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Soho Square

 

Er trug zwei Taschen. Eine davon war ein großer lederner Ranzen, der fast alles enthielt, was er auf der Welt besaß: etwas Geld, ein paar eilig gekaufte Kleidungsstücke, eine Krone, die nicht mehr war als ein schlichter silberner Reif, eine Telefonkarte und einen aufgeweichten Schokoriegel, der schon länger dort steckte, als gut für ihn war. Die andere Tasche war ein Plastikbeutel für Hockeyschläger, wie ihn sportliche Typen mit sich herumtragen, um der Welt zu zeigen, dass sie Profis sind. Sam hatte seit Jahrzehnten nicht mehr Hockey gespielt, und es war auch kein Schläger darin. In dem Beutel steckte ein kurzes, sehr leichtes silbernes Schwert, das in den Tausenden von Jahren, die er es besaß, kein bisschen angelaufen war, und irgendwo in den Tiefen seines linken Ärmels verbarg sich der dazu passende dünne silberne Dolch. Auch wenn keiner dieser Gegenstände besonders auffällig war, hatten sie doch die Macht, andere Weltenwandler zu töten, die Kinder der Zeit, bei denen gewöhnliche Waffen aus Eisen und Stahl versagten.

Er hatte bislang keines seiner Halbgeschwister getötet. Was bemerkenswert war, denn sie hatten bei zahlreichen Gelegenheiten versucht, ihn umzubringen, und er hatte ihnen sogar ein paarmal den Gefallen erwidert. Aber keine Seite in dem endlosen Konflikt von Sam gegen den Rest des Himmels hatte je einen größeren Teilsieg davongetragen. Bis jetzt.

Jetzt ging die Schlacht nicht darum, dass er der einzige illegitime Sohn der Zeit war, den sein Vater mit Schwert und Krone anerkannt hatte. Er war in diesen Konflikt hineingezogen worden, weil er in sich die Macht trug, nicht nur Uranos zu vernichten, sondern jede verkörperte Gewalt im Universum, sogar Vater Zeit selbst. Es gab dem Kampf eine beinahe unpersönliche Qualität, als ob »Träger des Lichts« nur ein Titel wäre: ein Ball in einem Flipperautomaten, der gefährlich hin und her hüpfte, aber dennoch zu nichts anderem gut war, als ein paar Punkte zu machen.

Somit war er entschlossen, es ihnen zu zeigen. Und mit »ihnen« meinte er all jene, die überzeugt waren, dass er in den Tod gehen würde, um Uranos zu vernichten, oder dass er nicht den Mumm hätte zu kämpfen oder dass er kämpfen und sterben und trotzdem verlieren würde. Vor allem würde er es seinem Vater zeigen. Chronos. Verkörperung der Zeit. Der Macht, die alles in ihren Händen hielt Doch egal, er würde kämpfen.

Nach diesen hehren Gedanken entbehrte es nicht einer gewissen Ironie, dass sein Kampf mit einem Besuch in der Drogerie beginnen sollte.

Er kaufte ein paar Tuben Zahnpasta, in zwei verschiedenen Farben, was wichtig war. Ferner eine Flasche Waschbenzin, eine große Schachtel Talkumpuder und einen kleinen Spiegel mit Plastikrahmen. In dem benachbarten Kiosk erstand er mehrere Dosen Cola, einige Flaschen Limonade mit Schraubverschlüssen, ein Knäuel Schnur, eine Flasche vom billigsten Whisky, den er finden konnte, einen Schreibblock, einen Kugelschreiber und eine Rolle Küchentücher.

Er ging nach Kensington Gardens und setzte sich am Teichufer unter eine Platane. Kinder spielten Fußball, Leute fütterten die Gänse. Sie wollten eigentlich die Schwäne füttern, aber die Gänse waren einen Tick schneller. Über der roten Kuppel der Albert Hall war der Himmel blau mit einer gelegentlichen weißen Wattewolke. Liebespärchen schlenderten über die Wege zwischen Marble Arch und Queensway, und zwei Schulmädchen hielten ein Picknick mit pappigen Sandwiches und zu viel Schokolade ab, wahrend sie in verschwörerischem Ton miteinander flüsterten.

Sam breitete seine Beute aus und machte sich in aller Ruhe und mit Sorgfalt ans Werk. Erst schüttelte er die Coladosen, dann zeichnete er Entzündungszauber auf ihre dünnen Blechwände, wobei sein Finger eine Spur roter Funken hinter sich herzog. Auf einen Gedankenimpuls hin würde die bereits unter Druck stehende Dose glühend heiß werden. Eine der Coladosen platzierte er in der Schachtel mit dem Talkumpuder.

Sam öffnete die Whiskyflasche, auf deren Innenseite er einen weiteren Entzündungszauber schrieb, wobei er diesmal das Ende des Schriftzugs offen ließ. Mit höchster Konzentration, damit der Zauber nicht spontan losging, nahm er das Knäuel mit der Schnur und wickelte das Ende des Zauber´s um das Ende der Kordel. Er achtete darauf, die Schnur in Kontakt mit der Flasche zu halten und so nicht den Zauber zu beschädigen, als er die Kordel um den Flaschenhals band und den Verschluss wieder aufschraubte. Dann schrieb er »Bitte nicht berühren! Lucifer« auf ein Stück Papier und band dieses mit derselben Schnur an die Flasche. Die Limoflaschen leerte er ins Gras und verschloss sie wieder.

Nachdem er sein kleines magisches Arsenal präpariert hatte, ging er in Richtung Marble Arch. Jenseits vom Hyde Park und von mehreren Straßen mit teuren Hotels fand er eine Tankstelle und ging zu einer Zapfsäule. Er machte sich nicht die Mühe, eine vollständige Illusion zu erzeugen, sondern stellte sich einfach an die Pumpe und zapfte Benzin in die limoflaschen und tränkte auch die Küchentücher damit.

Die Passanten gingen ohne einen Blick vorüber. Wenn jemand in seine Richtung schaute, sahen sie nicht mehr als einen Mann, der an einer Zapfsäule stand; Sam war sehr bedacht

darauf, dass dies so blieb. Sicher, die Überwachungskameras würden sich von den kleinen gedanklichen Fühlern, die er ausstreckte, nicht täuschen lassen, aber sie waren das geringste seiner Probleme. Er schraubte den letzten Flaschendeckel wieder auf und ging weiter, nach Benzin stinkend und rundum zufrieden. Er war bei den Meistern der Brandstiftung in die Lehre gegangen. Und auch wenn er magische Mittel gewöhnlich wirkungsvoller fand, hatte er damals trotzdem genau zugehört.

Vorbei an den zahlreichen Antiquitätengeschäften der Bond Street, überquerte er die Regent Street und betrat die Gassen von Soho mit ihrer bizarren Mischung von georgianischer Architektur, Clubs, Büros und Prostituierten. Es begann dunkel zu werden, was gut war; er liebte Dunkelheit, insbesondere wenn er gezwungen war, sich auf dem Präsentierteller darzubieten.

Die Gassen wurden enger. Einige wimmelten von jungen modebewussten Leuten in Schwarz, andere waren nahezu leer. An einer Straßenecke fragte ihn eine Dame in Leder, ob er nicht reinkommen wolle - »Suchst du Unterhaltung, Süßer?« —, an einer anderen erklärte ihm ein Betrunkener in einem verdreckten Anorak, dass er der Teufel sei, und ein armer Teufel obendrein.

Als er den Soho Square erreichte, schaute er auf seine Uhr, die immer auf Greenwich-Standardzeit eingestellt war, ganz gleich, in welcher Zeitzone oder auf welcher Ebene er sich befand. Zehn vor neun. Eine gute Zeit; die Straßen waren weder angefüllt mit Büroangestellten, die von der Arbeit nach Hause eilten, noch mit Feiernden, die aus den Kneipen auf die Straßen drängten. Die Tore zu dem kleinen Park waren verschlossen; also warf er seine Taschen auf die andere Seite hinüber und kletterte über den Zaun. Er hatte diesen Ort, eine kleine grüne Ruhezone in einem Labyrinth von Läden und Bürogebäuden, aus einem besonderen Grund ausgesucht. Hier öffneten sich Tore zweier Wege, von denen der eine nun Himmel und der andere zur Hölle führte.

Sam ging zu einem Rasenstück unter einem blühenden Kirschbaum hinüber, dessen rosa Blüten in der Dunkelheit nur von Wesen mit außergewöhnlich lichtempfindlichen Sinnen gewürdigt werden konnten. Dort las er vier Stöcke auf und steckte sie in gleichen Abständen um sich in den Boden. Nachdem er die Whiskyflasche in seinem Rücken postiert hatte, in Richtung des Höllentors, wickelte er die daran befestigte Schnur ab und band sie an den Stöcken fest, jeweils ein kleines Stück über dem Boden. Dann stellte er den Karton mit dem Talkumpuder vor sich auf, in Richtung des Himmelstors und weit genug entfernt, um vor den Folgen einer möglichen Explosion bewahrt zu bleiben. Den Rest seines Arsenals - fünf nach Benzin stinkende Molotow-Cocktails mit heraushängenden Lunten und sieben pralle Coladosen - platzierte er in Reichweite.

Dann nahm er sich die Tuben mit der Zahnpasta vor. Diese kam in zwei Farben, einem hässlichen Rot und einem widerlichen Grün, und roch so ekelhaft, dass sie gegen irgendwas gut sein musste. Er malte einen großen grünen Zahnpastakreis um sich herum und schloss diesen mit einem traditionellen Abwendknoten. Schutzzauber waren immer stärker, wenn sie einer künstlichen Linie folgen konnten, aber der Zaubernde war frei in seiner Entscheidung, welches Material er dafür verwenden wollte. Sam hatte vor langer Zeit erkannt, dass Kreide zu unbeständig und wasserempfindlich war, Tinte einfach in die Erde sickerte und der Versuch, eine Linie mit einem Stock zu zeichnen, eher die Erde aufwühlte als eine Furche hinterließ, die als Leitpfad dienen konnte. Er hatte daraufhin eine Reihe von ausgefalleneren Materialien ausprobiert und schließlich herausgefunden, dass Zahnpasta seinen Zwecken am besten diente. Die rote Zahnpasta drückte er in Klecksen an strategischen Punkten außerhalb des Kreises aus und füllte sie mit Magie - nicht viel, gerade genug, dass Sam es merken würde, wenn jemand hineintrat, und er Zeit hätte zu reagieren. Die grüne Zahnpasta reicherte er mit einer aktiveren Form von Magie an, sodass sie von selbst einen kuppelförmigen Schirm aus Energie bildete, wenn er von außen angegriffen wurde.

Die Zahnpasta begann in einem weißlich hellen Schein zu glimmen. Wenn er Glück hatte, würde ein Angreifer den Kreis als einzige Verteidigungslinie ansehen und weder das Warnsystem noch die strategisch platzierten Sprengsätze bemerken. Die Whiskyflasche würde mit einem eindrucksvollen Knall hochgehen, weshalb er sie in seinem Rücken aufgestellt hatte. Wenn jemand ihn angreifen wollte, würde dieser womöglich versuchen, sich von hinten anzuschleichen. Und wenn der Feind in der Dunkelheit die gespannte Schnur übersah - tja, das war dann eben sein Pech. Alternativ, wenn seine Augen scharf genug waren, die Whiskyflasche und den daran befestigten Zettel zu sehen, würde er womöglich genau das tun, wovor die Aufschrift ihn warnte, und die Wirkung wäre dieselbe. Sam gehörte nicht zu den Leuten, die irgendetwas dem Zufall überließen.

Sam zog den Spiegel hervor. Das Ding sah ziemlich billig aus, ein Spiegel, bei dem der Betrachter sich fragte, ob der rote Lippenstift wirklich zu dem grünen Lidschatten passte. Aber es würde seinen Zweck erfüllen.

Sam ließ sich mit untergeschlagenen Beinen innerhalb des Kreises nieder, zog das Schwert halb aus dem Hockeybeutel und atmete mit einem langen Seufzer aus.

Sichten, hatte seine Mutter einmal gesagt, war eine ziemlich laute Angelegenheit.

»Laut?«, hatte er verwundert gefragt.

Die Inkarnation der Magie hatte ihrem Sohn weise zugenickt. Auch wenn sie nie als Königin des Himmels anerkannt und darum keine legitime Gemahlin von Vater Zeit war, gehörte Sams Mutter zu den Höheren Mächten. Magie war verstoßen worden, weil sie das Unmögliche zustande bringen konnte, und das missfiel Chronos. Denn als Verkörperung der Zeit blickte er auf Milliarden und Abermilliarden von Zukünften und konnte sehen, welche Zukunft am wahrscheinlichsten war, wie viele Auswirkungen eines Ereignisses zu demselben Ergebnis fuhren würden — dem einen, auf das er dann das Universum hinzusteuern versuchte.

Magie trug nie ein und dasselbe Gesicht, wenn sie in irdischer Gestalt umherging. An jenem Tag blickte sie streng aber freundlich. Eine Lehrerin, die einem Kind Lebenswichtiges mitzuteilen hat.

»Einige Zauber sind leise. Eine Kerze anzuzünden, einen anderen Geist zu berühren, mit Tieren zu sprechen, den Winden zu flüstern, dem Land zu lauschen - dies sind stille Dinge. Aber seinen Geist in die Welt auszusenden und aktiv nach Antworten zu suchen, das macht eine Menge Lärm. Es zieht die Aufmerksamkeit anderer auf sich. Und wenn einer von diesen nicht will, dass die Antworten gefunden werden, wird er Leute ausschicken, um dich aufzuhalten.

Eine Sichtung kann dir zeigen, wo deine Feinde sich befinden. Aber es wird ihnen zugleich deine Position verraten, weil die Kraft, die notwendig ist, um die Sichtung aufrechtzuerhalten, wie ein Leuchtfeuer wirkt. Manchmal kannst du unbemerkt davonkommen, zum Beispiel wenn du nach etwas suchst, das nicht zurücksichten kann, oder nach etwas, das nicht auf der Hut vor Magie ist. Aber wenn du nach einem anderen magischen Wesen suchst, wird es höchstwahrscheinlich darauf reagieren und dich seinerseits ins Visier nehmen; und solange deine Sichtung andauert, wirst du dagegen machtlos sein.«

»Und was kann ich dagegen tun?«

»Deinen Verstand gebrauchen und vom schlimmsten Fall ausgehen. Geh davon aus, dass du gejagt wirst. Und bereite dich darauf vor. Stell den Jägern eine Falle.«

Während erwartete, ließ Sam seinen Geist treiben. Er hörte seines Vaters Stimme. Du kannst mir nicht entkommen, Lucifer ... Doch die Stimme wurde leiser und verklang, ohne dass er darauf Antwort gab.

Er hatte kein Verlangen, mit Vater Zeit ins Gespräch zu kommen.

Er hörte Freyas Stimme, doch es war nicht mehr als eine Erinnerung, als sein Geist sich zu konzentrieren versuchte. Sebastian, es tut mir leid. Sie hatten einander geliebt, aber nur für kurze Zeit, bevor sie sich aus Pflicht hatte abberufen lassen, um ihr zerfallendes Haus Walhalla zu verteidigen. Bis zum Schluss hatte sie ihn bei dem Namen genannt, den er trug, als sie sich das erste Mal getroffen hatten. Sebastian. Fast als ob es ihr peinlich wäre, zuzugeben, dass sie den ausgestoßenen, verfemten Fürsten des Himmels liebte. Dabei war alles, was er getan hatte, das Eden-Projekt zu verhindern, das in seinen Augen böse gewesen war.

Sebastian, was machst du ?

Tut mir leid, Freya. Sieh mal, du bist tot; ich hab jetzt keine Zeit, mir dir zu plaudern. Du bist bei dem Versuch gestorben, Seth daran zu hindern, Uranos zu befreien. Ich würde mich gern mit dir unterhalten, aber ich habe jetzt Wichtigeres zu tun. Ich muss Antworten finden.

Er war bereit. Doch wonach sollte er suchen? Es wäre zwecklos, nach Seth Ausschau zu halten, der treibenden Kraft hinter dem Plan, Uranos zu befreien. Seth würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gegen jede Art von Sichtung geschützt sein. Und wenn er versuchen würde, Jehova zu finden, würde er sich einem ausgesprochen unzugänglichen Gesprächspartner gegenübersehen. Odin schloss er auch aus, denn obwohl der Herr von Walhalla in Sams Augen eine nicht so mächtige Gestalt war und sich nur aus Verzweiflung mit Seth und Jehova verbündet hatte, war er trotz alledem ein Sohn der Zeit.

Es gab jedoch andere, nach denen er Ausschau halten konnte. Er sandte seinen Geist mit dem Gedanken an Buddha aus, der neben dem Erzengel Gabriel einer von Freyas geheimen Verbündeten gegen Seth gewesen war. Was war wohl nach dem Angriff durch die Pandora-Geister, dem nur Sam hatte widerstehen können, aus ihnen beiden geworden?

Einen kurzen Augenblick erschien seines Bruders Gesicht im Spiegel — dann flackerte das Bild und erlosch. Sam aber gab nicht auf, verstärkte seine Bemühungen und spürte Buddhas Geist.

Kälte, Dunkelheit, Schmerz. Stimmen in den Schatten des Gefängnisses, wo er seit endlosen Tagen ausharrte. Ein Flüstern in Buddhas Ohr. Du hast das Richtige getan, mein Bruder, doch aus den falschen Gründen. Fast hättest du alles verdorben, nur weil du nicht begreifst, was hier geschieht. Uranos wird freikommen. Der Träger des Lichts wird gegen sein Schicksal ankämpfen, aber es wird ihm nichts nützen, er wird sterben...

Buddhas Geist regte sich, als er Sams Berührung spürte. »Wer ist da? Wer sucht mich? ... Sam? - Zeit bewahre, Sam, es ist nicht so, wie es -<

Störung. Ein anderer Geist stieß dazwischen. Ein Schwindeln, ein Gefühl des Fallens, als eine zweite Präsenz Buddhas Gedanken den Sinnen entzog, eine Stimme, die dröhnte: >Der Verbannte ist wieder da! Findet ihn!«

Geister zerrten an ihm, versuchten, ihn durch seinen eigenen Zauber anzugreifen.

Sam riss sich los, trudelte wild und unkontrolliert. Er spürte, wie sie nach ihm griffen, ihn zurückzerren wollten, doch er war schon weg, tanzte fort, sprang aus ihrer Reichweite. Als die Welt wieder im Lot war, sah er nur noch sein eigenes Gesicht im Spiegel treiben, tausend Bilder von ihm selbst, die ihn verdrossen anblickten.

Ruhig. Konzentrieren. Atmen. Ein neuer Versuch, ein neues

Ziel. Buddha ist ein Gefangener, an den kommst du nicht ran. Versuchen wir es mit Freyas anderem Verbündeten: Gabriel -Gail.

Kalt draußen, warm drinnen. Helles Licht. Ein voller Magen. Schwere Hände, ein steter Blick. Stimmen, immer Stimmen. Wem dienst du ? Ich diene dir. Ich habe dir immer gedient, Meister. Wird der Träger des Lichts kommen ? Ja, er wird kommen. Er kann nicht anders, selbst jetzt sucht er nach dir.

Ein Geist regt sich. >Sam?<

»Gail, ich bin hier.. .<

»Wo bist du?<

> Auf der Erde.<

»Du bist in Gefahr.<

»Ich weiß.«

»Man sucht nach dir.«

»Ich weiß.«

Jemand will dir helfen.«

»Wer?«

Störung, ein Geist, der sich dazwischendrängt, den Kontakt unterbricht, so wie zuvor. Ein Geist, der nicht aufhören wird, nach Sam zu fahnden; nicht jetzt, da er weiß, dass Sam dabei ist zu sichten.

>O mein Bruder!«, tönt er.

Sam kennt die Stimme. Jehova, Sohn von Zeit und Glaube, hat einen sehr deutlich erkennbaren Geist, präzise wie das Ticken eines Uhrwerks. Sam hatte immer den Verdacht, dass Jehovas Abkunft ihm mehr mitgegeben hat, als die meisten anderen ahnen. Denn Jehova glaubt beinahe so fest an sich selbst, wie er Glauben von jedermann sonst fordert.

Jehova hat seine Sichtung verspürt und sucht nach ihm.

»Du kannst deinem Schicksal nicht entkommen, Sam. Du brauchst es gar nicht erst zu versuchen. Früher oder später wirst du sterben ... <

»Du Schwein! «, schreit Sam, sich kaum dessen bewusst, was er sagt oder tut. Der Spiegel wird rot. Flammen schießen über seine silberne Fläche. >Du hast Freya ermordet, du hast deine eigene Schwester umgebracht! <

»Du Narr! Seth, Odin oder Thor werden dich finden und töten. Doch bevor das geschieht, hast du noch ein Schicksal zu erfüllen!«

>Du Schwein!«, gellt Sams Stimme erneut, und er schlägt mit seinem Geist zu. Er spürt Jehova zurückzucken, schockiert. Dann schlägt sein Bruder zurück. Der Schlag lässt Sams Schilde erdröhnen, und die Schutzzauber um ihn her flammen auf. Sams Geist zieht sich zurück und flieht. Er will sich nicht in einem langwierigen Kampf erschöpfen, der ihm nichts nützen kann.

Treiben. Halt finden. Warten. Atmen. Er hat nicht den Eindruck, als ob jemand ihm folgt. Ein anderer Geist schlüpft in Richtung des seinen, ebenfalls angezogen durch das Gespür seiner Sichtung. Aber dies ist nicht Jehova, auch nicht Seth oder Odin. Sam erkennt ihn nicht, und die fremde Präsenz spricht ihn auch nicht an. Doch er kann spüren, wie sie an seine Schilde klopft wie im Spiel. Nicht mit Macht, sondern eher mit der Neugier eines Kindes.

Er sitzt auf einer Parkbank in Rom. Es ist Sommer. Der Geschmack von Eiscreme. Freya schaut ihn an; ein schmales Erdbeerbärtchen umrahmt ihre Lippen. Sie runzelt die Stirn, versucht, sich an etwas zu erinnern, das sie sagen will. Er wartet, sich nur halb der Tatsache bewusst, dass dies nicht die Wirklichkeit ist, sondern nur eine weitere Vision, die der Zauber heraufbeschworen hat, während der fremde Geist durch all diese dicken, dichten Schutzschirme mit ihm zu kommunizieren versucht.

»Hallo, Sebastian«, sagt Freya schließlich. Sie ist so schön, wie er sie in Erinnerung hat Das Licht fängt sich in ihrem Haar

und lässt es aufleuchten, ihre zarten Hände halten das Eiscremehörnchen, als wäre es aus Glas. Ihre Augen blicken ihn fragend an.

Sam, bereits verunsichert, wünschte sich, die Vision wäre nicht so überzeugend. »Und wen habe ich die Ehre anzusprechen, der in Freyas Gestalt zu mir kommt?« Er leckt an seiner Eiscreme. Sie schmeckt real, was gut ist.

»Warum kämpfst du?«

»Weil die Alternative das Ende des Universums ist.«

»Tief in deinem Innern bist du ein selbstloser Mann, Sebastian. Ich weiß, dass du frohen Herzens für bestimmte Dinge sterben würdest Für mich würdest du sterben.«

»Für Freya vielleicht, aber sie hat das Ende des Lebens vor mir erreicht«, antwortet Sam.

»Du würdest sterben, um das Leben der Sterblichen zu retten, wenn sie bedroht wären. Also warum kämpfst du stattdessen?«

»Fragst du«, sagt Sam, »warum ich es nicht einfach geschehen lasse, dass Uranos befreit wird, und mich selbst heroisch opfere, um das Universum vor seinen schrecklichen Kräften zu retten?«

Freya oder was auch immer es ist, das Freyas Gesicht benutzt, scheint dies zu bedenken. »Ja«, sagt sie/es schließlich.

»Es ist nicht notwendig. Es gibt keinen Grund, warum Uranos je befreit werden wollte. Vater Zeit braucht mich nur für den Fall, dass er irgendwann seinem Kerker entkommt.«

»Du irrst dich. Uranos wird in jedem Fall eines Tages freikommen, so oder so. Es gibt keine Zukunft, in der das nicht geschieht. Wenn also dein Tod unvermeidlich ist, warum akzeptierst du die Tatsache nicht hier und jetzt?«

»Würdest du das?«, fragt Sam zurück. »Hölle, warum stelle ich so eine bekloppte Frage? Ich weiß nicht mal, wer du bist.« »Du hast nach mir gesucht, oder nicht?«

»Nein.«

»Aber ja, Sebastian. Irgendwie hast du die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Das ist es, was dich rebellisch macht. Und du dachtest, du könntest den Tod bezwingen und Freya finden. Du hast es geschafft. Und ich habe geantwortet.«

»Freya ist tot.«

»Und dennoch hast du nicht aufgegeben. Danke.«

»Wofür?«

»Dass du es versucht hast. Aber es bringt nichts, fürchte ich.«

»Dieses Gespräch ist sinnlos.«

»Du hörst mir nicht zu.«

»Ich höre zu. Ich glaube einfach nicht daran.«

Freya verblasste, nahm den Geschmack von Eiscreme mit sich. Sie ging stückweise, erst die Bank, dann die Eiscreme, dann die Beine, dann Rom, und schließlich verschwand der Rest von ihr mit einem Achselzucken. Nur ihre Stimme hing weiter in der Luft. Ein Flüstern in der Dunkelheit von Sams Geist. Es tut mir so leid, Sebastian...

Er riss sich zusammen. Die Visionen verblassten, ließen nur den blanken Spiegel zurück. Ein weiteres Mal streckte er seine Fühler aus. Er war sich nicht ganz sicher, wonach er jetzt suchte, doch er ließ den Zauber treiben, der seinen Namen flüsterte, für alle, die ihn hören konnten. Es war weniger ein Sichten als ein Spüren, ein komplizierter, gefährlicher Zauber, der seinen eigenen Gesetzen folgte.

Aber eine Spürung war nicht minder laut als eine Sichtung. Sam sucht heute, wer will ihm antworten ?

Und da war sie. Eine Stimme. Selbstsicher, fest.

»Und wenn er uns in die Quere kommt?«

»Halte ihn auf. Aber lass ihn nicht sterben. Er darf nicht sterben, das ist wichtig. Aber er darf sich auch nicht einmischen.«

»Ich diene.«

Aufblitzende Visionen. Ein Zimmer, ein Tisch, ein Stuhl, eine Gestalt in der Dunkelheit, ein Fenster, eine Kuppel, ein Fluss, eine Brücke, ein Schiff, ein goldenes Kreuz, ein roter Bus.

Erkennen. Stimmen, drängender. »Er sichtet, der Narr sichtet!«

Widerstand, Türen, die vor ihm zugeschlagen werden, ihn von seiner Beute trennen. Wieder dreht sich die Welt um ihn, trudelnd, sodass er sich kaum konzentrieren kann, während Visionen vor seinen Augen aufblitzen, Eindrücke von einer Kuppel, einem goldenen Kreuz darauf, einem roten Bus, der an der Apsis vorbeifahrt, einer Taube, die auf einem Cherubim über dem Querschiff sitzt, einer langen weißen Fußgängerbrücke, wie eine Hängebrücke, nur dass die Verbindungsstücke nach beiden Seiten abgebogen sind, als wäre etwas Schweres daraufgefallen, der Fluss, die Themse ...

Dann das plötzliche Gefühl von Gefahr und Stimmen, die seinen Kopf erfüllen. Sam, warum läufst du fort? Sebastian, Sebastian,, welche Absicht verfolgst du ? Luke, ist es das wirklich wert ? Kleines Licht, kleines Feuer, kleiner Lucifer, kleiner Satan, Gefahr kommt...

Sam riss die Augen auf und starrte in die Dunkelheit des Soho Square. Der Spiegel in seiner Hand war glühend heiß, aber Sam bewegte sich nicht. Irgendjemand war auf einen Klecks roter Zahnpasta getreten und hatte gedacht, es wäre Vogelscheiße. Er streckte seine Fühler aus. Hinter ihm und ein wenig zu seiner Rechten; sie waren vermutlich durch das Höllentor gekommen. Ein halbes Dutzend oder so; er war sich nicht sicher. Er hielt sich völlig still. Der Druck des Dolches gegen seinen Unterarm war plötzlich spürbar.

Stimmen, flüsternd. Irgendjemand machte einen Schritt nach vorn, trat in weitere Zahnpasta und ließ Alarmsirenen in Sams Geist anschlagen. Der Eindringling stieß einen leisen Fluch aus.

Sam, der seine Bewegungen mit dem Rücken vor den Angreifern abschirmte, ließ den Spiegel zu Boden sinken und griff ganz langsam nach seinem Schwert.

Irgendjemand berührte die Schnur, zupfte daran. Das Ende der Schnur, das mit dem Entzündungszauber verknüpft war, verrutschte ein winziges Stück, und der Zauber, dessen komplizierte Matrix gestört wurde, ging los. Sam warf sich nach vorn, rollte sich ab und war bereits wieder auf den Beinen, mit dem Schwert in der Hand, als die Whiskyflasche explodierte. Glassplitter spritzten überallhin. In dem plötzlichen Licht sah er vier Feuertänzer und zwei Walküren, Odins persönliche Wachen. Keine Engel, stellte er mit Interesse fest; Jehova hatte offensichtlich niemanden zu der Meute der Jäger beisteuern können.

Als die Flammen sich legten, rief er den Karton mit dem Talkumpuder zu sich, schleuderte ihn in Richtung der Walküren und löste mitten im Flug den Entzündungszauber aus. Die Schachtel explodierte in einem Hagel von Metall- und Plastikfetzen und trieb den Walküren weißen Staub und glühend heiße Cola in die Augen. Schreiend taumelten sie zurück. Dann stürzten sich die Feuertänzer, die sich von dem anfänglichen Schock des Angriffs erholt hatten, auf Sam. Sie erreichten seinen Zahnpastakreis, und Funken blitzten, als die Bannzauber wirkten und sie zurückwarfen. Sam grinste und nahm mit seiner freien Hand einen Molotowcocktail vom Boden auf, aus dem die benzingetränkte Lunte baumelte. Feuertänzer mochten zwar Experten in allen Kriegskünsten des Himmels sein, aber sie hatten einfach keine Erfahrung mit irdischen Kampfmethoden. Sam sah ungerührt zu, als ein Feuertänzer vortrat und seinen Drachenbeindolch in den Bannkreis trieb. Der Kreis flackerte und begann zu verlöschen,

Sam wartete, bis der Bann aufgehoben war, dann erzeugte er mit einem Fingerschnippen einen Funken. Der Funke entzündete das Ende der Lunte, die Flamme fraß sich durch den blauen Stoff in Richtung Benzin. Die Feuertänzer starrten auf die Flasche, als wäre Sam nicht bei Sinnen, und fragten sich, was das sollte. Die Walküren, die einen besseren Überlebensinstinkt besaßen, begannen zurückzuweichen. Sam zuckte die Schultern und warf die Flasche in hohem Bogen auf den nächststehenden Feuertänzer. Sie traf ihn und explodierte. Die Dunkelheit lichtete sich jäh, als die rote Kleidung des Feuertänzers in Flammen aufging, und er schrie.

Feuertänzer sind keine mitfühlenden Wesen. Während einer von ihren Gefährten heulend und brennend umherwankte, bevor er in einem rauchenden Haufen auf dem Boden zusammenbrach, behielten die anderen weiterhin Sam im Auge, als wäre nichts geschehen. Die Walküren kamen mit tränenden und rot geränderten Augen auf den Kreis zu. Sam wich zurück, rief eine Coladose in seine Hand. Die Walküren und Feuertänzer griffen gemeinsam an.

Nichts kann einem so den Nerv rauben, wie von zehn Paar Händen und zehn paar Beinen gleichzeitig angegriffen zu werden, wenn man nur über jeweils ein gesundes Paar verfügt. Sam warf die Coladose und rannte los, hetzte über den Soho Square, so schnell er konnte. Hinter sich hörte er einen befriedigenden Knall und einen Aufschrei. Irgendjemand hatte offensichtlich unliebsame Bekanntschaft mit ein paar gezackten Metallsplittern gemacht.

Sam rannte weiter, das Schwert in der Hand. Er erreichte das andere Ende des Parks und drehte sich um, bereits im Begriff, einen neuen Zauber zu wirken. Um ihn herum entzündete sich die Luft in blauem Feuer. Eis bildete sich auf dem Gras unter seinen Füßen, sein Atem bildete Dampfwolken vor seinem Gesicht. Die Feuertänzer zögerten und hielten inne. Während er das Kaltfeuer am Brennen hielt, zog Sam seinen silbernen Dolch und warf ihn. Er war nicht zum Werfen gedacht, aber es war genug von Sams Magie darin, um sicherzustellen, dass er so gerade flog wie eine abgefeuerte Kugel. Der Dolch traf einen Feuertänzer mitten ins Herz, und die Kreatur brach zusammen.

Eine Walküre zog etwas hinter ihrem Rücken hervor. Sam sah eine kleine, leichte Armbrust. Der Bolzen war mit einer Spitze aus verzaubertem Silber versehen. Sam fluchte und machte eine weit ausholende Handbewegung nach oben, Die Walküre wurde von den Füßen gerissen und flog durch die Luft.

Doch die Störung in seiner Konzentration hatte ausgereicht, den Vorhang aus Kaltfeuer flackern zu lassen. Ein Feuertänzer schaffte es, ihn zu durchbrechen, und Sam war gezwungen zu parieren, was ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Der Feuertänzer nutzte das aus und packte Sams Handgelenk mit seiner rot behandschuhten Faust. Feuer flammte um die Finger. Sams Ärmel begann zu brennen, und er schlug die Flammen hastig mit seinem Geist aus.

Aber jene Sekunde verlorener Konzentration hatte ihn fast seinen rechten Arm gekostet; er musste sein Schwert vor dem Körper vorbeifuhren und dabei die Deckung seiner linken Seite aufgeben. Das Kaltfeuer erlosch, als er versuchte, zu viel Magie aufrechtzuerhalten.

Die Feuertänzer sahen ihre Chance gekommen. Sam wich zurück, bis er mit dem Rücken gegen den Eisenzaun stieß, und beschwor einen Schirm aus dichter blauer Magie um sich herauf. Zwei Drachenbeinklingen und zwei aus verzauberter Bronze stachen durch die magische Barriere, bewegten sich dann weiter mit quälender Langsamkeit auf ihn zu. Der Schild kreischte, als die Waffen sein Gitter aus Magie zu durchschneiden suchten.

Sam hörte ein leises »Tong«. Er sah eine Walküre zusammenbrechen, mit einem Armbrustbolzen im Rücken. Ihre Gefährtin wandte sich um, um zu sehen, wer den Schuss abgegeben hatte. In der Dunkelheit konnte Sam eine Gestalt in Mantel und Kapuze ausmachen, die in aller Seelenruhe ihre Waffe nachlud. Die Walküre stieß ein wütendes Schnauben aus und rannte auf den Mann zu. Sie kam bis auf zwei Schritte an ihn heran, als er erneut schoss und sie zurückgeworfen wurde, direkt ins Herz getroffen.

Die Feuertänzer, die merkten, dass etwas schief gegangen war, zogen sich verunsichert zurück. Sam ließ seinen Schild sinken, blinzelte den Schweiß aus seinen Augen und versuchte, das Zittern in seinen Knien zu ignorieren. Der Kapuzenmann lud ein weiteres Mal nach, anscheinend völlig ungerührt. Sam nutzte den Moment, da die Aufmerksamkeit der Feuertänzer abgelenkt war, und stieß zu; sein Schwert unterlief die Deckung eines der Angreifer und traf ihn in die Seite. Die beiden verbliebenen Gegner zögerten, als ihnen klar wurde, dass sie jetzt zwei gegen zwei statt sechs gegen einen kämpften. Dann konzentrierten sie sich erneut auf Sam, entschlossen, die Sache zu Ende zu bringen.

Sam fing die Klinge des einen Feuertänzers mit der Parierstange seines Schwertes ab, packte den anderen am Handgelenk und zog sie so beide auf eine Seite. Er rief seinen Dolch zurück und fing ihn mit der linken Hand auf. Dann ließ er die Feuertänzer los, mit einem Schwung, der sie ins Taumeln brachte. Jetzt hatte er zwei Waffen zur Verfügung und nur vier Arme, mit denen er fertig werden musste. Er grinste, als die Feuertänzer wieder hochkamen, und griff nun selbst an, mit langen Schwertstreichen und schnellen Bewegungen mit dem Dolch, den er eng am Körper hielt, um sich mit dem Schwert nicht selbst in die Quere zu kommen.

Er hörte ein weiteres »Tong«, und ein Feuertänzer brach zusammen. Sam sprang über ihn hinweg und trieb nun selbst den letzten Angreifer vor sich her. Der Kapuzenmann machte

keine Anstalten, die Armbrust neu zu spannen, sondern wartete im Schatten wie ein Zuschauer bei einem Sportereignis. Fast, dachte Sam, als ob er ihn weiterkämpfen ließ, um zu sehen, ob es irgendwelche Schwächen in seiner Technik gab.

Ein Stich mit dem Schwert, mühsam pariert von dem Drachenbeindolch. Eine Drehung nach rechts nahm das Messer mit sich, sodass die linke Seite des Feuertänzers entblößt war. Ausfall mit dem Dolch. Am Handgelenk gepackt, doch kein Problem, nach unten damit, und während der Feuertänzer abwärts gezogen wurde, aufwärts mit dem Knie in den Magen. Der Griff an Sams Handgelenk lockerte sich. Sam drehte sich zur Seite und riss den Ellbogen hoch, der den Feuertänzer mitten auf die Nase traf. Der Feuertänzer taumelte zurück, und Sams Handgelenk war frei. Er trat einen Schritt vor, und rammte in derselben fließenden Bewegung den Dolch direkt in die Brust des Gegners.

Der Feuertänzer ging zu Boden.

Sam, müde, schweißbedeckt und mit dröhnendem Kopf von zu viel Magie in zu kurzer Zeit, wandte sich zu seinem unverhofften Retter um. Der Kapuzenmann starrte zurück.

»Ah ... danke.« Der Mann sagte nichts. »Das war Hilfe zur rechten Zeit. Aber ich schätze, es war kein Zufall, oder?«

Immer noch gab der Mann keine Antwort. Sam versuchte es mit einer anderen Sprache, auf Elysisch: »Sprichst du kein Englisch?«

Keine Reaktion. Sam versuchte es in verschiedenen Dialekten der Hölle, dann auf Arkadisch, Französisch, Spanisch, Deutsch, Russisch und Chinesisch, aber nichts davon rief irgendeine Reaktion hervor. Schließlich kehrte er zu Englisch zurück. »Schau mal, ich bin dir wirklich dankbar für die unerwartete Hilfe, aber würde es dir was ausmachen, mir zu sagen, wer du bist? Und welche Rolle du bei dem allen spielst?«

Ein langes, langes Schweigen folgte. »Ich ... bin hier, um

Euch zu schützen. Vor Seth, vor Odin. Ich habe einen Auftrag.« Die Stimme war tief, mit einem leichten Akzent, aber Sam war sich nicht sicher, welchem. Vielleicht doch Elysisch? Eine irdische Sprache, vielleicht Gälisch? »Und es sieht aus, als hättet Ihr es nötig.«

Sam verbiss sich die scharfe Antwort, die ihm auf der Zunge lag. »Sehr freundlich von dir. Aber warum? Und wer hat dich beauftragt? Nicht dass ich undankbar wäre,«, fügte er hinzu.

»Ich bin beauftragt worden, Euch auch vor Euch selbst zu schützen.«

Das schmeckte Sam noch weniger. »Ach«, knurrte er schließlich. »Was ist denn so gefährlich an mir selbst?«

»Ihr versucht, Seth zu bekämpfen? Zu Uranos zu gelangen, bevor er es tut?«

»Vielleicht«, gab Sam zu. »Aber ich sehe nicht so ganz, was dich das angeht.«

»Der Pfad, den Ihr einschlagen wollt, ist gefährlich. Es gibt Leute, die Euch davon abbringen wollen, zu Eurem eigenen Wohl.«

»Und dann wird es niemanden mehr geben, der Seth aufhält, und Uranos kommt frei, und wir alle werden frittiert, richtig?«, sagte Sam. »Entschuldigung, aber ich halte das für keine so gute Idee.«

Die Gestalt zuckte die Schultern. »Ich werde Euch beschützen, ganz gleich, was geschieht. Ob Ihr es wollt oder nicht.«

»Wenn du mir nicht sagen willst, wer dich geschickt hat, nenn mir wenigstens deinen Namen.«

»Nein.«

»Gib mir einen Anhaltspunkt, sonst werde ich dich Tinkerbell nennen.«

Der Fremde zögerte. Damit hatte er anscheinend nicht gerechnet. »Tinkerbell?«, echote er mit einem ungläubigen Ton in der Stimme.

»Genau«, sagte Sam. »Wie in Peter Pan. Ich bin mir sicher, jemand von deiner Statur möchte solch einen Namen nicht unbedingt bis an sein Lebensende mit sich herumschleppen.«

»Man hat mich schon Schlimmeres genannt«, sagte der Mann und wandte sich zum Gehen.

Sam lief ihm nach und fasste ihn an der Schulter. »He, warte!«

Der Mann bewegte sich so schnell, dass Sam es kaum sah. In einer Sekunde schaute er noch in die andere Richtung, in der nächsten standen sie Auge in Auge. Seine Hand hielt Sams Handgelenk fest wie eine Schraubzwinge. Er drehte Sam so schnell und hart den Arm auf den Rücken, dass Sam Tränen in die Augen schossen.

»Macht mir keine Schwierigkeiten, Lucifer. Ich bin leicht reizbar.«

»Kein Problem, Tinkerbell«, keuchte Sam. Nach einer schrecklich langen Zeit ließ der Druck nach, und er sackte nach vorn. Etwas Hartes traf ihn im Magen, und er klappte zusammen. Galle brannte ihm in der Kehle. Als er aufblickte, entfernte sich Tinkerbell bereits mit leichtem Schritt durch den Park. Sam verzichtete darauf, ihm zu folgen. Er lag auf dem versengten Gras und hatte genug Probleme damit, Luft zu kriegen, ohne sich übergeben zu müssen.

Sehr langsam hörte die Welt auf, sich um ihn zu drehen, und Sam fühlte sich stark genug, die Geschehnisse des Abends mit Verstand zu rekapitulieren. Was ihn alarmierte, war, dass Tinkerbell von jemandem beauftragt worden war, ihn zu beschützen. Einem Jemand, der offenbar eigene Absichten verfolgte.

Stimmen stiegen in seiner Erinnerung auf, frisch von der Sichtung.

Und wenn er uns in die Quere kommt ?

Halte ihn auf. Aber lass ihn nicht sterben. Er darf nicht sterben, das ist wichtig. Aber er darf sich auch nicht einmischen.

Ich diene.

Eine Kuppel mit einem Kreuz darauf; eine silberne Klinge, die einen Fluss kreuzt: die Millennium Bridge, die Themse. Er hatte durch ein Fenster geblickt, durch das man auf die City of London, über die Brücke und hinauf zur St. Paul's Cathedral schauen konnte.

Jeder Knochen im Leib tat ihm weh. Dennoch rappelte Sam sich auf. Irgendwo auf der Südseite der Themse würde er eine Antwort finden. Er liebte nun mal keine offenen Fragen.