- Douglas Adams
- Die letzten ihrer Art
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Herzklopfen in der
Nacht
Würde man ganz Norwegen nehmen, es
ein bißchen durchkauen und alle Elche und Rentiere rausschütteln,
es dann zehntausend Meilen weit um die Welt schleudern und mit
Vögeln auffüllen, wäre das Zeitverschwendung, weil es so aussieht,
als hätte das schon jemand getan.
Fjordland, ein ausgedehnter,
gebirgiger Landstrich, der in der südwestlichen Ecke von South
Island, Neuseeland, liegt, ist eines der erstaunlichsten Fleckchen
Erde, die Gott je erschaffen hat, und wenn man es zum erstenmal von
einer Klippe aus überblickt, möchte man am liebsten in spontanen
Applaus ausbrechen.
Es ist großartig. Es flößt Ehrfurcht
ein. Das Land ist in solchem Maße gefaltet und verdreht und
zerbrochen, daß einem das Gehirn beim Versuch, wenigstens
ansatzweise zu begreifen, was es sich da gerade ansieht, im Kopf zu
zittern und zu singen beginnt. Übereinandergeworfene Berge und
Wolken, gewaltige Eisströme, die sich Millimeter für Millimeter
ihren knackenden Weg durch die Schluchten bahnen, Wasserfälle, die
in schmale grüne Täler hinabdonnern, all das erstrahlt dermaßen
hell im magisch klaren neuseeländischen Licht, daß es Augen, die an
die in den meisten Teilen der westlichen Welt vorherrschenden, eher
düsteren Lichtverhältnisse gewöhnt sind, einfach zu lebendig
erscheint, um wahr zu sein.
Als Captain Cook es 1773 vom Meer aus
sah, notierte er, daß »die Berge im Inland, so weit das Auge
reicht, so dicht beisammenstehen, als wollten sie keine Täler
zwischen sich dulden«. Im Laufe von Millionen Jahren haben
Gletscher die großen, gabelförmigen Täler aus den Bergen geschürft,
und viele sind bis weit ins Landesinnere vom Meer
überflutet.
Einige der Klippen fallen mehr als
hundert Meter weit steil ins Meer ab, wo sie für weitere hundert
Meter steil abfallen. Es wirkt wie ein noch immer nicht ganz
abgeschlossener Prozeß. Trotz unbarmherzig peitschenden Windes und
Regens ist das Land in seiner ganzen Unermeßlichkeit scharfkantig
und gezackt.
Der Großteil des Gebiets ist noch
nicht auf dem Landweg erforscht worden. Die einzigen Straßen, auf
denen man den Fjorland-Nationalpark erreicht, verlieren sich
ziemlich schnell in den Vorgebirgen, und die meisten Touristen
erkunden lediglich die Randbereiche. Ein paar Rucksackträger
dringen weiter vor, und sehr, sehr wenige erfahrene Camper
versuchen, sich dem Kern des Gebiets zu nähern. Wenn man über diese
zerklüfteten Massen und unfaßbar tiefen Schluchten schaut,
erscheint einem schon die Idee lächerlich, es zu Fuß durchqueren zu
wollen, und wirklich erforscht sind nur gewisse, räumlich begrenzte
Kessel, die man – genau wie wir – nur mit dem Hubschrauber
erreicht.
Bill Black gilt als einer der
erfahrensten Hubschrauberpiloten der Welt, und das muß er auch
sein. Er klemmt wie ein knuddliger alter Brummbär hinter dem
Steuerknüppel und kaut langsam und gleichmäßig Kaugummi, während er
mit seinem Hubschrauber geradeaus auf nackte Steilwände zufliegt,
um zu testen, ob jemand schreit. In dem Moment, da der Hubschrauber
an der Wand zu zerschellen scheint, wird er von einem Aufwind
erfaßt und auf unfaßbare Art und Weise hoch und über den Kamm der
Klippe getragen, die auf der anderen Seite wieder jäh abfällt und
uns über einem Abgrund ausschwingen läßt. Das Tal schlingert unter
uns weg, daß einem schlecht wird, und wir fallen ein paar Meter
tiefer, um mit Seitendrall durch die nächste Schlucht und auf die
nächste Wand zuzuhüpfen, als hingen wir am Ende eines endlosen, von
einem Riesen geschwungenen Gummibandes.
Der Hubschrauber senkt die Nase und
pladdert an der Wand der Schlucht entlang. Wir schrecken ein paar
Vögel auf, die vor uns in die Luft aufsteigen und mit schnellen,
abgehackten Flügelschlägen davonfliegen. Mark kramt schnell nach
dem Fernglas unter seinem Sitz.
»Keas!« sagt er. Ich nicke,
allerdings nur ganz leicht. Mein Kopf muß schon mit genügend
gegenläufigen Bewegungen fertig werden.
»Das sind Bergpapageien«, sagt Mark.
»Hochintelligente Vögel mit langen, krummen Schnäbeln. Damit können
sie Scheibenwischer von Autos reißen – und machen es
auch.«
Es irritiert mich immer, wie schnell
Mark Vögel erkennen kann, die er noch nie gesehen hat, selbst wenn
sie bloß Kleckse am Horizont sind.
»Der Flügelschlag ist
unverwechselbar«, erläutert er. »Aber wenn wir nicht in diesem
lauten Hubschrauber säßen, wären sie noch einfacher zu erkennen.
Sie gehören zu den Vögeln, die während des Fluges hilfreicherweise
ihren Namen rufen. Kea! Kea! Kea! Macht sie sehr beliebt bei allen
Vogelbeobachtern. Es wäre toll, wenn der Streifenschwirl den Trick
auch lernen könnte. Würde das Auseinanderhalten von
Heuschreckenschilfsängerarten erheblich vereinfachen.« Er verfolgt
ihren Flug noch einige Sekunden, bis sie einen großen Felsvorsprung
umrunden und aus unserem Blickfeld verschwinden. Dann läßt er sein
Fernglas sinken. Wir waren nicht hergekommen, um uns die Keas
anzusehen.
»Sind trotzdem interessante Vögel,
mit einigen komischen Eigenarten. Ausgesprochen penibel, was den
richtigen Bau ihrer Nester angeht. Man hat mal ein Keanest
gefunden, mit dessen Bau die Vögel 1958 begonnen hatten. 1965 haben
sie noch immer rumprobiert und Teile dazugesteckt, aber richtig
eingezogen waren sie noch nicht. Sind dir in dieser Hinsicht
ziemlich ähnlich.«
Als wir den schmalen Ausgang der
Schlucht erreichen, halten wir ein paar Meter von einem Wasserfall
entfernt kurz an, der zwischen den Felsen hervorbricht, um den
hundert Meter unter uns liegenden Fluß mit Wasser zu füllen. Wir
starren ihn aus unserer fliegenden Glasblase an, und ich fühle mich
plötzlich wie ein Besucher von einem anderen Planeten, der aus dem
Himmel herabsinkt, um eine fremdartige Welt genau unter die Lupe zu
nehmen. Außerdem fühle ich mich krank, beschließe aber, diese
Information für mich zu behalten.
Mit einem kurzen Achselzucken hievt
Bill den Hubschrauber wieder nach oben, aus der Schlucht und in den
klaren Himmel. Schon die Unermeßlichkeit dieser Massen von Bergen
und Raum, die uns lässig umkreisen, überwältigt die räumlichen
Prozessoren des Gehirns. Und dann, wenn man gerade meint, all die
Wunder entdeckt zu haben, die diese Welt einem zu bieten hat, kurvt
man um einen Gipfel und glaubt plötzlich, man beginne das Ganze
noch mal von vorn, nur diesmal unter Drogeneinfluß.
Wir gleiten über Gletschergipfel. Der
urplötzliche, verschwenderische Lichtaufwand blendet uns für einen
Augenblick, aber als das Licht dann zu festen Formen
zusammenwächst, scheinen diese Formen aus einem Traum zu stammen.
Große, kopflastige Türme, die an deformierte Gigantentorsos
erinnern, mächtige, herausgemeißelte Höhlen und Bögen und hier und
dort die rissigen und abgeschlagenen Überreste von etwas, das
aussieht wie eine Reihe gotischer Kathedralen, die man aus
beträchtlicher Höhe abgeworfen hat. Aber alles ist Schnee und Eis.
Es sieht aus, als kämen die Geister von Salvador Dali und Henry
Moore nachts vorbei, um mit den Urkräften zu spielen.
Wenn ich mit etwas vollkommen
Unfaßbarem konfrontiert werde, reagiere ich instinktiv wie jeder
zivilisierte Mensch: Ich greife nach meiner Kamera und fotografiere
es. Ich spüre, daß ich sehr viel leichter damit klarkommen werde,
wenn es bloß drei Zentimeter Farbe in einem Leuchtkasten sind und
mein Stuhl nicht dauernd versucht, mich durch die Gegend zu
schleudern.
Gaynor, unsere Rundfunkproduzentin,
schiebt mir ein Mikrofon unter die Nase und bittet mich zu
beschreiben, was wir gerade sehen.
»Was?« sage ich und fasele ein
bißchen.
»Mehr«, sagte sie.
»Mehr!«
Ich fasele noch ein bißchen weiter.
Die Rotorblätter des Hubschraubers säbeln nur ein paar Zentimeter
von einem Eisturm entfernt durch die Luft.
Sie seufzt. »Na schön«, sagt sie,
»das läßt sich höchstwahrscheinlich zu irgendwas
zusammenschneiden«, und schaltet das Tonband wieder
aus.
Wir drehen eine weitere
bewußtseinszerknüllende Runde um die riesigen Eisskulpturen und
jagen dann zurück durch die Schluchten, die jetzt vergleichsweise
spießig wirken.
In unserem Hubschrauber sitzt noch
ein weiterer Passagier: Don Merton, ein gütiger Mann mit dem
Gebaren eines Vikars, der für irgend etwas Abbitte leistet. Er
sitzt ruhig da, stößt gelegentlich seine Brille auf dem Nasenrücken
zurück und murmelt für sich »ja, ah, ja«, als bestätige all dies
eine Vermutung, die er schon seit langem hegt. Tatsache ist, daß er
das Gebiet sehr gut kennt. Er arbeitet für das New Zealand
Department of Conservation und hat wahrscheinlich mehr als
irgendwer sonst zum Schutz der bedrohten neuseeländischen Vogelwelt
beigetragen.
Wir sind der Hunderte von Metern
steil abfallende Schluchtwand neben uns wieder sehr nah, und ich
entdecke, daß wir einem langen, schmalen Pfad folgen, der über eine
unfaßbar schmalen Sims zu einem Felsvorsprung hinaufführt, von dem
aus man einen ausgedehnteren Teil des Tal überblicken kann. Ich
leide an fürchterlicher Höhenangst. Bei meinen knapp zwei Metern
Länge wird mir manchmal schon beim Aufstehen schwummerig, und der
bloße Anblick des Pfades beschert mir schwarze, verschwommene
Alpträume.
»Da sind wir früher oft
raufgestiegen«, murmelt Don und beugt sich vor, um es uns zu
zeigen.
Ich sehe zuerst ihn erstaunt an und
dann wieder hinunter auf den furchterregenden Pfad. Wir schweben
jetzt nur einen knappen Meter über ihm, und das dumpfe Wummern der
Rotorblätter hallt vom Boden wider. Der Weg ist höchstens sechzig
Zentimeter breit, grasbedeckt und rutschig.
»Ja, ganz schön steil«, sagt Don mit
einem leisen Lachen, als gebe es sonst keinen Grund, nicht mit dem
Fahrrad raufzufahren. »Oben auf der Hügelkette ist ein ›Track and
bowl system‹. Wollt ihr's euch mal ansehen?«
Wir nicken nervös, und Bill fliegt
weiter.
Ich hatte schon vorher erlebt, daß
sich neuseeländische Zoologen den Begriff »Track and bowl system«
an den Kopf geworfen hatten, und zwar dermaßen beiläufig, daß ich
nicht gleich hatte zugeben wollen, nicht den blassesten Schimmer zu
haben, wovon sie eigentlich sprachen. Ich beschloß von der Prämisse
auszugehen, daß es irgendwas mit Satellitenschüsseln zu tun haben
müsse, und mich dann von da aus allmählich an den wirklichen Sinn
heranzutasten. Dadurch schwebte ich zwei Tage lang in einem Zustand
vollkommenen Nichtbegreifens, bevor ich schließlich doch den Mut
fand, meine Unwissenheit zuzugeben.
Ein »Track and bowl system« hat rein
gar nichts mit Satellitenschüsseln zu tun. Wenn man von einer
Gemeinsamkeit absieht – nämlich, daß man beides meist an
hochgelegenen, offenen Stellen findet. Es ist ein ziemlich
komischer Name für ein extrem komisches Phänomen. Ein »Track and
bowl system« sieht zwar nicht besonders dramatisch aus – und wenn
man kein neuseeländischer Zoologe ist, könnte man glatt an einem
vorbeifliegen, ohne es überhaupt zu bemerken –, ist jedoch
Schauplatz einer der eigenartigsten Verhaltensweisen der gesamten
Tierwelt.
Der Hubschrauber schwebt jenseits des
Kamms hinaus ins Tal, wendet und nähert sich dem Kamm von der
anderen Seite, gerät in den Aufwind, dreht sich noch einmal leicht
– und setzt auf. Wir sind gelandet. Für einen Augenblick sitzen wir
verdutzt in der Stille und können kaum glauben, auf was wir da
gerade gelandet sind. Der Kamm ist nur ein paar Meter breit. Er
fällt zu beiden Seiten Hunderte von Metern steil ab, und auch vor
uns geht es zügig abwärts.
Bill dreht sich um und grinst uns an.
»Keine Sorgen«, sagt er, obwohl ich immer geglaubt hatte, das sage
man nur in Australien. In Momenten wie diesem braucht man genau
diese Art Gedanken, um sich abzulenken.
Nervös klettern wir aus der Maschine
und krabbeln, die Köpfe unter den wirbelnden Rotorblättern gesenkt,
hinaus auf den Kamm. Um unseren Felsvorsprung herum breitet sich
nach drei Seiten ein gezacktes Tal aus, dessen Umrisse weiter unten
weicher werden. Direkt vor uns biegt es scharf nach links ab und
setzt sich über eine ganze Reihe von schroffen Drehungen und
Verwerfungen fort bis zum Tasman-See, einem dunstigen Schimmern in
der Ferne. Die wenigen Wolken, die nicht weit über uns hängen,
zeichnen auf ihrem langsamen Weg über das Tal dessen Wellenform mit
ihren ausgefransten Schatten nach, und das allein vermittelt uns
schon ein sehr deutliches Gefühl für Größenordnungen und
Verhältnisse.
Mit dem Verstummen der wummernden
Rotorblätter des Hubschraubers nimmt das allgegenwärtige Murmeln
des Tales allmählich zu und füllt die Stille aus: das dumpfe
Donnern der Wasserfälle, das entfernte Zischeln des Meers, das
Rascheln des struppigen Grases in der leichten Brise, die Keas, die
sich einander vorstellen. Ein Geräusch allerdings werden wir, wie
wir wissen, nicht hören – nicht, weil wir zur falschen Tageszeit
hergekommen wären, sondern im falschen Jahr. Und richtige Jahre
wird es nicht mehr geben.
Bis 1987 war Fjordland die Heimat
eines der seltsamsten, schauerlichsten Töne auf Erden.
Jahrtausendelang war dieser Ton zur richtigen Jahreszeit und nach
Einbruch der Dunkelheit überall in dieser wilden Gipfel- und
Tälerlandschaft zu hören gewesen.
Es klang wie ein Herzklopfen: ein
tiefes, kraftvolles Pochen, das in den dunklen Schluchten
widerhallte. So tief, daß einige Leute behaupteten, es im Magen
gespürt zu haben, bevor sie den eigentlichen Klang gehört hätten,
eine Art Wummern, ein schweres Luftbeben. Die meisten Leute haben
es sowieso nicht gehört und werden es auch nie mehr hören. Es war
der Schrei des Kakapo, des alten neuseeländischen Nachtpapageis,
der hoch auf einem Felsvorsprung saß und nach einer Gefährtin
rief.
Von allen Lebewesen, nach denen wir
in diesem Jahr suchten, war der Kakapo vermutlich das
eigenartigste, das faszinierendste und außerdem eines der
seltensten und am schwersten aufzutreibenden. Früher, bevor
Neuseeland von Menschen besiedelt wurde, gab es Hunderttausende von
Kakapos. Dann gab es Tausende, dann Hunderte. Dann gab es nur noch
vierzig... und es ging abwärts. Hier im Fjordland, das
jahrtausendelang die Hochburg des Vogels gewesen ist, scheint es
heutzutage keinen einzigen mehr zu geben.
Don Merton weiß besser als sonst
jemand über diese Vögel Bescheid und ist zum einen mitgekommen, um
uns zu führen, zum anderen aber auch, weil dieser Flug ins
Fjordland ihm die Gelegenheit bietet, ein weiteres Mal zu
überprüfen, ob der letzte Kakapo unwiderruflich verschwunden
ist.
Unser Hubschrauber steht in einem so
schwindelerregenden Winkel auf dem Felskamm, daß es aussieht, als
werde der kleinste Windstoß ihn sanft ins unter uns liegende Tal
wehen. Mark und ich entfernen uns langsam und mit steifem,
beklommenem Gang von ihm, als täte uns alles weh. Wir spielen jeden
weiteren Schritt zunächst im Kopf durch, bevor wir es wagen, den
restlichen Körper zu bewegen. Bill grinst uns, die erdverbundenen
Jungs aus der Stadt, verschmitzt an.
»Keine Sorgen«, sagt er fröhlich. »Wo
immer wir landen können, setzen wir auf. Don wollte hierher, also
hab ich ihn hergebracht. Hätte keine Lust, hier zu sein, wenn's
richtig windig wäre, aber das ist es ja nicht.« Er setzt sich auf
einen kleinen Felsblock und steckt sich eine Zigarette an. »Im
Moment jedenfalls nicht«, fügt er hinzu, starrt in die Ferne und
malt sich glücklich aus, welchen Heidenspaß wir alle hätten, wenn
plötzlich ein Orkan durchs Tal gerauscht käme.
Gaynor ist im Moment nicht in der
Stimmung, sich vom Hubschrauber wegzubewegen, und kommt zu dem
Schluß, dies sei genau der richtige Moment, um Bill zu interviewen.
Sie zieht die verwickelten bunten Kabel des Kassettenrecorders aus
ihrer Umhängetasche und klemmt sich die Kopfhörer ins Haar, ohne
dabei auch nur einmal nach rechts oder links in die Tiefe zu sehen.
Sie stößt ihm das Mikrofon entgegen und benutzt die andere Hand, um
sich selbst nervös auf dem Boden abzustützen.
»Ich fliege schon seit fünfzehn
Jahren im Fjordland«, sagt Bill, als sie fertig ist. »Meistens
irgendwelche Fernmeldejobs und ein bißchen was für Baustellen. Mach
normalerweise nichts mit Touristen. Ist mir auch ganz recht so. Da
arbeite ich viel für das Kakapo-Transfer-Programm und fliege die
Wildhüter zu den unzugänglichsten Stellen auf Neuseeland. Bei so
was ist ein Hubschrauber sehr nützlich, weil er an den
unmöglichsten Stellen aufsetzen kann. Sehen Sie die Felsspitze da
drüben?«
»Nein!« sagt Gaynor und starrt weiter
unverwandt zu Boden. »Ich möchte im Moment nicht hingucken. Sie ...
erzählen Sie mir einfach eine Geschichte. Irgend ... irgendwas
Lustiges, was Ihnen mal passiert ist. Bitte?!«
»Was Lustiges, ja?« sagt Bill und
zieht lange und nachdenklich an seiner Zigarette, während er den
Blick durch das Tal schweifen läßt. »Na schön. Ich hab mal meine
Hände im Hubschrauber in Brand gesteckt, weil ich ein Streichholz
angerissen hab, ohne daran zu denken, daß meine Handschuhe mit
Benzin getränkt waren. Dachten Sie an was der Art?«
Don Merton hat sich inzwischen
behutsam einige Schritte entfernt und späht gespannt einen Fleck
auf dem struppigen Boden an. Er hockt sich hin und fegt sehr
vorsichtig lose Erde und Grasstücke aus einer flachen Vertiefung im
Boden. Er findet etwas und hebt es auf. Es ist klein, annähernd
oval geformt und schwach getönt. Er untersucht es eine Zeitlang
gründlich und läßt dann niedergeschlagen die Schultern sinken. Er
gibt uns ein Zeichen, zu ihm zu kommen. Nervös folgen wir der
Aufforderung und sehen uns das Etwas an, das er zwischen seinen
Fingern hochhält und mit unendlichem Bedauern betrachtet. Es ist
ein einzelne, schon etwas ältere Süßkartoffel. Dazu fällt mir
eigentlich nichts mehr ein.
Seufzend legt er die Süßkartoffel
zurück auf den Boden.
»Wir nennen diese Stelle
Kakapo-Castle«, sagt er und blinzelt uns in dem kalten, grellen
Sonnenlicht an. »Es ist die letzte bekannte Stelle auf dem
neuseeländischen Festland, an der ein Kakapo gebalzt hat. Diese
flache Vertiefung in der Erde gehört zu einem ›Track and bowl
system‹.«
Ich erkläre gleich, was ein »Track
and bowl system« nun eigentlich ist. Zu sehen ist an der Stelle
nicht mehr als eine grob in den Boden geschabte Vertiefung. Sie ist
unordentlich und ein bißchen überwuchert. Als ich wieder die uns
umgebende atemberaubende Landschaft betrachte, komme ich plötzlich
nicht mehr ganz mit. Wir waren so weit in dieses unermeßliche,
überwältigende Land hineingeflogen, und das alles nur, um diese
kleinen, armseligen Kratzer im Boden und kein Ei zu finden. Bloß
eine Kartoffel.
Ich mache eine lahme Bemerkung in
dieser Richtung. Mark runzelt die Stirn, und Dons Gesichtsausdruck
verfinstert sich.
»O nein«, sagt Don, »ich hatte kein
Ei erwartet. Kein Ei. Nicht hier. O nein, ganz und gar
nicht.«
»Oh«, sage ich. »Als Sie die
Kartoffel aufgehoben haben, dachte ich ...«
Mark raunt mir aus dem Mundwinkel zu:
»Das hat Don uns doch alles im Hubschrauber erklärt.«
»Im Hubschrauber habe ich nichts
verstanden.«
»Sehen Sie, in einem ›Track and bowl
system‹ findet man keine Eier«, sagt Don geduldig. »Das ist nur der
Balz- und Paarungsbereich. Ich habe die Süßkartoffel selbst
hineingelegt, als ich zuletzt hier war, im vorigen Jahr. Wenn ein
Kakapo in diesem Gebiet wäre, hätte er die Kartoffel gegessen.« Er
hebt sie auf und reicht sie mir.
»Sehen Sie selbst, kein einziger
Abdruck. Nicht die kleinste Bißstelle. Außerdem hätte er seinen
Balzplatz gestutzt und gesäubert. Kakapos sind sehr akribische
Vögel. Wir wissen nicht, was mit dem letzten in diesem Gebiet
passiert ist. Kann sein, daß er getötet wurde, möglicherweise von
einer Katze. Wir nehmen an, daß sie manchmal so weit heraufkommen.
Fjordland ist voll von Katzen, und das bedeutet nichts Gutes für
den Kakapo. Obwohl wahrscheinlich nicht alle Katzen auf einen
Kakapo losgehen würden. Einige werden versucht haben, einen Kiwi
anzufallen – erfolglos –, und infolgedessen vermutlich lieber einen
weiten Bogen um Kakapos machen. Andere könnten es versucht und
herausgefunden haben, daß man es schafft, und es wieder getan
haben. Kakapos sind es grundsätzlich nicht gewohnt, sich zu
verteidigen. Sie erstarren einfach, wenn sie eine Katze näherkommen
sehen. Obwohl sie kräftige Beine und Krallen haben, verteidigen sie
sich nicht damit. Ein Kiwi hingegen prügelt eine Katze in der Regel
grün und blau. Weil Kiwis auch miteinander kämpfen. Wenn man zwei
in einen Käfig setzt, ist einer von beiden am nächsten Morgen
tot.
Der Kakapo kann auch einfach an
Altersschwäche gestorben sein. Wir wissen nicht, wie lange sie
leben, obwohl sie allem Anschein nach sehr alt werden. Vielleicht
so alt wie Menschen. Aber so oder so ist der Kakapo nicht mehr
hier, das dürfte wohl feststehen. Jetzt gibt es im ganzen Fjordland
keine Kakapos mehr.«
Trotzdem nimmt er mir die Kartoffel
wieder ab und legt sie als letzten Ausdruck eines hoffnungslosen
Optimismus behutsam wieder an den Rand der Schüssel.
Bis vor relativ kurzer Zeit –
jedenfalls nach evolutionären Maßstäben – bestand die
neuseeländische Tierwelt fast ausschließlich aus Vögeln. Nur Vögel
konnten den Ort erreichen. Die Vorfahren vieler jetzt dort
heimischer Vögel waren ursprünglich hierhergeflogen. Es gab auch
noch ein paar Fledermausarten, die Säugetiere sind, aber – und das
ist der entscheidende Punkt – es gab keine Räuber. Keine Hunde,
keine Katzen, keine Frettchen oder Wiesel, nichts, vor dem die
Vögel hätten flüchten müssen.
Und natürlich ist das Fliegen ein
Mittel zur Flucht. Es ist ein Überlebensmechanismus, und zwar
einer, den die neuseeländischen Vögel nicht unbedingt zu brauchen
glaubten. Fliegen ist harte Arbeit und kostet eine Menge
Energie.
Und nicht nur das. Auch zwischen dem
Fliegen und dem Essen besteht eine enge Verbindung. Je mehr man
ißt, desto schwerer fällt einem das Fliegen. Also passierte es
immer häufiger, daß die Vögel, statt einen kleinen Snack zu sich zu
nehmen und anschließend wegzuflattern, sich zu einem eher
umfangreicheren Mahl niederließen und danach ein bißchen
spazierenwatschelten.
Als dann schließlich die europäischen
Siedler eintrafen und Katzen, Hunde, Wiesel und Opossums
mitbrachten, watschelten viele der flugunfähigen neuseeländischen
Vögel plötzlich um ihr Leben. Die Kiwis, die Takahes – und die
alten Eulenpapageien, die Kakapos.
Unter all diesen Vögeln ist der
Kakapo der seltsamste. Na schön, wenn man genau darüber nachdenkt,
ist wohl auch der Pinguin ein ziemlich sonderbares Geschöpf, nur
ist er auf irgendwie robuste Art sonderbar und bestens an die
Umgebung angepaßt, in der er lebt, was man vom Kakapo nicht
behaupten kann. Der Kakapo ist ein Vogel in der falschen Zeit. Wenn
man einem von ihnen in sein großes, rundes, grünlichbraunes Gesicht
sieht, wirkt er auf so heitere, unschuldige Art ahnungslos, daß man
ihn am liebsten drücken und ihm sagen möchte, daß alles wieder gut
wird, obwohl man weiß, daß das wahrscheinlich nicht
stimmt.
Der Kakapo ist ein extrem dicker
Vogel. Ein durchschnittlicher, ausgewachsener Kakapo wiegt zwischen
sechs und sieben Pfund und kann mit seinen Flügeln bestenfalls ein
bißchen herumwackeln, wenn er fürchtet, über irgendwas zu stolpern
– aber Fliegen ist mit den Dingern vollkommen ausgeschlossen.
Traurig ist nur, daß der Kakapo anscheinend nicht bloß vergessen
hat, wie man fliegt, sondern zudem vergessen hat, daß er vergessen
hat, wie man fliegt. Ein ernstlich beunruhigter Kakapo bringt es
zwar fertig, auf einen Baum zu flitzen und von oben abzuspringen,
fliegt aber dann wie ein Stein und landet als wenig eleganter
Haufen am Boden.
Im großen und ganzen hat es der
Kakapo aber nie gelernt, sich Sorgen zu machen. Er hatte ja nie
besonders viel, was ihm hätte Sorgen bereiten können.
Die meisten Vögel werden angesichts
eines Räubers zumindest kapieren, daß irgendwas los ist, und sich
zügig in Sicherheit bringen, selbst wenn sie dabei irgendwelche im
Nest liegenden Eier oder Küken im Stich lassen müssen – aber nicht
der Kakapo. Seine einzige Reaktion angesichts eines Räubers ist,
ganz einfach nicht zu wissen, was für eine Lebensform das sein
soll. Er hat überhaupt keinen Begriff davon, daß irgend etwas
möglicherweise auf die Idee verfallen könnte, ihm weh zu tun, also
neigt er dazu, völlig verwirrt in seinem Nest hocken zu bleiben und
dem anderen Tier den nächsten Zug zu überlassen – der in der Regel
schnell kommt und endgültig ist.
Es ist frustrierend, sich den
Unterschied klarzumachen, der durch Sprache entstünde. Die
Jahrtausende kriechen verdammt langsam vorbei, während die
natürliche Selektion von Generation zu Generation fahrig nach dem
richtigen Weg stochert und dem komischen, anomalen Kakapo, der ein
bißchen bescheuerter ist als seine Zeitgenossen, so lange
unbehelligt läßt, bis die gesamte Art endlich auf den Trichter
kommt. Das alles ließe sich auf eine Sekunde abkürzen, wenn einer
von ihnen sagen könnte: »Solltet ihr eins von diesen Dingern mit
Schnurrbart und kleinen, spitzen Zähnen sehen, dann rennt, was das
Zeug hält.« Andererseits sind auch Menschen, trotz ihrer beinahe
einzigartigen Fähigkeit, aus den Erfahrungen anderer zu lernen,
wenig geneigt, diese Fähigkeit zu nutzen.
Ärgerlich ist nur, daß diese ganze
Räubergeschichte in Neuseeland ziemlich plötzlich begann und daß,
bis die Natur anfängt, bevorzugt etwas nervösere und leichtfüßigere
Kakapos hervorzubringen, einfach keine mehr da sein werden, sofern
sie das bewußte Eingreifen des Menschen nicht vor etwas schützt,
mit dem sie allein nicht fertig werden. Es wäre hilfreich, wenn
viele von ihnen zur Welt kämen, aber damit stoßen wir auf weitere
Probleme. Der Kakapo ist ein Einzelgänger: Er mag keine anderen
Tiere. Er mag es nicht mal, mit anderen Kakapos zusammenzusein. Wir
lernten einen Umweltschützer kennen, der meinte, er habe sich
manchmal gefragt, ob der Paarungsruf des Männchens das Weibchen
nicht tatsächlich abstößt, was die Art von biologischer Absurdität
darstellt, die man sonst nur in Diskotheken findet. Alles, was der
Kakapo wegen der Paarung veranstaltet, ist herrlich bizarr,
außerordentlich gründlich vorbereitet und fast vollkommen
wirkungslos.
Und das tun sie: Das Kakapo-Männchen
baut sich ein »Track and bowl system«, das nichts weiter ist als
eine grob ausgehobene, flache Bodensenke, zu der ein oder zwei
Pfade durch das Unterholz hinführen. Das einzige, was diese Pfade
von denen anderer durch die Gegend tappender Tiere unterscheidet,
ist, daß die Pflanzen zu beiden Seiten äußerst präzis gestutzt
sind.
Dabei achtet der Kakapo auf eine gute
Akustik – also wird das »Track and bowl System« häufig vor einer
dem Tal zugewandten Felswald zu finden sein –, und wenn die
Paarungszeit beginnt, sitzt er in seiner Schüssel und
schreit.
Und das ist eine ungewöhnliche
Vorführung. Der Kakapo bläst zwei riesige Luftsäcke an seinen
beiden Brustseiten auf, versenkt den Kopf dazwischen und beginnt
etwas von sich zu geben, was er für aufregende Grunzlaute hält.
Diese Laute werden stufenweise tiefer, hallen in seinen beiden
Luftsäcken wider, breiten sich dann in der Nachtluft aus und
erfüllen die Täler im Umkreis von Meilen mit dem schaurigen Klang
eines gewaltigen, in der Nacht schlagenden Herzens.
Der Lockruf ist tief, sehr tief,
genau auf der Schwelle zwischen dem, was man gerade noch hören
kann, und dem, was man spürt. Das heißt, daß der Ton zwar eine
große Reichweite hat, man aber nicht sagen kann, von wo er kommt.
Wenn Sie sich mit einer bestimmten Sorte von Stereoanlagen
auskennen, werden Sie wissen, daß man sich einen zusätzlichen
Lautsprecher, einen sogenannten Sub-Woofer, besorgen kann, der nur
die Baßfrequenzen überträgt und den man theoretisch überall im Raum
plazieren kann, sogar hinter dem Sofa. Das Prinzip ist dasselbe –
man kann nicht sagen, woher der Baß-Sound kommt.
Da das Kakapo-Weibchen genausowenig
sagen kann, woher der Kakapo-Schrei kommt, kann man den Lockruf
getrost als mangelhaft bezeichnen. »Komm und hol mich!« »Wo bist du?« »Komm und hol mich!« »Wo zum Teufel steckst du denn?« »Komm
und hol mich!« »Hör mal zu, soll ich
kommen oder nicht?« »Komm und hol
mich!« »Herrgott noch mal.« »Komm und hol mich!« »Ach, fick dich doch ins Knie«, wäre
wohl die ungefähre Entsprechung in zwischenmenschlichen
Beziehungen. Nun ist es zwar so, daß das Männchen noch eine
Vielzahl anderer Geräusche ausstoßen kann, wir jedoch nicht wissen,
was sie bedeuten. Na schön, ich weiß ja sowieso nur, was man mir
erzählt hat, aber Zoologen, die diese Vögel jahrelang studiert
haben, sagen, sie wüßten auch nicht, wozu das alles gut sei. Zu
diesen Geräuschen gehören ein hochschwingender, metallischer,
nasaler »Tsching«-Ton, Summen, Schnabelklicken, »Skrarken«
(Skrarken ist genau das, wonach es klingt – der Vogel macht dauernd
»Skrark«), »Kreisch-Krähen«, schweineähnliches Grunzen und Quieken,
entenähnliche »Quaks« und eselsähnliche Schreie. Außerdem gibt es
noch die aus einer weiteren Unzahl langgezogener, aufgewühlter
Klagekrächzer bestehenden Leidensschreie, die die Jungtiere von
sich geben, wenn sie über irgendwas stolpern oder aus Bäumen
fallen.
Ich habe mir ein Band mit
zusammengeschnittenen Kakapo-Lauten angehört, und es ist kaum zu
glauben, daß sie alle von einem einzigen Vogel oder auch nur von
einem einzigen Tier stammen. Es könnten Schnipsel aus dem Tonstudio
von Pink Floyd sein, aber kein Papagei.
Einige dieser Geräusche bekommt man
in fortgeschrittenen Balzphasen zu hören. Das »Tschingen« zum
Beispiel, das nicht so weit zu hören ist, ist sehr gut anzupeilen
und kann einem von nächtelangem Lockrufen aufgerüttelten Weibchen
(das Rufen dauert manchmal sieben Stunden pro Nacht, und das für
eine Dauer von bis zu drei Monaten) helfen, einen Partner zu
finden. Aber auch das funktioniert nicht immer.
Fortpflanzungsfähige Weibchen waren berühmt dafür, an gänzlich
unbesetzten Schüsseln aufzukreuzen, ein bißchen in der Gegend
herumzustehen und dann wieder zu verschwinden.
Es liegt nicht daran, daß sie nicht
willig wären. Der Geschlechtstrieb ist bei einem
fortpflanzungsbereiten Weibchen extrem ausgeprägt. Man weiß von
einem Kakapo-Weibchen, das in einer Nacht zwanzig Meilen marschiert
ist, nur um ein Männchen zu besuchen, und dann am nächsten Morgen
wieder zurückwanderte. Unglücklicherweise ist jedoch die Phase, in
der sich das Weibchen so verhält, ziemlich kurz. Als wäre nicht
alles schon schwierig genug, kann das Weibchen nur dann in diese
Verfassung geraten, wenn besondere Pflanzen, zum Beispiel die
Steineibe, Früchte tragen. Was nur zweimal jährlich der Fall ist.
Bis es soweit ist, kann das Männchen schreien, soviel es will, ohne
daß es ihm irgend etwas nützt. Die pingeligen Ernährungsbedürfnisse
des Kakapo sind wieder ein weites Problemfeld, das einen zur
Verzweiflung treiben kann. Es reicht mir schon, nur daran zu
denken; also sollten wir das Thema schnell hinter uns bringen. Wenn
Sie sich einfach vorstellen, Sie würden als Steward in einer
Maschine voller Moslems, Juden, Vegetarier, strenger Vegetarier und
Diabetiker versuchen, die Mahlzeiten zu servieren, obwohl sie, weil
gerade zufällig Weihnachten ist, nur Truthahn an Bord haben, kommen
Sie der Sache aber schon ziemlich nahe.
Es zerrt extrem an den Nerven der
Männchen, monatelang in ihren Schüsseln zu hocken und endlos
Geräusche von sich zu geben, während sie auf ihre Partnerinnen
warten, die ihrerseits darauf warten, daß eine bestimmte Baumsorte
Früchte trägt. Als einer der Wildhüter, der im Balzgebiet der
Kakapos arbeitete, einmal zufällig seinen Hut auf dem Boden
liegenließ, fand er bei seiner Rückkehr einen Kakapo vor, der das
Ding zu schänden versuchte. Bei anderer Gelegenheit ließ die
Entdeckung von etwas zerzaustem Opossumfell im Paarungsgebiet
darauf schließen, daß wieder mal ein Kakapo einen
besorgniserregenden Fehler begangen hatte, mit einem Ergebnis, das
wohl für keine der beiden beteiligten Parteien besonders
befriedigend gewesen sein dürfte.
Was unter dem Strich nach all diesen
Monaten des Aushebens und Balzens und Wanderns und Skrarkens und
Getues wegen irgendwelcher Früchte herauskommt, ist, daß das
Kakapo-Weibchen alle drei oder vier Jahre ein einziges Ei legt, das
prompt von einem Hermelin gefressen wird.
Also muß die große Frage lauten: Wie
in aller Welt hat es der Kakapo geschafft, sich so lange zu halten?
Als einem mit diesem Vogel
konfrontierten Nicht-Zoologen drängte sich mir die Frage auf, ob
sich die von allen Zwängen, etwas Wettbewerbfähiges zu produzieren,
befreite Natur diesen Vogel nicht einfach am Rande ausgedacht
hatte. Einfach nur so hingeschleudert. »Wie wär's, wenn wir noch
was von dem hier mit reinpacken? Kann doch nicht schaden, ist
vielleicht ganz unterhaltend.«
Der Kakapo ist wahrhaftig ein Vogel,
der mich in gewisser Weise an die britische Motorradindustrie
erinnert. Alles ging so lange nur nach seiner Nase, daß er am Ende
exzentrisch wurde. Die Motorradindustrie reagierte nicht auf die
Marktkräfte, weil sie ihr gar nicht richtig bewußt waren. Sie
produzierte eine gewisse Anzahl Motorräder, die von einer gewissen
Anzahl von Leuten gekauft wurde, und das war's. Dabei war es
scheinbar ziemlich egal, daß sie laut und kompliziert zu warten
waren, Öl durch die Gegend verspritzten und, wie T. E. Lawrence
gegen Ende seines Lebens herausfand, eine sehr eigentümliche Art
hatten, um Kurven zu biegen. Das war's, was Motorräder taten, und
das war's, was man bekam, wenn man ein Motorrad haben wollte. Ende
der Geschichte. Und natürlich war es auch fast das Ende der
Geschichte der britischen Motorradindustrie, als die Japaner
plötzlich auf die Idee kamen, daß Motorräder nicht unbedingt so
sein müßten. Sie konnten schnittig sein, sie konnten sauber sein,
sie konnten zuverlässig und kultiviert sein. Dann würden sie
vielleicht von jedermann gekauft werden, nicht nur von Leuten, die
es für besonders spaßig hielten, den Sonntagnachmittag mit einem
öligen Lappen im Schuppen zu verbringen oder gegen Akaba zu
marschieren.
Die äußerst wettbewerbsfähigen
Maschinen kamen auf den Britischen Inseln an (erneut ist es also
eine Inselspezies, die nie gelernt hat, im Wettbewerb zu bestehen.
Ich weiß, daß Japan auch aus einem Haufen Inseln besteht, werde des
schönen Vergleichs zuliebe aber einfach über diesen Umstand
hinwegsehen), und über Nacht waren die britischen Motorräder so gut
wie ausgestorben.
So gut wie, aber eben nicht ganz. Sie
wurden von einem Rudel Enthusiasten am Leben erhalten, die meinten,
daß an den Nortons und Triumphs, mochten sie auch schwierige und
bärbeißige Biester sein, doch eine Menge Gutes und Bewahrenswertes
war und daß die Welt ohne sie bedeutend ärmer wäre. Während des
letzten Jahrzehnts haben sie zahlreiche, schwierige Veränderungen
über sich ergehen lassen müssen, sind aber nun wieder aufgetaucht
und gelten nach ihrer Überholung als vielgerühmte Maschinen für
Motorrad-Liebhaber. Ich fürchte, daß dieser Vergleich jetzt
ernsthaft vom Zusammenbruch bedroht ist, also lasse ich ihn wohl
besser fallen.
Einige Tage zuvor hatte ich einen
Traum gehabt. Ich hatte geträumt, daß ich aufwachte und mich,
bewegungsunfähig auf großen, runden, lila und hellblauen Findlingen
ausgebreitet und den Kopf angefüllt mit dem bedächtigen Tosen des
Meeres, an einem abgelegenen Strand wiederfand. Ich erwachte aus
diesem Traum und fand mich, ausgebreitet auf mächtigen, runden,
rosa und hellblauen Findlingen und völlig benommen vor Verwirrung,
an einem abgelegenen Strand wieder. Ich konnte mich nicht bewegen,
weil meine Kameratasche um meinen Hals geschlungen und hinter einem
der Findlinge eingeklemmt war.
Ich rappelte mich auf und sah hinaus
aufs Meer, um herauszubekommen, wo in aller Welt ich war und ob ich
noch immer in einer Traum-Rekursion steckte. Vielleicht saß ich
noch immer in einem Flugzeug nach Irgendwo und sah mir nur gerade
den Film während des Fluges an. Ich sah mich nach einer Stewardeß
um, aber niemand kam mit einem Tablett voller Drinks über den
Strand gewackelt. Ich warf einen Blick auf meine Stiefel, und
dieser Blick schien in meinem Kopf irgend etwas auszulösen. Ich
erinnerte mich deutlich daran, diese Stiefel zuletzt so gründlich
betrachtet zu haben, als ich aus einem Morast in Zaire
herausstapfte und sie mit afrikanischem Matsch getränkt waren. Ich
sah mich nervös um. Nashörner wackelten auch nicht über den Strand.
Der Strand befand sich eindeutig nicht in Zaire, weil Zaire ein
Binnenland ist und keinen Strand hat. Erneut betrachtete ich meine
Schuhe. Sie wirkten eigenartig sauber. Wie war das passiert? Mir
fiel wieder ein, daß man mir die Schuhe weggenommen und sie geputzt
hatte. Warum sollte das jemand tun? Und wer? Ein Flughafen tauchte
verschwommen vor mir auf, und ich erinnerte mich, gefragt worden zu
sein, wo ich mit den Schuhen gewesen sei. Zaire, sagte ich. Man
nahm mir die Stiefel weg und gab sie mir ein paar Minuten später
fleckenlos sauber, desinfiziert und glänzend zurück. Mir fiel
wieder ein, daß ich damals gedacht hatte, ich müsse nur daran
denken, jedesmal nach Neuseeland zu fliegen, wenn ich meine Schuhe
wirklich ordentlich geputzt haben wollte. Neuseeland. Was die
Einfuhr irgendwelcher ausländischer Bakterien betraf, waren sie
hier, in einem der isoliertesten und unberührtesten Länder der
Welt, verständlicherweise eher paranoid. Ich versuchte mich an
meine Abreise aus Neuseeland zu erinnern, aber es ging nicht.
Folglich mußte ich noch in Neuseeland sein. Gut. Damit hatte ich
das Ganze ein bißchen eingegrenzt.
Aber wo?
Ich torkelte etwas schläfrig den
Strand hinauf, stolperte über die Findlinge in den gedämpften
halluzinatorischen Farben und entdeckte dann von meinem neuen
Aussichtspunkt aus Mark, der weit entfernt auf den Knien dahockte
und in einen alten Baumstumpf spähte.
»Ein Zwergpinguin. Er mausert sich
gerade«, sagte er, als ich ihn endlich erreichte.
»Was?« sagte ich. »Wo?«
»Im Baumstumpf«, sagte er. »Sieh's
dir an.«
Ich spähte in den Baumstumpf. Ein
schwarzes Augenpaar spähte ängstlich aus einem dunkelblauen,
aufgeplusterten Feder-Ball zurück.
Ich ließ mich schlaff auf einen
Felsen sinken.
»Sehr schön«, sagte ich. »Wo sind
wir?«
Mark grinste. »Dachte ich mir doch,
daß du ein bißchen unter dem Jetlag leidest«, sagte er. »Du hast
zwanzig Minuten geschlafen.«
»Na fein«, sagte ich gereizt, »aber
wo sind wir? Soweit ich es bisher eingegrenzt habe, muß es
Neuseeland sein.«
»Little Barrier Island«, sagte er.
»Erinnerst du dich? Wir sind heute morgen mit dem Hubschrauber
hergekommen.«
»Ah«, sagte ich, »damit ist meine
nächste Frage schon beantwortet. Es ist Nachmittag,
ja?«
»Ja«, sagte Mark. »Es ist kurz vor
vier, und wir werden zum Tee erwartet.«
Von dieser Vorstellung wie vom Donner
gerührt, sah ich noch mal den Strand rauf und runter.
»Tee?«
sagte ich.
»Bei Mike und Dobby.«
»Bei wem?«
»Ach, tu einfach nur so, als würdest
du sie kennen, wenn wir hinkommen, weil du heute morgen ein
Stündchen mit ihnen geplaudert hast.«
»Hab ich?«
»Dobby ist der Wildhüter auf dieser
Insel.«
»Und Mike?«
»Seine Frau.«
»Verstehe.« Ich dachte ein bißchen
nach. »Ich weiß«, sagte ich plötzlich. »Wir sind hergekommen, um
nach dem Kakapo zu suchen. Ja?«
»Korrekt.«
»Werden wir einen
finden?«
»Bezweifle ich.«
»Dann erklär's mir noch mal. Warum
sind wir hier?«
»Weil dies einer der zwei Orte ist,
an denen definitiv Kakapos leben.«
»Aber wir werden wahrscheinlich
keinen finden.«
»Nein.«
»Aber wir werden zumindest einen Tee
kriegen.«
»Ja.«
»Schön, dann laß uns losgehen und Tee
trinken. Erzähl's mir auf dem Weg noch mal. Aber schön
langsam.«
»Ist recht«, sagte Mark. Er machte
noch einige letzte Bilder von dem kleinen blauen Pinguin, einem
Vogel, über den ich niemals mehr erfahren sollte, packte seine
Kameras ein, und zusammen machten wir uns auf den Rückweg zum
Wildhüterhäuschen.
»Jetzt, da Neuseeland mit Räubern
aller Art übersät ist«, sagte Mark, »sind Inseln der letzte
mögliche Zufluchtsort für die Kakapos – beziehungsweise geschützte
Inseln neben diesen Inseln. Stewart Island im Süden, wo es immer
noch ein paar Kakapos gibt, ist mittlerweile besiedelt und nicht
mal mehr annähernd sicher. Alle Kakapos, die man dort findet,
werden eingefangen und nach Codfish Island geflogen, der
nächstgelegenen Insel. Dort werden sie beobachtet und geschützt.
Und zwar so gut geschützt, daß ich momentan erhebliche Zweifel
habe, ob man uns überhaupt erlauben wird, hinzufliegen. Offenbar
gibt es beim DOC einen ziemlichen Aufruhr wegen...«
»DOC?«
»Dem New Zealand Department of
Conservation. Sie sind sich nicht einig, ob sie uns auf die Insel
lassen sollen. Einerseits meinen sie zwar, wir könnten dem Projekt
durch eine gewisse Publicity nützen, aber andererseits meinen sie,
daß die Vögel um gar keinen Preis gestört werden sollten. Es gibt
überhaupt nur einen einzigen Menschen, der uns helfen könnte, den
Vogel zu finden, und der will überhaupt nichts mit uns zu tun
haben.«
»Wer ist das?«
»Ein freischaffender
Kakapo-Spurenleser namens Arab.« »Aha.«
»Er hat einen
Kakapo-Spürhund.«
»Hmm. Klingt, als ob wir genau den
Typ Helfer brauchten. Gibt es denn für einen freischaffenden
Kakapo-Spurenleser viel zu tun? Ich meine, so viele Kakapos sind
doch eigentlich nicht mehr aufzuspüren, oder?«
»Vierzig. Insgesamt gibt es drei oder
vier Kakapo-Spurenleser ...«
»Und drei oder vier
Kakapo-Spürhunde?«
»Genau. Die Hunde sind speziell
darauf abgerichtet, die Kakapos zu wittern. Sie tragen Maulkörbe,
damit sie den Vögeln nichts tun können. Man hat sie eingesetzt, um
die Kakapos auf Stewart Island einzufangen, damit sie mit dem
Hubschrauber nach Codfish Island geflogen oder hierher, nach Little
Barrier Island, weitertransportiert werden können. War das erste
Mal seit Jahrtausenden, vielleicht sogar Jahrmillionen, daß
irgendein Vertreter dieser Art geflogen ist.«
»Und was macht ein
Kakapo-Spurenleser, wenn keine Kakapos aufgespürt werden
müssen?«
»Er bringt Katzen um.«
»Aus Frustration?«
»Nein. Auf Codfish Island gab es eine
regelrechte Wildkatzenplage. Mit anderen Worten, Katzen, die in die
Wildnis zurückgekehrt sind.«
»Ich dachte immer, das sei eine
künstliche Unterscheidung. Ich dachte, alle Katzen wären
Wildkatzen. Sie verhalten sich nur zahm, wenn sie glauben, daß
dabei eine milchgefüllte Untertasse für sie rausspringt. Auf
Codfish Island bringen sie also Katzen um?«
»Sie haben sie umgebracht. Stück für
Stück. Alle Opossums und Wiesel. Im großen und ganzen alles, was
sich bewegt hat und kein Vogel war. Das ist nicht besonders nett,
aber so sah die Insel nun mal ursprünglich aus, und nur so können
die Kakapos überleben – in genau der Umgebung, die Neuseeland vor
dem Eintreffen des Menschen war. Ohne Räuber. Hier auf Little
Barrier Island haben sie das gleiche gemacht.«
Was in diesem Augenblick passierte,
verblüffte mich einigermaßen, bis mir aufging, daß mir genau das
gleiche an diesem Tag schon einmal passiert war, nur daß ich es in
meinem benebelten, zeitverschobenen Zustand völlig vergessen
hatte.
Vom Strand aus waren wir durch
dichtes Unterholz, über schlechte, matschige Wege und an ein paar
Feldern voller Schafe vorbeigestapft und plötzlich in einem Garten
gelandet. Und zwar nicht in einem einfachen Garten, sondern in
einem akribisch gemähten und manikürten Garten mit makellosen
Blumenbeeten, penibel gestutzten Bäumchen und Büschen, Steingärten
und einer kleinen, über einen ebenfalls kleinen Fluß führenden,
schmucken Brücke. Es war, als betrete man einen leicht
provinziellen Garten Eden, als hätte Gott am achten Tag plötzlich
doch wieder losgelegt und begonnen, Rasenmäher, Heckenscheren und
diese Dinger zu erfinden, deren Name mir nie einfällt, die aber im
wesentlichen aus elektrisch angetriebenen Fäden
bestehen.
Und da war auch Mike, die Frau des
Wildhüters, und betrat den Rasen mit einem Tablett voller
Teeutensilien, über das ich mit freudigen Ausrufen und großem Hallo
herfiel.
Mark hatte ich inzwischen verloren.
Er stand nur einen knappen Meter von mir entfernt, war aber in eine
Volltrance gefallen, deren Untersuchung ich nach kurzem Überlegen
auf später verschob, weil ich zuerst unbedingt dem Tee zu Leibe
rücken wollte. Mark schien sich die Vögel anzusehen, von denen es
in diesem Garten offenbar eine ganze Menge gab. Ich plauderte
fröhlich mit Mike, stellte mich ihr noch mal als das entfernt an
einen Neandertaler erinnernde Wesen vor, das sie
höchstwahrscheinlich am Morgen hoffnungslos benommen aus dem
Hubschrauber auf sich hatte zuwanken sehen, und fragte sie, wie sie
mit dem Leben hier klarkomme, das sie und Dobby nun seit elfeinhalb
Jahren, abgesehen von gelegentlich auftauchenden naturvernarrten
Touristen, vollkommen isoliert von der Außenwelt
führten.
Sie erklärte mir, daß sie täglich
ziemlich viele naturvernarrte Touristen bei sich hätten und sie
sich eher Sorgen mache, es könnten zu viele werden. Es passiere so
erschreckend schnell, daß versehentlich Räuber auf die Insel
mitgebracht würden, und die Schäden wären ausgesprochen ernst. Bei
den Touristen, die organisierte Ausflüge auf die Insel unternähmen,
sei man zwar sehr vorsichtig, aber große Gefahr gehe von jenen
Leuten aus, die mit dem Boot kämen und am Strand Grillpartys
veranstalteten. Ein paar Ratten oder eine trächtige Katze reichten
aus, um die Arbeit von Jahren zunichte zu machen.
Die Vorstellung, irgend jemand, der
einen Partygrill auf eine Insel mitnahm, würde dabei auch
notwendigerweise daran denken, eine trächtige Katze einzuladen,
überraschte mich, aber Mike versicherte mir, das passiere sehr
leicht. Davon abgesehen, habe so gut wie jedes Boot Ratten an
Bord.
Sie war eine fröhliche, lebhafte,
robuste Frau, und ich hegte den starken Verdacht, daß der eiserne
Wille, der dem rauhen Inselgelände aufgezwungen worden war und
diesen Teil in einen unerbittlich manikürten Garten verwandelt
hatte, ihrer war.
In diesem Moment tauchten Dobby und
Gaynor, die ihn interviewt hatte, aus dem hübschen,
schindelgedeckten Haus auf. Ursprünglich war Dobby als Mitarbeiter
des Katzen-Beseitigungsprogramms auf die Insel gekommen und als
Wildhüter des Schutzgebietes dort geblieben, auf einem Posten, den
er in achtzehn Monaten würde aufgeben müssen. Die Aussicht behagte
ihm ganz und gar nicht. Vom Standpunkt der beiden, von dieser
Miniatur-Paradies-Domäne aus gesehen, mußte ihnen ein kleines
Häuschen in einer Stadt auf dem Festland hoffnungslos beengend und
sterbenslangweilig erscheinen.
Nachdem wir noch ein bißchen
weitergeplaudert hatten, ging Gaynor auf Mark zu und bat ihn, eine
Beschreibung des Gartens auf Band zu sprechen, aber er winkte sie
nur barsch weg und fiel zurück in die Trance, in der er sich jetzt
schon seit einer Weile befand. Für einen Menschen wie Mark, der
normalerweise freundlich und herzlich ist, war das ein eher
komisches Verhalten, also fragte ich ihn, was los sei. Er murmelte
irgendwas über Vögel und ignorierte uns wieder.
Ich sah mich noch einmal um. Es waren
wirklich eine Menge Vögel im Garten.
Ich muß an dieser Stelle ein
Geständnis ablegen, das aus dem Mund von jemandem, der zwölftausend
Meilen weit hin- und zurückgereist ist, um einen Papagei zu
besuchen, ein bißchen seltsam klingen wird, aber eigentlich mache
ich mir gar nicht so fürchterlich viel aus Vögeln. Mag sein, daß es
alle möglichen Dinge gibt, die ich an Vögeln interessant finde,
aber vom Hocker reißen mich die Viecher nicht. Nilpferde, ja. Es
macht mir Spaß, ein Nilpferd anzustarren, bis das sogar dem
Nilpferd zu dumm wird und es verwirrt wegwandert. Gorillas,
Lemuren, Delphinen kann ich stundenlang begeistert zusehen, von
ihrem ganzen Getue mindestens ebenso hypnotisiert wie von ihren
Augen. Aber wenn man mich in einen Garten stellt, der voll ist von
den exotischsten Vögeln der Welt, macht es mir am meisten Spaß,
teetrinkend herumzustehen und mit Leuten zu plaudern. Mir dämmerte
allmählich, daß genau das gerade geschah.
»Das«, sagte Mark schließlich mit
tiefer, hohler Stimme, »ist...« Ich wartete geduldig.
»Unbeschreiblich!«
Irgendwann gelang es Gaynor dann
doch, ihn aus seiner Trance zu reißen, und er begann aufgeregt über
die Tuis, die neuseeländischen Tauben, die Glockenvögel, die
North-Island-Drosseln, die neuseeländischen Eistaucher, die
Rotkappensittiche, die Paradieskasarkas und die Unmengen von
Kakadus zu reden, die durch den Garten flatterten und sich
gegenseitig über den Rand der Vogeltränke rempelten.
Ich war irgendwie deprimiert, fühlte
mich wie ein Verräter, weil ich seine Aufregung nicht teilen
konnte, und geriet an diesem Abend ins Grübeln darüber, weshalb ich
eigentlich so unheimlich scharf darauf war, einen Kakapo zu finden,
obwohl mich Vögel sonst fast völlig kaltließen.
Ich glaube, es liegt an seiner
Flugunfähigkeit.
Die Vorstellung, daß dieses Lebewesen
etwas aufgegeben hat, wonach sich so gut wie jeder Mensch sehnt,
seit die ersten von uns nach oben gesehen haben, hat etwas
Fesselndes. Andere Vögel irritieren mich vermutlich nur wegen der
großspurigen Seelenruhe, mit der sie durch die Luft flitzen, als ob
das gar nichts wäre.
Ich erinnerte mich, im Zoo von Sydney
vor Jahren unvermittelt einem frei herumstreifenden Emu von
Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden zu haben. Man wird
ausdrücklich gewarnt, nicht zu dicht an sie heranzugehen, weil sie
ziemlich rabiat werden können, aber als ich ihn ansah, fand ich
seinen zornigen, starren Gesichtsausdruck absolut herzzerreißend.
Weil man nämlich, wenn man einem Emu erst mal ins Gesicht gesehen
hat, plötzlich begreift, was es für dieses Lebewesen bedeutet, all
die Nachteile mit sich herumzuschleppen, die das Vogeldasein so mit
sich bringt – eine lachhafte Körperhaltung, ein hoffnungslos
schmuddeliges, sinnloses Federkleid und zwei unbrauchbare
Gliedmaßen, ohne dabei jemals das tun zu können, wozu Vögel
eigentlich in der Lage sein sollten, nämlich zu fliegen. Damit wird
einem schlagartig klar, daß der Vogel vor lauter Wut völlig
ausgerastet sein muß.
Ich möchte an dieser Stelle kurz
abschweifen, um eine kaum bekannte Tatsache anzuführen: Der Strauß
ist, erstaunlich, aber wahr, eines der gefährlichsten afrikanischen
Tiere. Nur dringen von Straußen verursachte Todesfälle nicht so
recht ins öffentliche Bewußtsein, weil sie in der Regel so
entsetzlich würdelos sind. Strauße beißen nicht, weil sie keine
Zähne haben. Sie reißen einen nicht in Stücke, weil sie keine
Vorderläufe mit Krallen haben. Nein, Strauße treten einen tot. Und
wer wollte ihnen daraus schon einen Strick drehen?
Der Kakapo jedoch ist kein wütender
oder gewalttätiger Vogel. Er geht seinen verschrobenen Eigenheiten
eher gewissenhaft und im stillen nach. Wenn man Leute, die mit
Kakapos gearbeitet haben, bittet, sie zu beschreiben, verwenden sie
in der Regel Begriffe wie »unschuldig« und »würdevoll«, sogar wenn
der Kakapo in diesem Augenblick hilflos aus einem Baum stürzt. Und
das finde ich ungeheuer anziehend. Ich fragte Dobby, ob sie den
Kakapos auf der Insel Namen gegeben hätten, und er zählte sofort
vier davon auf: Matthäus, Lukas, Johannes und Schnark. Recht
passende Namen für eine Bande würdevoll behämmerter
Vögel.
Fehlt nur noch ein weiterer
Gesichtspunkt: Nicht nur, daß der Kakapo etwas aufgegeben hat, was
wir alle uns so sehnlich wünschen, macht ihn so unwiderstehlich,
sondern auch, daß er damit einen gräßlichen Fehler begangen hat. Er
ist ein Vogel, der einem ans Herz wachsen kann. Mir lag wirklich
viel daran, einen zu finden.
Während der nächsten zwei oder drei
Tage wurde ich zunehmend mürrischer, denn während wir im Regen über
endlose Hügelketten zottelten, wurde uns klar, daß wir auf Little
Barrier Island keinen Kakapo finden würden. Wir blieben stehen, um
Kakas, langschweifige Kuckucke und gelbäugige Pinguine zu
bewundern. Wir fotografierten unzählige gescheckte Krähenscharben.
In einer Nacht sahen wir einen Eulenschwalm, eine Eulenart, die
ihren neuseeländischen Namen »Morepork« dem Umstand verdankt, daß
sie ununterbrochen nach zusätzlichem Schweinefleisch schreit. Aber
wir wußten, daß wir nach Codfish Island mußten, wenn wir einen
Kakapo finden wollten. Und dazu würden wir Arab, den
freischaffenden Kakapo-Spurenleser, und den Kakapo-Spürhund des
freischaffenden Kakapo-Spurenlesers brauchen.
Nichts deutete darauf hin, daß wir
sie auch bekommen sollten. Also flogen wir nach Wellington und
bliesen ein bißchen Trübsal.
Wir konnten das Dilemma
nachvollziehen, in dem die Leute vom Department of Conservation
steckten. Für sie war einerseits der Schutz der Kakapos von
übergeordneter Bedeutung, was bedeutete, daß jeder, der nicht
lebenswichtig für das Projekt war, von Codfish Island ferngehalten
werden mußte. Andererseits stiegen die Chancen, mehr Mittel zum
Schutz des Vogels aufzutreiben, je mehr Leute von ihm wußten.
Während wir mit unserem Schicksal haderten, wurden wir überraschend
gebeten, eine Pressekonferenz über unser Vorhaben abzuhalten, und
nahmen das Angebot mit Freuden an. Wir sprachen ernst und
freundlich mit der Presse über das Projekt. Wir erklärten ihnen,
hier hätten wir einen Vogel, der auf seine Art genauso ungewöhnlich
und einzigartig sei wie das berühmteste ausgestorbene Tier aller
Zeiten – der Dodo – und selbst vom Aussterben bedroht sei. Es wäre
bedeutend besser, wenn er von aller Welt als Überlebender geliebt
und nicht, wie der Dodo, als Ausgestorbener bedauert
würde.
Das brachte im Department of
Conservation offenbar einiges in Bewegung, und wie sich bald
herausstellte, setzten sich diejenigen durch, die uns
unterstützten. Ein, zwei Tage später standen wir auf der Piste des
Flughafens von Invercargill im äußersten Süden von South Island und
warteten auf unseren Hubschrauber. Und auf Arab. Wir hatten uns
durchgesetzt und hofften, ein bißchen nervös, auch das Richtige
getan zu haben.
Begleitet wurden wir von einem
Schotten namens Ron Tindal von DOC. Er war uns gegenüber betont
offen. Er sagte, unter den Feldforschern herrschten jede Menge
Vorbehalte wegen unserer Erlaubnis, nach Codfish zu fahren, aber da
Anweisung nun mal Anweisung sei, müßten wir jetzt eben hin.
Derjenige, sagte er, der sich besonders wenig mit der Idee
anfreunden könne, sei Arab selbst, also sollten wir uns der
Tatsache bewußt sein, daß er nur unter Protest komme.
Arab selbst traf ein paar Minuten
später ein. Ich wußte nicht genau, wie ich mir einen
freischaffenden Kakapo-Spurenleser vorgestellt hatte, aber als wir
ihn sahen, war sonnenklar, daß man ihn sogar dann unverzüglich als
Kakapo-Spurenleser erkannt hätte, wenn er in einer wahllos
zusammengestellten Gruppe von tausend Leuten versteckt gewesen
wäre. Er war groß, schlaksig, unglaublich wettergegerbt und hatte
einen gräulichen Bart, der bis zu seinem Hund hinunterreichte, der
auf den Namen »Boss« hörte.
Er nickte uns kurz zu und hockte sich
hin, um ein bißchen Getue wegen seines Hundes zu machen. Dann
schien er wohl zu denken, daß er uns gegenüber vielleicht arg kurz
angebunden gewesen war, und er beugte sich über Boss, um uns die
Hand zu schütteln. Und dann schien er zu glauben, daß er damit nun
auch wieder übertrieben hatte, und blickte mit einem wegen des
Wetters extrem ärgerlichen Ausdruck nach oben. Mit dieser kurzen
Demonstration vollkommener sozialer Konfusion offenbarte er sich
als ein in höchstem Maße angenehmer und liebenswerter
Mensch.
Dennoch verlief der halbstündige
Hubschrauberflug nach Codfish Island etwas angespannt. Unser
Versuch, ungezwungen zu plaudern, wurde vom ohrenbetäubenden
Donnern der Rotorblätter nahezu vollständig vereitelt. Ein
Hubschraubercockpit ist leidlich geeignet, einem begierigen Zuhörer
etwas zu erzählen, aber bestimmt nicht der richtige Ort, um mit
jemandem warm zu werden.
»Was haben Sie gesagt?«
»Ich hab nur ›Was haben Sie gesagt?‹
gesagt.«
»Aha. Und was haben Sie gesagt, bevor
Sie ›Was haben Sie gesagt?‹ gesagt haben?«
»Ich hab nur gesagt: ›Sind Sie
häufiger hier?‹, ist aber nicht so wichtig.«
Zuletzt verfielen wir in ein
verlegenes, dumpfes Schweigen, das durch die düster über dem Meer
hängenden, schweren Sturmwolkenbänke nur noch bedrückender
wurde.
Wenig später tauchte Neuseelands am
verbissensten geschützte Arche in ihrem ganzen finsteren Umfang aus
der glitzernden Dunkelheit vor uns auf: Codfish Island, einer der
letzten Zufluchtsorte für viele Vögel, die man sonst fast nirgendwo
auf der Welt mehr vorfindet. Genau wie Barrier Island war die Insel
erbarmungslos von allem gesäubert worden, was ursprünglich nicht
dort gewesen war. Sogar der flugunfähige Weka, ein fieser,
aufrührerischer, entenähnlicher Vogel, der in anderen Gebieten
Neuseelands zu den Ureinwohnern zählt, war ausgerottet worden. Er
gehörte nicht zu den Ureinwohnern von Codfish Island und griff
Cooks Sturmschwalben an, die sehr wohl dazugehörten. Um die Insel
herum herrschen rauher Seegang und starke Strömungen, deswegen ist
es eher unwahrscheinlich, daß es eine Räuber-Ratte von der drei
Kilometer entfernten Stewart Island bis hierher schafft. Der
Verpflegungsnachschub für die auf der Insel Beschäftigten wird in
rattensicheren Räumen gelagert, in rattensichere Container verladen
und vor und nach dem Transfer eingehend untersucht. An allen
möglichen Bootsanlegestellen der Insel sind Giftköder ausgelegt. Es
sind ständig Leute in Bereitschaft, um loszurasen und jede
Ratteninvasion im Keim zu ersticken, falls in Inselnähe ein
Bootswrack auftaucht.
Der Hubschrauber setzte pladdernd
auf, und wir krabbelten, weit vornübergebeugt, mit einem schlechten
Gefühl unter den wirbelnden Rotorblättern nach draußen. Wir luden
schnell unser Gepäck aus und gingen den grasbewachsenen Hügel vor
der Wildhüterhütte hinunter, auf dem wir gelandet waren. Mark und
ich sahen uns kurz an und stellten fest, daß wir noch immer
vornübergebeugt gingen. Wir waren zwar nicht direkt Ratten, fühlten
uns aber genauso willkommen und schickten Stoßgebete gen Himmel,
daß diese Expedition nicht fürchterlich ins Auge gehen möge. Arab
stolzierte schweigend mit Boss, der jetzt einen festen Maulkorb
trug, hinter uns her. Obwohl die Spürhunde streng abgerichtet
werden, den von ihnen aufgespürten Kakapos nichts zu tun, spüren
sie sie manchmal doch ein bißchen zu enthusiastisch auf. Sogar mit
Maulkorb kann ein übereifriger Hund einen Vogel zu Boden stoßen und
verletzen.
Die Wildhüterhütte war ein Holzbau
mit einem großen Zimmer, das als Küche, Eßzimmer, Wohnzimmer und
Arbeitszimmer diente, und ein paar kleinen Schlafräumen. Es waren
schon zwei andere Feldforscher dort untergebracht, einer, der den
exzentrischen Namen Phred trug oder zumindest so buchstabierte und
sich als Dobbys und Mikes Sohn entpuppte, und ein zweiter namens
Trevor. Sie begrüßten uns schweigend, ohne jede Begeisterung, und
störten uns nicht weiter beim Auspacken.
Als man uns kurz darauf mitteilte,
das Essen sei fertig, hielten wir den Moment für gekommen, einen
ernsthaften Versuch zur Verbesserung unseres Ansehens in der Runde
zu unternehmen. Ganz offensichtlich hatten unsere Gastgeber keinen
Bedarf an Medien-Schickis, die über ihre Insel wüteten und die
Vögel mit ihren Videokameras und Filofaxes verschreckten, und
hatten sich auch durch die Tatsache, daß wir nichts weiter als
einen zierlichen Walkman bei uns hatten, uns sehr bescheiden und
wohlerzogen aufführten und nicht ständig versuchten, bei ihnen Gin
Tonic zu bestellen, nur geringfügig beschwichtigen lassen. Der
Umstand, daß wir statt dessen selbst etwas Bier und Whisky
mitgebracht hatten, machte alles ein bißchen
einfacher.
Ich war auf einmal richtig gut
gelaunt. Wirklich wesentlich besser gelaunt, als ich es während
unseres gesamten bisherigen Aufenthaltes in Neuseeland gewesen war.
Die Neuseeländer sind grundsätzlich schrecklich nett. Alle, die wir
bis dahin kennengelernt hatten, waren schrecklich nett zu uns
gewesen. Schrecklich nett und zuvorkommend. Jetzt merkte ich, daß
mich all diese unbarmherzige Nettigkeit und Herzlichkeil, der wir
ausgesetzt gewesen waren, ganz schön mitgenommen hatte. Die
neuseeländische Herzlichkeit raubt einem nicht nur jede Möglichkeit
zur Gegenwehr, sondern auch den letzten Nerv, und ich war
mittlerweile soweit, daß ich die nächste Person, die mir nett und
herzlich gekommen wäre, verprügelt hätte. Jetzt lagen die Dinge
aber plötzlich ganz anders, und wir waren gefordert. Ich mußte
diese mürrischen Figuren ums Verrecken dazu bringen, uns zu
mögen.
Über unserem aus Dosenschinken,
Pellkartoffeln und Bier bestehenden Abendessen starteten wir zu
einem umfassenden konversationellen Erstschlag, erzählten ihnen
alles über unser Projekt und warum wir es durchführten, wo wir
bisher gewesen waren, welche Tiere wir gesehen und welche wir
vergeblich gesucht hatten, wen wir kennengelernt hatten, warum wir
so scharf darauf waren, einen Kakapo zu sehen, wie sehr wir ihre
Unterstützung zu schätzen wüßten und wie gut wir ihre Vorbehalte
gegen unseren Aufenthalt hier verstehen könnten, um ihnen
anschließend intelligente und tiefschürfende Fragen zu stellen, die
ihre Arbeit, die Insel, die Vögel und Boss betrafen, und zum
Abschluß zu fragen, warum an dem Baum vor dem Haus ein toter
Pinguin hing.
Dieses Manöver sorgte offenbar für
etwas weniger dicke Luft. Unsere Gastgeber begriffen, daß sie uns
nur vom ununterbrochenen Reden abhalten konnten, indem sie selbst
etwas sagten. Der Pinguin war, wie uns Phred erklärte, Tradition.
Jeden 28. Februar würden sie einen toten Pinguin an den Baum
hängen. Es sei eine Tradition, die sie erst an diesem Tag
eingeführt hätten und die sie vermutlich nicht aufrechterhalten
würden, aber im Augenblick halte sie wenigstens die Fliegen von dem
Pinguin fern.
Das hörte sich nach einer
unübertrefflich exzellenten Erklärung an. Wir stießen gemeinsam mit
einem weiteren Bier auf sie an, und endlich begann sich alles ein
bißchen beschwingter zu entwickeln. In rundherum entspannter
Stimmung brachen wir mit Arab und Boss in den Wald auf, um zu
versuchen, wenigstens einen jener Vögel zu finden, derentwegen wir
zwölftausend Meilen weit gereist waren.
Der Wald war gammlig. Was heißen
soll, daß er so feucht war, daß jeder umgestürzte Baum, über den
wir klettern mußten, unter unseren Füßen zersplitterte und daß alle
Äste, an denen wir uns festhielten, wenn wir keinen Stand mehr
fanden, in unseren Händen abbrachen. Wir rutschten und schlitterten
geräuschvoll durch den Matsch und das durchweichte Unterholz,
während Arab uns mühelos und nur dank seiner blaukarierten Jacke
zwischen den Bäumen erkennbar vorausstolzierte. Boss bewegte sich
in einer chaotischen Umlaufbahn um ihn herum und war, außer als
gelegentlich durch das Unterholz aufblitzender schwarzer Schatten,
so gut wie nie zu sehen.
Dafür war er aber jederzeit zu hören.
Arab hatte eine kleine Glocke an seinem Halsband befestigt, die so
hell durch die klare feuchte Luft bimmelte, als albere ein
unsichtbarer, geistesgestörter Nikolaus durch den Wald. Dank der
Glocke war Arab ständig im Bild darüber, wo Boss herumschnüffelte
und was er gerade veranstaltete. Ein aufgeregtes, von Stille
gefolgtes Dauerbimmeln konnte darauf hindeuten, daß er einen Kakapo
gefunden hatte und ihn nun in Schach hielt. Jedesmal, wenn die
Glocke verstummte, hielten wir den Atem an, aber jedesmal hob das
Geklingel wieder an, wenn Boss einen neuen Weg fand, auf dem er
durch das Unterholz schnüffeln konnte. Hin und wieder bimmelte die
Glocke lauter und deutlicher, und Arab rief Boss mit einem kurzen
Befehl zu sich zurück. Daraufhin entstand dann eine kurze
Unterbrechung, die Mark, Gaynor und ich in einem Fall nutzen
konnten, um zu den beiden aufzuschließen.
Wir kamen atemlos und naß aus dem
Wald auf eine kleine Lichtung getaumelt, wo wir Arab neben Boss
hocken und ein kleines Moospolster in den Hohlraum der Glocke
drücken sahen, um den Klang etwas zu dämpfen. Er schielte mit
seinem trägen, schüchternen Grinsen hoch und erklärte uns, die
Glocke dürfe nicht zu laut sein, weil sie die Kakapos sonst nur
verscheuchen würde – falls überhaupt welche in diesem Gebiet
seien.
Ob er glaube, daß welche in der Nähe
seien, fragte Mark. »Oh, in der Nähe sind sie ganz bestimmt«, sagte
Arab und fuhr sich mit den Fingern durch den klatschnassen Bart, um
sie vom Matsch zu säubern, »zumindest waren sie heute hier in der
Gegend. Gibt eine Menge Fährten. Boss wittert zwar dauernd
irgendwas, aber die Witterungen verlieren sich. Hier hat's bis vor
kurzem eine Menge Kakapo-Aktivität gegeben, aber eben nur bis vor
kurzem. Trotzdem ist er sehr aufgeregt. Er weiß mit Sicherheit, daß
sie hier irgendwo in der Nähe sind.«
Er spielte eine Zeitlang mit Boss
herum und erklärte uns dann, es gebe ernstzunehmende Probleme,
Hunde auf das Aufspüren von Kakapos abzurichten, weil die Kakapos,
auf die man sie abrichten könne, leider sehr knapp seien.
Letztlich, sagte er, laufe es darauf hinaus, die Hunde darauf
abzurichten, nichts anderes aufzuspüren. Das Abrichten sei ein
langer, anstrengender und für den Hund äußerst frustrierender
Ausmerzungsprozeß.
Mit einem letzten Klaps ließ er Boss
wieder frei, der zurück in den Busch sprang, um weiter nach Spuren
des einzigen Vogels zu schnüffeln und zu stöbern, auf dessen
Nichtverfolgung er nicht abgerichtet worden war. Binnen weniger
Sekunden war er verschwunden, und das gedämpfte Glockengebimmel
verhallte in der Ferne.
Eine Zeitlang folgten wir einem Pfad,
der es uns für den Moment erlaubte, mit Arab Schritt zu halten,
während er uns einiges über andere Hunde erzählte, die er als
Jagdhunde abgerichtet hatte, um die Insel von Räubern zu befreien.
Einen der Hunde hatte er besonders ins Herz geschlossen, nämlich
ihren Spitzenjagdhund, einen unbarmherzigen Killer. Sie hatten ihn
vor ein paar Jahren bis nach Round Island in der Nähe von Mauritius
mitgenommen, um ihn bei einem großangelegten Programm zur
Beseitigung von Hasen einzusetzen. Wie sich kurz nach der Ankunft
unglücklicherweise herausstellte, hatte der Hund panische Angst vor
Hasen und mußte wieder nach Hause gebracht werden.
Arab meinte, er habe den Großteil
seines bisherigen Lebens auf Inseln zugebracht, und das war kein
Zufall: Wegen der Anfälligkeit der ökologischen Systeme von Inseln
sind zahlreiche auf Inseln lebende Arten gefährdet, und Inseln
dienen zudem häufig als letzter Zufluchtsort für Tiere vom
Festland. Arab hatte viele der fünfundzwanzig Kakapos, die auf
Stewart Island gelebt hatten, selbst eingefangen und in
schalldichten Boxen im Hubschrauber hierher, nach Codfish Island,
geflogen. Um den Vögeln die Wiederanpassung zu erleichtern, bemühte
man sich grundsätzlich, sie in einem Gelände auszusetzen, das mit
dem Fanggelände weitgehend vergleichbar war. Trotzdem war schwer zu
sagen, wie viele der Vögel sich anpaßten oder wie viele hier
überlebten.
Der Tag verstrich, und die Schatten
wurden länger. Besonders aufregend war, daß wir einige Kakapo-Ködel
fanden, die wir aufsammelten und zwischen den Fingern zerbröselten
und ungefähr so beschnupperten wie ein Weinkenner das Bouquet eines
lieblichen Chardonnay von der neuseeländischen North Island. Sie
duften lieblich, sauber und nach Kräutern. Beinahe genauso
aufregend fanden wir ein paar Farne, auf denen ein Kakapo
herumgekaut hatte. Sie knapsen den Farn ab und ziehen ihn dann
durch ihren kräftigen Schnabel, so daß am Ende nur ein ordentlicher
Ball aus aufgewickelten Fasern zurückbleibt.
Bedeutend weniger aufregend war die
Erkenntnis, daß dieser Tag mit Sicherheit ohne Kakapo zu Ende gehen
würde. Als der Abend hereinbrach und es leicht zu regnen begann,
kehrten wir um und machten uns auf den mühseligen Rückmarsch durch
den Wald. Wir verbrachten den Abend in der Hütte, freundeten uns
mit der Whiskyflasche an und protzten mit unseren
Kameras.
Gegen Ende des Abends erwähnte Arab
dann, er habe eigentlich gar nicht ernsthaft damit gerechnet, heute
überhaupt einen Kakapo zu finden. Sie sind nachtaktive Vögel und
deshalb tagsüber schwer aufzutreiben. Um irgendeine Aussicht auf
Erfolg zu haben, müsse man sich auf die Suche machen, wenn gerade
genug Tageslicht vorhanden sei, um das Vieh zu erkennen, die Spuren
auf dem Boden jedoch noch frisch seien. Man müsse so gegen fünf
oder sechs Uhr morgens aufbrechen und nach ihnen suchen. Ob uns das
recht sei? Er stand auf und schleifte seinen Bart zu
Bett.
Fünf Uhr morgens ist die
schrecklichste aller Tageszeiten, besonders wenn der eigene Körper
noch verzweifelt damit beschäftigt ist, sich aus seiner
Verhedderung mit einer halben Flasche Whisky zu befreien. Wir
schleppten uns kalt, mit steifem Hals und Ganzkörperschmerzen aus
unseren Kojen. Das Maschinengewehrfeuer aus dem Hauptzimmer
entpuppte sich als brutzelnder Schinken, und damit versuchten wir
uns wiederzubeleben, während das graue Morgenlicht draußen
abscheulich durch den Himmel zu sickern begann. Ich habe nie
verstanden, weshalb die meisten Leute soviel Aufhebens um die
Morgendämmerung machen. Ich habe ein paar erlebt, und die waren nie
so schön wie die auf den Fotos, deren zusätzlicher Vorteil darin
liegt, daß man sie sich ansehen kann, wenn man in der richtigen
geistigen Verfassung ist, was in der Regel gegen Mittag der Fall
sein wird.
Nach einigem Herumgefummel an den
störrischen Stiefeln und Kameras stolperten wir schließlich gegen
halb sieben aus der Tür und wankten wieder in den Wald. Mark begann
sofort, mir irrsinnig seltene Vögel zu zeigen, und ich sagte ihm,
er solle das gefälligst einer Parkuhr erzählen. Ein toller Auftakt
für einen erbarmungslos ornithologisch ausgerichteten Tag. Gaynor
bat mich, während unseres Marsches in den Wald die Umgebung zu
beschreiben, und ich teilte ihr mit, wenn sie mir noch ein einziges
Mal mit ihrem Mikrofon unter der Nase herumstochere, werde es
höchstwahrscheinlich mit meinem Mageninhalt Bekanntschaft machen
müssen. Ich fand mich kurz darauf allein wandernd
wieder.
Nach einiger Zeit mußte ich mir
eingestehen, daß der Wald so übel nicht war. Er war kalt, naß und
rutschig und versuchte ständig, mir mit irgendwelchen widerlich
verdrehten Wurzeln oder ähnlichem die Schienbeine aus dem Knie zu
kurbeln, hatte aber trotzdem eine irgendwie funkelnde Klasse, die
auch unter meinen finstersten Blicken nicht weichen wollte. Ron
Tindal begleitete uns diesmal und bahnte sich gerade auf seine
erschreckend robuste schottische Art einen Weg durch das Unterholz,
aber sogar das verursachte mir nach einer Weile keine Kopfschmerzen
mehr, da all dieses Glitzern mich langsam, aber auf sehr wohltuende
Art zu verzaubern begann. Vor uns, nur flüchtig durch die nebligen
Bäume aufblitzend, bewegte sich die blaukarierte Windjacke wie ein
Gespenst und folgte dem eifrigen Klingeln von Boss'
Glocke.
Nachdem wir uns lange Zeit
vorangeschleppt hatten, schlossen wir zu Arab auf, der auf einem
schmalen Pfad angehalten hatte und nun im durchweichten Gras
hockte.
»Das ist ein ziemlich frischer
Ködel«, sagte er und hielt uns eine dunkle, marmorierte Perle zur
Untersuchung hin. »Das Weiße hier ist Harnsäure, und die ist noch
nicht vom Regen abgewaschen oder von der Sonne getrocknet worden.
Sie verschwindet nach ungefähr einem Tag, also stammt das hier
hundertprozentig von letzter Nacht. Da wir gestern an genau dieser
Stelle waren, müssen wir ihn haarscharf verpaßt
haben.«
Na toll, dachte ich. Wir hätten also
gestern abend etwas länger hier draußen und heute morgen wesentlich
länger im Bett bleiben sollen. Da jetzt jedoch die frühe
Morgensonne durch die Bäume zu schimmern begann und dort, wo sie
auf den Blättern zierliche Perlenketten aus Tautropfen zum Glitzern
brachte, jede Menge zerbrechliche Schönheit hervorzauberte, kam ich
zu dem Schluß, daß unser morgendlicher Ausflug nicht nur schlechte
Seiten hatte. Um mich herum war wirklich ein solches Glitzern und
Glimmen und Gleißen und Glänzen, daß ich darüber nachzudenken
begann, weshalb so viele Wörter, die das beschreiben, was die Sonne
am Morgen bewirkt, mit »Gl« beginnen, und dies dann auch Mark
wissen ließ, der mir sagte, ich solle das gefälligst einer Parkuhr
erzählen.
Von diesem kleinen Wortwechsel
aufgeheitert, gingen wir weiter. Wir waren noch keine fünf Meter
weit gekommen, als Arab, der bereits fünfzehn zurückgelegt hatte,
erneut anhielt. Er hockte sich noch einmal hin und deutete auf ein
paar undeutliche Buddelspuren am Boden. »Das ist ganz frisch
ausgehoben. Wahrscheinlich letzte Nacht. Hat nach der
Orchideenknolle hier gebuddelt. Man kann sogar noch die
Schnabelabdrücke erkennen.« Es wäre vielleicht der richtige Moment
gewesen, hinsichtlich des Ausgangs unserer Expedition ein bißchen
aufgeregt und optimistisch zu werden, aber als ich damit anfing,
bekam ich sofort Kopfschmerzen und ließ es gleich wieder bleiben.
Der blöde Vogel führte uns doch bloß an der Nase herum, und alles
würde wieder darauf hinauslaufen, daß wir einen trübsinnigen Abend
in der Hütte verbringen, unsere Objektive putzen und versuchen
würden, das Ganze auf die leichte Schulter zu nehmen. Wenigstens
wäre aber diesmal kein Whisky mehr da, weil wir ihn ausgetrunken
hatten, also wären wir beim Verlassen von Codfish Island am
nächsten Morgen nüchtern genug, um uns eingestehen zu können, daß
wir zwölftausend Meilen weit geflogen waren, um einen Vogel zu
treffen, der nicht zu dem Treffen erschienen war, und uns nichts
anderes übrigblieb, als die zwölftausend Meilen zurückzufliegen und
zu versuchen, irgendwas über ihn zu schreiben. Ich muß in meinem
Leben schon Blödsinnigeres getan haben, weiß aber leider nicht,
wann. Beim nächstenmal hielt Arab wegen einer Feder an. »Das ist
eine ausgefallene Kakapo-Feder«, sagte er, während er sie sanft vom
Rand eines Busches pflückte. »Der eher gelben Färbung nach zu
urteilen, höchstwahrscheinlich aus der Brustgegend.« »Ganz schön
flaumig, oder?« sagte Mark, nahm sie und zwirbelte sie im nebligen
Sonnenlicht zwischen seinen Fingern. »Glaubst du, daß sie erst vor
kurzem ausgefallen ist?« fügte er hoffnungsvoll hinzu.
»O ja, die ist ganz bestimmt frisch«,
sagte Arab. »Also waren wir bisher noch nie so nah...?« Arab zuckte
die Achseln. »Ja, sieht so aus«, sagte er. »Muß aber nicht heißen,
daß wir einen finden. Man kann praktisch auf einem draufstehen und
ihn trotzdem übersehen. Alles deutet darauf hin, daß hier am frühen
Abend ein Kakapo ziemlich aktiv war, kurz nachdem wir gegangen
sind. Was bedeutet, daß wir ziemlich schlechte Karten haben, weil
es heute nacht geregnet hat und die Fährten zum Teil verwaschen
sind. Es gibt hier jede Menge Fährten, nur leider keine
eindeutigen. Wer weiß, vielleicht haben wir Glück.« Wir schleppten
uns weiter. Mag sein, daß es jetzt kein Schleppen mehr war. Mag
sein, daß unsere Schritte vorübergehend etwas schwungvoller waren,
aber als eine halbe Stunde und dann eine Stunde verstrich und die
Sonne allmählich höher in den Himmel kletterte, wurde Arab wieder
einmal zu einem weit, weit vor uns durch die Bäume schwebenden
Gespenst, bis wir ihn schließlich ganz aus den Augen verloren.
Schlagartig wich der Schwung aus unseren Schritten. Wir stolperten
weiter, geführt von den schwachen Geräuschen von Boss' Glocke, die
uns noch immer von der leichten Brise zugeweht wurden, aber dann
hörte auch das auf, und wir hatten uns verirrt.
Ron war uns, mit nach wie vor
lärmender schottischer Begeisterung, ein Stück vorausgehüpft,
geriet jetzt jedoch genau wie wir ins Schwimmen, was den richtigen
Weg betraf. Wir kletterten über eine dicht mit Farnen und
Baumstumpfen bedeckte Böschung, die zu einer breiten, flachen Senke
hinunterführte, in der Ron stand und sich perplex umschaute. Beim
Versuch, den matschigen, in die Senke führenden Abhang zu meistern,
verlor Gaynor den Halt und rutschte elegant auf dem Hintern nach
unten. Ich verfing mich mit meinem Kamerariemen in dem weit und
breit einzigen Ast, der nicht bei der leichtesten Berührung
abbrach. Mark blieb stehen, um mir beim Entheddern zu helfen. Ron,
der wieder mit der Schottenhüpferei angefangen hatte, hoppelte den
gegenüberliegenden Abhang hinauf und rief nach Arab.
»Können Sie ihn sehen?« rief
Mark.
Mir kam plötzlich eine Idee. Wir
hatten uns verirrt, weil Boss' Glocke zu klingen aufgehört hatte.
Da Mark offenbar genauso urplötzlich dieselbe Idee gekommen war,
platzten wir beide gleichzeitig los. »Haben sie einen Kakapo
gefunden?«
Ein Ruf ertönte.
Gaynor drehte sich zu uns um und
schrie: »Sie haben einen Kakapo!«
Urplötzlich fingen wir alle mit der
Schottenhüpferei an.
Mit viel Geschrei und Hallo
kletterten und schlitterten wir hektisch über den Boden der Senke,
zerrten uns auf der anderen Seite nach oben und rutschten hinunter
in die nächste Senke, an deren gegenüberliegender Seite, auf einer
moosbewachsenen Böschung vor einem steilen Abhang, sich ein äußerst
eigentümliches Gruppenbild bot.
Es dauerte einen Augenblick, bis ich
herausgefunden hatte, womit die Szene Ähnlichkeit hatte, und als es
mir klar wurde, blieb ich kurz stehen und näherte mich dann
wesentlich behutsamer.
Es war wie ein
Marienbildnis.
Arab saß im Schneidersitz auf der
moosbewachsenen Böschung, und sein langer, nasser, graumelierter
Bart floß ihm in den Schoß. Und in seine Arme gebettet lag, sanft
in seinen Bart geschmiegt, ein großer, dicker, verdreckter, grüner
Papagei. In stiller Bereitschaft stand Boss neben ihnen und
betrachtete sie aufmerksam mit schiefgelegtem Kopf.
Angemessen schweigsam gingen wir zu
ihnen hinauf. Aus Marks Kehle drangen leise
Grunzlaute.
Der Vogel war sehr ruhig und sehr
reglos. Er schien nicht beunruhigt zu sein, schien aber
genausowenig zu wissen, was vor sich ging. Der Blick aus seinen
großen, schwarzen, ausdruckslosen Augen verlor sich irgendwo in der
Ferne. In seinem Schnabel hielt er, zart, aber bestimmt, Arabs
rechten Zeigefinger, von dem Blut heruntertröpfelte, und das schien
eine sehr beruhigende Wirkung auf den Vogel zu haben. Arab
versuchte behutsam, ihn wegzuziehen, aber dem Kakapo gefiel der
Finger, und Arab ließ ihn schließlich, wo er war. An Arabs Hand
tröpfelte noch ein bißchen mehr Blut herab und vermischte sich mit
dem Regenwasser, von dem sowieso schon alles durchtränkt
war.
Mark murmelte zu meiner Rechten,
welche Ehre es sei, von einem Kakapo gebissen zu werden, was ein
für mich kaum nachzuvollziehender Standpunkt war, aber ich hielt
den Mund.
Wir fragten Arab, wo er ihn gefunden
habe.
»Der Hund hat ihn gefunden«, sagte
er. »Ich vermute mal. so ungefähr zehn Meter diesen Hügel rauf,
unter dem umgeknickten Baum da. Und als der Hund zu nah rankam, hat
unser Freund das Weite gesucht und ist bis hierher runtergelaufen,
wo ich ihn eingefangen habe. Er ist aber in guter Verfassung. An
seiner schwammigen Brust kann man sehen, daß er dieses Jahr kurz
vor dem Balzen steht. Das ist sehr erfreulich. Es bedeutet, daß er
sich nach der Umsiedlung gut eingelebt hat.«
Der Kakapo rutschte ein Stück in
Arabs Schoß herum und drückte sein Gesicht tiefer in den Bart. Arab
strich ihm sehr sanft über die klammen, gesträubten
Federn.
»Er ist ein bißchen nervös«, sagte
er. »Wahrscheinlich wegen der Geräusche. So verdreckt sieht er nur
aus, weil er naß ist. Er hat wohl an einem trockenen Plätzchen
gesessen, als Boss ihn gewittert hat, und ist wahrscheinlich vom
Geräusch der Glocke oder dem zu nah herankommenden Hund verscheucht
worden und den Hügel runtergerannt und wollte nicht mal aufhören zu
laufen, als ich ihn längst hatte. Er hält mich nur ein bißchen
fest, mehr nicht. Wenn er den Druck erhöhen wollte...« Er zuckte
die Achseln. Der Kakapo hatte unverkennbar einen sehr kraftvollen
Schnabel. Es sah aus, als habe man ihm einen großen, mit Horn
gepanzerten Dosenöffner ins Gesicht geschweißt.
»Er ist absolut nicht so entspannt
wie viele andere Vögel«, murmelte Arab. »Eine Menge Vögel sind
wirklich entspannt, wenn man sie in der Hand hält. Ich möchte ihn
nur nicht zu lange festhalten, weil er naß ist und fürchterlich
frieren wird, wenn das Wasser bis auf die Haut dringt. Ich lasse
ihn jetzt besser wieder frei.«
Wir traten zurück. Vorsichtig beugte
sich Arab mit dem Vogel vor, der seine großen, kräftigen Krallen
ausstreckte und schon nach dem Boden scharrte, bevor er überhaupt
unten war. Zuletzt ließ er Arabs Finger los, stabilisierte seine
Lage auf dem Boden, senkte den Kopf und machte sich dann mit
kleinen Schritten davon.
Überglücklich verputzten wir am Abend
in der Wildhüterhütte die verbliebenen Biere und vertieften uns in
die Aufzeichnungen über sämtliche Kakapos, die nach Codfish Island
verlegt worden waren.
Arab hatte sich die am Bein des
Vogels befestigte Kenn-Nummer notiert – 8-44263. Er hieß Ralph. Er
war vor fast genau einem Jahr von Pegasus Harbour, Stewart Island,
nach Codfish umgesiedelt worden.
»Das sind gute Neuigkeiten«, sagte
Ron. »Das sind wirklich sehr, sehr gute Neuigkeiten. Wenn dieser
Kakapo schon ein Jahr nach seiner Umsiedlung wieder mit dem
Schreien und Balzen beginnt, ist das der bisher deutlichste Hinweis
darauf, daß unser Umsiedlungsprojekt funktioniert. Ihr wißt ja, daß
wir euch nicht hierhaben wollten und daß wir wegen des Risikos, sie
zu erschrecken, keine Kakapos aufspüren wollten, aber wie's
aussieht... Also, das ist eine sehr wertvolle Information und
wirklich sehr ermutigend.«
Ein paar Tage später stehen wir oben
auf Kakapo-Castle im Fjordland und erzählen Don Merton, daß wir
unser Verhalten für entschuldbar halten.
»O ja, das denke ich auch«, sagt er.
»Mag sein, daß Sie ein bißchen angeeckt und ein paar Leuten auf die
Füße getreten sind, aber dafür haben Sie ja auch wirklich etwas in
Bewegung gebracht. Die Pressekonferenz hat viel bewirkt, und soweit
ich gehört habe, steht die Entscheidung an, das
Kakapo-Schutzprogramm ganz oben auf die Dringlichkeitsliste des DOC
zu setzen, was wohl bedeutet, daß man uns mehr Mittel zur Verfügung
stellen wird. Ich hoffe nur, daß das alles nicht zu spät
kommt.
Unter den zur Zeit fünfundzwanzig
Kakapos auf Codfish sind nur fünf Weibchen, und genau das ist der
kritische Punkt. Wir wissen nur noch von einem auf Stewart Island
verbliebenen Kakapo, und der ist ein Männchen. Wir suchen weiter
nach Weibchen, bezweifeln aber, daß es noch welche gibt. Selbst
wenn man die vierzehn Vögel von der Barrier Island berücksichtigt,
sind insgesamt nur noch vierzig Kakapos übrig.
Und es ist so schwierig, diese
Mistkerle zur Fortpflanzung zu bewegen. Früher haben sie sich so
langsam vermehrt, weil es der einzige Weg war, den Bestand auf dem
gleichen Niveau zu halten. Wenn ein Tierbestand so schnell zunimmt,
daß die Ernährungs-und Versorgungskapazitäten des Lebensraumes
überstiegen werden, stürzt der Bestand wieder in sich zusammen,
nimmt dann wieder zu, wieder ab und so weiter. Wenn eine Population
zu heftig schwankt, ist nicht mal eine besondere Katastrophe nötig,
um die Art zu gefährden. Die eigentümlichen Paarungsgewohnheiten
des Kakapo sind, wie so vieles andere,
Überlebenstechniken.
Die aber nur funktioniert haben, weil
es keine Konkurrenz von außen gab. Jetzt, wo sie von Räubern
umgeben sind, kann man kaum etwas für ihr Überleben tun, abgesehen
von unserem unmittelbaren Eingreifen. Solange wir noch eingreifen
können.«
Das erinnert mich wieder an den
Vergleich mit der Motorradindustrie, den ich taktvollerweise für
mich behalten hatte. Motorradkonstrukteuren stehen Heilmittel zur
Verfügung, die Zoologen nicht besitzen. Als ich Don während unseres
vorsichtigen Rückzuges über den Kamm zum Hubschrauber frage, wie er
die langfristigen Aussichten für die Kakapos nun wirklich
einschätzt, ist seine Antwort überraschend sachlich.
»Na ja«, sagt er mit seinem ruhigen,
höflichen Tonfall, »alles ist möglich, und wenn man die
Gentechnologie bedenkt – wer weiß. Falls wir sie erhalten können,
solange wir leben, ist es an der nächsten Generation, sich der
Vögel mit den dann zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln, Techniken
und wissenschaftlichen Methoden anzunehmen. Wir können nicht mehr
tun, als ihren Fortbestand zu unseren Lebzeiten sichern, sie
unserer Nachfolgegeneration in möglichst gutem Zustand übergeben
und auf Teufel komm raus hoffen, daß sie so ähnlich über diese
Vögel denkt wie wir.«
Ein paar Minuten später steigt unser
Hubschrauber über Kakapo-Castle auf, senkt die Nase und macht sich,
eine kleine gekratzte Vertiefung und eine einzelne, schon etwas
ältere Süßkartoffel hinter sich zurücklassend, auf den Rückweg zum
Milford-Sound.