KÖNIGE UND ZWERGE

Man hat sich an die Unwirtlichkeit dieser weiten, abweisenden Landschaften ohne Grün gewöhnt, an die unscheinbaren Dörfer in der menschenleeren Mittagshitze, die schweren, festungsartigen Kastelle, die in der Ferne aus dem Nichts auftauchen. Und dann kommt man plötzlich, zehn Kilometer von Segovia entfernt, zum Schloß und den Gärten von La Granja de San Ildefonso, dem Lustschloß, das sich der erste Bourbonenkönig aus Heimweh nach Versailles erbauen ließ. Vor dem spanischen Hintergrund wüstenartiger Trockenheit muten die meterhohen, wildspritzenden Fontänen ausschweifend an, die Lage am Fuße der Sierra de Guadarrama sorgt für nördliche Kühle, die Architektur des Lustschlosses – Barock, Rokoko – beißt sich mit der atavistischen Nüchternheit des Alcázar in Segovia und dem ebenfalls nahen schaurigen Escorial.

Ich habe keine Lust, den Palast zu betreten, und will nur in den Gärten spazieren. An diesem Tag ist es dort still, Geräusch von Wasser, Blättern, Vögeln. Die französischen Gartenarchitekten haben die Natur in ein rigides, verkniffenes Muster geometrischer Figuren gezwängt, haben gerade und rund gestutzte Ligusterhecken zu symmetrischen Schlachtordnungen formiert. So ließ der Geist einer Epoche sich mit Hilfe einer plötzlich rational gewordenen Gartenschere ausdrücken. Nur die Wasserstrahlen lassen sich nicht zwingen – der Wind fängt sie an ihrem höchsten Punkt ein und wirft sie in einem Vorhang durchsichtigen, glänzenden Schaums, wohin er will. Löwen und Pferde spritzen das nie versiegende Wasser in die Luft, beim Froschbrunnen sind die Strahlen gegeneinandergerichtet, beim Diana-Brunnen fällt es aus Riesenvasen über breite Marmorbecken herab und wird zu marmornem Wasser; wo man auch geht, ringsum rieselt, sickert, strömt, tröpfelt, flüstert es, es peitscht und kost sich selbst, baut sich auf zu einem Turm von fünfunddreißig Metern, der immer wieder von oben her einstürzt. Man hört es als großen, leidenschaftlichen Regen. Rosensträucher stehen wie geschorene dekadente Pudel auf den Rasenflächen, geradlinige Wege führen an Marmorpokalen und mythologischen Gestalten vorbei. Wer hier einsam herumspaziert, hat das Gefühl, eine Kamera folge ihm, und ist froh, wenn er den Rand des Waldes erreicht, in dem er sich, unsichtbar, verlieren kann wie das Wild, das der leidenschaftliche Jäger Philipp V. verfolgte.

Philipp V., Enkel Ludwigs XIV. Die Bourbonenlinie. Man kann die Dynastien auch wie eine Metrokarte sehen. Umsteigen auf Habsburg und zurückzählen: Karl II., krank, epileptisch, schwachsinnig; Philipp IV., von Geilheit besessen und daher (wie er glaubte) von Gott mit Niederlagen, Unglück und sterbenden Kindern gestraft; Philipp III., schwach und wankelmütig; Philipp II., »unser« König, der Mann, der ein Weltreich erbte und es nicht zusammenhalten konnte. Im wahrsten Sinne des Wortes wurmstichig und faulend starb er in seinem stickigen Kämmerchen im Escorial, dem von ihm erbauten Palast, der seine seltsame Seele widerspiegelt: Festung und Kloster, ein schroffes Viereck, errichtet nach dem Modell eines Rosts gleich demjenigen, auf dem der heilige Laurentius lebend geröstet wurde. Ich weiß noch gut, wie ich, vor Jahren schon, zum erstenmal in diesem Kämmerchen stand. Der rote Steinboden, der bestickte Brokatbaldachin am schmalen Bett beiseite geschoben, die Bettdecke, die einst blutrot gewesen sein mußte, jetzt aber fahl und lila aussah, das kleine Fenster, durch das er im Liegen die Messe in der angrenzenden Kapelle verfolgen konnte. Kahle Wände, nur bis zur halben Höhe gekachelt. Hier hatte er gelegen, wie eine Spinne im Netz. Von hier aus liefen unsichtbare Fäden bis in die entlegensten Winkel seines Weltreichs, hier wurde auch über unsere, die niederländische Geschichte entschieden. Ein grausamer Fürst, hatte ich in der Schule gelernt, der Mann, der uns einen ebenso grausamen Alba auf den Hals geschickt hatte, um uns zu knechten. Es hatte etwas Düsteres, dort zu stehen. Der Raum war niedrig, die Stühle im Raum nebenan ähnelten dem, auf den er sich auf dem Gemälde von Juan Pantoja de la Cruz mit der Hand stützt. Auf diesem Bild hält der König Handschuhe in der Hand, sein Schuhwerk, lange schwarze Stiefel, hat keine Absätze und sieht eher wie Strümpfe aus, die ihm bis über die mageren Knie reichen. Das linke Bein ist etwas vorgestellt und fängt ein wenig von dem Licht auf, das auch beim Rest der bedrückenden schwarzen Kleidung einen vagen, gelblichen Schimmer hervorruft. Die kleinen Hände kommen aus schmalen Spitzenmanschetten, der Kopf ist in eine ebenso schmale, enganliegende Kröse gebettet. Schlicht, mönchisch, unbeweglich ist diese Gestalt. Reglose Macht. Ein einziges goldenes Schmuckstück auf dem schwarzen Schild der Brust. Das Kinn steht vor, wie bei allen Habsburgern, wenngleich weniger stark als bei seinem Vater, dem Kaiser, die Ohren sind klein, das Haar seidig und fein wie Dachshaar, die Augen unter den geraden, zierlichen Augenbrauen schauen argwöhnisch, die nach unten gezwirbelte, buchstäblich herablassende Bahn des Schnurrbarts läßt den Mund verächtlich wirken, was die Form der Lippen an sich nicht tut. Der hohe merkwürdige Hut hat die gleichen Bahnen wie die griechische Säule hinter ihm.

Abbildung

Juan Pantoja de la Cruz, Philipp II.

Von diesem ersten Besuch erinnere ich mich auch noch an das Pantheon der Könige, einen achteckigen Raum aus Marmor und Gold, in dem die Leichname der spanischen Fürsten liegen und auf den Augenblick warten, wenn sie unter lautem Krachen ihre barocken Bonbonnieren aus grauem Marmor auf brechen werden wie eine seltene Vogelart, die sich aus einem marmornen Ei hackt. Ich weiß noch, daß ich damals allein war in diesem Raum, in der alles verzehrenden Stille, und die goldenen Namen auf den Bonbonnieren las, die Männer links, die Frauen rechts, in chronologischer Reihenfolge. Aber die Zeit des Touristen als Einzelgänger ist vorbei, zumindest an solchen Orten. Von der einen Gruppe zurückgelassen, wird er von der nächsten schon wieder mitgeschwemmt. Sein Blick hängt noch an einem Wandteppich, einem Königsthron, Grabmal, Tabernakel, all den Dingen, die die anderen anscheinend mit einem einzigen staubsaugerartigen Blick aufnehmen können, begleitet von dem rudimentären Kommentar der Routiniers, die ihr Brot damit verdienen. Welch ein Traum, einmal von einem Bediensteten für eine Nacht in den Escorial eingelassen zu werden und ganz allein, mit einer Kerze und einem Plan, durch diese totenstillen, verhexten Räume zu wandern. Aber eine Nacht wäre lange nicht genug, denn dies ist ein Kosmos, ein Irrgarten, in dem die rastlosen Königsseelen durch die Gänge geistern. Wie seltsam muß es sein, die Dinge, die man zu Lebzeiten so achtlos benutzte, die Gemälde und Skulpturen, über die der Blick so gedankenlos glitt, durch eine Schicht von Jahrhunderten wiederzusehen, der Marmor noch genauso hart, das Gold noch genauso glänzend, dieselbe Religion noch immer im Schwange, und etwas von der schafsköpfigen Bewunderung der Masse aufzusaugen, die noch immer kommt, um die Königsmacht zu bestaunen. Wunderlicher vielleicht als das, was verschwindet, ist das, was bewahrt wird, denn wann wird es aufhören, wann wird die Nachwelt hier nicht mehr entlangziehen und die Grecos und van der Weydens begaffen, der Litanei der Maße und Zahlen lauschen, mit der der Führer sie überschwemmt, der heute noch nicht geborene Führer.

Die Zeitreise der Science-fiction-Filme, die würde ich auch gern einmal machen, nicht, um eine futuristische Kultur zu sehen, in der ich mich doch nie heimisch fühlen würde, sondern vielmehr, um von dieser unvorstellbaren künftigen Welt aus das gleiche zu sehen, was ich jetzt sehe. Alle christlichen Symbole, die jetzt noch etwas bedeuten, werden dann so fremd klingen wie die Schöpfungsgeschichte der Aborigines in Australien. Ein Gott, der die Welt in sieben Tagen erschuf, die Erbsünde, die Vertreibung aus dem Paradies, die Jungfrau, die den Sohn Gottes gebar, der Sohn, der am Kreuz starb, und die Darstellung all dieser Fabeln in Farbe und Stein, Holz und Gold. Und noch immer wird es sie geben, die überlebensgroßen bronzenen und goldüberzogenen Gräbergruppen Karls V. und Philipps II. zu beiden Seiten des Altars in der Königlichen Kapelle. Der kniende Kaiser trägt seine Rüstung und seinen Kaisermantel, und darauf der zweiköpfige Adler (ein dann ausgestorbenes Tier, so als führe jemand einen Dinosaurier in seinem Wappen), skulptiert aus dem schwarzen Marmor von Mérida. Rechts von ihm Kaiserin Elisabeth, die Mutter Philipps II., hinter ihm seine Tochter und seine beiden Schwestern, die Königinnen von Ungarn und Frankreich. Der Führer erklärt, was das alles ist, ein König, ein Kaiser, beten, knien, eine dorische Säule, das Goldene Vlies, und es wird sich wie eine Geschichte aus mystischer Vorzeit anhören, bei der die heute noch ungeborenen Touristen erschauern werden vor der ein für allemal vergangenen Pracht einer Zeit, als die Menschen größer waren als ihr Körper, in Gold gekleidet gingen und an Götter glaubten. Aber es ist noch »jetzt«, und in diesem Jetzt gehe ich an einem gemalten Wald aus Lanzen vorbei, einer Feldschlacht, die eine endlos lange Wand einnimmt. Es ist die Batalla de Higuerela. Die Pferde sind in den Farben der Kämpfenden ausstaffiert, Reiter mit Lanzen und Armbrüsten preschen vor, dahinter geschlossene Reihen mit wartendem Fußvolk, jeweils mit eigener Fahne. Der Gestank des Todes, des Bluts und des Staubs ist nicht sichtbar, der Lärm der Wut, Angst und Pein ist unhörbar, die Fahne mit dem Halbmond wird zertrampelt, die bunten Schilde fangen das Sonnenlicht ein, ich gehe daran vorbei, als nähme ich eine Parade ab, und lasse mich in den Thronsaal mitführen, aber als die anderen weitergehen, verstecke ich mich hinter einer Wand, stehe da für einen Moment allein und schaue auf den Thron, der wie ein kleiner Stuhl aussieht. Von dort konnte Philipp über das Land blicken, das nirgends aufhörte, und an die fernen Provinzen denken, wo er nie gewesen war und auch nie hinkommen sollte.

Es ist hell in diesem Saal, hell und leer, und es scheint, als habe in diesem Stühlchen, auf dem roten Kissen, eben noch jemand gesessen, der gleich zurückkommen kann. Hier hängen Karten all seiner Länder, von Flandria und der Alleredelsten Provinz Brabantia, aber auch von Gebieten, die weit jenseits des Äquators liegen. Es war tatsächlich unvorstellbar, die Größe dieses Reichs, oder besser gesagt, die Personalunion, die in ihm vereinigt war. Im Vorwort zu Geoffrey Parkers Biographie des Königs erläutert S. Groenveld das sehr gut: Das Gebiet war keine wirkliche Einheit, Spanien sowenig wie die anderen Gebiete. »Spanien war eine Bündelung von Königreichen, unter denen Aragonien (selbst drei Königreiche groß und im Mittelalter um italienische Gebiete erweitert) und Kastilien (mit seinen wachsenden Kolonialgebieten im Westen) besonders hervortraten. Nicht anders verhielt es sich mit den Niederlanden, jener Ansammlung von siebzehn Gebieten mit jeweils eigenem Landesherrn, die ab dem späten Mittelalter in die Hände einer Familie – seit 1482 das Haus Habsburg – gelangt waren. Doch damit waren auch diese Gebiete noch keine Einheit. Jedes betrachtete Philipp und seine Vorgänger nur als seinen eigenen Fürsten, seinen ›natürlichen‹ Herrn; daß er auch Fürst über andere Gebiete war, spielte für sie keine Rolle. Auch wenn sie Philipp ›den König‹ nannten, weil dies nun einmal sein höchster Titel war, so blieb er für die Bewohner einer bestimmten Provinz nur ihr Herzog oder Graf oder Herr.«

Wie eine Spinne im Netz. Jetzt, während ich Parkers Buch lese, merke ich, daß ich nicht der einzige bin, der diesen Vergleich benützt. Der Mann in dem kleinen Raum, der Raum im Palast, der Palast mitten in Spanien, und Spanien im Mittelpunkt all dieser fernen und fernsten Gebiete, die er ererbt und erobert hat, bis hin zu Chile und den Philippinen. Das und die Tatsache, daß dieser eine Mann alle Fäden selbst in der Hand zu halten wünschte und das über vierzig Jahre lang auch tat, so daß schließlich alle Fäden aus diesem Raum und in ihn hinein liefen, in dem er alle Dokumente selbst las und oft in seiner spinnwebenfeinen Schrift mit Anmerkungen versah, das alles hat zu diesem doch immer leicht gruseligen Bild aus dem Tierreich beigetragen, der Spinne im Netz. Es ist schwer, sich dessen Bann zu entziehen. Zumal als Niederländer hat man sich an das Greuelbild gewöhnt, das sich auch nach so vielen Jahrhunderten noch hält und zu dem die protestantische Propagandageschichtsschreibung jener Zeit so viel beigetragen hat. Für uns Niederländer war Philipp ein grausamer Tyrann, und damit hatte es sich. Blutschänder, blutrünstiger und zugleich kalt berechnender Despot – alles hat man ihm an den Kopf geworfen, das erste nuancierte Urteil, das ich über ihn las, stammte von Johan Brouwer (De achtergrond der Spaanse mystiek, in seinen bei G. A. van Oorschot erschienenen Gesammelten Werken), der sagt, wer es genau nehme mit der geschichtlichen Wahrheit, werde Philipp vor dem Hintergrund seiner Zeit, seiner Natur und seiner Herkunft beurteilen müssen und nicht anhand von aus Feindschaft oder Parteilichkeit entstandenen Vorstellungen oder – seit Jahrhunderten kursierenden – Legenden.

Das ist der Standpunkt des aufrechten Historikers. Doch Johan Brouwer besaß auch ein anderes, weit romantischeres Gesicht und war im Grunde eine der schillerndsten Persönlichkeiten unserer Literatur. Wegen Raubmords verurteilt, studierte er im Gefängnis Spanisch und entwickelte sich zu einem berühmten Hispanisten, der später eine Reihe von Büchern über Spanien und die spanische Geschichte schrieb. Als Sympathisant Francos ging er während des Bürgerkriegs nach Spanien. Er »bekehrte« sich aber vor Ort und schlug sich auf die Seite der gesetzmäßigen Regierung, der Republikaner also. Im Zweiten Weltkrieg ging er in den Widerstand, beteiligte sich an dem großen Über fall auf das Einwohnermeldeamt in Amsterdam, wurde dabei gefangengenommen, zum Tode verurteilt und 1943 hingerichtet. Ein bewegtes, nicht sehr holländisches Leben. Nach seiner Rückkehr aus dem Spanischen Bürgerkrieg schrieb er unter dem Pseudonym Maarten van de Moer einen merkwürdigen, trotz seiner idiotisch okkultistischen Züge aber dennoch fesselnden Roman über diesen so grausamen Krieg, De schatten van Medina-Sidonia, ein Buch, das während der Besatzungszeit verboten und beschlagnahmt wurde. Nach dem Krieg wurde es unter Brouwers richtigem Namen mit dem Titel In de schaduw van den dood neu herausgegeben; darin kommt ein weniger ausgewogenes, eher bewunderndes Urteil über Philipp II. zum Ausdruck. Die Hauptfigur des Buches, ein Utrechter Student, Mitglied der Internationalen Brigaden, gelangt in der Nähe des Escorial mit einem Deutschen in Kontakt, »der dem preußischen Adel angehörte«, sich aber Lenz nennen ließ. Dieser Lenz, desillusioniert aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt, hat »in Spanien wieder zu sich selbst gefunden« und erklärt dem jungen Niederländer, wie das kam.

»Siehst du da rechts oben den kahlen Felsen? Auf halber Höhe ist eine Höhle, eine Art Nische. ›Philipps Sitz‹ nennt man sie hier. Es heißt, daß Philipp II. von dort oben den Bau dieses kolossalen Monstrums verfolgte. Ich bin eines Nachmittags dort hinaufgeklettert. Die untergehende Sonne tauchte das ganze Bauwerk in eine rötliche Glut und verwandelte es in dieser dürren Wüstenei in ein leuchtendes, aber flüchtiges Traumbild. Da habe ich Philipp und mich selbst verstanden. (...) Ich bin dort oben, in diesem Sessel Philipps, ein anderer Mensch geworden. Philipp hat nur die Nichtigkeit des Lebens gesehen und die Majestät Gottes. Wir müssen auch die Majestät des Menschen sehen. Wir sind für jedes Leben um uns verantwortlich.«

Den hochtrabenden Ton dieses Gesprächs braucht man nicht nur der Zeit zuzuschreiben, in der Brouwer schrieb, oder seinem romantischen Gemüt. Den Escorial, die Sierra de Guadarrama (für Ortega y Gasset in seinen Meditationen über Don Quijote nichts weniger als die Seele Spaniens) und die Gestalt Philipps II. umgibt nun einmal etwas, was die Phantasie reizt, und erst vor diesem steinernen Königsstuhl erkennt man, warum. Dort liegt er nun, von dort aus hat Philipp beobachtet, wie seine Schöpfung sich langsam entfaltet, bis der Palast so aussah, wie er heute noch aussieht, ein abweisendes Viereck, das ein Hochgebirge an Kuppeln und Türmen umschließt. Wenn die Sonne darauf scheint, wirkt es, als brennten die Mauern, dann wird es in dieser weiten, wogenden grünen Ebene zu einer brennenden Vision. Eis und Feuer, denn gleichzeitig jagt einem die gebändigte, strenge Form dieser steingewordenen Idee Schauder ein, und das Auge, das gesehen hat, was sich dort drinnen alles befindet, kann sich nicht satt sehen. Dort wohnten die Zwerge und Schwachsinnigen, mit denen der König sich so gern umgab und über die er solch wunderbare Briefe an seine Tochter Isabella schrieb. Und dort treffen auch die Unglücksbotschaften aus all seinen Landen ein, die den König böse und niedergeschlagen machen. Zur selben Zeit, in der er in den Niederlanden Krieg führt, muß er sich auch über die Seemacht der Türken Sorgen machen, und um all diese Kriege bezahlen zu können, müssen die Steuern ständig erhöht werden. Im April 1574 rechnete Juan de Ovando, sein wichtigster Finanzberater, aus, daß der König mit vierundsiebzig Millionen Dukaten verschuldet war. Kein Wunder, daß Philipp seufzte: »Ich habe diese Geschichte mit den Anleihen und Zinsen nie begriffen. Es ist mir nie gelungen, das in meinen Kopf hineinzubringen.« Die Probleme hören sich äußerst modern an: Staatsbankrott, wobei hochverzinsliche kurzfristige Staatsanleihen automatisch in langfristige Anleihen zu niedrigen Zinsen umgewandelt werden – wo haben wir das schon mal gehört? Das Gold und das Silber aus den Kolonien floß nach allen Seiten hin weg, und das Bild von der Spinne im Netz bekommt einen Riß, wenn man Philipp seufzen hört: »Um ehrlich zu sein, ich begreife kein Wort. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Soll ich das Memorandum an einen anderen weiterleiten, mit der Bitte um Kommentar, und falls ja, an wen? Die Zeit vergeht unbemerkt: Sagt mir, was Ihr mir zu tun ratet? Wenn ich den Verfasser des Memorandums sehe, werde ich ihn wahrscheinlich nicht verstehen, wiewohl es, wenn ich die Papiere vor mir liegen hätte, vielleicht noch ginge.«

Dokumente sind natürlich die gegebenen Mittel, um die Wende herbeizuführen, ohne die Geschichte keine Geschichte ist. Wenn ich lese, daß der König an seinen Sekretär schreibt, »Ich denke ununterbrochen an die Niederlande«, dann fällt es mir fast schwer, mir vorzustellen, daß es sich hier um die Geschichte meines Vaterlandes handelt, die Geschichte von Alba, dem Blutrat, Egmont und Hoorne, den Geusen, dem Wilhelmus. Ich höre noch immer die Stimme, die mich bereits in der Grundschule mit dem Bild eines grausamen Feindes vertraut machte, ganz gewiß nicht mit dem eines Mannes, der ununterbrochen an die Niederlande dachte, »weil alles andere davon abhängt. Wir haben so lange dafür gebraucht, Geld aufzutreiben, und die Lage ist so verzweifelt, daß ich bezweifle, ob wir die Niederlande noch retten können«. Retten, so hatte ich es natürlich nie gesehen. Alles drehte sich darum, daß der König zwar bereit war, eine Generalamnestie zu erlassen und einen großen Teil des beschlagnahmten Besitzes zurückzugeben, sich aber weigerte, eine Schmälerung seiner landesherrlichen Rechte hinzunehmen, und schon gar, Religionsfreiheit zu gewähren. Im Oktober 1574 schreibt Statthalter Requeséns (ich rieche meine Schulbank – ich sehe Fräulein de Vos mit ihren roten Haaren, ich höre unsere Kindermünder die fremden Klänge nachsprechen: Reekwesens): »Selbst wenn wir Meere an Zeit und Geld besäßen – es wäre nicht genug, um die vierundzwanzig aufständischen Städte in Holland mit Gewalt zur Kapitulation zu zwingen, wenn wir für die Unterwerfung jeder einzelnen Stadt soviel Zeit brauchten, wie es bei anderen Städten bislang der Fall war.« Und dabei muß der moderne Mensch stets im Auge behalten, wie langsam die Kommunikation vonstatten ging. Ich versuche mir manchmal vorzustellen, welche Auswirkungen das auf die Psyche hatte. Man sandte einen Brief oder entsandte ein Heer oder einen Landvogt – dann passierte eine Zeitlang gar nichts, dann verdoppelte sich dieses »Garnichts« noch durch den Rückweg, und dann erst erfuhr man, was daraus geworden war: Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse, an die wir so gewöhnt sind, gab es nicht. Die Astronauten können aus dem All mit dem Weißen Haus sprechen, aber auf einen Brief Philipps nach Chile kam erst nach gut einem Jahr Antwort, falls überhaupt Antwort kam. Man entsandte ein Heer, das eine Schlacht schlagen sollte: Hatte man den Zeitfaktor psychisch bereits berücksichtigt, so daß man sich eine Weile keine Sorgen machte, oder brachen Wochen marternder Ungewißheit an?

Botschafter, Befehle, Kuriere, Reiter. Dem König ist noch einmal eine Verschnaufpause vergönnt: Am 14. April 1574 wird das in Deutschland zusammengetrommelte Heer, das den niederländischen Rebellen zu Hilfe eilen sollte, vernichtend geschlagen. Irgendwo im Escorial hängt ein Bild von dieser Schlacht, eine Momentaufnahme, die die Kämpfenden vor der Schlacht in ihrer Aufstellung zeigt. Film, Fotos, Fernsehen, alles muß dieser starre Stich ersetzen, für die Zeitgenossen war dieser statische Bericht die einzig sichtbare Aktualität. Mit Mühe decodiere ich – als müßte ich in einem feindlichen Zeitalter spionieren – die hie und da angebrachten Randnotizen:

4. EL CAMPO. DEL, RE, DE FRAN

5. EL. PR. DE PARME

6. EL. DU DE MÊME

LA, VILLE, DE,

4. NIMEGEN

2. MOQER, HEYDEN,

3. DO. CRISTOFFEL, PALS, MORT.

5. EL, CO, HERI, DE, NASSAU, MORT,

und ich lese daraus: Das Lager des Königs von Frankreich, der Prinz von Parma, der Herzog »desselben«, von Parma also. Die Stadt Nijmegen, die Mokerhei, ein toter Pfalzgraf und ein toter Erbprinz von Nassau. Lange hat Philipp sich an diesem Stich jedoch nicht erfreuen können. Die Schwerkraft seiner fernen Provinzen war gegen ihn, und im Juni schrieb er bereits: »Ich glaube, daß das alles eine Zeitvergeudung ist, wenn man danach urteilt, was in den Niederlanden passiert, und wenn sie verlorengehen, wird der Rest des Königreichs auch nicht mehr lange existieren.« Er hatte recht. Der große, düstere Niedergang Spaniens hatte begonnen. Es wurde zu einem Land, das nicht mehr mithielt, wo die alte Zeit gültig blieb, so daß es bis vor kurzem noch immer so war, als käme man in einen anderen Erdteil, aber eigentlich noch mehr in eine für immer vergangene Zeit, als wäre es einem vergönnt, in einem Europa wie ein Zeitgenosse Stendhals herumzureisen und zu sehen, wie die Welt ohne diesen Fortschritt ausgesehen hätte, mit dem Fluch, aber auch mit den Segnungen, die dazu gehören.

Es gibt ein altes kastilisches Sprichwort, das besagt: »Si Dios no fuese Dios, sería rey de las Españas, y el de Francia su cocinero« – »Wenn Gott nicht Gott wäre, dann wäre er König von Spanien, und der König von Frankreich wäre sein Koch.« Es scheint nicht, als habe Philipp seine Position selbst so beneidenswert gefunden. Es bleibt das Bild eines einsamen, von der Last seiner Länder fast erdrückten Mannes, der lesend und schreibend mit den fernsten Winkeln seines Reiches in Verbindung steht. Vierzig Jahre hat er regiert, und bis auf die letzten sechs Wochen vor seinem schrecklichen Tod widmet er sich seiner Korrespondenz, ganze Mauleselladungen mit seinen Briefen sind in den königlichen Archiven verschwunden, wo sie für alle Zeiten auf bewahrt werden, Tausende von Seiten mit Spinnenschrift beschrieben.

Auf dem Umschlag des Buches von Geoffrey Parker ist ein seltsames Brustbild des Königs zu sehen. Er steht noch in der Blüte seiner Jahre, das Haar wirkt dunkler als auf den Bildern, die ich gesehen habe, die Lippen sind dicker, der Kopf zu groß über dem steinernen Kragen. Für einen Moment erinnert es an den großen Kopf von Zwergen, und unweigerlich muß ich an seine Vorliebe für diesen besonderen Menschenschlag denken. Oft spricht er in den Briefen an seine Töchter von Magdalena Ruiz, der Lieblingszwergin, in die sie ganz vernarrt waren. Parker widmet ihr eine ganze Passage: »Im Prado hängt ein Gemälde, das Prinzessin Isabella zeigt, die Hand auf dem Kopf der treuen Zwergin, die bereits von 1568 an in ihren Diensten stand und 1605 im Escorial starb. Sie litt an epileptischen Anfällen, war alkoholsüchtig und konnte schreckliche Wutausbrüche, sogar in Gegenwart des Königs, bekommen. ›Magdalena ist sehr böse auf mich‹, schrieb Philipp, ›und sie ist mit der Mitteilung weggelaufen, sie wolle gehen.‹ Das Volk war ganz vernarrt in sie, und wenn sie in der Öffentlichkeit erschien, wurde immer gesungen: ›Eins mit der Peitsche! Eins mit der Peitsche!‹, um sie böse zu machen oder ihr Angst einzujagen. Man konnte Gift darauf nehmen, daß Magdalena sich danebenbenehmen würde – über etwas stolpern, sich überessen (vor allem an Erdbeeren) und übergeben würde, als erste seekrank würde – aber das alles machte einen Teil ihres Reizes aus.«

Klingeln schrillen, Wächter rufen, der Palast wird geschlossen. Langsam gehe ich die Flure entlang, als widersetzte sich ein unsichtbares Element einem schnelleren Gang, als wollten diese vierhundert Jahre mich zurückstoßen, festhalten in dem versteinerten Spinnennetz.

1983