WINTERTAGE IN NAVARRA
Nach der reichen Dame mittleren Alters, die Biarritz ist, liegt San Sebastián am Golf von Biscaya wie eine ältliche, etwas skurril geschminkte adlige Jungfer auf dem Sofa. Sie hat bessere Zeiten gesehen, Getuschel in Logen, königliche Verehrer – das alles ist vorbei, doch die Spuren früheren Glanzes sind noch nicht verschwunden, und für den, der so etwas mag, besitzt sie durchaus noch Reiz. Der Vorteil verarmter Reicher besteht darin, daß sie ihr Hab und Gut besser hüten. Sie haben kein Geld, um neue Sachen zu kaufen, also tun die Lampen, der Schrank und die Stiche von früher nach wie vor Dienst. San Sebastián ist ein großer Art nouveau- und Jugendstilladen, komische Brücken mit Lampen, die man nirgends mehr findet, Hotels, die man in Brüssel längst abgerissen hätte, Gitter, an denen ein Sammler sich gern aufhängen lassen würde.
Mir ist das gerade recht. Ich bin den Angeln und Netzen der Welt entwischt und mache zusammen mit meinem lächerlichen alten lila Auto eine nostalgische Winterreise, wohin genau, weiß ich noch nicht, und habe mich im Hotel María Christina am Paseo de la República Argentina einquartiert. Ein Kind in Uniform hat mich durch einen gepflegten Garten in eine Halle geführt, in der man drei Königshäuser ermorden könnte. Ich liebe Verschlissenes, aber auch bei Verschleiß muß man sich auskennen. Schließlich geht es darum, was zerschlissen ist. Eine endlose Zahl bottines und molières von Zuhältern, Dichtern, Mätressen und Bankiers hat dem persischen Fußballfeld unter den Kronleuchtern die Patina des endgültig Vergangenen verliehen, was durch diskrete Flickstellen aus der ersten, dritten und fünften Dekade noch betont wird. Das Kupfer des Treppengeländers dagegen erstrahlt in vitalem kontrapunktischem Glanz, denn Personal gibt es noch, und Kupferputzmittel sind billiger als ein neuer Perser. Das Oberhemd des Pförtners ist strahlend weiß, aber weil er sich, wie jetzt auch, meist nicht sehr gut rasiert, ist es am Kragen leicht ausgefranst. Ebenso liegt etwas Staub auf dem Ficus. Mein Bett hat Bögen aus Kupfer, und die Lüste, die es ertragen hat, bewirken, daß ich in die weiche Kaninchenhöhle in der Mitte rolle. Hier hängen Spiegel, in die ich, flachgelegt und übereinandergestapelt, zwanzig Mal passe. Die verstreichende Zeit hat eine fahle Sandfarbe in den roten Samt der Vorhänge gewoben. Meine Kleider hängen einsam und verwaist im großen Ballsaal des Kleiderschranks. Hier haben früher, ich bin mir ganz sicher, Riesen gewohnt, und heute nacht kommen sie wieder und stecken mich in ihre riesengroßen Hosentaschen oder werfen mich aus dem Fenster, über das Standbild des in die Ferne spähenden Seefahrers, dessen Namen ich nicht lesen kann, hinweg in den Río Urumea. Ein paar kleine Wellen, und dann nichts mehr.
Die Gassen der Altstadt sind mit großen Steinen gepflastert. Sie sind schmal und dunkel. Eine singende, flanierende Samstagabendmenge bevölkert die Kneipen, der Wein strömt in die Gläser, überall an den Wänden baskische Aufschriften. Hier herrscht eine übermütige Stimmung wie in Garnisonsstädten oder Provinzhauptstädten an den Grenzen des Reichs, sie ist spanisch und nicht spanisch und kommt einem vor wie aus einer anderen Zeit. Ich gehe in eines der Lokale. Spanisch kann ich lesen, aber die Speisekarte ist zum Teil in einer Geheimsprache abgefaßt. Txangurro. Kokotxas. Ich bestelle letzteres und bekomme eine braune Tonschüssel mit einer merkwürdig gräulich glänzenden Masse, die nach Fisch schmeckt. Auf Nachfrage erweist es sich als ein Gericht, das es sonst nirgends gibt: die Hälse oder Nacken, oder ein Teil davon, von Schellfischen. Es schmeckt sehr gut, aber ich habe doch das Gefühl, sehr weit weg zu sein. Ich bin der einzige Fremde im Restaurant. Ein Ehepaar, eine Gruppe von sieben Frauen, zwei Soldaten, ein verliebtes Pärchen. Gesprächsfetzen plätschern über meinen Tisch, ich verstecke mein englisches Buch unter der Speisekarte und versuche, so baskisch wie möglich zu schauen.
Draußen ist jetzt mehr los. Die Menge zieht in Grüppchen durch die Straßen. Es herrscht eine gewisse Erregung, unverständliche Lieder werden gesungen, ich gehe wie ein Schemen an den Hauswänden entlang und plötzlich bin ich draußen und stehe vor einem großen, dunklen Gebäude und höre das Meer. Vor mir ein kleiner, gespenstischer Park mit gestutzten, gräßlich verstümmelten Bäumen, ein Heer von Mißgeburten in Schlachtordnung aufgestellt, vom Wind leicht gebeugt. Antike Ballonlampen, von denen nur noch ein paar funktionieren, stehen wie Offiziere dazwischen. Hinter den beschnittenen Ligusterhecken höre ich die Brandung rauschen. Unter mir muß der berühmte Strand von San Sebastián liegen, la Concha, die Muschel, ein Halbmond, von den weiten Armen der Bucht umschlossen.
Am nächsten Morgen sehe ich alles besser. Das Gebäude, vor dem ich stand, ist die Casa Consistorial. Der Regen macht das betrübte Ocker der Mauern noch dunkler. Auf einer Bank ist zu lesen »No a la mili, sí al desarme«, nein zur Armee, ja zur Abrüstung, und das Heer schwarzer, nasser Bäume steht noch immer so da, kurzgehalten, kleiner als Menschen, blattlose Platanen aus dem Alptraum eines Zwerges. Alle Mauern sind voll mit Freiheit und Amnestie, und vor diesen Mauern stehen an jeder Ecke Polizisten in Grau. Sie haben ihre Plastikvisiere aufgeschlagen und sind mit Gewehren, Karabinern, Revolvern bewaffnet. Allmählich verstehe ich die Stimmung vom gestrigen Abend besser. Sie sind nirgends nicht, und sie sind nervös. Auf dem paseo, auf den Plätzen, bei der Buchhandlung. Hunderte. Vor dem Tor des Gobierno Militar stehen zwei einfache Soldaten, die Karabiner mit dem Lauf nach unten. Ich kaufe ein paar Zeitungen und gehe ins Café Barandiarán, ein düsteres Haus aus Resopal, Spiegeln, Plastik.
Bus 101 kommt vorbei (»Eßt Doughnuts«), ein lahmer Schuhputzer breitet seine Sachen aus, der VW-Bus der Stimme Spaniens hält an der Ecke, und der Fahrer gibt dem Verkehrspolizisten eine Zeitung, die dieser in seine Innentasche steckt, die Coca-Cola-Uhr schlürft an der nie zu Ende gehenden Zeit, ich lese meine Zeitung und schaue auf die für den Winter hochgebundenen Palmen und die leeren Bürgersteige dieses Sonntagmorgens und wünschte, mein ganzes Leben wäre ein spanischer Sonntagmorgen in der Provinz und ich selbst jemand, der da hinein paßte. Irura, Uzturre, Tolosa, Lizarza, Azcarate, Latasa, Irurzun. Ich fahre durch den Regen in die Hügellandschaft hinein. Manchmal sehe ich die Berge zu meiner Linken, als ich anhalte, höre ich den Fluß. Am Anfang jedes Dorfes und vor den Brücken über den Bergflüssen stehen Schilder mit Namen, im Weiterfahren spreche ich die Laute dieser Namen aus. Die Straße ist noch kurvig, die bergige Landschaft grün, wenn ich die Ausläufer der Pyrenäen verlassen habe, wird das Land sich weit öffnen, eben sein, wellig, leer. Eiserne Wolken hängen dann über den rostigen Feldern des ehemaligen Königreichs Navarra. Verkehr gibt es hier nicht, Touristen suchen hier nichts, und die Gegend ist nicht sehr besiedelt. Alt, alt ist das Gefühl, das allem anhängt, Zeit ohne Zeit, leere Hinterzimmer der Geschichte. Festungsartige Kirchen mit leeren Storchennestern, an einem fernen Hang die sich bewegende Zeichnung einer erdfarbenen Herde, sonst nichts. Ich bin unterwegs nach Olite, aber in dieser sich ständig selbst wiederholenden Landschaft komme ich mir wie ein Pilger nach nirgendwo vor. Das gleiche, das gleiche, das gleiche, sagen die Scheibenwischer, und es wirkt wie eine Gebetsmühle, das gleiche, das gleiche.
Olite. Der spanische Staat hat hier im Burgschloß der Könige von Navarra einen seiner Paradores eingerichtet. An diesem leergefegten Wintertag bin ich der einzige Gast.
Erst wenn man auf eine historische Karte Spaniens schaut, wird einem bewußt, wie alt dies alles ist. Zu Beginn des neunten Jahrhunderts reichte das Emirat Córdoba bis zum Ebro und stellenweise darüber hinaus. Die Navarresen verteidigten ihre Unabhängigkeit erbittert sowohl gegen den moslemischen Emir, der fast ganz Spanien im Griff hatte, als auch gegen Karl den Großen.
Jahrhundertelang bleibt Navarra unabhängig, und unter Sancho dem Großen (1000-1035) erstreckt sich das Königreich sogar von Katalonien bis nach León in Asturien, doch nach seinem Tod setzt der Abbröckelungsprozeß ein, und von 1234 bis 1512 herrschen französische Dynastien in dem Königreich am Fuße der Pyrenäen. Als die Burg, in der ich jetzt wohne, 1406 unter Karl III. erbaut wird, ist die Geschichte Navarras bereits so alt, daß sein Ursprung irgendwo vor 700 im Nebel verschwindet: Die ersten Könige waren große Viehzüchter mit eigenen kleinen Heeren. Der Parador nimmt nur einen Teil des großen, merkwürdig angelegten Kastells ein. Hohe Mauern aus sandfarbenem Backstein, fünfzehn Türme, die den Rest des Dorfes niederschmettern. Es wurde von französischen Baumeistern aus dem Norden und von maurischen Handwerkern erbaut. Einst haben hinter diesen trutzigen Mauern Gärten gehangen, doch selbst der Gedanke daran ist verschwunden. Heute fegt ein böser Wind über die Ebene, ein Wind, der von weit her kommt und unterwegs niemandem begegnet ist. Mit peitschendem Regen schlägt er an die Mauern, ich gehe durch die leeren Straßen des Dorfes und frage mich, ob hier Menschen wohnen. Das Dorf selbst liegt in dieser Ebene wie eine Münze auf einem Bürgersteig, der Wind spielt darauf wie auf einer Flöte. Nein, es ist kein Feiertag in Olite.
Dies ist einer jener merkwürdigen Nachmittage, an denen man etwas entdeckt. Weil man sein Leben so seltsam gestaltet hat, daß es sich vom Leben anderer Menschen unterscheidet, sieht man etwas, was sie an diesem Nachmittag nicht sehen. Nichts, was noch nicht dagewesen wäre, es war immer schon da, aber es braucht einen alten Mann dafür und große Schlüssel, und man sieht es allein, man hat das Gefühl, daß man belohnt wird, weil man allein da ist, weil die eigene Eigenartigkeit einen dazu geführt hat, an diesem verkehrten, jämmerlichen, von Regen und Wind gestraften Tag in diesem vergessenen Dorf zu sein, deshalb darf man heute, und niemand sonst, etwas aus den Fängen der Zeit ziehen.
Der alte Mann, den ich geholt habe, damit er die königliche Kapelle aufschließt, zündet ein paar Lichter an, damit ich es besser sehen kann: ein hohes Retabel am Hauptaltar rund um eine gotische Madonna. Es hat etwas Eigenartiges auf sich mit all diesen kleinen Bildern – die Gesichter wirken abwesend, angefressen. Zwei Männer, die dreischwänzigen Peitschen hoch erhoben, schlagen Christus, der an eine Säule gebunden ist. Sie halten den Strick, mit dem er gefesselt ist, lose in ihrer Linken. Der Geschlagene macht ein Gesicht, als würde er nicht geschlagen, es sind auch keine Wunden zu sehen. Sein Blick ist etwas leer und betrübt, auf einen Punkt im Raum gerichtet, wo er meinen Blick kreuzen muß. Mehr nicht. Ein begieriger Zuschauer klammert sich mit beiden Händen an einer Säule fest, aber ein kleiner Hund, ein abscheuliches pekinesenähnliches Tier, schläft zu Füßen Christi, als wolle es die Aufmerksamkeit auf deren völlig unmögliche Stellung lenken. Ein Fuß zeigt nach vorn, der andere, zur Hälfte unsichtbar, nach hinten. Ich schaue in all die Augen, die meinen ausweichen, nur der maurische König, ein Mohr in schwarzen Samtpantoffeln und mit senkrechten gelbschwarzen Streifen an den Strümpfen, sieht mich an, als wären er und ich die einzigen, die etwas damit zu tun haben, der Rest – Weise, Soldaten, Könige, Märtyrer – befindet sich in einer stillen, abgewandten Welt, als wüßten sie bereits, daß die Zeit das Drama, das sie hier darstellen, immer ungültiger machen wird, daß sie einmal von Menschen betrachtet werden, die nicht mehr wissen, was sie darstellen, als wollten sie sich gegen ihren Wandel vom Lehrstück zum Kunstwerk wehren und hätten sich darum in der Echtheit der Anbetung und des Leidens eingeschlossen.
In der Beschreibung dieser Landstriche muß man häufig zum Wort »leer« greifen, daran läßt sich nichts ändern. Die Michelin-Karte 42, Spanien, zeigt es deutlich: Wenn man bei Pitillas die rote N 121 verläßt, fährt man auf der dünnen, gelben C 124 weiter, die bei Carcastillo den windungsreichen Fluß Aragón überquert. Darunter ist auf der Karte alles weiß, und weiß heißt leer. Keine Straßen, nur ein paar Gipfel wie zum Beispiel Los Tres Hermanos (Die drei Brüder), Balcón de Pilatos und die Ruinen des Kastells Doña Blanca de Navarra. Warum heißen die drei Brüder die drei Brüder? Sind es vielleicht drei Gipfel? Sind dort drei Brüder umgekommen? Rätsel, und keiner kennt die Antwort. Das berühmte Trappistenkloster von Oliva liegt in der Nähe von Carcastillo, aber auch das besagt nichts. Es liegt nicht in der unmittelbaren Nachbarschaft irgendeines Ortes, es ist ein strenger Zisterzienserbau, in dem nun schon seit fast 1000 Jahren Mönche leben. Als ich darauf zufahre, sehe ich sie mit Harken über der Schulter im Gänsemarsch übers Land ziehen. Mein Auto schmilzt unter mir weg, Telegrafenmasten fallen um, der idiotische Turm, den sie im siebzehnten Jahrhundert an die Kirche angebaut haben, stürzt ein, ich stehe in groben Lumpen auf einer Landstraße und sehe noch immer, was ich sehe, eine mittelalterliche Prozession von Männern in flatternden Kutten, die jetzt um die Ecke des Klosters verschwindet. Ein dünnes Glöckchen beginnt zu läuten, aber die Klänge werden vom Wind weggeworfen. Früher einmal, in einem anderen und doch demselben Leben, wollte ich Trappist werden. Ich besuchte damals häufig die Einsiedelei »Achelse Kluis« im niederländisch-belgischen Grenzgebiet. Nachts um zwei wurde ich zum Chorgebet geweckt, und diese gespenstischen schweigenden weißen Gestalten bei ihrer Meditation, die später zwischen den gegenüberstehenden Chorbänken hin und her hallenden lateinischen Gesänge, die alles verzehrende Stille in der Bibliothek und die Vorstellung, für alle Zeit an ein und demselben Platz bleiben zu müssen (stabilitas loci), bewirkten bei mir die Gewißheit: Hier mußte ich hin, und zwar schnell. Ich meldete mich beim Abt, küßte seinen Ring und teilte ihm meinen Entschluß mit. Er zeigte sich nicht gerade überwältigt, ging aber an einen Schrank, nahm das Leben des Petrus Abaelardus – auflateinisch – heraus und gab es mir zusammen mit einem Bleistift, einem lateinischen Wörterbuch und einem Schreibblock. »Dann übersetz das erst mal«, sagte er. »Wenn du damit fertig bist, sehen wir weiter.«
Andere Menschen haben mich immer besser gekannt als ich mich selbst. Derjenige, der sein Leben lang an einem Ort bleiben wollte, reist jetzt durch die ganze Welt (»mein Kloster ist die Welt«, sagte Harry Mulisch, als wir später einmal gemeinsam in diesem Kloster waren), und doch, irgendwo in diesem Kämmerchen (Stuhl, Tisch, Holzwände, alles fahl und bleich) in der Achelse Kluis liegt das Leben des Petrus Abaelardus noch immer auf Seite zehn aufgeschlagen, und jedesmal, wenn ich ein Trappistenkloster betrete, befällt mich wieder ein heiliger Schauer.
Es gibt ein berühmtes Gedicht von Gerrit Achterberg, »Ichthyologie«, das mit den folgenden Versen beginnt: »Ein Coelacanthus ward im Meer gefunden / das Missing link zwischen zwei Fischen. / Der Finder weinte vor Verwunderung. / Vor seinen Augen lag, zum erstenmal verbunden, / die lang gerissene Kette der Evolution.« Als man diesen Fisch mit Füßen entdeckt hatte, war die Rangordnung aufgedeckt zwischen »Mensch und Eidechse und von der Eidechse tief im Staub, weiter als unsere Instrumente reichen«. Der Schluß des Dichters lautet: »Nach dieser Entdeckung dürfen wir tun, / als wär’ die Reih’ nach oben hin die gleiche, / als könnten wir Gott auf die Tafel sehen.«
Daran mußte ich im kalten Oliva-Kloster denken, während ich vor der Fassade der Kirche stand. Nicht, daß ich vor Verwunderung weinte, aber immerhin, es war das Gefühl, das einen überkommt, wenn man plötzlich ganz klar sieht (oder zu sehen glaubt), wie alles zusammenhängt. Aber was glaubte ich denn nun zu sehen? Ich wage es kaum zu sagen, aber ich glaubte die Geburt der Gotik zu sehen. Wieder schmolz die Zeit und entfloß, und genau dort, wo ich stand, passierte es. Über dem Haupteingang der Kirche ist ein romanischer Bogen errichtet, oder besser gesagt, ein gebogenes Steinrelief in der Fassade, bestehend aus dreizehn parallel zu dem romanischen Bogen laufenden Bögen, die nach außen zu jeweils ein kleines Stück weiter vorkragen: ein Miniportal. Aber es geht um die Bögen: In dem vollendet romanischen Bogen ist am Scheitelpunkt eine winzige Andeutung von Knick zu erkennen, etwas fast Versehentliches, eine Aufwärtsbewegung, die im allerersten Ansatz versteinerte und so still steht wie eine Rakete, die kurz nach dem Start dicht über der Erde fotografiert worden ist. So gering der Knick aber auch sein mag, er ist gleichzeitig der Bruch mit allem Vorangegangenen, nie mehr kann die gebogene Linie danach vollendet sein, von nun an kann dieser Knick nur noch der Linie entfliehen, höher und höher hinauf, bis er der gotische Bogen von Amiens oder Chartres geworden ist. Kalt und verregnet stand ich da und starrte auf diese Bögen, und keine hundert Gelehrten mit Bullen und Baretten hätten mich davon abbringen können, daß es dort und nur dort passiert war, oder, äußerstenfalls, auch an anderen Orten, freilich nirgends so klar, so beispielhaft.
Professor Michelin mit seinen kurzsichtigen Augen hatte es natürlich wieder nicht gesehen und murmelte etwas von den »Übergangsbauten, die die Zisterzienser im dreizehnten Jahrhundert errichtet haben und die noch von romanischen Konzeptionen geprägt sind«, aber ich weiß es besser, es geschah heute und hier und ich war dabei. Ich gehe noch ein wenig in der polaren Kirche umher, in der alles dunkel ist. Eine schwermütige Taube fliegt mit Post von Säule zu Säule. In einem der Seitenschiffe liegt Sand anstelle von Steinplatten, da sind Löcher und Stützpfosten, und ich denke an die Mönche, die sich hier nachts zum Chorgebet versammeln, und erschauere, diesmal vor Kälte.
Gegen Abend komme ich nach Sos del Rey Católico, wo ich im Parador des Katholischen Königs übernachten werde. Szenarium für einen Reisenden. Auto auf verlassener Landstraße. Hereinbrechende Nacht. Dorf auf einem Hügel. Auto verläßt Landstraße und fährt die engen Windungen hinauf zur Burg. Tief unten die Ebene, vom Schlagregen gepeitscht. Mann im Auto zögert, ob er hineingehen soll. Es sind keine anderen Autos da. Dann ermannt er sich und läßt den schweren Türklopfer gegen die hohe Holztür fallen.
Der Portier, in grauer Uniform, erwacht aus seinem Stupor. Der Wind jammert im hohen Schornstein. Ich bin schon wieder der einzige Gast. Ich folge dem Portier durch die Korridore. Steinfußboden. Bäuerliche Möbel. Rustikale schmiedeeiserne Lampen. Gewebte Vorhänge. Kein Radio. Kein Fernseher. Keine Nachbarn. Die Stille, die durch mein Eintreten auseinandergefallen war, baut sich wieder auf und schließt sich um mich.
Ein paar Stunden später gehe ich hinunter. Kein Mensch zu sehen. Ich finde den Speisesaal. Zwei Mädchen aus dem Dorf, graue Kleider, weiße Schürzen, sehen zu, wie ich unter dreißig leeren Tischen den meinen suche. Brot und eine Kanne mit Wein. Meine Handbewegungen bekommen nun zwangsläufig etwas Geweihtes. Ich breche also das Brot, denn so ging es doch. Erhebe ich jetzt das Glas oder führe ich es einfach zum Mund? Die Mädchen schauen und tuscheln in der Ecke. Ich esse Knoblauchsuppe mit Brot und danach Stockfisch, wie man ihn in Navarra ißt, mit roter Paprika, aus dem Backofen. Als sie in die Küche gehen, werden kurz Stimmen laut, dann wieder Stille. Nach dem Essen gehe ich in den Salon. Schirmlampen, große Ledersessel. Ich bekomme Kaffee und eine grüne Chartreuse und setze mich wie mein eigener Großvater in eine Ecke und lese. Die Lichter in der Bar verlöschen, die Mädchen gehen nach Hause. Der Wind rüttelt an den Fensterläden, und das tut er auch noch, als ich ein paar Stunden später ins Bett gehe. Menschliche Wesen habe ich nicht mehr gesehen, eines nach dem anderen habe ich, der Schloßherr, alle Lichter auf meinem langen Weg nach oben gelöscht.

Tympanon der Kirche Santa María la Real in Sangüesa
Irgendwann, es mag zwanzig Jahre her sein, war ich in Sangüesa. Ich habe sogar einen Text darüber geschrieben, den ich absolut nicht mehr finden kann. Erinnerung hat dieses Dorf auf das einzige reduziert, was ich jetzt wiedersehen will: ein romanisches Kirchenportal an der im elften Jahrhundert erbauten Kirche Santa María la Real. Die kleine Kirche liegt etwas verloren im Dorf, man muß sich halb auf die Fahrbahn stellen, um das Tympanon richtig sehen zu können, aber es stellt sich dieselbe Ekstase wieder ein. Sangüesa war eine Station an der großen Pilgerstraße nach Santiago de Compostela.
Was ich selbst noch glaube oder nicht glaube, spielt hier keine Rolle: Für den Mann, der dies schuf, der diesen toten Stein zum Fließen, Strömen, Bewegen brachte, war, was er darstellte, ebenso deutlich, wie es das über alle Kriege, Pestepidemien und Veränderungen hinweg für mich heute noch ist. Es ist noch immer eine Welt, zu der ich gehöre, weil ich sie begreife. Die Figuren, die Proportionen sind fast idiotisch naiv, die ganze Darstellung stützt sich auf mehrere bereits gotische, im Vergleich zum Rest langgestreckte hieratische Figuren: Maria Magdalena, Petrus, die Mutter des Jakobus, ein grauenvoll erhängter Judas. Die Verdammten zur Linken Gottes werden rücklings ins Verderben gestürzt, Ensorartige Masken und ein viel zu großes Schaf füllen den Raum, irgendwo im Stein liegt ein ganz kleiner Mann und schläft, Ritter mit Schilden wie umgekehrte Käfer, maurische geometrische Figuren – zwanzig Jahre sind verflogen wie ein Augenblick, und wieder stehe ich da wie damals und starre eine Stunde lang wie der Dorfnarr empor, wie einer, der am liebsten verwandelt werden will, versteinert, verzwergt, hochgehoben und dazwischengesetzt, einer, der dann auch achthundert Jahre da gestanden hätte, eine Figur in einer Fassade eines vergessenen spanischen Dorfs, in das nie einer kommt.
Es sind langsame Tage. Ich fahre am Yesa-See entlang, einem totenstillen Stausee, der von den kalkigen Bergen der Sierra de Leyre als Wächtern umstanden wird. Zum erstenmal Sonne, die auf die glänzende Wasserfläche prallt und mich blendet, doch dann, in der vorweltlichen Krypta des Klosters von Leyre – archaische, seltsam ungleiche Säulen, grob gemeißelte, niedrige Kapitelle mit den Widderhörnern des gespaltenen Y, dem Zeichen der zweifachen Erwählung –, ist es kälter als die Nacht. Dies ist die Jahreszeit, in der solche Reisen gemacht werden müssen, Pamplona ist zur Provinzhauptstadt erstarrt, im phantastischen Museum von Navarra erwachen die Aufseher aus ihrem Winterschlaf, Jaca liegt erschlagen unter den hohen weißen Gipfeln der Pyrenäen, und jeden Abend kehre ich in meine Bleibe in Sos zurück – und es ist, als wäre es immer so gewesen, vom einzigen Gast werde ich langsam zum einzigen Bewohner, bis ich selbst die Verzauberung sprenge und nach Süden weiterfahre. Erst ein Stück über den Mond, dann weiter nach Osten, dem wilden Tal des Ebro folgend bis dorthin, wo die Erde röter wird. Olivenhaine bedecken die Hänge, am Straßenrand sehe ich die kleinen blauen Blüten des wilden Rosmarin, und am Ende des Tages, hoch oben vor den flüchtigen, dahinsegelnden Wolken, das von Mauern umschlossene Kastell von Alcañiz.
An diesem Abend bin ich nicht der einzige Gast im Speisesaal. In einer entfernten Ecke sitzen vier Spanier und ein paar Tische neben mir ein Engländer. Das weiß ich, denn das einzige andere Auto am Tor hatte ein englisches Nummernschild. Er sitzt unter der Fahne mit dem Wappen von Don Martín Gonzales de Quintana, ich unter dem von Don Alonso de Aragón y de Foix. Unsere Weinkrüge sind gleichzeitig leer. Er liest und schreibt, ich schreibe und lese, und unsere Blicke weichen sich aus, wie bei Hunden, die wissen, daß sie die gleiche Krankheit haben.
1979