- Douglas Adams
- Die letzten ihrer Art
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Selten oder selten
selten?
Richard Lewis ist ein Mann, der eine
idiotensichere Methode entwickelt hat, zackige Antworten auf seine
Fragen zu bekommen.
Er fährt seinen Landrover (na schön,
eigentlich ist es nicht sein Landrover, sondern der Landrover von
irgend jemandem, der waghalsig genug war, ihn ihm zu leihen) in
einer Art und Weise, die man wirklich nur als schmissig bezeichnen
kann, über die mit Sicherheit nicht zum schmissigen Fahren
gedachten Straßen von Mauritius. Die Straßen sind meist eng und
löchrig, und wenn sie asphaltiert sind, endet der Asphalt gern
unvermittelt in einer zwanzig Zentimeter tiefen Stufe. Über diese
Straßen fährt Richard mit einem gefährlich an Elan grenzenden Pep,
und wenn er einem eine Frage stellt, dreht er sich um, sieht einen
an und sieht nicht wieder auf die Straße, bis man geantwortet hat.
Todesangst ist nicht gerade die ideale Gemütsverfassung, um
intelligente Antworten zu schmieden, aber man muß es
versuchen.
Wir waren gut mit »Wie war der Flug?«
(»Prima!«) und »Wie war das Essen?« (»Prima!«) und »Merkt ihr was
von der Zeitverschiebung?« (»Uns geht's prima!«) klargekommen, aber dann kamen wir auf das,
was er ganz offensichtlich für den Knackpunkt hielt.
»Warum macht ihr den langen Weg nach
Mauritius, nur um euch so'nen beschissenen alten Flederhund
anzusehen?« Der Landrover lief bedrohlich aus dem
Ruder.
Etwas, was man über Richard Lewis
wissen muß, oder besser das, was man
über Richard Lewis wissen muß, ist, daß er als Ornithologe
arbeitet. Wenn man das weiß, ergibt sich alles andere mehr oder
weniger von selbst.
»Das will mir einfach nicht in den
Kopf«, protestierte er, halb im Sitz umgewandt, um uns seine
Strafpredigt zu halten. »Ihr fahrt nach Rodrigues? Um nach einem Flederhund zu suchen? Der ist doch nicht mal
besonders selten.«
»Also, das kommt darauf an«,
protestierte Mark. »Für mauritische Verhältnisse mag er nicht
besonders selten sein, aber er ist der seltenste Fiederhund
der...«
»Herrgott noch mal, warum bleibt ihr
denn nicht hier auf Mauritius?«
»Na...«
»Was wißt ihr denn über Mauritius?
Irgendwas?«
»Also«, sagte ich. »Ich weiß, daß ...
äh, uns da ein Laster entgegenkommt...«
»Das laßt mal meine Sorge sein. Um
die Laster kümmere ich mich. Was wißt ihr über
Mauritius?«
»Ich weiß, daß es ursprünglich von
den Holländern kolonialisiert und nach deren Verschwinden von den
Franzosen übernommen wurde, die es durch die napoleonischen Kriege
an England verloren haben. Es ist also eine ehemalige britische
Kolonie und Teil des Commonwealth. Die Einwohner sprechen
französisch oder kreolisch. Es gelten größtenteils englische
Gesetze, und man, äh, sollte eigentlich auf der linken Straßenseite
fahren...«
»Na schön, ihr habt euren Reiseführer
gelesen. Aber wißt ihr was über die Vögel hier? Habt ihr nie was von der Rosa Taube
gehört? Dem Mauritiussittich? Kennt ihr den Mauritiusfalken
nicht?«
»Doch, aber...«
»Warum fahrt ihr dann auf diese
dämliche Insel Rodrigues, um nach einem lächerlichen Flederhund zu
suchen? Wir haben einen ganzen Haufen von denen hier bei uns im
Zuchtzentrum, wenn ihr unbedingt einen sehen wollt. Nicht seltener
als Dreck, die blöden Dinger. Ihr wärt wesentlich besser beraten,
hierzubleiben und euch was Richtiges
anzusehen. Jesus!«
Er hatte plötzlich aus Versehen einen
kurzen Blick auf die Straße vor uns geworfen und mußte das Lenkrad
heftig herumwerfen, um einem entgegenkommenden Laster
auszuweichen.
»Ich sag euch was«, sagte er und
drehte sich wieder um. »Wie lange bleibt ihr? Zwei
Wochen?«
»Ja«, sagte Mark hastig.
»Und ihr habt vor, zwei Tage hier zu
verbringen und dann nach Rodrigues zu fliegen, um dort – wie lange?
– zehn Tage zu bleiben und nach dem seltensten Flederhund der Welt
zu suchen?«
»Ja.«
»Na gut. Ich sag euch, was ihr statt
dessen macht. Ihr bleibt zehn Tage hier und geht dann für zwei Tage
nach Rodrigues. Gebongt?«
»Finden wir ihn denn in zwei
Tagen?«
»Ja.«
»Woher willst du das
wissen?«
»Weil ich euch haargenau sagen werde,
wo man ihn findet.
Kostet euch zehn Minuten. Macht eure
paar Fotos und fliegt wieder nach Hause.«
»Oh.«
»Also bleibt ihr hier,
stimmt's?«
»Äh...«
Wir schwankten unberechenbar weiter,
mehr oder weniger in der Straßenmitte. Hektisch auf- und
abblendend, wuchtete sich ein weiterer Laster in unser Blickfeld.
Richard sah noch immer zu uns nach hinten.
»Einverstanden?« beharrte er. »Ihr
bleibt hier?«
»Ja! Ja! Wir bleiben
hier!«
»Prima. Gut. Das wollte ich aber auch
meinen. Dann werdet ihr sogar Carl noch kennenlernen. Er ist
genial, aber völlig irre. Jesus!«
Der geniale, aber völlig irre Carl
Jones ist ein großer Waliser, Ende Dreißig, und gewisse Leute sagen
ihm nach, es sei vor allem seiner geradezu abartigen Sturheit zu
verdanken, daß die Umwelt auf Mauritius noch nicht restlos zerstört
ist. Carl war derjenige gewesen, mit dem sich Mark wegen unserer
Reisevorkehrungen in Verbindung gesetzt hatte, und uns war vom
ersten Moment, da wir einen Fuß auf Mauritius setzten, sonnenklar,
daß er eine Kämpfernatur sein mußte. Als wir dem Einreisebeamten am
Flughafen erzählten, wir würden uns »an einem gewissen Black River
bei einem gewissen Carl Jones aufhalten«, handelten wir uns damit
ebenso unerwartetes wie entnervend hysterisches Gelächter und zudem
noch freundliches Schulterklopfen ein.
Als Carl uns in Richards Haus
besuchen kam, begrüßte er uns mit einem finsteren Blick, lehnte
sich gegen den Türrahmen und brummte: »Ich hasse Medienleute.« Dann
entdeckte er unser Tonbandgerät und grinste plötzlich
schelmisch.
»Oh! Ist das an?« fragte
er.
»Im Moment nicht.«
»Machen Sie es an, los, machen Sie es
an.«
Wir schalteten es ein.
»Ehrlich, ich hasse Medienleute!« brüllte er dem Apparat
entgegen. »Haben Sie das? Meinen Sie, das kommt so richtig
raus?«
Er spähte nach dem Recorder, um sich
zu vergewissern, daß das Band auch wirklich lief.
»Ich bin nämlich mal für ›Woman's
Hour‹ im Rundfunk interviewt worden«, sagte er und schüttelte den
Kopf. verwundert über die Verrücktheit dieser tückischen, dummen
Welt. »Ich hasse Medienleute, weil sie mir die Zeit stehlen und nie
besonders gut zahlen – aber was soll's ... Der Interviewer sagte
mir, er habe die Schnauze voll von langweiligen Wissenschaftlern,
ob ich ihm also von meiner Arbeit erzählen und bitte darauf achten
könnte, Frauen und Kinder zu erwähnen. Also hab ich ihm erzählt,
daß ich lieber mit weiblichen als mit männlichen Assistenten
arbeite, daß wir einen Haufen Vogelkinder großziehen und daß Frauen
sich besser um Vogelkinder kümmern, weil sie empfindsamer sind und
so weiter. Und das haben die gesendet!«
Das verschlug ihm vor Lachen die
Sprache, und so wankte er hilflos aus dem Zimmer und ward für
Stunden nicht mehr gesehen.
»Das war Carl«, sagte Richard. »Er
ist klasse. Er ist wirklich genial. Macht euch nichts draus, daß er
ein absoluter Knallkopf ist.«
Wir stellten sehr schnell fest, daß
wir an leidenschaftlich besessene Leute geraten waren. Zum einen
waren Carl und Richard von Vögeln besessen. Sie liebten sie mit
regelrechter Inbrunst und widmeten ihr Leben der Arbeit im Feld,
häufig unter schlechten Bedingungen und mit fürchterlich niedrigen
Budgets, um seltene Vogelarten und deren Lebensräume vor dem
Untergang zu bewahren. Richard ist auf den Philippinen ausgebildet
worden, wo er an der Rettung des philippinischen Affenadlers
mitgewirkt hat, einem abenteuerlich unwirklichen Stück Fluggerät,
das man sich eher im Landeanflug auf einen Flugzeugträger
vorstellen kann als nistend in einer Baumkrone. Von den Philippinen
aus ist er 1985 nach Mauritius gekommen, wo die gesamte Ökologie
einer früher für ihre überreichliche Schönheit berühmten Insel in
ungeheuren Schwierigkeiten steckt.
Die manische Energie, mit der diese
Leute arbeiten, bringt einen so lange aus der Fassung, bis man zu
begreifen beginnt, welches enorme Ausmaß die Probleme angenommen
haben, denen sie gegenüberstehen, und mit welcher Geschwindigkeit
diese Probleme eskalieren. Ökologisch betrachtet, ist Mauritius
Kriegsgebiet, und Carl, Richard und andere – einschließlich Wendy
Strahm, einer ebenfalls besessenen Botanikerin – sind wie
Chirurgen, die unmittelbar hinter der Front arbeiten. Es sind
unbeschreiblich liebenswürdige Menschen, die oft ausgelaugt sind
von den Anforderungen, die ihr fürsorgliches Verhalten an sie
stellt. Ihre Unzufriedenheit schafft sich häufig Luft in wildem,
schwarzem Humor, weil sie, konfrontiert mit so vielen absolut
kritischen Dingen, einfach keine Zeit mehr für irgend etwas haben,
das bloß sehr, sehr wichtig ist.
Mittelpunkt ihrer Arbeit ist Carls
Zuchtzentrum im Stadtkern von Black River, und Richard nahm uns am
nächsten Tag mit, um es uns zu zeigen.
Mit quietschenden Reifen kamen wir
vor dem in eine zwei Meter hohe Steinmauer eingebauten Tor zum
Stehen und gingen hinein.
Hinter der Mauer war ein großer,
sandiger, von flachen Holzgebäuden und großen Vogelhäusern und
Käfigen umringter Innenhof. Die warme Luft war erfüllt von
Flügelschlagen, Gurren und scharfen, kräftigen Gerüchen. Mehrere
sehr, sehr große Schildkröten krochen ungestört über den Hof,
vermutlich, weil jeder in der Lage gewesen wäre, sie auf dem Weg
zum Tor einzuholen, falls sie sich überraschend zu einem
Ausfallversuch entschlossen hätten.
»Das wären sie dann«, sagte Richard
und zeigte auf einen großen, abseits stehenden Käfig, in dem irgend
jemand eine Reihe kleiner, kaputter Regenschirme aufgehängt zu
haben schien. »Rodrigues-Flughunde. Regt euch ab, jetzt habt ihr
sie ja gesehen. Guckt sie euch später an, die sind langweilig.
Nichts im Vergleich zu dem, was wir sonst noch hier haben. Fangen
wir mal mit den Rosa Tauben an... wir halten hier einige der
seltensten, aufregendsten Vögel der Welt. Und wollt ihr mal die
echten Stars sehen? Carl sollte sie euch zeigen. Mal sehen, ob er
da ist.«
Er war nicht da, dafür aber jemand,
der regelrecht in Carl vernarrt war. Richard winkte uns
herein.
»Das ist Pink«, sagte
er.
Wir sahen hin. Pink starrte uns
aufmerksam aus seinen beiden großen, tiefbraunen Augen an. Er
zappelte ein bißchen mit dem Fuß, krallte sich an seiner Stange
fest und wirkte angespannt, abwartend und ein bißchen irritiert
durch unsere Anwesenheit.
»Pink ist ein Mauritiusfalke«, sagte
Richard, »aber einer, der grundlegend aus der Art geschlagen
ist.«
»Wirklich?« sagte Mark. »Sieht man
ihm gar nicht an.«
»Für was würdest du ihn denn
halten?«
»Na ja, er ist ziemlich klein. Er hat
ein glattes, braunes Deckgefieder an den Flügeln, braun-weiß
gefleckte Brustfedern, ein beeindruckendes
Krallenpaar...«
»Du findest, mit anderen Worten, daß
er wie ein Vogel aussieht.«
»An, ja...«
»Er wäre schockiert, wenn er das
wüßte.«
»Was soll das denn
heißen?«
»Tja, eines der Probleme bei der
Aufzucht von Vögeln in Gefangenschaft ist, daß sie zeitweise von
Menschen aufgezogen werden müssen, was zu allen möglichen
Mißverständnissen seitens des Vogels führt. Wenn ein Vogel aus dem
Ei schlüpft, hat er kein sonderlich klares Bild davon, was in der
Welt was ist, und verliebt sich in den ersten, der ihn füttert – in
Pinks Fall war es Carl. Das nennt man ›Prägung‹, und die ist ein
ernstzunehmendes Problem, weil man sie nicht rückgängig machen
kann. Wenn er sich erst mal in den Kopf gesetzt hat, daß er ein
Mensch ist, dann ...«
»Er hält sich wirklich für einen
Menschen?« fragte ich.
»Ja. Na, wenn er Carl für seine
Mutter hält, ergibt sich das ja auch mehr oder weniger von selbst,
nicht? Sie sind vielleicht nicht genial, aber sie sind logisch. Er
ist vollkommen überzeugt, ein Mensch zu sein. Die anderen Falken
ignoriert er völlig, hat keine Zeit für sie, die sind – in seinen
Augen – nichts weiter als ein Haufen Vögel. Aber wenn Carl hier
reinkommt, rastet er völlig aus. Das ist ein Problem, weil man
einen ›geprägten‹ Vogel natürlich nicht in die Wildnis entlassen
kann. Er hätte keinen blassen Schimmer, was er da machen soll. Er
würde nicht nisten, nicht jagen, er würde nur darauf warten, in
Restaurants ausgeführt zu werden und so weiter. Oder zumindest
darauf, daß man ihn füttert. Er würde nicht aus eigener Kraft
überleben.
Immerhin hat er aber eine sehr
wichtige Funktion im Aviarium. Die Jungvögel, die wir hier
ausbrüten, erreichen nicht gleichzeitig die Geschlechtsreife. Wenn
die Weibchen anfangen, aufreizend zu werden, sind die Männchen also
noch nicht in der Lage, damit umzugehen. Die Weibchen sind größer
und angriffslustiger, also verprügeln sie die Männchen. Wenn das
passiert, sammeln wir Samen von Pink ein und...«
»Wie denn das?«
»Mit einem Hut.«
»Tschuldige, ich habe Hut
verstanden.«
»Hab ich auch gesagt. Carl setzt
diesen besonderen Hut auf, der ein bißchen aussieht wie ein etwas
merkwürdiger Bowler mit Gummikrempe, Pink dreht vor Sehnsucht nach
Carl völlig durch, fliegt runter und rammelt den Hut halb
tot.«
»Was?«
»Er ejakuliert in die Krempe. Wir
sammeln die Samentropfen ein und befruchten ein Weibchen
damit.«
»Komische Art, seine Mutter zu
behandeln.«
»Er ist ein komischer Vogel. Aber er
erfüllt eine nützliche Aufgabe, obwohl er, psychologisch gesehen,
eine ziemliche Schramme hat.«
Die Errichtung des Zuchtzentrums auf
Mauritius ist einer von Carls größten Reinfällen. Tatsächlich ist
es das Ergebnis des höchstwahrscheinlich spektakulärsten und
genialsten Reinfalls seines Lebens.
»Daß aus mir ein Versager würde,
haben sie sich schon gedacht, als ich noch ein Junge war«, erzählte
er, als er später, wirklich fürchterlich spät, auftauchte. »Ich war
ein hoffnungsloser Fall, ein totaler Blindgänger. Hab nie irgendwas
getan und mich nie für irgendwas interessiert. Na ja, mit Ausnahme
von Tieren. Niemand in meiner Schule in Wales hielt es für
besonders sinnvoll, sich ausschließlich für Tiere zu interessieren,
aber ich hatte, zum Leidwesen meines Vaters, ungefähr fünfzig Stück
in Käfigen, die über den ganzen Hinterhof verteilt standen. Dachse
und Füchse, walisische Iltisse, Eulen, Bussarde, Aras, Dohlen,
alles. Ich hab's sogar schon als Schüler geschafft, Turmfalken zu
züchten.
Mein Klassenlehrer meinte, es sei
positiv, daß ich mich für Tiere interessiere, nur würde ich es nie
zu etwas bringen, weil ich ein lausiger Schüler sei. Eines Tages
rief er mich in sein Arbeitszimmer und sagte, ›Jones‹, sagte er,
›das ist einfach nicht mehr tragbar. Du vergeudest dein ganzes
Leben, indem du rumläufst und unter Hecken guckst. Du verbringst
kein bißchen Zeit mit deinen Schulaufgaben. Du bist ein Versager.
Was soll bloß aus dir werden?‹
Ich sagte – und vergeßt nicht, das
war in Wales: ›Sir, ich möchte zu tropischen Inseln reisen und
Vögel studieren.‹
Er sagte: ›Dazu muß man aber entweder
reich oder intelligent sein, und du bist beides
nicht.‹
Ich verstand das als eine Art
Ermunterung, schaffte es letztlich, ein paar Prüfungen zu bestehen,
ging aufs College und dann zum Studieren nach Oxford. Da hörte ich
eine Vorlesung von Professor Tom Cade, der ein international
anerkannter Experte für Falken ist. Er erzählte uns, wie man in
Amerika mit Wanderfalken arbeitete, indem man sie in Gefangenschaft
aufzog und die Jungtiere dann wieder in die freie Wildbahn
entließ.
Ich konnte es kaum glauben. Das war
unheimlich aufregend. Das waren Leute, die losgingen und wirklich
etwas taten. Dann sagte er, daß es auf einer Insel namens Mauritius
im Indischen Ozean einen sehr seltenen Vogel gebe, vielleicht den
seltensten Falken überhaupt, nämlich den Mauritiusfalken, der vom
Aussterben bedroht sei, aber möglicherweise durch die Aufzucht in
Gefangenschaft gerettet werden könne. Und plötzlich wurde mir
bewußt, daß all die Arbeit, die ich mir als Kind in meinem
Hinterhof gemacht hatte, dieses Vertrödeln von Zeit mit den Vögeln,
unter Umständen dazu beitragen könnte, eine ganze Art vor dem
Aussterben zu bewahren.
Ich war hin und weg vor Aufregung und
dachte, Mensch, da muß doch was zu machen sein. Also ging ich im
Sommer nach Amerika und sah mir dort ein paar Projekte genauer an,
begriff, wie man vorging, und schwor mir, daß ich, wenn irgend
möglich, nach Mauritius gehen und an der Rettung des
Mauritiusfalken mitarbeiten würde.
Daraufhin bekam ich zu hören: ›Tja,
Carl, das ist ja schön und gut, daß du nach Mauritius gehen und an
der Rettung des Mauritiusfalken mitarbeiten willst, nur gibt es da
unten einen Haufen Schwierigkeiten, und du kannst diese Vögel nicht
retten. Es sind einfach zu wenige. Nur ein brütendes Pärchen und
ein paar Einzelgänger. Und bei all den Problemen vor Ort und ohne
Einrichtungen ist einfach nichts zu machen. Es gibt da ein kleines
Projekt, aber das muß eingestellt werden. Da noch Mittel zu
investieren hieße, gutes Geld aus dem Fenster zu werfen.‹ Aber ich
bekam den Job. Den Job, das Projekt einzustellen. Das war der Job,
wegen dem ich vor zehn Jahren hergekommen bin: die ganze Geschichte
zu beenden beziehungsweise das, was noch davon übrig war. Von all
dem hier war damals noch überhaupt nichts da«, sagte er und sah
sich in dem Zuchtzentrum um, in dem sie mehr als vierzig
Mauritiusfalken, zweihundert Rosa Tauben und sogar hundert
Rodrigues-Flederhunde zur schrittweisen Wiedereinführung in die
freie Wildbahn herangezüchtet hatten. »Scheint, als müßte ich
einräumen«, sagte er mit einem frechen Grinsen, »daß ich auf ganzer
Linie versagt habe.«
Als er seine Geschichte beendet
hatte, ließ er die Hand aufs Knie sinken und warf zufällig einen
Blick auf die Uhr. Sofort sprang er mit gequältem Gesichtsausdruck
auf und schlug sich mit der Hand vor die Stirn. Er kam zu spät zu
einer Wohltätigkeitsveranstaltung.
Während unseres Aufenthaltes auf
Mauritius hörten wir ihn regelmäßig und bitterlich klagen, er sei
für Verwaltungsarbeiten oder Aufgaben, die diplomatisches Geschick
erforderten, überhaupt nicht geeignet, müsse aber trotzdem
irrsinnig viel Zeit mit beidem zubringen, um weiterarbeiten zu
können. Er sei unentwegt damit beschäftigt, Geld aufzutreiben, sich
den Geldgebern gegenüber zu rechtfertigen und zu erklären, wofür er
das Geld ausgab, und mit diversen internationalen
Schutzorganisationen zu verhandeln, die ihm offenbar ständig über
die Schulter schielen. Und das hält ihn seiner Meinung nach bloß
davon ab, das zu tun, was er am besten kann, und deshalb wäre es
ihm am liebsten, sie ließen ihn einfach in Ruhe weiterarbeiten.
Oder noch lieber, sie gäben ihm das Geld und ließen ihn einfach in
Ruhe weiterarbeiten. Das Projekt zum Schutz der empfindlichen und
einzigartigen mauritischen Umwelt muß mit einem erbärmlich mageren
Budget auskommen, und Geld – beziehungsweise der Mangel daran – ist
der Fluch, der auf Carls Leben lastet. »Man sollte meinen, daß
alle, die in irgendeiner Form am Naturschutz beteiligt sind, an
einem Strang ziehen«, sagte Mark, nachdem Carl weg war, »aber die
Kabbelei und Bürokratie sind hier genauso schlimm wie
überall.«
»Das kannst du laut sagen«, sagte
Richard. »Und ausbaden müssen es immer die Leute, die die
praktische Arbeit machen. Seht euch bloß mal diese Hasen
an.«
Mit einer wegwerfenden Handbewegung
zeigte er auf einen Käfig, in dem einige absolut gewöhnlich
wirkende Hasen hockten und uns entgegenmümmelten.
»Es gibt hier in der Nähe eine Insel
– eine sehr, sehr wichtige Insel, was wildlebende Tiere angeht –
namens Round Island. Auf Round Island gibt es mehr einzigartige
Pflanzen- und Tierarten als in jedem vergleichbaren Gebiet auf
Erden. Vor ungefähr hundert, hundertfünfzig Jahren war jemand so
übermäßig helle, Hasen und Ziegen auf der Insel auszusetzen, damit
eventuelle Schiffbrüchige etwas zu essen hätten. Die Bestände
vermehrten sich sehr schnell und unkontrolliert, und man hat bis
Mitte der siebziger Jahre gebraucht, um wenigstens die Ziegen
loszuwerden. Erst vor ein paar Jahren ist dann ein Team aus
Neuseeland gekommen, um die Hasen auszurotten, bis irgendwer
meinte, daß sie da eine seltene Frenchrabbit-Gattung ausrotteten,
die in Europa nicht mehr existierte und deswegen nach Mauritius
umgesiedelt werden sollte, um von jemandem, sprich: von uns,
erhalten zu werden.
Wenn's nach mir ginge«, fuhr Richard
fort, »könnten wir sie einfach in den Kochtopf stecken. Es sind
stinknormale Hasen. Außerdem gibt's andere Leute, die behaupten:
›Das ist völliger Blödsinn – die gehören nicht zu dieser besonderen
Gattung.‹
Was bedeutet, daß wir hier rumsitzen
und die Hasen füttern können, bis sich die Experten geeinigt haben,
ob die Viecher nun was Besonderes sind oder nicht. Für uns ist es
Zeit- und Geldverschwendung. Ich meine, es ist schon problematisch,
all diese Tiere bloß zu füttern. Sie brauchen alle
unterschiedliches Futter, und man muß rauskriegen,
was.
Diese Rodrigues-Flughunde, wegen
denen ihr hergekommen seid, müssen wir mit einer in Milch gelösten
Mischung aus Früchten und pulverisiertem Hundefutter ernähren. Die
bananenhaltige Kost, mit der wir sie anfangs gefüttert haben, war
überhaupt nicht gut für sie. Das einzige, was sie davon bekommen
haben, waren nervöse Zuckungen.« Er zuckte die
Achseln.
»Ich weiß nicht, was du gegen sie
hast«, sagte Mark. »Ich finde, es sind großartige
Tiere.«
»Ich habe nichts gegen sie. Sie sind
großartig. Sie sind nur nicht selten, das ist alles.«
Mark protestierte. »Sie sind die
seltensten Flughunde der...« »Jaaa, aber es gibt Hunderte davon«,
beharrte Richard. »Hunderte bedeutet, daß sie ernsthaft bedroht
sind«, sagte Mark. »Weißt du, wie viele freilebende
Mauritiussittiche es gibt?« schrie Richard auf. »Fünfzehn!
Das ist selten. Hunderte ist
alltäglich. Wenn man nach Mauritius kommt und eine Art in den
letzten Zügen liegen sieht, wird alles andere unwichtig. Es wird
unwichtig, weil wir hier eine Art vorfinden, die gerettet werden
könnte, wenn sich die Leute damit beschäftigen würden, und falls
sie ausstirbt, ist es unsere Schuld, weil wir nicht da waren, um
sie zu retten. Es sind noch fünfzehn übrig. Wir haben die Falken
und die Tauben einzig und allein wieder aufpäppeln können, weil wir
uns um sie, um Geld und um Personal gekümmert haben. Die Sittiche?
Wir arbeiten sehr, sehr hart, um sie zu retten, und falls wir das
nicht schaffen, werden sie für immer verschwunden sein – und wir
müssen uns um die Hasen anderer Leute kümmern.«
Er schüttelte den Kopf und beruhigte
sich dann wieder.
»Paß auf«, sagte er zu Mark, »du hast
recht. Der Rodrigues-Flederhund ist ein sehr wichtiges Tier, und
wir bemühen uns, ihn zu schützen. Er hat viel von seinem Lebensraum
verloren, weil die Menschen auf Rodrigues vom Ackerbau abhängig
sind und viel Wald gerodet haben. Der Fledermausbestand ist so
reduziert, daß ein einziger großer Orkan – und die gibt es hier –
sie auslöschen könnte. Nur haben die Bewohner von Rodrigues auf
einmal gemerkt, daß das Abholzen der Wälder auch zu ihrem eigenen
Nachteil ist, weil es ihre Wasserversorgung beeinträchtigt. Falls
sie sich ihre Wasserscheiden erhalten wollen, müssen sie die Wälder
stehenlassen, und das bedeutet, daß den Fledermäusen Platz zum
Überleben bleibt. Ihre Chancen stehen also nicht schlecht. Wenn man
den Weltmaßstab anlegt, sind sie ernstlich gefährdet, aber nach den
Maßstäben dieser Inseln, auf denen jede einheimische Art gefährdet
ist, geht's ihnen prima.«
Er grinste.
»Wollt ihr ein paar gefährdete Mäuse
sehen?« fragte er.
»Ich wußte nicht, daß jetzt auch
schon Mäuse zu den gefährdeten Arten gehören«, sagte
ich.
»Ich hab nichts von Art gesagt«,
sagte Richard. »Ich meinte bestimmte Mäuse. Naturschutz ist nichts
für Sensibelchen, Wir müssen einen Haufen Tiere töten, teils, um
die gefährdeten Arten zu schützen, teils, um sie an sie zu
verfüttern. Viele der Vögel ernähren sich von Mäusen, und deswegen
müssen wir sie hier züchten.«
Er verschwand in einem kleinen,
warmen Raum, in dem es laut piepste, und tauchte ein paar Sekunden
später mit einer Handvoll frisch getöteter Mäuse wieder
auf.
»Zeit zum Vögelfüttern«, sagte er und
machte sich auf den Rückweg zu seinem höllischen
Landrover.
Die beste und schnellste Verbindung
zur Black-River-Schlucht, wo die Falken leben, ist eine
Privatstraße durch die Medine-Zuckerrohrplantage.
Zucker ist, vom Standpunkt der
mauritischen Umwelt aus betrachtet, ein ernst zu nehmendes Problem.
Ausgedehnte Waldgebiete auf Mauritius sind zerstört worden, um
Platz für den Anbau eines reinen Exportgutes zu schaffen, das
seinerseits unsere Zähne zerstört. Das ist überall ein ernstes, auf
Inseln jedoch besonders ernstes Problem, weil die Inselökologie
sich grundlegend von einer Festlandsökologie unterscheidet. Sogar
das Vokabular unterscheidet sich. Wenn man viel Zeit auf Inseln und
in Gegenwart von Naturforschern zubringt, führt das dazu, daß man
vor allem zwei Begriffe furchtbar oft zu hören bekommt: »endemisch«
und »exotisch«. Drei, wenn man »Katastrophe« mitzählt.
Eine Pflanzen- oder Tierart ist
endemisch, wenn sie auf einer Insel oder in einem bestimmten Gebiet
heimisch ist und sonst nirgendwo vorkommt. Eine Art ist exotisch,
wenn sie von außerhalb eingeschleppt wurde, und eine Katastrophe
ist das, was infolgedessen normalerweise passiert.
Das hat folgenden Grund: Kontinentale
Landmassen sind groß. Sie ernähren Hunderttausende, sogar Millionen
unterschiedlicher Arten, die sämtlich miteinander ums Überleben
kämpfen. Schon die Grausamkeit dieses Überlebenskampfes ist so
ungeheuerlich, daß sich die Arten, die überleben und gedeihen, aus
tückischen kleinen Kämpfern zusammensetzen müssen. Sie vermehren
und verbreiten sich überaus schnell.
Eine Insel hingegen ist klein. Es
gibt erheblich weniger Arten, und der Überlebenskampf hat nie
solche Ausmaße angenommen wie auf dem Festland. Die Arten sind
nicht zäher als notwendig, das Leben spielt sich wesentlich ruhiger
und beschaulicher ab, und die Evolution geht bedeutend langsamer
vonstatten. Deshalb findet man beispielsweise auf Madagaskar Arten
wie die Lemuren, die vor Äonen auf dem Festland verdrängt wurden.
Inselökologien sind äußerst anfällige Zeitkapseln.
Man kann sich also vorstellen, was
passiert, wenn eine Festlandsart auf eine Insel eingeschleppt wird.
Das ist, als würde man Al Capone, Dschingis-Khan und Rupert Murdock
auf der Isle of Wight einschleppen – die Einheimischen hätten keine
Chance.
Was auf Mauritius oder genaugenommen
auf jeder Insel passiert, ist, daß im Fall der Vernichtung der
endemischen Vegetation oder Tierarten die exotischen Formen in die
Bresche springen und alles übernehmen. Es fällt einem Engländer
schwer, sich etwas wie Liguster als eine exotische und grausame
Lebensform vorzustellen – den Vorgarten meiner Großmutter begrenzen
akkurat gestutzte Ligusterhecken –, aber auf Mauritius benimmt er
sich wie eine Horde brandschatzende Wikinger. Genau wie die
eingeschleppten Guavenbäume und zahlreiche andere auswärtige
Invasoren, die sich wesentlich schneller vermehren und
verbreiten.
Schwarzes Ebenholz kommt aus den
Hartholzwäldern im Flachland von Mauritius und war der Hauptgrund
für die Holländer, die Insel zu kolonialisieren. Es ist kaum mehr
etwas davon übrig. Der Wald wurde abgeholzt, um das Holz zu
verarbeiten, um Platz für Ackerbau zu schaffen und für die
Rotwildjagd. La chasse.
Ausgedehnte Waldgebiete wurden
gerodet, um Wildparks anzulegen, in denen Jäger auf niedrigen
Holztürmen stehen und auf Rotwildherden schießen. Als sei der
Verlust des Waldes – und auch noch aus diesem Grund – für sich
genommen nicht schon schlimm genug, verhindern die
Weidegewohnheiten des Wildes das Neuwachstum der empfindlichen
endemischen Pflanzen, während die exotischen Arten gedeihen. Die
jungen Bäume von Mauritius werden also schlicht zu Tode
geknabbert.
Wir fuhren durch mächtige Felder aus
wogendem Zuckerrohr, nachdem wir zuerst ein Hindernis in Form eines
Plantagen-Torwächters überwunden hatten, eines ältlichen und
exzentrischen Mauritiers namens James, der niemanden ohne
Passierschein durch sein Tor läßt, nicht mal jemanden, den er seit
zehn Jahren jeden Tag durchgelassen hat und der seinen
Passierschein nur heute zu Hause vergessen hat. Genau das war Carl
vor kurzem passiert, der seitdem droht, das Tor aus Rache mit
Zwei-Komponenten-Kleber zuzukleistern, und das mit ziemlicher
Wahrscheinlichkeit auch tun wird. Carl ist ohne Zweifel genau die
Art Mensch, die es bis zur heiteren Neige auskostet, jemanden mit
der Androhung irgendwelcher Albernheiten zu ärgern, und dann
hingeht und den Spaß auf die Spitze treibt, indem er die Drohung
wahrmacht.
Es hatte einige Zeit zuvor eine
ernstere Auseinandersetzung gegeben, als Carl und Wendy mit einer
Abordnung von Weltbank-Offiziellen eingetroffen waren, mit denen
sie über eine finanzielle Unterstützung verhandeln wollten. James
hatte sie mit der Begründung nicht durchlassen wollen, sie hätten
zwei Autos, und er sei lediglich befugt, eins
durchzulassen.
James erstattet Carl und Richard
außerdem regelmäßig Bericht von den Bewegungen der Falken, aber
nicht, weil sie ihn darum gebeten hätten, sondern nur, weil er –
erstaunlich, aber wahr – gern hilft. Wenn er keine Falken gesehen
hat, behauptet er trotzdem, auf freundliche und ermutigende Weise,
er habe. Was bedeutet, daß Carl heute, wann immer er die farbigen
Bänder an den Beinen der Vögel wechselt, darauf achtet, ihnen ein
Band in einer anderen Farbe anzulegen, damit er merkt, daß James
lügt, wenn der vorgibt, einen Falken mit einem Band in einer Farbe
gesehen zu haben, die augenblicklich nicht im Einsatz
ist.
Der Falke, den wir uns ansehen
wollten, war 1985 auf das Annehmen von Mäusen abgerichtet worden.
Zweck der Fütterung von wildlebenden Falken ist, ihre Ernährung
aufzubessern, damit sie mehr Eier legen. Wenn ein Falke gut ernährt
wurde, konnte Carl die ersten vom Vogel gelegten Eier aus dem Nest
entfernen, mit zurück ins Zuchtzentrum nehmen und darauf vertrauen,
daß der Falke noch ein paar mehr legen würde. Auf diese Art erhöhte
sich die Anzahl an Eiern, die ausgebrütet werden konnten, aber da
lediglich eine begrenzte Anzahl von Vögeln zur Verfügung stand, um
sich draufzusetzen, wurden sie zum Teil künstlich ausgebrütet. Was
eine höchst anspruchsvolle und heikle Aufgabe ist, bei der man den
Zustand der Eier ununterbrochen im Auge behalten muß. Falls ein Ei
aufgrund der Verdunstung von Flüssigkeit durch die Schale
versiegelt. Falls es zuwenig Gewicht verliert, werden Teile der
Schale akribisch geschmirgelt, um sie poröser zu machen. Am besten
ist es, wenn ein Ei eine Woche unter einem Vogel und die übrigen
drei im Brutkasten liegt – bei Eiern, die solche Tauschaktionen
hinter sich haben, liegt die Erfolgsquote wesentlich
höher.
Richard brachte den Landrover am
Waldrand, kurz vor dem Eingang zu der engen Schlucht, zum Stehen,
und wir krabbelten ins Freie. Die Luft war frisch und klar, und
Richard schritt, eine Auswahl an komischen Lockrufen ausstoßend,
über die kleine Lichtung. Binnen einer oder zwei Minuten kam der
Falke aus dem Wald geschossen und ließ sich auf einem hohen Baum
nieder, der einen großen, halbkugelförmigen Felsen überragte. Da
der Vogel sich daran gewöhnt hat, mehr im Wald als auf freiem Feld
zu leben, schwebt er nicht wie viele Falken, kann aber statt dessen
mit hoher Geschwindigkeit unfehlbar durch das Blätterdach fliegen,
in dem er seine aus Geckos, kleineren Vögeln und Insekten
bestehende Nahrung einfängt. Dabei verläßt er sich auf sein
unglaublich scharfes und schnell erfassendes Auge.
Wir beäugten uns eine Zeitlang
gegenseitig. Genaugenommen beobachtete er alles, was sich bewegte,
indem er ständig schnelle, aufmerksame Blicke nach allen Richtungen
warf.
»Seht ihr, wie interessiert er an
allem ist, was es zu sehen gibt?« sagte Richard. »Ihre Augen sind
ihr Leben, und daran muß man denken, wenn man sie in Gefangenschaft
hält. Man muß sicherstellen, daß sie in einer komplexen Umgebung
leben. Raubvögel sind verhältnismäßig dumm. Wegen ihrer ungeheuren
Sehkraft muß man ihnen nur irgendwas bieten, das sie optisch
beschäftigt.
Als wir mit der Aufzucht von
Raubvögeln in Gefangenschaft begonnen haben, hatten wir ein paar
sehr scheue Vögel, die jedesmal verrückt wurden, wenn jemand am
Aviarium vorbeiging, und da wir dachten, sie seien wegen der
Störung so durcheinander, ist irgend jemand auf die schlaue Idee
gekommen, ein sogenanntes Oberlicht- und Isolierungsaviarium zu
bauen. Da sämtliche vier Wände undurchsichtig waren und nur das
Dach offen war, gab es eigentlich nichts mehr, was die Vögel hätte
aufscheuchen können. Wie wir leider feststellen mußten, war das ein
bißchen zuviel des Guten. Die in dieser Umgebung geborenen
Sprößlinge waren absolute Nervenbündel, weil ihnen der notwendige
sensorische Input fehlte. Wir hatten das Problem von der völlig
falschen Seite angepackt.
Ich meine, Tiere mögen vielleicht
nicht intelligent sein, aber so dumm wie viele Menschen sind sie
nun auch wieder nicht. Man muß sich nur mal die Primatenbereiche in
einigen Zoos ansehen, die mit grünen, von Architekten entworfenen
›Bäumen‹ aus Metall ausgestattet sind, die zwar auf sehr reduzierte
Art und Weise die Form eines Baumes wiedergeben, aber genaugenommen
keine der Eigenschaften haben, die ein Affe an einem Baum
interessant finden könnte: Blätter und Rinde und ähnliches Zeug.
Für einen Architekten mag das nach einem Baum aussehen, aber
Architekten sind ja auch wesentlich dümmer als Affen. Wir haben
gerade einen Prospekt aus den USA bekommen – für Fiberglas-Bäume.
Der Prospekt hatte einzig den Zweck, uns zu demonstrieren, wie
stolz sie auf ihre Entwicklung waren, und die unterschiedlichen
Farben vorzustellen, mit denen sie Flechten an die Bäume
malen können. Das ist so lächerlich,
daß man laut aufschreien möchte. Was sind das bloß für Leute? Na
schön. Laßt uns mal den Vogel füttern. Seht ihr zu?«
Der Vogel sah zu. Die Formulierung
»Er sah mit Adleraugen zu« liegt nahe, aber er sah mit Falkenaugen
zu.
Richard schwang seinen Arm zurück.
Der Falkenkopf verfolgte die Bewegung genau. Mit weit ausholendem
Schwung warf Richard die Maus hoch in die Luft. Für einen Moment
betrachtete der Falke sie einfach, mit fast unmerklich auf dem Ast
herumzappelnden Beinen, vertieft in eine imposante Meisterleistung
auf dem Gebiet der Differentialrechnung. Das winzige Totgewicht der
Maus erreichte den höchsten Punkt seiner steilen Parabel und drehte
sich langsam in der Luft.
Schließlich ließ sich der Falke von
seinem Ast fallen und schwang sich in die Luft, als hänge er am
Ende eines langen Pendels, dessen exakte Länge, Kardinalposition
und Schwingungsgeschwindigkeit er selbst errechnet hatte. Der
Bogen, den er beschrieb, überschnitt sich makellos mit dem der
fallenden Maus, der Falke ergriff die Maus sauber mit den Fängen,
schwebte weiter in einen anderen nahegelegenen Baum und biß ihr den
Kopf ab.
»Er frißt den Kopf selbst«, sagte
Richard, »und nimmt die restliche Maus mit, um das Weibchen im Nest
zu füttern.«
Wir verfütterten einige weitere Mäuse
an den Falken, indem wir sie manchmal in die Luft warfen und
manchmal auf dem halbkreisförmigen Felsen liegenließen, damit er in
aller Ruhe danach tauchen konnte. Schließlich war der Vogel satt,
und wir gingen.
Man richtet Falken ab, indem man
Hunger als ein Mittel zur Manipulation der Vogelpsyche einsetzt.
Wenn der Vogel zuviel zu fressen bekommen hat, wird er nicht zur
Zusammenarbeit bereit sein und sich durch jeden Versuch, ihm etwas
beibringen zu wollen, belästigt fühlen. Er sitzt einfach in einem
Baumwipfel und schmollt. Er »hat es satt«.
Richard hatte dann am Abend auch so
ziemlich alles satt, und das mit gutem Grund. Es hatte nichts mit
Überfütterung zu tun, wohl aber mit dem, was andere Leute gern
futterten. Eine mauritische Freundin kam auf einen Sprung vorbei
und brachte ihren Chef mit, einen Franzosen von der nahe gelegenen
Insel Réunion, der sich einige Tage lang auf Mauritius aufhielt und
bei ihr wohnte.
Er hieß Jacques und war uns allen vom
ersten Moment an unsympathisch, wenn auch keinem so sehr wie
Richard, der ihn auf Anhieb haßte.
Er war ein Franzose von der adretten,
arroganten Sorte. Mit trägem, herablassendem Blick, einem trägen,
herablassenden Lächeln und, wie Richard es später formulierte,
einem trägen, herablassenden und an Beschränktheit nicht zu
überbietenden Gehirn.
Jacques betrat das Haus und stand
träge und herablassend in der Gegend herum. Er wußte ganz
offensichtlich nicht, was er hier sollte. Es war kein besonders
elegantes Haus. Es war voll von abgenutzten alten Möbeln, und an
sämtlichen Wänden hingen mit Reißzwecken befestigte Vogelbilder.
Offensichtlich wollte er sich am liebsten trübsinnig gegen eine
Wand lümmeln, nur fand er keine, die für seine Schulter geeignet
gewesen wäre, also mußte er sich genau dort trübsinnig hinlümmeln,
wo er gerade stand.
Wir boten ihm ein Bier an, das er
unter Aufbietung aller Freundlichkeit, die ihm möglich war,
entgegennahm. Er fragte uns, was wir hier täten, und wir sagten,
wir würden eine Serie für die BBC produzieren und ein Buch über die
Tierwelt von Mauritius schreiben.
»Warum denn das?« sagte er in
verstörtem Tonfall. »Hier gibt es doch nichts.«
Richard legte anfänglich
bewundernswerte Zurückhaltung an den Tag. Er stellte äußerst
beherrscht klar, auf Mauritius lebten einige der seltensten Vögel
der Welt. Er erläuterte, daß er und Carl und die anderen aus genau
diesem Grund hier seien: um sie zu schützen und zu studieren und
aufzuziehen.
Jacques zuckte die Achseln und sagte,
sie seien nicht besonders interessant oder
ungewöhnlich.
»Ach?« sagte Richard betont
ruhig.
»Nichts mit irgendwie interessantem
Gefieder dabei.« »Tatsächlich?« sagte Richard.
»Mir ist so was wie der arabische
Kakadu lieber«, sagte Jacques mit einem trägen
Lächeln.
»Aha.«
»Ich lebe nämlich auf Réunion«, sagte
Jacques.
»Aha.«
»Und dort gibt es mit Sicherheit
keine interessanten Vögel«, sagte Jacques.
»Das liegt daran, daß die Franzosen
sie alle abgeschossen haben«, sagte Richard.
Er machte auf dem Absatz kehrt und
verschwand in die Küche, um sehr, sehr geräuschvoll abzuwaschen. Er
kam erst wieder, nachdem Jacques gegangen war. Er stakste mit einer
noch nicht geöffneten Rumflasche zurück ins Zimmer und warf sich
auf ein zerschlissenes altes Sofa.
»Vor ungefähr fünf Jahren«, sagte er,
»haben wir zwanzig der Rosa Tauben, die wir im Zentrum großgezogen
hatten, genommen und freigelassen. Ich schätze mal, daß uns jeder
der Vögel, wenn man die Zeit, die Arbeit und die Mittel
zusammenrechnet, die wir investiert haben, tausend Pfund gekostet
hat. Aber das ist nicht ausschlaggebend. Ausschlaggebend ist die
Erhaltung des einzigartigen Lebens auf dieser Insel. Nur steckten
binnen kurzer Zeit all die Vögel, die wir aufgezogen hatten, in
Schmortöpfen. Nicht zu fassen. Wir konnten es einfach nicht
fassen.
Begreift ihr, was mit dieser Insel
geschieht? Sie ist ein Sauhaufen. Sie ist eine völlige Ruine. In
den fünfziger Jahren ist sie mit DDT getränkt worden, das
schnurstracks in die Nahrungskette gelangt ist. Das hat eine Menge
Tiere ausgerottet. Dann sind Orkane über die Insel gezogen. Gut,
dagegen können wir nichts tun, aber sie sind über eine Insel
gezogen, die bereits durch das ganze DDT und die Rodungen
geschwächt war, also haben sie irreparable Schäden angerichtet.
Heute sind wegen der fortgesetzten Abholzung und Brandrodung nur
noch zehn Prozent des ursprünglichen Waldbestandes erhalten, und
die werden für die Rotwildjagd abgeholzt. Was von den einmaligen
Arten auf Mauritius noch übrig ist, wird von irgendwelchem Zeug
überwuchert, das überall auf der Welt vorkommt – Liguster, Guaven
und ähnlichem Scheiß. Hier, seht euch das an.«
Er reichte uns die Flasche. Es war
ein in der Gegend gebrauter Rum namens »Green Island«.
»Lest mal, was auf der Flasche
steht.«
Unter dem romantischen Bild eines
alten Segelschiffs, das sich einer idyllischen Tropeninsel näherte,
stand folgendes Zitat von Mark Twain: »Es reift die Vorstellung,
zuerst sei Mauritius entstanden und dann der Himmel; und daß der
Himmel Mauritius nachempfunden wurde.«
»Das ist nicht mal hundert Jahre
her«, sagte Richard. »Und seitdem hat man Mauritius fast alles
angetan, was man einer Insel niemals antun sollte. Außer vielleicht
Atomversuchen.«
Im Indischen Ozean, dicht bei
Mauritius, gibt es eine Insel, die wundersamerweise noch nicht
versaut ist, und das ist Round Island. In Wirklichkeit ist das
überhaupt nicht wundersam, sondern hat einen ganz einfachen Grund,
den wir erfuhren, als wir mit Carl und Richard über unsere Pläne
sprachen, dorthin zu fahren.
»Könnt ihr nicht«, sagte Carl. »Also,
ihr könnt es versuchen, aber ich bezweifle, daß ihr es
schafft.«
»Warum nicht?« fragte
ich.
»Wellen. Das Meer«, sagte Carl,
»sieht da so aus.« Er machte mit beiden Armen heftige
Wellenbewegungen.
»Es ist extrem schwierig, an Land zu
kommen«, sagte Richard. »Es gibt keine Strände oder Ankerplätze.
Man kann nur an sehr ruhigen Tagen hinfahren, und sogar dann muß
man vom Boot aus auf die Insel springen. Es ist ziemlich
gefährlich. Wenn man sich verschätzt, wird man gegen die Felsen
geschleudert. Bisher hatten wir noch keine Todesfälle zu beklagen,
aber.. .«
Beinahe hätten sie mich beklagen
können.
Wir ließen uns von ein paar
Naturforschern, die nach Round Island fuhren, zu einer Bootsreise
mitnehmen, ankerten etwa hundert Meter von der felsigen Küste
entfernt und setzten in einem Beiboot zum besten Punkt über, den
Round Island anstelle eines Ankerplatzes zu bieten hat – einem
rutschigen Felsvorsprung namens Pigeon House Rock.
Zuerst sprangen einige Männer in
Schwimmwesten aus dem Beiboot in die tosende See, schwammen zum
Felsen, kletterten unter größten Schwierigkeiten an seiner Seite
hoch und schlitterten schließlich, nach Luft schnappend, auf die
Spitze.
Anschließend traten dann nacheinander
alle, jeweils drei oder vier gleichzeitig, die Überfahrt im Beiboot
an. Um zu landen, mußte man einen kniffligen, auf die Kämme der
gegen die Felsspitze anrollenden Wellen abgestimmten Satz nach vorn
auf den Felsen machen und abspringen, wenn die Welle unmittelbar
vor dem Scheitelpunkt war, damit man den Auftrieb des Bootes
mitnehmen konnte. Diejenigen, die bereits auf dem Felsen waren,
zogen dabei erst am Tau des Beibootes, riefen Anweisungen und
ermutigende Worte durch das Krachen der Wellen, um die Springenden
dann zu fangen und an Land zu ziehen. Ich sollte als letzter an
Land gehen. Als ich an der Reihe war, war der Seegang stärker und
rauher geworden, deshalb schlug jemand vor, ich solle auf der
anderen Seite des Felsens landen, wo er zwar wesentlich steiler,
dafür aber anscheinend nicht ganz so rutschig war.
Ich versuchte es. Ich sprang von der
Kante des sich hebenden Bootes, hechtete auf den Felsen zu, stellte
fest, daß er nicht die Bohne weniger glitschig war als auf der
anderen Seite, bloß viel steiler, und schlitterte, wobei ich mir
Arme und Beine an den gezackten Rändern aufschürfte, völlig
ungraziös hinunter in die See. Das Meer schloß sich über meinem
Kopf. Ich zappelte unter der Oberfläche herum und versuchte
verzweifelt aufzutauchen, aber das Beiboot war genau über mir und
knallte mich jedesmal gegen die Felswand, wenn ich an die
Oberfläche zu kommen versuchte.
Na fein, dachte ich, das wäre dann
klar. Deshalb ist die Insel also vergleichsweise unberührt. Ich
unternahm einen letzten Versuch aufzutauchen, genau in dem Moment,
als es den am Ufer Stehenden gelang, das Boot von mir wegzudrücken.
Dadurch konnte ich meinen Kopf aus dem Wasser heben und mich in
einer Felsspalte festklammern. Durch allerhand weiteres Rutschen
und Schlittern und Zappeln in der schweren Brandung brachte ich es
schließlich fertig, mich aufwärts, bis auf eine Armlänge Entfernung
an Mark und die anderen heranzumanövrieren, die mich hastig auf den
Felsen zerrten. Ich sackte zu einem triefenden, blutenden Haufen
zusammen und bestand darauf, daß es mir gut gehe und mir zum Glück
nichts weiter fehle als eine ruhige Ecke, in die ich mich
zurückziehen und sterben könne.
Da die See während unserer zwei- bis
dreistündigen Fahrt zur Insel ausgesprochen rauh gewesen war und es
mir so vorkam, als hätte mein Magen unterwegs annähernd meinem
gesamten Körpergewicht entsprechende Mengen ins Meer gewuchtet,
fühlte ich mich zu diesem Zeitpunkt eher wacklig und ausgelaugt.
Ich verbrachte den Tag auf Round Island wie hinter einer dichten
Nebelwand. Während Mark mit Wendy Strahm, der Botanikerin, loszog,
um sich auf die Suche nach einigen der Pflanzen- und Tierarten zu
machen, die nur auf dieser einen Insel existieren, setzte ich mich
benommen neben einer Palme namens Beverly in die Sonne und
bemitleidete mich.
Daß die Palme Beverly hieß, wußte
ich, weil Wendy mir erzählt hatte, daß sie sie getauft hatte. Es
war eine Flaschenpalme, die so heißt, weil sie wie eine
Chianti-Flasche geformt ist, und es war eine der letzten acht auf
Round Island, der einzigen acht wildwachsenden auf der
Welt.
Wer in aller Welt, fragte ich mich,
als ich in mehr oder weniger umgänglicher Niedergeschlagenheit
neben Beverly saß, läßt sich eigentlich die Namen für Inseln
einfallen?
Ich meine, ich saß auf einer der
erstaunlichsten Inseln der Welt.
Sie sah äußerst ungewöhnlich aus, so,
als gehe der Mond höchstpersönlich aus dem Meer auf – nur daß sie
im Gegensatz zum kühlen und ruhigen Mond heiß war und vor Leben nur
so wimmelte. Obwohl sie auf den. ersten Blick nichtssagend und öde
wirkte, waren die Krater, mit denen die Oberfläche übersät war,
voll von blendend-weißschwänzigen Tropikvögeln, glänzenden
Telfair's-Glattechsen und Riesen-Taggechos.
Man sollte meinen, daß man, wenn man
sich einen Namen für eine solche Insel ausdenken soll, ein paar
Freunde einlädt, Wein besorgt und einen netten Abend daraus macht
und nicht einfach sagt, och, die ist so 'n bißchen rund, also
nennen wir sie doch »Round Island«. Davon abgesehen, ist sie nicht
mal besonders rund. Am Horizont lag, gerade noch in Sichtweite,
eine andere Insel, die schon wesentlich eher rund war, aber Serpent
Island, also Schlangeninsel, heißt, wohl um der Tatsache Rechnung
zu tragen, daß es auf ihr – im Gegensatz zu Round Island – keine
Schlangen gibt. Und es war noch eine weitere Insel zu sehen, die
sich von einem Gipfel auf der einen Seite ausgehend zur anderen
Seite ins Meer neigt und unerklärlicherweise Fiat Island heißt. Mir
wurde langsam bewußt, daß derjenige, der den Inseln ihre Namen
gegeben hatte, zu diesem Anlaß vermutlich doch eine ganz schöne
Feier veranstaltet hatte.
Daß Round Island ein Zufluchtsort für
einzigartige Eidechsen-, Gecko-, Boa-, Palmenarten und sogar Gräser
geblieben ist, die auf Mauritius schon vor langer Zeit verschwunden
sind, liegt nicht nur daran, daß Menschen nur unter größten
Schwierigkeiten auf die Insel gelangen, sondern auch daran, daß sie
sich als vollkommen landeuntauglich für Ratten erwiesen hat. Round
Island ist eine der größten tropischen Inseln der Welt (mit einer
Fläche von etwas mehr als einhundertzwanzig Hektar), auf der es
keine Ratten gibt.
Nicht daß Round Island unbeschädigt
wäre – ganz und gar nicht.
Vor hundertfünfzig Jahren, bevor
Seefahrer Ziegen und Hasen auf der Insel einführten, war sie mit
Hartholzwäldern bedeckt, die von den nicht heimischen Tieren
zerstört wurden. Deshalb wirkt die Insel aus der Ferne und mit
einem ungeschulten Auge wie meinem betrachtet, auf den ersten Blick
verhältnismäßig öde. Nur ein Naturforscher kann einem sagen, daß
die paar komisch geformten Palmen und die auf das heiße, trockene,
staubige Land getupften Grasbüschel einzigartig und unbeschreiblich
kostbar sind.
Kostbar für wen? Und
warum?
Spielt es wirklich für irgend
jemanden außer diesem Rudel besessener Naturforscher eine so große
Rolle, daß die acht Flaschenpalmen von Round Island die weltweit
einzigen sind, die in der Wildnis wachsen? Oder daß die im
Botanischen Garten Curepipe auf Mauritius stehende Hyophorbe amaricaulis (eine Palme, die so selten
ist, daß sie keinen anderen als ihren wissenschaftlichen Namen hat)
das letzte noch existierende Exemplar ihrer Art ist? (Der Baum
wurde rein zufällig entdeckt, als der Boden, auf dem er stand,
wegen des Baus des Botanischen Gartens gerodet werden sollte. Man
hätte ihn um ein Haar gefällt.)
Meines Wissens gibt es kein
»tropisches Inselparadies«, das auch nur annähernd dem von diesem
Begriff heraufbeschworenen, idealen Phantasiegebilde gleicht oder
auch nur dem, was man in Urlaubsprospekten beschrieben findet. Es
ist ganz natürlich, das auf die Diskrepanz zu schieben, die wir
üblicherweise zwischen dem, was Werber versprechen, und dem, was
die Welt zu bieten hat, entdecken. Es überrascht uns nicht mehr
sonderlich.
Deshalb kann einen die Erkenntnis wie
ein Schlag treffen, daß die Welt, die wir aus den Beschreibungen
von Reisenden aus vergangenen Jahrhunderten (oder auch nur
vergangenen Jahrzehnten) und Biologen aus unserer Zeit kennen,
tatsächlich existiert hat. Der Zustand, in dem sie sich heute
befindet, ist lediglich Folge dessen, was wir mit ihr angestellt
haben, und die allenfalls milde Enttäuschung, die wir empfinden,
wenn wir irgendwo hinfahren und alles ein bißchen heruntergekommen
vorfinden, ist nur ein Gradmesser dafür, wie weit wir unsere
eigenen Erwartungen schon zurückgeschraubt haben und wie wenig uns
bewußt ist, was wir verloren haben. Die Leute, denen genau dies
bewußt ist, sind diejenigen, die in heller Aufregung durch die
Gegend rasen und das bißchen zu retten versuchen, was noch zu
retten ist.
Da sich das Leben auf diesem Planeten
nach einem so verblüffend komplexen System abspielt, dauerte es
sehr lange, bis der Mensch wenigstens begriff, daß es sich
überhaupt um ein System handelt und nicht um irgend etwas, das
einfach da ist. Um zu verstehen, wie etwas Hochkomplexes
funktioniert, oder zumindest zu wissen, daß irgend etwas Komplexes
am Werk ist, muß der Mensch von Zeit zu Zeit winzige Bruchstücke
davon zu sehen kriegen. Und deshalb waren kleine Inseln für uns so
wichtig, um das Leben zu begreifen. Beispielsweise begannen sich
auf den Galapagosinseln Tiere und Pflanzen, die von den gleichen
Vorfahren abstammten, zu verändern und auf unterschiedliche Weise
anzupassen, nachdem sie durch einige Kilometer Wasser voneinander
getrennt worden waren. Die Inseln zerlegten uns diesen Prozeß
säuberlich in seine Bestandteile und ermöglichten Charles Darwin
somit jene Beobachtungen, die geradewegs zum Grundprinzip der
Evolution führten.
Die Insel Mauritius brachte uns ein
ebenso bedeutendes, aber wesentlich unerfreulicheres Grundprinzip
näher – das des Aussterbens.
Das berühmteste von allen
mauritischen Tieren ist eine große, sanfte Taube. Eine wahrhaft
bemerkenswert große Taube: Sie wird annähernd so schwer wie ein
gutgenährter Truthahn. Ihre Flügel haben sich schon vor langer Zeit
von der Idee verabschiedet, einen solchen Brocken vom Boden heben
zu wollen, und sind zu dekorativen kleinen Stummeln
zusammengeschrumpelt. Nachdem sie das Fliegen aufgegeben hatte,
konnte sich die Taube ausgezeichnet an die jahreszeitlichen Wechsel
auf Mauritius anpassen, sich im Spätsommer und Herbst, wenn der
Boden mit Früchten reich bedeckt ist, dumm und dämlich futtern, um
dann während der mageren, trockenen Monate von ihren Fettreserven
zu zehren und allmählich wieder abzunehmen.
Sie hatte es ohnehin nicht nötig zu
fliegen, weil keine Räuber da waren, die ihr Übles wollten, und sie
ihrerseits ebenfalls harmlos ist. Sie hat nie richtig begriffen,
was Böswilligkeit eigentlich ist, darum ist es durchaus
wahrscheinlich, daß sie sich am Strand auf einen zubewegen und
einen Blick riskieren würde, vorausgesetzt, sie fände einen Weg
durch die Heerscharen von Riesenschildkröten, die dort auf und ab
marschieren. Da das Taubenfleisch zäh und bitter ist, hatten nicht
einmal die Menschen einen Grund, sie zu töten.
Sie hat einen großen, breiten, nach
unten gekrümmten, gelbgrünen Schnabel, mit dem sie ein bißchen
niedergeschlagen und melancholisch wirkt, kleine, runde Augen wie
Diamanten und drei lächerlich kleine Schwanzfedern. Einer der
ersten Engländer, die diese große Taube sahen, sagte, daß sie »sich
hinsichtlich ihrer Gestalt und Seltenheit möglicherweise mit dem
arabischen Phönix messen könnte«.
Von uns wird diesen Vogel allerdings
niemand mehr sehen, weil der letzte bedauerlicherweise um 1680 von
den holländischen Kolonialherren zu Tode geprügelt
wurde.
Die Riesenschildkröten mußten
aussterben, weil sie den frühen Seefahrern ungefähr das waren, was
uns heute Konservendosen sind. Sie klaubten sie einfach vom Strand
und luden sie als Ballast auf ihre Schiffe, um dann, wenn sie
Hunger hatten, in den Laderaum zu gehen, eine rauszuziehen, sie
aufzumachen und zu essen.
Aber die große, sanfte Taube – der
Dodo – wurde nur zum Zeitvertreib totgeprügelt. Und das ist es
auch, wofür Mauritius am berühmtesten ist: die Ausrottung des
Dodo.
Es waren schon vorher Tiere
ausgestorben, nur war dies ein besonders bemerkenswertes Tier, das
ausschließlich auf Mauritius existierte. Es gab ganz offensichtlich
keine weiteren Exemplare. Und da nur Dodos einen neuen Dodo
zustande bringen konnten, wird es auch nie wieder welche geben. Die
Grenzen der Insel sind wie ein deutlicher, kräftiger Strich unter
dieser Aussage.
Bis zu diesem Moment hatten die
Menschen nicht wirklich auf die Reihe bekommen, daß ein Tier
einfach aufhören konnte zu existieren. Es war, als hätten wir bis
dahin nicht begriffen, daß etwas, das man tötet, einfach nicht mehr
da sein würde. Endgültig. Nachher, in diesem Fall nach dem
Aussterben des Dodo, ist man trauriger und klüger.
Am Ende schafften wir es doch noch,
nach Rodrigues, einer zu Mauritius gehörigen Insel, zu fahren und
nach dem seltensten Flederhund der Welt zu suchen, aber vorher
gingen wir uns etwas ansehen, was Wendy Strahm sehr am Herzen lag –
so sehr, daß sie ihren normalen Rodrigues-Besuchsplan umstellte, um
uns höchstpersönlich hinzubringen.
Am Rand einer heißen, staubigen
Straße wuchs ein alleinstehender, kleiner, buschiger Baum, der
aussah, als habe man ihn in ein Konzentrationslager
gesteckt.
Bei der Pflanze handelte es sich um
eine wilde Kaffeesorte namens Ramus
mania; sie galt als ausgestorben. Bis 1981 ein Lehrer aus
Mauritius, Raymond Aquis, in einer Schule auf Rodrigues
unterrichtete und seiner Klasse Bilder von etwa zehn Pflanzen
zeigte, die auf Mauritius als ausgestorben galten.
Eines der Kinder meldete sich und
sagte: »Entschuldigen Sie, Sir, aber das da wächst im Garten hinter
unserem Haus.«
Es war zuerst kaum zu glauben, aber
dann schnitten sie einen Ast ab und schickten ihn nach Kew Gardens
in London, wo er zugeordnet wurde. Es war wilder
Kaffee.
Die Pflanze stand in unmittelbarer
Verkehrsnähe am Straßenrand und schwebte damit in beträchtlicher
Gefahr, weil jede Pflanze auf Rodrigues als gefundenes Fressen für
den heimischen Ofen gilt. Also baute man einen Zaun, um ihre
Abholzung zu verhindern.
Nur fingen die Leute unmittelbar nach
dieser Einzäunung an zu denken: »Sieh an, das ist eine ganz
besondere Pflanze«, und stiegen über den Zaun und machten sich
daran, kleine Äste und Blätter und Rindenstücke abzureißen. Da der
Baum offensichtlich etwas Besonderes war, wollte jeder ein Stück
davon haben, und plötzlich wurden ihm ganz erstaunliche Fähigkeiten
angedichtet – zum Beispiel die, Kater und Gonorrhöe zu kurieren. Da
Rodrigues außer der Unterhaltung in den eigenen vier Wänden nicht
viel zu bieten hat, wurde die Pflanze innerhalb kürzester Zeit sehr
begehrt und zügig durch das Abschneiden von Teilen
umgebracht.
Der erste Zaun erwies sich bald als
nutzlos und mußte von einem Stacheldrahtzaun eingezäunt werden.
Dann mußte der erste Stacheldrahtzaun von einem zweiten
Stacheldrahtzaun eingezäunt werden und dann der zweite von einem
dritten, bis das ganze Gehege sich über knappe zweitausend
Quadratmeter erstreckte. Schließlich wurde auch noch ein Wächter
eingestellt, um die Pflanze zu beschützen.
Zur Zeit versucht man in Kew Gardens
mit Ablegern dieser einen Pflanze zwei neue Pflanzen zu
kultivieren, um sie so möglicherweise irgendwann wieder in der
Wildnis anpflanzen zu können. Bis man damit Erfolg hat, wird dieses
hinter Stacheldraht verbarrikadierte Einzelstück der letzte
Vertreter seiner Art auf Erden sein und weiterhin vor jedem
geschützt werden müssen, der willens ist, ihn wegen eines kleinen
Stückes umzubringen. Es glaubt sich so leicht, daß uns das
Aussterben des Dodo hat trauriger und klüger werden lassen, aber
einiges deutet darauf hin, daß wir heute lediglich trauriger und
besser informiert sind.
In der Abenddämmerung jenes Tages
standen wir am Rand einer anderen Straße und sahen zu, wie die
seltensten Flederhunde der Welt ihre Schlafplätze im Wald verließen
und über den dunkler werdenden Himmel flatterten, um ihren
nächtlichen Überfall auf die Obstbäume zu starten.
Die Flederhunde kommen ganz gut
zurecht. Es gibt Hunderte von ihnen. Ich habe das häßliche Gefühl,
daß wir diejenigen sind, die in Schwierigkeiten
stecken.