19
Wer auch immer Tartarus erbaut hatte, hatte es den Angreifern leicht gemacht, an den Schlüssel zu gelangen. Und zwar mit Absicht, dachte Sam. Alles, was man tun musste, war, die Stadt dem Erdboden gleichzumachen, ein paar tausend Soldaten zu opfern und in dem Durcheinander durch die Hintertür zu schlüpfen. Chronos musste gewusst haben, dass Tartarus einen Weltenwandler nicht aufhalten würde. Er musste damit gerechnet haben.
Sam schlich leise die langen, dunklen Gänge entlang, die nur gelegentlich von einer flackernden Fackel erhellt wurden. Hier und da hielt er inne und öffnete im Vorbeigehen eine Tür. Ein paar von den weißen Gestalten lagen auf dem Boden. Mattrotes Blut sickerte aus zahlreichen Wunden, doch sie waren nicht tot. Sie regenerierten sich nur wie Weltenwandler. Anders als Weltenwandler, schien es, konnten sie auch Verletzungen heilen, die von verzauberten Klingen hervorgerufen wurden. Es kostete sie jedoch sehr viel Zeit.
Es gab noch andere Körper dort. Einige tote Ashen'ia und ein paar Dämonen. Offenbar hatte Seth Truppen in die Gänge geschickt, bevor er selbst gewagt hatte einzutreten; Kanonenfutter für seinen sicheren Weg. Bei dem Gedanken, dass einer seiner Brüder so etwas tun konnte, spürte Sam Galle und Scham in sich aufsteigen. Je tiefer er hinabstieg, desto zahlreicher wurden die Leichen, bis der ganze Ort nach Tod stank. Seth hatte Tausende geopfert, um an diesen Punkt zu gelangen, und es schien ihn nicht zu kümmern. Sam ging weiter, versuchte, seine Sinne gegen das Bombardement von Anblicken,
Gerüchen und Lauten ringsum abzuschirmen. Und gegen die Dunkelheit.
Eine kleine, eher unscheinbare Tür lag vor ihm. Er trat hindurch. Ab hier wurden die Tunnel komplizierter, verzweigten und teilten sich, drehten und wanden sich wie in einem Irrgarten. Bei jeder Abzweigung, an die er, kam, wählte er den dunkelsten, am übelsten stinkenden Gang und folgte ihm hinab, mit halb geschlossen Augen, um nicht sehen zu müssen, was sein Bruder getan hatte.
Er wusste nicht, wie lange er durch die Tunnel ging, die mit jeder Biegung kleiner und enger und klaustrophobischer zu werden schienen, bis die Wände seine Schultern berührten und ihm den Atem auszusaugen schienen, als er sich zwischen ihnen hindurchquetschte. Aber er ging weiter. Das Blut pochte in seinem Kopf. Keine Panik, nur keine Panik, ruhig bleiben, o Zeit bewahre, ich will ruhig bleiben...
»Im Frühtau zu Berge wir gehn, fallera«, sang er leise, im Flüsterton. Das ist es. Musik, ganz ruhig, konzentrier dich aufs Singen. »Es grünen die Wälder, die Höh'n, fallera.« Atme, ruhig, ganz entspannt, konzentrier dich. »Wir sind hinausgegangen, den Sonnenschein zu fangen ...«
Eine Tür voraus. Er stieß sie auf. Helles Licht flutete herein. Viele Fackeln brannten mit blasser, kalter Flamme. Bannzauber an einer schweren Tür waren zerfetzt worden, doch Sam konnte in ihrem Nachglühen sehen, dass sie von jeher schwach und blass gewesen waren. Kein ernsthaftes Hindernis für einen Weltenwandler.
Und auf einem Podest in einem Teich stillen Wassers ein einzelner kleiner Messingschlüssel, grün vom Alter. Seth beugte sich darüber, streckte begierig den Arm aus.
»Seth«, sagte Sam sehr leise.
Seth blickte auf und hob die Brauen. »Oh. Du lebst«, sagte er. Es klang nicht sehr interessiert. »Ist Jehova tot?«
»Außer Gefecht. Fürs Erste. Das ist also der Schlüssel.«
»Ja. Sieht nicht sehr eindrucksvoll aus. Aber die kleinsten Dinge sind gewöhnlich die wichtigen.«
»Ist dir noch nicht der Gedanke gekommen, dass er ein bisschen leicht zu finden war für so ein kleines Ding?«, fragte Sam und trat langsam um den Teich herum. Seth wich ihm auf der anderen Seite mit gleicher Behutsamkeit aus. Seine schlauen kleinen Augen funkelten. Seine Waffe war ein Krummschwert, und Sam wusste, dass er irgendwo am Körper auch ein winziges, blitzblankes Stilett verborgen trug. Darüber hinaus hatte er die Frechheit, seine Krone zu tragen. Ein protziges Goldding mit spitzen Zacken. Meine hatte nie Zacken, dachte Sam bitter. Aber ich bin ja auch der Bastardsohn...
»Ich schätze, niemand hat damit gerechnet, dass ich so weit kommen würde«, antwortete Seth hochmütig. »Ich gebe zu, die Ashen'ia waren eine Überraschung, aber meine Armee wird mit ihnen fertig. Ich habe gedacht, Thor würde dich Zeit kosten, aber ich habe mich nie der Illusion hingegeben, dass er dich stoppen könnte. Du würdest dich nicht durch etwas so Einfaches wie eine Höhere Macht im Körper eines Weltenwandlers aufhalten lassen. Du hast viel zu lange gelernt, wie man kämpft.«
»Du bist ein arroganter Schweinehund«, murmelte Sam. »Aber ich versuche es trotzdem. Warum, weiß Chronos allein. Und wenn nicht er, wer sonst?« Er holte tief Luft. »Du solltest den Schlüssel Finden. Damit jemand, dem Uranos vertraut, die Tür zu seinem Gefängnis aufschließt.«
»Entschuldige, wenn ich nicht völlig überzeugt bin«, sagte Seth in seinem blasiertesten Tonfall.
»Oh, du bist wirklich ein Idiot Unser Vater will, dass Uranos freikommt, nur damit ich ihn töten kann.«
»Kannst du das?«, fragte Seth milde. »Oder sollte ich sagen, willst du das? Vielleicht hätte ich das vorher fragen sollen.
Willst du dein Leben auf einen bloßen Verdacht hin wegwerfen, indem du versuchst, eine Macht aufzuhalten, deren Wesen du nicht einmal ansatzweise begreifen kannst?«
»Du meinst, ob ich mein Leben kämpfend wegwerfen oder lieber bibbernd warten will, bis es verlischt? Eine dumme Frage. Aber wie dem auch sei, ich habe da keine Wahl. Ich bin nur ein Teil des Plans.«
»Dann sollte ich besser sichergehen, dass ich dich vorher töte, oder? Das sollte den großen Plan etwas ins Schleudern bringen.«
»Ich weiß nicht, warum ich mir die Mühe mache«, murmelte Sam, wobei er versuchte, ganz ruhig zu bleiben, auch wenn seine Befürchtung wuchs. »Dieser Schlüssel wurde mit Absicht dort platziert! Ihr alle seid nur Figuren in einem Spiel, Opfer für den Feind, genau wie ich.«
»Wir sind keine Opfer«, berichtigte Seth rasch. »Die unter meinem Banner sterben, sterben kämpfend für eine Sache, an die sie glauben. Kein Leid mehr. Kein Tod. Kein Schicksal. Du bist nur eine Puppe, ohne ein wirkliches Ziel, zu schwach, um deine eigenen Schlachten zu schlagen, und leicht dazu zu bringen, für andere die Kastanien aus dem Feuer zu holen.«
»Das scheint ein wirklich beschissenes Zeitalter zu werden, nicht wahr?«
»Schade, dass du dich nicht auf unsere Seite geschlagen hast«, murmelte Seth aus seiner eigenen kleinen Welt. »Du hättest Freiheit gefunden.«
»Ich dachte immer nur, ich hätte einen schlechten Tag erwischt«, fuhr Sam in demselben Plauderton fort, »doch jedes Mal, wenn irgendwas passiert, werde ich nachdenklicher. Und nach einer Menge Nachdenken bin ich zu dem Schluss gekommen, dass schon die Erschaffung der Planeten nicht die allerbeste Idee war.« Er bedachte Sam mit einem schiefen Lächeln. »Und ich hätte keine Freiheit gefunden. Aus tausend Gründen, für deren Erklärung ein französischer Philosoph mehrere
Stunden und eine besonders gute Flasche Wein brauchte, hätte ich keine Freiheit gefunden. Ich glaube nicht, dass ich sie je finden werde. Die interessantere Frage ist, wie man mit der Gefangenschaft zurechtkommt.«
Ein triumphierendes Grinsen erhellte Seths Gesicht. »Ah. So bist du schließlich doch deines Vaters Kind.« »Und du nicht?«
»Ich habe die Freiheit gefunden.«
»Und auf dein Grab wird man schreiben, dass du frei und glücklich gestorben bist. Ganz sicher.« »Ob man mir ein Denkmal setzen wird?« »Ich kriege bestimmt keins«, meinte Sam leichthin. »Sie sollten mir eins setzen. Ich habe versucht, die Dinge zu ändern. Wir haben alle so viel Angst vor Veränderung. Das Universum der Zeit funktioniert gut, sagen wir. Warum sollten wir ein neues System ausprobieren wollen? Uranos ist nicht das Ende, weißt du. Er ist ein Neubeginn.«
»Ist das derselbe Uranos, der sich Thors bemächtigt hat und mich auf zwei Stellen zugleich verteilen wollte?«
Seth hörte ihm gar nicht zu. Seine Augen hatten das Glühen eines Wahnsinnigen. »Man hat uns immer gesagt, Uranos sei das Ende von allem, aber das stimmt nicht. Er ist das Ende von allem, wie wir es kennen. Ein Gefangener hat nach langer Zeit manchmal Angst, das Gefängnis zu verlassen, weil er nichts über die Welt draußen weiß. Nicht weiß, wie wunderbar sie sein kann. Das Gefängnis ist alles, was er kennt. Das Gefängnis ist alles, was er bis zu seinem Tode kennen will. Sobald er aus dem Gefängnis ist, wird er ein Verbrechen begehen, weil die Welt so groß und weit und voller Möglichkeiten ist, dass er sich nicht traut, ihr ins Auge zu blicken. Weil er Angst hat.«
»Hattest du eine glückliche Kindheit?«, fragte Sam unvermittelt. »Du hast da nämlich dieses nervöse Zucken im Augenwinkel ...«
»Warum setzt du das Licht nicht ein, Lucifer?« Sam sagte nichts. Das schien Seth aufzuheitern. »Ah. Du entgleitest bereits, ist es nicht so? Du erinnerst dich an Dinge, die dir nie widerfahren sind, fühlst Dinge, die du nie gefühlt hast, nennst dich mit Namen, die nicht die deinen sind, denkst Gedanken, die in einem anderen Geist geboren wurden. Du bist nur ein unbedeutender Funke in einem Feuer. Du bist ein Steinchen im Ozean. Und du weißt es besser als irgendwer sonst, denn du hast den Ozean gesehen. Du hast die große weite Welt gesehen, und wie der Gefangene hast du Angst.«
Sie standen ein paar Meter auseinander. »Seth«, sagte Sam, »ich glaube nicht, dass dies der Beginn einer wunderbaren Freundschaft ist.« Seths Grinsen wurde breiter. »Ich auch nicht.« Es war die alte Routine. Stoß, Parade, Hieb, Finte, Ducken, vorwärts und rückwärts hüpfen wie ein Moriskentänzer auf heißen Kohlen, nach einer Öffnung suchen, sich allein des regelmäßigen Rhythmus bewusst. Klack, klack, zisch, kratz, klack. Es gab keine Magie, keine Spezialeffekte, kein Wutgeschrei, kein Fluchen und kein Beten. Nur die endlose Monotonie, eins, zwei, eins, zwei.
Sam kämpfte ohne ein wirkliches Ziel und ohne wirkliche Leidenschaft. Er fühlte sich so müde, körperlich und geistig, dass er kaum etwas anderes wahrnahm als das Gewicht seiner Arme und das Kratzen seines Atems, der sich seinen Weg die Kehle hinab bahnte. Er wusste nicht, warum er sich überhaupt noch abmühte. Eins, zwei, Finte nach links, Hieb nach rechts, Klingenbindung, hoch, Parade in die Mitte, Drehung, Ausfall, Drehung, Stoß, eins, zwei. Er fühlte sich völlig losgelöst. Es war nicht er, der da focht, es war jemand anders. Es war nicht er am Rande des Todes, es war jemand anders. Es war nicht er, der für etwas tanzte, an das er nicht glaubte, mit einem Partner, der genauso gern mit Schlangen tanzte wie mit seinesgleichen. Er
hatte sein ganzes Leben lang getanzt, und seine Schritte setzten sich nun automatisch. Er fragte sich, ob er den Verstand verlor. Er fragte sich, ob es für einen Weltenwandler überhaupt möglich war, verrückt zu werden, oder ob ihre Gehirne durch einen sadistischen Zug des Schicksals so verdrahtet waren, dass sie nicht durchdrehen konnten. Er blickte auf Seth und dachte mit einem Seufzen, dass der Wahnsinn wahrscheinlich auch die Großen befallen konnte. Erfragte sich, ob er selbst wohl in diese Kategorie fiel.
Eins, zwei, Ausfall, Parade, Riposte. Diverse Grundbewegungen, die in England gelehrt, in Frankreich vervollkommnet, in Russland unterlaufen und in China erweitert worden waren. Hundert Grundbewegungen aus hundert verschiedenen Ländern wurden gegen Seth vorgebracht. Sam stellte sich vor, dass es ein eindrucksvoller Kampf war, von außen betrachtet. Doch innerhalb der Mauer aus scharfem Silber, die er für sich selbst geschaffen hatte, erschien dieser Kampf nur endlos und unsinnig. Eins, zwei, einundeinhalb, wenn man die Finte mitzählte, zwei, nur mithilfe eines hastigen Schritts nach hinten und eines Stoßes nach unten, um einen wohlgezielten Schlag von Seth mit der Klingenspitze abzufangen. Eins, zwei, niemals ein dritter Schritt, denn drei hieße, den Rhythmus zu brechen, und bedeutete, dass jemand anders den Gang bestimmte. Oder wenn es einen dritten Schritt gab, dann musste man einen vierten bereits vorbereitet haben, den Geist des Gegners kennen, ohne dessen Gedanken zu lesen. Eins, zwei, drei, vier. Bewegungen, die komplizierter wurden, eine dritte, die auf eine zweite traf, wo sich die beiden zuvor nach nur einem Stoß und einer Parade getrennt hatten und zu einer neuen Eröffnung zurückgekehrt waren. Wie beim Schach. Die Eröffnungszüge waren vorbei, jetzt trat man in den schwierigeren Mittelteil des Spiels ein. Stoß trifft Parade, gefolgt von Riposte, gefolgt von Reprise, gefolgt von Bindung, gefolgt von Lösung, gefolgt von Stoß. Der Rhythmus wird härter, wird schneller, mehr Blößen tun sich auf. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs. Atmen. Nichtvergessen zu atmen. Bewegungen, die er nie gelernt hatte, kamen aus Erinnerungen, die nicht die seinen waren. Empfindungen erfüllten ihn, die nicht ihm gehörten, Echos von Gefühlen aus vorangegangenen Gefechten, die er nie geführt hatte. Fließen wie das Wasser, hacken wie die Axt, einschlagen wie der Blitz, tanzen wie der Wind. Methoden, die er nie gelernt hatte, in Worte gefasst, die er nie gehört hatte, aber er kannte sie dennoch.
Er blickte mit einem Gefühl der Entrücktheit auf seine eigenen Empfindungen und fragte sich, ob er das Licht einsetzen sollte? Es würde ihn zumindest von seinen morbiden Gedanken ablenken.
Er blickte auf Seth und sah, dass das Gesicht seines Bruders blass und verschwitzt war. Sein eigenes vermutlich auch. Er blutete aus einem Dutzend kleinerer Schnitte, und Seth erging es nicht anders. Sam hatte den Schmerz nicht einmal gespürt. Seth hatte an irgendeinem Punkt des Gefechts sein Stilett gezogen, und er stellte zu seiner Überraschung fest, dass er ebenfalls seinen Dolch in der Hand hielt. Er sah Seth an. Seth sah ihn an. Sam verspürte den Drang zu lachen und wusste nicht, worüber.
»Hi, Bruder«, sagte er, aus Mangel an etwas Besserem.
»Hi«, sagte Seth.
Eins zwei, drei, vier, fünf, sechs, Schritt und Ducken und Stoß und Drehung und Stich und Ausfall. Dolch umgreifen, ihn in der Drehung runterführen, Drehung beenden, Schwert rauf, Hieb beiseite schlagen, Ausfall abwehren, treten, atmen, eins, zwei, drei, vier...
Es hätten Laute von draußen zu hören sein können, aber er war sich nicht sicher. Alles, was zählte, war das Schweigen, der Frieden, seinen Gedanken zu lauschen, seine Gefühle zu spüren, seine Waffen zu führen. Wen kümmerte es, dass Seth da
einen Stoß machte und dort einen Hieb? Die Arme, die Sam Linnfer gehörten, kamen auch da und dort und hier zurecht, und die linke Hand, die seinen Dolch hielt, seinen, kam da hoch und dort und hier, und sein Geist dachte seine Gedanken, und seine Augen sahen Dinge, die nur er sehen konnte, und sein Herz pumpte das Blut schneller durch seinen Körper und schneller und schneller.
Und Seth taumelte zurück, öffnete den Mund und zischte: »Warum stirbst du nicht, Bru-«
Und Sams Dolch durchschnitt die Luft, geführt von seinem ruhigen Willen, gehalten von seiner bebenden Hand und bohrte sich in Seths Herz. Und Seth starrte auf ihn, mit großen, erstaunten Augen. Und das Krummschwert fiel aus Seths Hand, und Seth griff nach seinen Armen, stützte sich auf ihn und ging zu Boden. Sam stürzte mit ihm, das Schwert fiel aus seiner Hand. Seth öffnete den Mund, um etwas zu sagen, hustete, sah Sam an, blickte an ihm vorbei und lächelte matt. »Das war gut«, flüsterte er leise. »Du hast dazugelernt.«
»Es tut mir leid. Es war... notwendig.«
Sam grinste, ein schwaches, blasses Grinsen. Sam hatte gar nicht gemerkt, wie viel Blut sie beide verloren hatten oder wie müde sie beide waren. »Sag ihnen, meine letzten Worte waren irgendwas Tiefsinniges.«
»Sicher. Es war eine wirklich beschissene Ewigkeit, nicht wahr?«
Und Seth starb. Kein Feuerwerk, keine Magie. Eine Sekunde lang ein Lebensfunke, in der nächsten Sekunde nichts.
Sams Dolch steckte in der Brust seines Bruders. Er zog ihn heraus, doch er fühlte sich nicht stark genug, ihn zu halten. Seine Hände waren blutig und zitterten, er fühlte sich schwach wie ein Kind, und der Gedanke, je wieder eine Waffe zu führen, verursachte ihm Übelkeit. Er wusch seine Hände in dem Wasserbecken, war sich kaum bewusst, was er tat, und setzte sich auf
den Boden, den Blick auf die Tür gerichtet. Und wartete auf das, was geschehen würde.
Er wusste, es sollte jetzt vorbei sein, was immer »es« sein mochte, doch sein Magen rebellierte noch immer, und seine Finger brannten. Seine Finger. Seine Erinnerungen. Seine Leere, die wartete, von etwas gefüllt zu werden. Das Licht regte sich, bereit, dem Ruf zu folgen.
Eine Stimme, die definitiv die seine war, seufzte in dem Kopf, der definitiv ihm gehörte. Ach, sei still! Er lächelte. Es war gut zu wissen, dass da drinnen noch etwas war.
Die Tür öffnete sich. Jehova trat an den Rand des Wasserbeckens, warf einen Blick auf den Schlüssel auf dem Podest und ignorierte ihn. Tinkerbell half Sam auf die Füße. Sam steckte Schwert und Dolch ein und lehnte sich gegen die nächste Mauer, als stünde sie allein zwischen ihm und dem Zusammenbruch. »Wir haben gewonnen, nicht wahr?«
»Noch nicht«, sagte Jehova, und zum ersten Mal blickte er auf Seths kleinen, unbedeutenden Körper herab. Ein Kriegsopfer mehr. »Pandora ist freilich am Verblassen.«
»Ist das so? Ich habe es kaum bemerkt. Auch wenn ich hoffe, dass ich euch die Suppe ziemlich versalzen habe.«
Sie sagten kein Wort, als sie ihm halfen, zurück durch die Gänge zu humpeln. Die Verletzungen aus dem Kampf begannen sich bemerkbar zu machen, doch er achtete nicht darauf. Er fühlte sich zu müde, und außerdem, wozu hatte er schließlich regenerative Kräfte? Sie brachten ihn in den Kuppelsaal, und er blickte zu dem Gesicht an der Decke auf. Die Augen der Frau waren geschlossen, aber irgendjemand hatte ein paar Tränen eingezeichnet, und sie sah entschieden unglücklich aus. »Hi. Hast du mich vermisst?«, fragte er sie.
Das Gesicht bewegte sich nicht.
Jehova führte ihn sanft in die Mitte, des Raums, wo Sam auf die Knie sank.
»Ich habe gewonnen, richtig? Wir können jetzt aufhören. Es ist vorbei.«
Jehovas Gesicht trug einen freundlichen, väterlichen Ausdruck. »Nein. Ein paar Zentimeter haben gefehlt.«
»Seth ist tot, Odin liegt im Sterben. Was sind da ein paar Zentimeter mehr oder weniger?«
»Die Katapulte sind verstummt. Der Befehl ist ausgegeben worden, die Kampfhandlungen einzustellen. Du hast Tausende von Leben gerettet, ohne es zu merken.«
»Ich habe gewonnen.«
»Nein. Ein paar Zentimeter, Sam, ein paar Zentimeter.«
Sam blickte sich in der Halle um, sah auf die leeren Wände, auf Jehova, der an seiner Seite stand, auf Tinkerbell, der still neben Odins ausgestrecktem Körper saß, und wieder zurück auf den Boden. »Ich will einfach nur schlafen.«
»Bald, Bruder, bald.«
»Ein paar Zentimeter, sagst du? Die paar Zentimeter, die ich gebraucht hätte, um Thor, Uranos' letzten Anhänger, zu töten?«
»Genau.«
Er blickte auf die Tür, die ins Innere führte. »Er ist in den Gängen verschwunden?«
»Wahrscheinlich beugt er sich in diesem Moment über Seths Leiche. Er hat sich versteckt, als wir vorbeikamen. Hast du nichts gespürt?«
»Nein.« Sam blickte noch einmal im Saal umher, als wollte er sich mit ihm vertraut machen. »Wie lange noch?«, fragte er müde.
»Ich würde sagen, fünf Minuten, um durch die geringe Abwehr zu gelangen, die noch zwischen ihm und Uranos steht.«
»Was, wenn es nicht funktioniert? Was, wenn ich Uranos nicht vernichte?«
Jehova zuckte die Achseln. »Man darf die Hoffnung nicht aufgeben. Weißt du, Uranos ist nicht tatsächlich das Ende des
Universums. Nur unseres Universums. Wenn er gewinnt, ist das nichts, wovor man sich fürchten müsste.«
Sam lächelte leicht, doch die Stimme blieb ihm in Halse stecken. »Bitte, sag so was nicht.«
»Tut mir leid.«
»Quatsch.«
»Wirklich.«
»Dann ... dann hör auf damit...« Seine Stimme versiegte, doch sein ungewolltes Lächeln blieb, als wäre es so erstarrt, als der Wind sich drehte. In einem Flüstern, das alle Kraft aus ihm zu nehmen schien, murmelte er: »Ich habe nicht mal eine Henkersmahlzeit gekriegt.«
»Du wirst das Licht einsetzen, ja?«
»Das weißt du doch. Du hast es die ganze Zeit gewusst, auch wenn ich es selbst nicht wahrhaben wollte.«
In dieser Stille, dachte Sam, könnte man eine Maus furzen hören. »Übrigens, Seth hat etwas Tiefgründiges gesagt, als er starb.«
»Wirklich? Was?«
»Ich kann mich nicht erinnern. Aber es fällt mir bestimmt wieder ein. Fragt mich in ein paar Minuten noch mal, wenn ich Zeit hatte, darüber nachzudenken.«
Schweigen. Dann: »Ich habe einen Marsriegel, wenn du ihn willst«, sagte Jehova.
»Nennst du das eine Henkersmahlzeit?«
»Besser als Currywurst mit Fritten.«
Sam zögerte. »Ja, ich schätze wohl. Okay, gib ihn her.«
Jehova suchte in seiner Tasche herum, und Sam nahm den leicht matschigen, halb geschmolzenen Schokoriegel. Seine Hand zitterte so sehr, als er das Papier aufriss, dass Jehova ihm helfen wollte; doch Sam winkte ab und schaffte es schließlich mit den Zähnen.
»Schmeiß das Papier nicht weg«, sagte Sam. »Wenn ich Glück habe, könnte irgendein Okkultist es später als ein heiliges Artefakt in Ehren halten und für die besonders Frommen Tausende von Postkarten davon drucken lassen.«
»Wäre ein bisschen leicht zu fälschen.«
»Du meinst, verglichen mit einem Stück Holz von einem Kreuz, einer Feder vom Engel Gabriel, Knochen von einem Heiligen oder dem Zweig eines brennenden Dornbuschs?«
»Zumindest habe ich eine breite Auswahl an Reliquien.«
»Wirklich? Oh, gut, ich kann mich von meinem eigenen Bruder nicht ausstechen lassen. Hast du eine Flasche Wasser, aus der ich trinken, oder vielleicht eine Blume, die ich auf rituelle Weise quälen kann? Die heilige Evian-Flasche, für die Ritter in künftigen Zeiten auf Pilgersuche gehen? Biologisch nicht abbaubar. Könnte ein Hit werden.«
Keine Antwort Sam starrte auf den Boden; seine angespannte, hysterische Stimme verstummte, als die Gedanken, die er nicht denken wollte, sich wieder Gehör verschafften. »Wie werden wir es wissen?«
»Das werden wir schon.«
»Bitte...«
»Nein. Was geschehen muss, wird geschehen.«
»Kein Plan B?«
»Diesmal nicht. Du bist sehr gut darin, die besten Pläne von Menschen, Mäusen und Monstern zunichte zu machen.«
»Die Pläne von Mäusen sind zu klein, die von Menschen sind zu offensichtlich, die von Monstern sind zu vulgär«, dozierte Sam mit ausgestrecktem Zeigefinger. »Und die Pläne von Gottheiten leiden unter Arroganz.« Schweigen. »Wo ist Thorjetzt?«
»Ich weiß es nicht. Vermutlich gratuliert er sich zu einem gut gemachten Job.«
»Wird er Uranos befreien? Was ist, wenn er den Braten riecht?«
»Er wird Uranos befreien«, sagte Jehova müde. »Gottheiten sind arrogant.«
»Und Monster sind vulgär«, pflichtete Sam ihm bei.
»Und Reliquien leicht zu fälschen.«
»Wohl wahr.«
Schweigen. »Bruder...«, sagte Jehova plötzlich.
Sam hob eine Hand. »Horch«, flüsterte er.
Sie lauschten. Nichts. »Bruder, es tut mir leid«, sagte Jehova. »Die ganze Geschichte.«
»Was du nicht sagst.«
»Es gibt noch eine Chance«, flüsterte Jehova, so leise, dass selbst Sam Mühe hatte, es zu hören. »Ein Wunder.«
»Ich kann keine Wunder wirken, wenn ich tot bin«, antwortete Sam, ohne Groll oder Bitterkeit.
»Ich weiß. Verzeih.«
Sam sah zu ihm auf. Dann sagte er: »Rufe nach Chronos, wenn es vorbei ist. Rufe ihn in deine Seele, lass ihn von dir Besitz ergreifen.«
»Warum?«
»Bitte.«
»In Ordnung.«
Stille. Dann flüsterte Sam erneut: »Horch. «Jehova erhob sich. Sam kniete immer noch auf dem Boden, eine winzige Gestalt in einem viel zu großen Raum. Er wandte Jehova seinen ausdruckslosen Blick zu. »Sag ihnen, meine letzten Worte wären nicht nur tiefgründig, sondern auch sentimental gewesen.« Er runzelte die Stirn. »Freya...«, begann er.
»Still«, flüsterte Jehova und legte einen Finger an die Lippen. Und jetzt hörten sie es. Ein Klang wie ... Kinderlachen. Wie Flügel an einem leeren Himmel. Wie Donner in der Ferne. Wie das Klirren einer kleinen Glocke, die zu Boden fällt.
»Und was meine letzten Worte betrifft«, fuhr Sam fort, die Augen starr auf die Tür gerichtet, »ich habe eins frei.«
Ein kalter Wind, der von überall zugleich aufstieg, zerrte an Haaren und Kleidern, machte blasse Haut noch bleicher. Sam stand auf, öffnete die Arme, wie um die ganze Welt zu umarmen. Seine Hände zitterten, er konnte sich kaum auf den Beinen halten, Tränen standen in seinen Augen und Schrecken in seinem blassen, bleichen Gesicht. »Ihr könnt mich mal«, sagte er leise, als die Welt sich mit dem Gebrüll eines erwachenden Gottes füllte.
Alle Fackeln in der Halle erloschen, ließen Sam in Dunkelheit zurück. Er lächelte. Dunkelheit, wie viele andere Dinge auch, war überwindbar.