10 

Tinkerbell

 

Er erwachte in einem warmen Bett in einem warmen Raum, umgeben von orangefarbenem Licht. Eine lange Zeit rührte er sich nicht, sondern lauschte in seinen Kopf hinein. Keine Stimmen dröhnten in seinen Ohren, doch wenn er sich anstrengte, konnte er das leise Wispern von tausend Geistern hören, das nach und nach verklang.

Und ich.

Und ich.

Und ich.

Welche Stimme gehört mir ?

Und mir...?

Er konnte niemanden im Raum spüren. Also setzte er sich langsam auf und sah sich um. Es war mehr eine Art Grotte, die in den Felsen getrieben worden war. Das gelbliche Gestein war grob und unregelmäßig behauen, sodass das Bett die Wand nur an ein paar Stellen berührte und wackelig auf dem unebenen Boden stand. Es war ein seltsames Bett: Die Decken waren rau und kratzig, die Matratze roch nach ... irgendwas. Irgendeiner Art Tier, und nicht besonders hygienisch.

Am Fußende des Bettes hatte jemand frische Kleidung ausgebreitet. Sie war aus schwarzer Seide und sah aus, als wäre sie entworfen worden, um ihm ein besonders teuflisches Aussehen zu geben. Immerhin waren die Sachen besser als die Lumpen, die er trug, also nahm er sie an sich. Auf der einen Seite der Höhle war ein Durchgang, so niedrig, dass er sich ducken musste. Dahinter hatte jemand einen Vorhang aufgespannt. Sam schob ihn beiseite und sah im Halbdunkel ein kleines steinernes Bad vor sich mit einem Becken voll lauwarmem stehendem Wasser.

Das Wasser sah einigermaßen klar aus, also steckte Sam den Kopf hinein, wusch sich, zog sich um, und als er aus dem winzigen Bad herauskam, fühlte er sich schon viel besser. Neben dem Bett stand sogar, wie er mit einem Lächeln feststellte, ein Paar Turnschuhe in seiner Größe. Sie passten nicht wirklich zu der schwarzen Seidenkleidung, die an seinem schlanken Körper schlaff herunterhing, doch sie waren bequem, und das allein zählte. Er ging zu der einfachen Holztür, die aus groben, zusammengenagelten Bohlen bestand, und zog an dem Knauf. Die Tür war abgeschlossen.

Neuer Versuch. Er ging zur anderen Seite des Raums, wo die weite Höhlenöffnung auf einen kleinen Sims hinausführte. Darunter fiel der Fels mehr als dreißig Meter in die Tiefe. Der Vorsprung hatte kein Geländer, aber Sam konnte die Magie in der Luft riechen. Er schnippte mit den Fingern und war nicht einmal überrascht, als ein gelber Funke von dem Schirm abprallte, der den Sims umgab. Er trat so weit an den Rand des Vorsprungs, wie es ging, und blickte hinunter auf Ausstellungsstück B. Es war groß, es war hell, es war gelborange, und es erstreckte sich verdammt weit.

Es gab keinen Hinweis auf irgendetwas Lebendes in dieser Wüste, und die Felswand, in die seine Höhle eingelassen war, war über die Jahrtausende von Sandstürmen glatt geschliffen worden. Er wollte sich lieber nicht ausmalen, wie irgendetwas, ob Schlange, Käfer oder Wurm, dort draußen überleben konnte. Die selten untergehende Sonne der Hölle hing groß und grell über dem Horizont. Es kümmerte sie nicht, ob jemand durstig war und einen Platz im Schatten suchte. Es reichte ihr schon, dass sie gezwungen war, wenigstens ein paar Tage im Jahr hinter dem Horizont zu versinken. Sam wandte sich von der Höhlenöffnung ab. Es würde einige

Zeit dauern, sich einen Weg durch diese schweren Schutzzauber zu bahnen, und vermutlich mehr Aufmerksamkeit erregen, als es der Mühe wert war. Außerdem) wohin sollte er gehen?

Er klopfte an die Tür und rief: »He!« Keine Reaktion. Er ging auf und ab und wartete auf eine Antwort. Immer noch nichts. Das war entmutigend, denn »He« war eines jener universellen Worte, die in allen Sprachen dasselbe zu bedeuten schienen, selbst für Leute, die es nie zuvor gehört hatten. Nach einer Weile ging er zu der Tür zurück, hämmerte noch einmal dagegen und schrie auf Elysisch, so laut er konnte: »Es kommt durch die Wände, es kommt durch die Wände, o ihr Götter, wir werden sterben!«, und stieß einen gurgelnden Laut aus.

Die Tür ging auf. Ein Dämon stand da mit gezücktem Schwert. Sam strahlte. »Danke für die prompte Bedienung. Ich habe nur ein paar Fragen -«

Die Wache, die sich vergewissert hatte, dass nichts wirklich durch die Wände kam, knallte die Tür zu. Sam seufzte und fuhr fort, auf und ab zu gehen. Nach ein paar Minuten ging die Tür wieder auf, und ein weiblicher Dämon kam herein, mit einem Tablett in den Händen. Die Dämonin stellte das Tablett neben Sams Bett auf dem Boden ab und wandte sich zum Gehen. »Warte!«, sagte er und sprang auf sie zu. Sie drehte sich um und zog, ohne etwas zu sagen, von irgendwo in ihrer Kleidung ein kleines, aber scharf aussehendes Messer hervor.

Ihr Gesichtsausdruck war unmissverständlich. Also hielt Sam inne. »Ich wollte nur was fragen«, sagte er. »Wo bin ich hier?«

Ohne ein Wort drehte sie sich um und schloss im Gehen die Tür hinter sich.

Sam ging zu dem Tablett hinüber und ließ sich im Schneidersitz daneben nieder. Er hob einen Steingutdeckel an und spähte darunter. Es war leider Cuisine à la Hölle, aber der Hunger würde es reintreiben. Es schmeckte ein bisschen, wie die Matratze roch - aber letztlich war alles in der Hölle aus denselben drei Tieren gemacht, seien es Bettbezüge oder Frühstück. Er wollte lieber nicht darüber spekulieren, woraus die seltsame rote Soße bestand, die seinem bereits trockenen Mund alle Feuchtigkeit zu entziehen schien. Sie schmeckte ungefähr wie eine Tomate, die man einen Monat lang in Chlor eingelegt hatte, und die schwarzen Stücke, die darin schwammen, sahen beunruhigend fleischig aus. Er aß den Teller trotzdem leer und legte sich wieder auf das Bett. Er fragte sich, wo wohl die Sonnencreme abgeblieben war, die er für diese Art von Ausflügen mit sich herumzuschleppen pflegte. Hatte er sie aufgebraucht? Vermutlich nicht. Wahrscheinlich war sie an irgendeinem Punkt seiner Reise eingeäschert, aufgelöst, zerquetscht oder in tausend kleine Stücke zerbombt worden.

Wieder öffnete sich die Tür. Mit einem sorgfältig einstudierten Gesichtsausdruck völligen Desinteresses wandte er den Kopf. Tinkerbell grinste ihn an und zog die Tür hinter sich zu, als er in den Raum trat.

»Wenn du bloß gekommen bist, um dich in mysteriöses Schweigen zu hüllen, kannst du gleich wieder abhauen«, sagte Sam.

»Das ist aber keine nette Begrüßung für Euren Schutzengel.«

Sam richtete sich langsam auf seine Ellbogen auf. »Weißt du, du hast völlig Recht. Kann ich dir was anbieten? Gutbürgerliche Höllenküche.« »Nein, danke. Ich hab mir 'ne Pizza kommen lassen.« »Ich habe es geahnt«, sagte Sam säuerlich. »Pizza Hut hat jetzt endlich auch in der Hölle eine Filiale aufgemacht. Jetzt weiß ich, dass das Ende der Welt nahe ist.«

»Tatsächlich habe ich sie mir selbst geholt. Über die Weltenpfade«, sagte Tinkerbell. Er ließ sich auf die Bettkante nieder, mit dem Rücken zu Sam, und begann an einem losen Faden in der Matratze zu zupfen.

Sam hob die Augenbrauen. »Du bist kein Weltenwandler!«, sagte er schließlich und sah den riesigen Mann von oben bis unten an.

»Dritte Generation. Eshú war mein Großvater.«

Sam durchforschte sein Gedächtnis. »Ein Sohn von Chaos. Ging nur auf die Erde' für Sex, Drogen und das Glastonbury-Festival. Ich bin ihm einmal begegnet.«

»Ich nie. Wie war er?«

»Ehrlich gesagt, er war nicht mein Typ. Chaossöhne können sehr temperamentvoll sein. Er hat versucht, mir das Tanzen beizubringen, und als er merkte, dass ich nicht nach seiner Pfeife tanzen wollte, kriegte er den Rappel und versuchte, mir zu zeigen, wie man einem mit der reinen Macht des Chaos die Innereien herauspustet. Also zeigte ich ihm, wie man sich mit Magie gegen Chaos schützt, und er zeigte mir, wie man durch entsprechend langes Draufhauen einen auf Ordnung gebauten Schild zerdeppert, und ich zeigte ihm, wie man jemanden hart genug auf die Rübe haut, um ihm die Nase zu brechen. Darauf brachte er eine sehr gute Imitation von jemandem zuwege, der auf dem Boden zusammenklappt, worauf ich mich dann verabschiedete.«

»Klingt nach einer kurzen, aber wunderbaren Freundschaft.«

»Vor allem kurz. Ich hoffe, wir können trotzdem Freunde sein. Wenn du ein Sohn von Chaos bist, wieso >Nachtbrut<?«

Tinkerbell seufzte. Stand auf. Ging auf und ab. Er machte einen aufgewühlten Eindruck. »Wisst Ihr, wo Ihr seid?«, fragte er plötzlich, ohne auf Sams Frage einzugehen.

»Sag's mir.«

»Ihr seid in der Festung der Ashen'ia, hundert Kilometer östlich von Pandämonium.«

»Freut mich zu hören.«

»Natürlich benutze ich den Begriff >Festung< nur im übertragenen Sinne. James Bond würde darüber lachen.«

»Ist der Meister hier?«

»Ja.« .

»Und die Meisterin?«

»Ja, auch.«

»Und wo ist Seth?«

»Irgendwo da draußen«, sagte er mit einer vagen Handbewegung in Richtung Wüste.

»Tinkerbell«, sagte Sam streng. »Seth ist mein Feind, nicht die Ashen'ia.«

»Ihr seid vor dem Meister fortgelaufen«, sagte Tinkerbell. »Hattet Ihr Angst vor ihm, oder war es etwas anderes? Ich weiß, er ist ein Weltenwandler, ein Sohn von Vater Zeit in erster Generation. Welcher Weltenwandler könnte Euch dazu bringen, fortzulaufen oder zu kämpfen?«

»Wir könnten Verbündete sein«, sagte Sam vorsichtig und setzte sich weiter auf. »Sag mir, was du willst, und ich sage dir, was ich will.«

»Ich weiß, was Ihr wollt«, sagte Tinkerbell. »Euer Ziel ist einfach: Ihr wollt überleben, wollt frei sein, wollt glücklich leben bis ans Ende aller Tage. Im Idealfall wollt Ihr ein Paar Pantoffeln und Euren Frieden.«

Sam zuckte die Achseln. »Für den Augenblick würde das reichen. Und du? Was willst du?«

Tinkerbell lächelte. Es war ein langes, langsames Lächeln, das genug Zeit in Anspruch nahm, um Sams Gesicht zu studieren und dessen Wurzel zweiter und dritter Potenz. »Ich? Ich bin ein Sohn des Chronos in dritter Generation. Halb taub, halb blind stolpere ich über die Weltenpfade. Ich gehöre in keine Welt, weder zu Himmel noch Hölle noch Erde. In meiner Situation, was würdet Ihr wollen?«

»Vielleicht hätte ich die Frage präzisieren sollen: Was willst du, wobei die Ashen'ia die helfen können? Oder ich«, fügte Sam mit einem dunklen Unterton in der Stimme hinzu.

Einen Moment lang dachte er, Tinkerbell würde die Frage wirklich beantworten. Dann grinste der Mann, schüttelte den Kopf und sagte: »Ihr gebt nicht leicht auf, nicht wahr?«

»Also hör auf herumzuzicken, und antworte auf die Frage!«

»Ich will... Rache.«

»Wofür, an wem und wie? Vorzugsweise in dieser Reihenfolge, mit Bildchen, wenn nötig.«

Allenfalls der Anflug eines Lächelns erschien auf Tinkerbells Gesicht. Sam fragte sich, wie bewusst Tinkerbell sein Lächeln einsetzte. »In dieser Reihenfolge - erstens: für den Verrat an meiner Familie, zweitens: das sage ich nicht, und drittens: mit einer scharfen Klinge.«

»Dieser Verräter - ist er ein Engel, Mensch, Elf, Dämon, Weltenwandler oder was sonst?«

»Weltenwandler.«

»Irgendjemand, den ich bei diesem kommenden Konflikt im Auge haben sollte?«

»Nein.«

»Also nicht Jehova, Seth, Odin -«

»Nein«, fiel er ihm scharf ins Wort.

»>Nein, keiner von ihnen< oder >Nein, das sage ich nicht«?«

»Wenn Uranos besiegt ist, dann kann ich an Rache denken. Sie hat mit dieser kommenden Schlacht nichts zu tun.«

»Aber sobald das Ende der Welt verhindert worden ist, willst auch du mich für deine Zwecke benutzen? So wie die Ashen'ia es planen?«

»Ja.«

»Und... ich schätze, du willst auch die Ashen'ia dafür benutzen.«

»Wie kommt Ihr darauf?«

»Du kommst mir nicht wie einer von der Sorte vor, der seine Seele für einen Pipifax verkauft.«

Tinkerbells Augen verengten sich ein ganz klein wenig, aber

das Lächeln blieb wie eingefroren. »Ich habe es immer als Ironie empfunden, dass die Leute ihre Seele dem Satan verkaufen sollten. Welchen Nutzen hätte er davon?«

»Außerdem«, stimmte Sam mit einem Seufzer zu, »kann nur ein Vampir einem die Seele rauben. Oder eine Höhere Macht. Und ich bin keins von beidem. Also, wenn dies alles vorbei ist würdest du mich holen kommen?«

»Wenn sich die Dinge entwickeln, wie ich hoffe, werde ich Eure Hilfe vermutlich nicht brauchen.« »Und was hoffst du, Tinkerbell?«

Der große Mann legte den Kopf zur Seite, in einer seltsam kindlich wirkenden Geste des Bedauerns. Schließlich sagte er: »Das bringt uns jetzt nicht weiter... War's das?« »Fast. Wie ist dein wirklicher Name?«

Auf dem Weg zur Tür drehte sich Tinkerbell um und grinste. »Brian Hunter.«

Sam wog diese Information ab; sein Gesicht sprach Bände, als er den Namen hin und her wälzte. Ein Urenkel von Vater Zeit, über eins achtzig groß und mit einer Axt bewaffnet. Name: Brian. Lieblingsessen: Pizza. Es passte irgendwie nicht zusammen.

»Freut mich, dich kennen zu lernen. Meinen Namen dürftest du ja kennen.«

»Ich fürchte, ja. Obwohl ich immer gedacht habe, dass Ihr eine so schlechte Presse nicht verdient.« In der Tür hielt er inne. »Denkt darüber nach, Lucifer!«