VIELLEICHT WEISS ES DIE TAUBE

Die Wand mir gegenüber ist so weiß wie Papier oder so weiß wie Schnee. Es ist eine spanische Wand, ich befinde mich in den Picos de Europa. Wir haben Mai, und es schneit. Der Parador, in dem ich abgestiegen bin, liegt unterhalb einer Bergwand, doch das ist zu freundlich ausgedrückt. Drachenzähne, Gottesgebiß, Gestein mit Zacken, Kerben, Wunden. Es sind die Täler und Pässe der Könige von Asturien, die einst die Geschichte Europas veränderten und damit die der Welt. Das klingt geheimnisvoll und hört sich nach Übertreibung an, doch derjenige, der dies niederschreibt, befindet sich im Einklang mit seiner Umgebung. Die Natur zieht hier alle Register. Das Meer liegt dreißig Kilometer weiter nördlich, die Bergwand, unter der sich diese Herberge versteckt, reicht an die Dreitausendmetergrenze, die granitene Kulisse einer Bühne ohne Vorstellung, ein Halbrund grauen, zerklüfteten Gesteins, vor dem alles Unsinn wird. Der Weg hört hier auf, hinter den uneinnehmbaren Mauern leben Adler, Bären, Auerhähne. Fuente Dé heißt der Parador, in den Bergen oben entspringt der Río Deva, der sich bis zum Meer durchkämpfen muß und so die Schluchten ausgewaschen hat, durch die ich gestern gefahren bin.

Es ist natürlich nicht die Zeit, die in dieser Gegend stillgestanden hat, auch wenn man es gern glauben möchte, es sind die Berge. Was sich bewegt hat, ist die Geschichte, und was hier geatmet hat, sind die Jahreszeiten. Heiße Sommer, verbissene Winter, und dazwischen das menschliche Treiben. Nie verändert: Jäger, Hirten, Bauern, Nachfahren der Kantabrer und der Goten. Nie unterworfen von Mauren, Sarazenen, Muslimen, wie immer man sie nennen mag. Von hier aus begann die Rückeroberung Spaniens, die Reconquista. Eroberung wäre das richtigere Wort, aber in diesem »Zurück« drückt sich der mit sieben Jahrhunderten unendlich lange Weg bis zum Sieg des Katholischen Königspaars bei Granada aus, der mit jenem ersten König von Asturien, Pelayo, und seinem Sieg über eine islamische Strafexpedition bei Covadonga begann. Das Tal, in dem dies geschah, ist heute ein nationales Heiligtum. Covadonga ist ein Schlüsselwort in der spanischen Geschichte.

Je mehr man liest, um so mehr Material häuft sich an, bis man merkt, daß man in einem Zimmer sitzt mit einem Puzzle, größer als das Zimmer selbst, und daß es um einen her Dutzende anderer Zimmer gibt, in denen in Schränken, Kartons und Körben noch mehr Material verwahrt wird. Und plötzlich kommt man sich wie der einsame Verrückte aus einem absurden Theaterstück vor, vor sich hin murmelnd, Papiere hin und her schiebend, auf der Suche nach dem, was noch fehlt, und dabei doch schon ertrinkend in dem, was alles vor einem liegt. Das bin ich. Mein Antipode ist der Historiker, gar nicht einmal der Geschichtsphilosoph, nein, der Fachmann, die Biene in Menschengestalt, die ihr Leben in Archiven und Klosterbibliotheken verbringt und nur alle paar Jahre mit einem bislang fehlenden Puzzleteil ans Tageslicht tritt, was das Puzzle lediglich noch größer macht.

Je detaillierter die Geschichte, um so größer die Fülle der zusammengetragenen Fakten und Motive, eine Mischung aus Chaos und Logik, Irrationalität, Stumpfsinn, Rätselhaftigkeit. Wenn es ein Auge gäbe, das sich aus der Zeit herausnehmen und wie ein magischer, allsehender Computer alle Fäden des Knäuels entwirren kann, so müßte sich herausstellen, daß alles von Anfang an logisch verlaufen ist, einschließlich der Irrationalität. Logisch? Ja, aber nur deshalb, weil es sich so und nicht anders abgespielt hat, eine spätere Logik, die das Wahnsinnsknäuel nachträglich zum System erklärt. Von diesem Auge hat fast jeder geträumt, Hegel, Humboldt, jeder wünscht sich die letzte Klarheit, wie auch immer sie im folgenden genannt werden mag, selbst Absicht ist zulässig. Niemand will den üblen Sumpf der Fakten und Ungereimtheiten als seinen natürlichen Aufenthaltsort akzeptieren, denn wer wäre man dann selbst?

Westgoten sind nach Spanien vorgedrungen, sie regieren das Land von Toledo aus. Ein Blick auf ihre Gesetze, ihre Regierungsform, ihre Wahlkönige, Schriftzeichen, Kirchen, von denen einige noch völlig intakt in der spanischen Landschaft stehen, genügt, um die mit ihrem Namen irgendwie verbundene Vorstellung, es seien Barbaren, fallenzulassen. 475 brechen sie den alten foedus, der sie mit dem Römischen Reich verband, und bilden einen unabhängigen Staat, der dreihundert Jahre später wie Zunder niederbrennt. Wie kam es dazu? Zwist innerhalb des Königshauses, zunehmende Ohnmacht des Staates, Auslaugung durch die von den Großen des Reiches erhobenen Abgaben, ein Antisemitismus, der sich auf die Wirtschaft des Landes auswirkt. Dieser eine Sprung, den ich hier gemacht habe, umfaßt schon dreihundert Jahre. Welch Paradox, daß man vergangene Zeit so verdichten muß, weil man sonst keine Zeit hat!

Es ist Mode geworden, das, was jetzt geschieht, als Ironie zu bezeichnen. Ich wollte das eigentlich nicht, werde aber erst erzählen, was geschieht. Es klopft an der Tür, jemand bringt eine Zeitung. Zur Erinnerung: Ich sitze in einem Zimmer (umgeben von zu vielen Geschichtsbüchern, der Idiot aus dem Theaterstück mit seinem immer größer werdenden Puzzle) in einer verlassenen Landschaft im frühen Königreich Asturien, Ausgangspunkt der Rückeroberung Spaniens von den aus Marokko gekommenen Arabern. Wir waren beim Jahr 722, bei einem – wie auch immer – spanischen König stehengeblieben, der der Geschichte nach = Mythos = Legende den Anstoß zu dieser Gegenbewegung gab. 1986 – 722 = 1264. Auf der Titelseite der Zeitung ein Foto des spanischen und des marokkanischen Kronprinzen. Philipp von Bourbon und Griechenland empfängt Sidi Mohammed. Leg dieses Foto auf dein Geschichtsbuch, und es entsteht ein Spiegeleffekt, den man natürlich als Ironie der Geschichte bezeichnen kann, aber auch als Teil des Puzzles, mit dem man sich herumplagen muß. Auf irgendeine Weise »gehört« dieses Foto zur Schlacht am Gualete, 711, in der die »Spanier« von den »Marokkanern« geschlagen wurden, und zu jenem ersten Gegenschlag, elf Jahre später, bei Covadonga.

Was bringt mich auf derlei Gedanken? Fast alles, angefangen bei den baskischen Wörtern auf den Schildern entlang der Straße hierher (itxita, geschlossen, irterra, Ausfahrt, hartu ticketa, ziehen Sie Ihre Karte) bis hin zu der mozarabischen Kirche, nach der ich im Deva-Tal gesucht habe, und den Blättern aus dem Beatus von Liébana, die ich im Kloster Santo Toribio sah. Noch immer beherrschen die Basken, wenn auch auf negative Weise, die spanische Geschichte. Auf einer Karte, die die Situation im siebten Jahrhundert zeigt, ist das Baskenland mit grauen Pünktchen markiert: Die Westgoten machten einen Bogen darum, die Vascones wurden nie von ihnen unterworfen, und Felipe González hat heute noch seine Probleme mit ihnen. Franco konnte die baskische Sprache noch verbieten, doch die heutigen Basken lassen sich nicht abspeisen mit einer schemenhaften Form von Autonomie und ein paar symbolischen Worten entlang der autopista, sie nicht. Viel lieber vernichten sie den spanischen Staat, und zwar mit allen Mitteln, inklusive Mord. Der Stimmenanteil für die politische Partei, die der verlängerte Arm der ETA ist, Henrí Bakasuna, zeigt, daß fünfzehn Prozent der Basken noch immer zur Gewaltanwendung bereit sind. Da ist es auch kein Paradox mehr, daß man Mandate bei Wahlen erringt, die es dank der Demokratie gibt, und daß man dann auf ebendiese Demokratie pfeift, indem man seinen Sitz im Parlament nicht einnimmt.

Der Weg hierher. Ich bin über Santander gefahren, an der Costa Montañesa entlang, rechts das Meer, links die Berge. Dann bei Unquera auf die N 621 abgebogen, eine gelbe Straße, die entlang dem Río Deva in die Berge führt. Rechts liegt die Sierra de Cuera, und bei Panes beginnt eine Paßstraße von fünfundzwanzig Kilometern Länge. An seinem Ende liegt Lebeña, und meine Kirche. Es ist ein Durchzugsgebiet, so eines, wie die Geschichte es für Durchmärsche, Hinterhalte, wechselseitige Befruchtung, Vermischung nutzt. Ich fahre entgegen dem Flußlauf des Río Deva, den Windungen folgend, mal zwischen gefräßigem Gestein, dann wieder mit unvermittelten Ausblicken auf arkadische Täler, Bauernhöfe mit Schieferdächern, Bergland. Es herrscht kaum Verkehr, im Autoradio das Gluckern und Blubbern der Wahlen, neue Geschichte, die irgendwann einmal ebenso ungerechterweise zur ungenießbaren Suppe einer einzigen Seite eingekocht werden wird, all diese Millionen von Worten, Fakten und Gesten, Bildern und Versprechungen, die alle so lange da waren, wie die Realität braucht, um etwas zu bewirken, um dann, in jenem Später, das nicht mehr das unsrige ist, verdichtet, verstümmelt, zusammengepreßt zu werden zu nicht mehr als einem einzigen Buch, einem Kapitel, einer Seite, einem Satz. Die Unausweichlichkeit dieses Gedankens hat etwas Garstiges. Aber was hättest du denn statt dessen gewollt? Schau lieber auf die Blumen am Straßenrand. Du kennst nicht einmal ihre ewigen Namen, die Wörter, mit denen sie benannt werden, seit hier Stimmen ertönen. Bruder Distel, Schwester Mohnblume, alles wiegt sich im sanften Bergwind.

Abbildung

Lebeña. Santa María del Lebeña

Die Picos de Europa im Westen, im Osten die Sierra de Peña Sagra, so liegt dieser Landstrich zwischen dem alten Kantabrien und Asturien. Namen wie ein Lied. Durchgang. Von hier aus wurde das weite, leere Gebiet, die Meseta, zwischen Ebro und Duero zurückerobert, León ist über den Paß San Glorio erreichbar, Kastilien über den Paß Piedras Luengas. Hierher, über die entvölkerten Ebenen von den neuen Herrschern aus Afrika gejagt, flüchteten die Christen aus dem Süden. Erst später erhalten sie ihren Namen: muztarabes, muzarabes, im heutigen Spanisch mozárabes. Anachronismus, die Ereignisse gingen dem Namen voran. Christen, die im Einflußbereich des Islam lebten. Das Eigenschaftswort wird auf eine Liturgie, eine Architektur, auf Musik, auf Stil angewandt. Die Formenwelt des Mittleren Ostens ist im Zuge der Invasion aus Nordafrika nach Spanien gelangt, Hufeisenbögen, Fabeltiere aus Persien, stilisierte Pflanzen, die man im kühlen Norden nie gesehen hat, geometrische, obsessive Formen, spiegelbildliche Wiederholungen, wie Blütenstaub sind sie von fliehenden menschlichen Bienen durch diese Bergpässe getragen, aus Stein gehauen und auf Pergament gezeichnet worden, noch heute zu sehen, bewahrt.

Mir ist, als käme ich aus dem Gefängnis, als nach einer letzten Kurve auf einmal das Dorf vor mir liegt, in einem Tal von großer Stille und einem archaischen Grün, das noch durch den Regen verstärkt wird, der jetzt zu fallen beginnt. Ich fahre zur Kirche. Apfelbäume in Blüte, niemand zu sehen. »Wo der schmale Paß einem Ring bewachsener Berge weicht, sieht man links, auf der anderen Seite des Flusses, die Kirche und dahinter das Dorf. Wenn der Pfarrer nicht da ist, im Dorf nach dem Schlüssel fragen.« Aber der Pfarrer ist nie da in solchen Dörfern, die Art ist ausgestorben. Manchmal kommt er einmal in der Woche oder einmal in zwei Wochen, es gibt hier zu wenig Menschen zu betreuen. Die Tür ist verschlossen. Ich gehe ins Dorf, ein paar Häuser, Gassen aus Kuhmist und weichem Matsch, Treppen aus Stein gehauen. Vor den Türen niedrige schwarze Pantinen, mit drei Füßchen darunter. Es regnet hier oft. Wie in einem Film spüre ich, wie jemand mich ansieht, und bevor sie sich zurückziehen kann, habe ich die weißhaarige kleine Frau hinter dem Türspalt ihres Hauses gesehen. Ich frage, wer den Schlüssel hat, und sie zeigt auf das nächste Haus. Unbewohnt wirkt das Dorf, nirgends ein Laut. Ich steige die rohen Steinstufen zu dem kleinen Haus hinauf und klopfe. Geschlurfe, ein alter Mann. Ich frage, ob er den Schlüssel habe, und er sagt »Ja«, aber ich solle erst reinkommen. Ob ich einen orujo wolle? Ob ich wisse, was ein orujo sei? Ja, das weiß ich, und ich weiß auch, daß kein Weg daran vorbeiführen wird. Eine Bauernversion des marc, des grappa, Schnaps, der aus den Schalen und Kernen von Weintrauben nach dem Keltern gebrannt wird. Traubenhefe sagt mein spanisches Wörterbuch dazu. Bodensatz, Hefe, das, was der Überlieferung zufolge für die Gottlosen übrigbleibt.

Wir gehen hinein. Seine Frau, gebeugt, schwarz gekleidet. Auf einem Büfett das Foto sehr toter Menschen, selbst als sie noch lebten, waren sie bereits tot, es gibt eine Art des Fotografierens, die das kann, den Tod voraussagen. Aus dem Nichts heraus blicken sie auf den seltsamen Fremden in der Wohnstube ihrer doch auch schon so alten Kinder. Der Mann trinkt nichts, vergiftet wird der Fremde. Die Stube ist klein, sehr dunkel. Die Frau wärmt sich die Füße an einem Kohlenbecken, Regen an den Scheiben. Alles geschieht, wie es geschehen muß, wie in der Legende, hier gibt es noch keine anderen Formen. Gestern, im zehnten Jahrhundert, hat er beim Bau dieser mozarabischen Kirche geholfen, heute kommt der tausend Jahre alte Fremde, und der Gastgeber fragt, wo er herkomme. »Aus Holland.« »Der Prinz mit dem Bart«, sagt der Mann zu der Frau, und zu mir: »Ihr Prinz, der mit der Königin verheiratet ist.« Ich sehe ihn an. »Der so tapfer gegen die Deutschen gekämpft hat.« »Das ist der Mann unserer vorigen Königin. Jetzt haben wir einen anderen Prinzen.« Das wundert ihn nicht. Prinzen folgen aufeinander und bekommen andere Prinzen. »Aber der hat keinen Bart«, sage ich. »Der gegen die Deutschen gekämpft hat, hatte aber einen«, sagt er.

Es wird still in der Stube. Die Uhr benimmt sich wie eine Sanduhr und teilt eine weitere Minute aus.

Sie hätten keinen Prinzen, sie hätten einen König, sagt er.

Der einzige, der seine Hände nicht mit Blut befleckt habe, sagt er. Que no se ha manchado las manos con sangre. Es ist unmöglich, bei dieser Zeile aus einem chanson de geste etwas anderes zu sehen als Hände und Blut. Hier ist ein Satz noch soviel wie die Summe aller seiner Wörter. Er selbst hat im Bürgerkrieg gekämpft. Auf der richtigen Seite. Daher sein mühsamer Gang.

Ich trinke von dem orujo, der wie ein Messer in mich schneidet.

Sein Bruder habe in Rußland gekämpft, in der Blauen Division. Der sei auch verwundet worden. Spanien, Gegensätze. Es wurde in ein und demselben Ton gesagt, es war kein Wertewandel in diesen Sätzen. Er. Sein Bruder. Rußland, die Republik. Verwundet. Wollen Sie noch einen orujo? Nein danke.

Wir gehen zur Kirche. Ich frage mich, was ich sehen würde, wenn ich dieses Gebäude nicht mit historischen Augen betrachten würde. Eine schöne ländliche kleine Kirche, alt, in einem verlassenen Winkel. Man sieht sie vom Auto aus, fügt sie zu den übrigen Herrlichkeiten und fährt weiter. Das geht jetzt nicht mehr. In meinem Auto liegt hinten ein Band der Reihe Zodiaque, La nuit des temps, eine Ausgabe (Nr. 47) der Abtei Sainte Marie de la Pierre-qui-Vire (Yonne). Die ganze Reihe – schon jetzt mehr als hundert Bände – ist der romanischen Kunst gewidmet, und dies ist der zweite Band, der die präromanische Kunst Spaniens behandelt. Es sind stattliche Bücher, jedes über 400 Seiten stark, voll mit phantastischen Fotos von jemandem, dem sichtlich kein Interieur zu dunkel ist. Die Detektive, die sie verfassen, gehen an keinem Stein, Ornament, Dokument vorbei, man wird gezwungen, mit Augen zu schauen, von deren Existenz man bislang keine Ahnung hatte. Der Band, den ich auf dieser Reise dabei habe, befaßt sich ausschließlich mit der mozarabischen Kunst, die kleinen Kirchen, auf die ich früher in verborgenen Winkeln Spaniens (zum Beispiel in Berlanga de Duero) durch Zufall gestoßen bin, stehen alle darin, komplett mit Grundrissen, Detailzeichnungen, Geschichte. So auch bei dieser Kirche. Der alte Mann hat die Tür aufgeschlossen, und wir gehen hinein, gehen gegen die süßliche, abgestandene Atmosphäre an, die uns zurückzustoßen scheint. Dunkel ist es, ich habe Mühe, Details zu erkennen, doch allmählich siegt das Gebäude, die Struktur zeichnet sich selbst im zunehmenden Licht, doch während ich so technisch wie möglich schauen will, weil ich dafür schließlich gekommen bin, merke ich, daß meine Natur mir befiehlt, in erster Linie etwas zu fühlen. Hier kann sich kaum etwas verändert haben, und fast zwangsläufig kommen beim Berühren dieses so materiellen Selben, des Steins, der Formen aus Stein, die tausend Jahre lang völlig autonom und ungestört dort gestanden haben, eher romantische Phantasien in mir auf, und das ist wesentlich einfacher als die akribischen Betrachtungen Buchs über Einflüsse, Höhenunterschiede, Zwickel, Dachstützen, Kragsteine, Gewölbeformen. Ein heiliger Sherlock Holmes ist hier am Werk gewesen, hat gezirkelt und gemessen, ist über den Boden gekrochen, hat asturische Spuren entdeckt, westgotische Hinweise, mozarabische Täter, er hat Anonymi beim vergeblichen Spurenverwischen ertappt, hat mit geraden und krummen Pfeilen auf Skizzen die »orientation des hauteurs croissantes des supports-colonnes« angegeben, aber ich spreche seinen geweihten Polizeifachjargon nicht, und mein Wörterbuch weigert sich, die Bedeutungen preiszugeben. Der alte Mann sieht mich in den Seiten hin und her blättern, vom Foto wieder zum Kapitell blicken, den Grundriß abschreiten, und er sieht auch, wie ich es schließlich aufgebe und mich meiner Bewunderung hingebe, die Trapezoide, den westlichen Anbau, das griechische Kreuz, die Seitenschiffe und Apsiskapellen dem heiligen Detektiv überlasse und einfach auf die mit orientalischen Pflanzenmotiven verzierten Kapitelle starre, die eine namenlose Hand vor tausend Jahren gemeißelt hat, auf die arabischen Bögen, die sich mir eingegraben haben, seit ich sie in Isfahan, Kairuan, Córdoba gesehen habe, wie ich mich in der Stille wiegen lasse, die zur Abwesenheit anderer Menschen gehört und die man fast nirgends mehr erlebt.

Das Buch habe ich neben mich gelegt, doch ich habe noch einen Führer. Er weiß nicht soviel wie das Buch, aber es ist schon ein Leben lang seine Kirche. Er geht mit seinem schlimmen Bein zum Altar und deutet auf die große Steinplatte, auf der der Altartisch ruht. »Los Godos«, sagt er.

Die Goten, und in seinem Mund bekommen die beiden Wörter eine andere Bedeutung, als gäbe es die fremden nördlichen Stämme noch immer, als könnten sie noch einmal von Norden her, von wo ich komme, einfallen, ihr glücklich-unglückliches Königreich gründen, bis sie wieder von den Arabern geschlagen werden.

Er deutet auf das Schmuckmotiv im Stein, ein großes Rad, umgeben von sechs kleineren. »Das haben sie hier ausgegraben«, sagt er. Die gleichen geometrischen Verzierungen habe ich draußen gesehen, in den langen Steinen, die das Dachgesims stützen, Konsolen, Kragsteine. Jetzt schaue ich auf den Stein am Altar. Das große Rad steht still, aber es sieht aus, als drehte es sich. Vom stillstehenden Mittelpunkt aus sechzehn gebogene Linien, eine fließende Swastika. Rad, ewige Bewegung, ewige Wiederkehr, die Welt ein Rad in einem Rad, sagte Nicolaus Cusanus. Was sahen die Menschen, die hier lebten, in diesem keltischen Echo? Swastika, schwingende Bewegung, fließend dieses Mal, rund und unbeweglich der Mittelpunkt, entgegen den noch nicht existierenden Zeigern der Uhr und der Welt wie bei den Karolingern oder mit quergestellten, auf Weltliches erpichten Haken hinter der Vorstellung der Zeit herjagend wie Hitler auf der Suche nach seinem dämonischen Millennium. Zeichen, Darstellungen, die ausdrückten, was sie dachten, was sie beschwören wollten. Aber was dachten sie, an ihrem beweglichen Schnittpunkt der Denksysteme zwischen Glaube und Aberglaube, Tradition, Ketzerei, Erneuerung? Der Stein hier sagt es und sagt es nicht, ich fahre mit den Händen über die sich reimenden Rillen, als wollte ich der stillstehenden Bewegung einen Schubs geben, und mein Führer lacht. »No se mueve«, sagt er, »es bewegt sich nicht«, aber ist es wirklich so? Sechzehn Arme gehen vom Mittelpunkt aus, Arme, Strahlen, Bahnen, Ranken, gebogene Linien, zierliche Speichen, wie nennt man so etwas? Und auch diese Zahl ist natürlich kein Zufall, unmotivierte Verzierungen gab es nicht, alles drückte etwas aus. Sechzehn, das Vierfache von vier. Aber was will ich damit? Nichts, nur lauschen. Nicht das, was ich über diese Zahlen und Formen sage, ist wahr, sondern das, was sie bedeuten wollen. Rad, Kreis, Swastika, sechzehn, vier, im Chor beginnen sie auf mich einzuflüstern, esoterisches Summen, kabbalistischer Singsang, byzantinisches Gurgeln, Erbe über Erbe, mozarabisches Jubeln, koptisches Pfeifen, mesopotamisches Brummen, keltisches Murmeln, keines schließt die Anwesenheit des anderen aus in diesem sich selbst befruchtenden Jedermannsland. Jetzt bin ich nirgends mehr sicher, auch die Schwelle, die Säule, der Bogen, das Kreuz, die Akanthusblätter und die orientalischen Fabeltiere auf den Kapitellen, die geometrisch stilisierten Blüten an den hohen, schmalen Friesen kommen mit ihren vergessenen Bedeutungen angeflogen und wollen gelesen werden, wie sie einmal gelesen wurden, wiedererkannt werden, wie sie kodiert und gekannt wurden in einer Zeit, in der vier nicht ausschließlich viermal eine Einheit desselben war, sondern, und das bereits seit Anbeginn der Zeit, das Solide, das Greif bare, die Fülle, als Könige eine Vier in ihrem Namen trugen, »Herr der vier Himmelsrichtungen, der vier Meere«, aber damit habe ich mich schon zu weit von meinem Stein entfernt, hin zu sechzehn als der Verdoppelung von acht, zu Hod, dem achten Sefir der Kabbala, dem Glanz, der Glorie, zu der Bedeutung der vier Konsonanten in dem unaussprechlichen Namen YaHWeH, Y der Mensch, H der Löwe, V der Stier, nochmals H, der Adler, und dann fliehe ich vor all diesen düsteren Deutungen über die Schwelle, die das Heilige vom Profanen trennte, und stehe wieder draußen, wo der Regen beruhigend auf Bäume rauscht, die hier nichts bedeuten, da sie von niemandem geschaffen wurden.

Und doch bleibt es merkwürdig: Etwas bedeutet etwas und zugleich nichts. Nicht für mich, wohl aber für denjenigen, der die Kirche baute, die Figuren gravierte, den Grundriß entwarf. Was uns trennt, ist Zeit, was uns verbindet, ist das steinerne Ding, an das ich mich lehne, Schutz vor dem Regen suchend, der immer der gleiche geblieben ist. Drossel, Taube, Krähe, die hätten uns verbunden, denke ich, da Tiere sich die Mühe gemacht haben zu bleiben, wie sie sind. »Das kommt daher, weil sie nicht denken können«, murmelt die Gegenstimme, und doch: Versetze die Taube, die sich dort zwischen den Zweigen des Apfelbaumes zu schaffen macht, tausend Jahre zurück. Vielleicht hört sie das Hämmern von Eisen auf Stein, wo sie diese Kirche gegen das erwartete Ende der Welt bauen, vielleicht hört sie das asturische Gemurmel der Männer, die die Steine nach einer Idee zurechthauen, die sie aus dem Kalifenreich der Omaijaden mitgebracht haben. Sie hört es oder sie hört es nicht, so wie sie mich jetzt mit dem alten Mann neben mir reden hört oder nicht. Nicht, denke ich, denn sie hat andere Sorgen, sie muß werben, sich paaren, ein Nest bauen, Taube sein. Grau und geflügelt würde sie damals, wie heute, mit ihrer Umgebung verschmelzen, niemand würde ihr den Verschleiß der vergangenen tausend Jahre ansehen, sie hat ihre Sprache, ihr Verhalten, ihre Tracht, ihre Bedeutung nicht geändert, sie ist ihr eigener fortdauernder Archetyp, willkommen zwischen Tauben und Menschen, beschäftigt mit der ewigen Wiederholungsübung aller Tauben: ein taubiges Dasein. Taube, duif, pigeon, paloma, der Vogel, den es schon gab, bevor er zum Geist ernannt und für heilig erklärt wurde, wenngleich es wohl Austernfischer geben wird, die sagen, daß die Idee des Einen bereits im Anderen eingeschlossen war.

Ich, der ich kein Scholastiker bin, weiß es nicht, ich schütze mich vor dem Regen an der Kirche von Lebeña und sitze in meinem Zimmer im Gasthof Fuente Dé an einem Tisch voller Fotos, Notizen, Bücher. Ich muß hinaus, bevor es Abend wird, mit der Seilbahn die unerbittliche Bergwand hinauf. Ich darf nicht nach oben schauen, denn dann traue ich mich nicht mehr, die Drahtseile führen fast senkrecht in die Höhe, das versteinerte Buch voller Gekritzel und Durchstreichungen steht senkrecht vor meinen Augen, vor Angst kann ich nicht mehr lesen, bis ich hinter meinen geschlossenen Lidern ein weißes Glitzern sehe, einen Ruck spüre. Wir sind oben. Das Zimmer, in dem ich gerade noch geschrieben habe, ist so klein geworden, daß ich nie mehr hineinpasse. Vor mir eine weiße Fläche, Schnee. Bis in die Ferne sehe ich eine Landschaft aus Berggipfeln, durch die Wolken wie Träume ziehen. Mir ist, als hörte ich das Gestein ächzen, aber es ist nur Stille, was ich höre, so gespannt, daß sie gleich brechen wird. Ist das das Schlimmste? Nein, das Schlimmste ist das Blau, so vollkommen und der Erde entrückt, daß ich einen neuen Namen dafür ersinnen müßte.

Was kommt, ist kein Name, aber doch wieder etwas, das mich mit meinem zerschellten Zimmer da unten verbindet, mit einem Buch, das dort auf dem Tisch liegt, einer Miniatur in diesem Buch. Ein Engel mit roten Flügeln. Federn wie Schwerter. Er hebt seine ach so rote Posaune einem blauen Himmelsstreif entgegen, einer Sonne und einem Mond, die zu zwei Dritteln rot und zu einem weiß sind. Es ist der Engel von der vierten Posaune aus der Apokalypse, derselbe, den ich erst gestern im Kloster Santo Toribio, fünfzehn Kilometer von Santa María de Lebeña entfernt, gesehen habe, dem Kloster, in dem einst Beatus lebte. Doch das ist eine andere Geschichte. Der Fahrer der Seilbahn telefoniert mit der Bodenstation, andalusische Stimmen, seltsam in diesem lichten, winterlichen Norden. Ich bin der einzige Fahrgast, er gibt mir ein Zeichen, daß es losgeht. Noch einmal schaue ich zu diesem so barbarisch blauen Himmel hinauf. Kein Engel und kein Adler, aber erst, als ich unten bin, atme ich wieder ruhig.

1986