterie oder Flak oder Funker oder Schipper oder was du willst. Wo wir standen nachher im Frieden?« Geht mir doch ein Seifensieder auf, warte mal, Jungeken, daran sollst du doch eigentlich nich rühren. »Nu werd ich mal erst ruhig meine Molle auslöffeln, und du, Franzeken, wo du nachher überall gewesen bist, gelaufen und nich gelaufen, auch gestanden oder gesessen, das sieh mal in deinen Papieren nach, wenn du sie gerade bei dir hast. Ein Händler muß doch immer seine Papiere bei sich haben.« Nu haste mich wohl verstanden, Nummer sicher, und merkst es dir. Ruhige Augen in Dreskes listige: »Vier Jahr nach achtzehn war ich in Berlin. Länger hat vorher der ganze Krieg nicht gedauert, stimmt doch, ich bin rumgelaufen, und du bist rumgelaufen, hier Richard saß noch bei Muttern auf der Schürze. Na, und haben wir hier was von Arras gemerkt, etwa du? Haben gehabt Inflation, Papierscheine, Millionen, Billionen, kein Fleisch, keine Butter, schlimmer als vorher, das haben wir alles gemerkt, du auch, Orge, und wo ist Arras gewesen, kannst du ausrechnen an deinen eigenen Fingern. Nichts war da, wo denn? Sind bloß rumgelaufen und haben den Bauern Kartoffeln geklaut.«

Revolution? Schraub den Fahnenschaft auseinander, verstau das Fahnentuch im Wachstuchumschlag und stell das Ding in den Kleiderkasten. Laß dir von Muttern die Hausschuhe bringen und binde den feuerroten Schlips ab. Ihr macht die Revolution immer mit der Schnauze, eure Republik – ein Betriebsunfall!

Dreske denkt: Das wird ein gefährlicher Bruder. Richard Werner, dieser junge Dussel, sperrt schon wieder den Schnabel auf: »Da hast dus wohl lieber und möchtest das wohl lieber, Franz, wir machen nen neuen Krieg, das möchtet ihr wohl schieben, auf unserm Buckel. Lustig wolln wir Frankreich schlagen. Da reißte dir aber n großes Loch in die Hose.« Franz denkt: Ein Affe das, ein Mulatte, Paradies der Neger, der kennt Krieg nur ausm Film, eins auf den Kopf und runterklappen.

Der Wirt trocknet sich die Hände an seiner blauen Schürze. Ein grüner Prospekt liegt vor den sauberen Gläsern, der Wirt schnauft tief, während er liest: Handverlesener Kehrwieder-Röstkaffee ist unerreicht! Leutekaffee (Fehlbohnen und Röstkaffee). Reiner ungemahlener Bohnenkaffee 2,29, Santos garantiert rein, prima Santos Haushaltmischung kräftig und sparsam im Gebrauch, Van Campinas Kraftmelange rein im Geschmack, Mexiko-Melange exquisit, ein preiswerter Plantagenkaffee 3,75, Bahnversand mindestens 36 Pfund diverse Ware. Eine Biene, eine Wespe, ein Brummer kreist oben an der Decke neben dem Ofenrohr, ein vollkommenes Naturwunder im Winter. Seine Stammesgenossen, Art-, Gesinnungs- und Gattungsgenossen sind tot, schon tot oder noch nicht geboren; das ist die Eiszeit, die der einsame Brummer durchhält, und weiß nicht, wie es gekommen ist und warum grade er. Der Sonnenschein aber, der lautlos die vorderen Tische und den Fußboden belegt, in zwei lichte Massen geteilt von dem Schild: »Löwenbräu Patzenhofer«, der ist uralt, und eigentlich wirkt alles vergänglich und bedeutungslos, wenn man ihn sieht. Er kommt über x Meilen her, am Stern y ist er vorbeigeschossen, die Sonne scheint seit Jahrmillionen, lange vor Nebukadnezar, vor Adam und Eva, vor dem Ichthyosaurus, und jetzt scheint sie in das kleine Bierlokal durch das Fensterglas, wird von einem Blechschild: »Löwenbräu Patzenhofer«, in zwei Massen geteilt, legt sich über die Tische und auf den Boden, rückt unmerklich vor. Er legt sich auf sie, und sie wissen es. Er ist beschwingt, leicht, überleicht, lichtleicht, vom Himmel hoch da komm ich her.

Zwei große ausgewachsene Tiere in Tüchern, zwei Menschen, Männer, Franz Biberkopf und George Dreske, ein Zeitungshändler und ein ausgesperrter Schleifer aber stehen am Schanktisch, halten sich senkrecht auf ihren unteren Extremitäten in Hosen, stützen sich auf das Holz mit den Armen, die in dicken Mantelröhren stecken. Jeder von ihnen denkt, beobachtet und fühlt, jeder was anderes.

»Dann kannst du ruhig wissen und kannst merken, daß da überhaupt kein Arras war, Orge. Wir haben es einfach nicht zustande gebracht, wir nicht, wollen es schon ruhig sagen. Oder ihr oder die, die dabei waren. War keine Disziplin, hat ja keiner kommandiert, immer einer gegen den andern. Ich bin aus dem Graben getürmt und du mit und dann noch Öse. Na, und hier zu Haus, wies losging, wer ist denn da getürmt? Alle durch die Bank. War gar keiner da, der dablieb, hast es ja gesehn, vielleicht ne Handvoll, tausend, schenk sie dir.« Von da bläst der und ist solch Hornvieh, und auf den Leim geht er. »Weil wir verraten sind, Franz, achtzehn und neunzehn, von den Bonzen, und Rosa haben sie gekillt und Karl Liebknecht. Da sollen mal Leute zusammenhalten und sollen was machen. Kuck dir Rußland an, Lenin, da halten sie, das ist Kitt. Aber abwarten.« Blut muß fließen, Blut muß fließen, Blut muß fließen knüppelhageldick. »Ist mir ganz egal. Über Abwarten geht die Welt kaputt und du mit. Auf son Kalmus piep ich nu wieder nich. Für mich ist der Beweis: Sie habens nicht zustande gebracht, und das genügt mir. Nicht das kleinste Ding ist zustand gekommen, wie der Hartmannsweilerkopf, wovon mir da einer immer was predigt, der Invalide, der saß oben, den kennst du nicht, nicht mal das. Na und –«

Richtet sich Franz auf, langt sich seine Binde vom Tisch, stopft sie sich in die Windjacke, streicht wagerecht hin und her mit dem linken Arm, wie er langsam zu seinem Tisch zurückkehrt: »Und da sage ich, was ich immer sage, und verstehst du, Krause, kannst dir auch merken, Richard: kommt nichts raus bei euren Sachen. Auf die Weise nicht. Weiß nicht, ob bei denen was rauskommt mit die Binde hier. Hab ich auch gar nicht gesagt, aber ist doch ne andere Sache. Friede auf Erden, wies gesagt ist, so ist richtig, und wer arbeiten will, soll arbeiten, und für die Zicken sind wir uns zu gut.«

Und sitzt auf der Fensterbank und wischt sich die Backe, blinzelt in die helle Stube, zupft sich ein Haar aus dem Ohr. Die Elektrische knirscht um die Ecke, Nr. 9, Ostring, Hermannplatz, Wildenbruchplatz, Bahnhof Treptow, Warschauer Brücke, Baltenplatz, Kniprodestraße, Schönhauser Allee, Stettiner Bahnhof, Hedwigkirche, Hallesches Tor, Hermannplatz. Der Wirt stützt sich auf den Bierhahn aus Messing, lutscht und züngelt an seiner neuen Plombe im Unterkiefer, schmeckt nach Apotheke, die kleine Emilie muß den Sommer wieder aufs Land oder nach Zinnowitz mit der Ferienkolonie, das Kind mickert schon wieder, seine Augen treffen wieder den grünen Prospekt, der liegt schief, er legt ihn zurecht, ein bißchen Beängstigung dabei, kann nichts schief liegen sehen. Bismarckheringe in ff. Gewürztunke, Zartfleisch ohne Gräten, Rollmöpse in ff. Gewürztunke, zart mit Gurkeneinlage, Heringe in Gelee, große Stücke, zarte Fische, Bratheringe.

Die Worte, tönende Wellen, Geräuschwellen, mit Inhalt gefüllt, schaukeln hin und her durch die Stube, aus der Kehle Dreskes, des Stotterers, der gegen den Boden lächelt: »Also dann viel Glück, Franz, wie der Pfaffe sagt, auf deinem neuen Lebensweg. Wenn wir also im Januar nach Friedrichsfelde marschieren, zu Karl und Rosa, machst du diesmal nicht mit, wie sonst.« Laß den stottern, ich verkauf meine Zeitungen.

Der Wirt lächelt, als sie alleine sind, Franzen an. Der streckt behaglich die Beine unter den Tisch: »Warum, meinen Sie, Henschke, warum daß die türmen? Die Binde? Die holen Verstärkung!« Der hört nicht auf damit. Den werden sie hier noch raushauen. Blut muß fließen, Blut muß fließen, Blut muß fließen knüppelhageldick.

Der Wirt schmeckt an seiner Plombe, man muß den Stieglitz mehr ans Fenster rücken, solch Tierchen will auch ein bißchen Licht. Franz ist ihm behilflich, schlägt hinterm Ladentisch einen Nagel ein, der Wirt trägt von der andern Wand den Bauer mit dem flatternden Tierchen an: »Ist ordentlich duster heute. Zu hohe Häuser.« Franz steht auf dem Stuhl, hängt den Bauer an, tritt runter, pfeift, hebt den Zeigefinger, flüstert: »Jetzt mal keiner ran. Gewöhnt sich schon. Ist ein Stieglitz, eine Sie.« Sind beide ganz still, nicken sich zu, blicken auf, lächeln.

Berlin Alexanderplatz: Die Geschichte von Franz Biberkopf
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