Kapitel sieben

Judge Douglas Wilfred Thwaites hatte den Vorsitz über den Holloman District Court. Er hatte sein gesamtes Studium an der Chubb absolviert und besaß ein stattliches Haus am Busquash Point, wo er an seinen Booten herumbasteln konnte, eine hingebungsvolle Frau und zwei Kinder in den Zwanzigern, die sich seiner Tyrannei entzogen hatten und an der Westküste studierten.

Obwohl Carmine das alles über den Richter wusste, war er auf einen zähen Kampf vorbereitet, als er am Montag, den zehnten April, um zehn Uhr morgens vor Gericht erschien. Er brauchte einen Durchsuchungsbefehl für die Räumlichkeiten von Dr. Pauline Denbigh, bevor das Dante College sie höflich aufforderte, das Apartment des Dekans zu räumen.

»Stattgegeben!«, brüllte Judge Thwaites bereits nach der Hälfte des Antrages. »Diese Frau ist zu allem fähig.«

Oh. Myrons Party. Natürlich waren auch der Richter und seine Frau dort gewesen, genauso wie Dr. Pauline Denbigh. Ihre Wege mussten sich gekreuzt haben.

 

Carmine hatte vier uniformierte Polizisten dabei, um die Gaffer in Schach zu halten, als er an die Tür von Dr. Denbighs Studierzimmer klopfte.

»Herein«, sagte sie mit ihrer gelangweilten Stimme.

»Dr. Pauline Denbigh?«, fragte er, mit dem Papier in der Hand.

»Das wissen Sie doch genau«, antwortete sie scharf.

»Bitte verlassen Sie sofort diese Räumlichkeiten und das Büro des Dekans. Ich habe für beide einen Durchsuchungsbefehl«, sagte er.

Sie erbleichte, und ihre Haut wirkte wie altes, gelbes Pergamentpapier. Dann sprang sie auf. »Das ist ein Skandal«, flüsterte sie. »Ich werde Ihren Durchsuchungsbefehl anfechten.«

»Das können Sie gerne tun, aber erst, wenn wir mit allem durch sind. Haben Sie einen Ort, an dem Sie sich aufhalten können, Dr. Denbigh?«

»Der kleine Gemeinschaftsraum. Ich will meine Zigaretten, mein Feuerzeug, Papiere, Buch und Füller.«

»Natürlich, vorausgesetzt, wir haben alles vorher untersucht.«

»Schweine!«, blaffte sie.

Mit der untersuchten persönlichen Habe wurde Dr. Denbigh in den Gemeinschaftsraum begleitet und ließ sich dort unter den Augen eines Polizisten nieder, während sich Carmine, Corey und Abe ihr Arbeitszimmer vornahmen.

Jedes Buch musste herausgenommen und ausgeschüttelt werden. Die Rückseiten der Regale wurden abgeklopft, während Abe, der ein Gespür für versteckte Türen besaß, jeden Zentimeter der dunklen Holzverkleidung unter die Lupe nahm und bei allen Dielen überprüfte, ob sie hohl klangen. Das Zimmer gab nichts preis, wie sie nach zwei Stunden herausgefunden hatten.

»Aber sie versteckt etwas«, sagte Carmine, als sie in das Apartment des Dekan gingen, »also muss es hier drin sein.«

In einem kleinen Abstellraum fanden sie eine elektrische Nähmaschine. »Es wird wärmer«, sagte Carmine. »Wo ist das Nähkästchen?«

Wie praktisch, wenn man eine handarbeitende Frau hatte.

Aber das Nähkästchen wurde gefunden und war unverfänglich, die Stoffreste einer Bluse und ein abgesteckter Rock. Dr. Denbigh nähte einen Teil ihrer Kleidung offensichtlich selbst.

Abe fand das Fach auf der leeren Seite der Küchenwand. Es öffnete sich mit einem Drückmechanismus. Im Innern befanden sich ein dickes Rohr mit einer Krümmung und ein Fettabscheider. »Dante ist so alt, dass sie sicher neue Leitungen haben, also ist diese bestimmt nicht angeschlossen.«

Corey holte die Kamera heraus und fing an, Fotos zu schießen, während Carmine losging, um Dr. Marcus Ceruski zu suchen.

»Sie sind unser Zeuge, Sir«, sagte Carmine.

»Ich weiß überhaupt nichts davon!«, protestierte Ceruski.

»Darum geht es ja. Sie sind hier, um uns zu beobachten, wie wir was auch immer aus dem Geheimfach herausholen, okay?«

In der Beuge des Rohrs befand sich ein schwarzer Kordelzugbeutel, der direkt im Bild festgehalten wurde. Carmine zog Handschuhe über, nahm ihn heraus und legte ihn auf den Tresen, um ihn erneut zu fotografieren. Abe und Corey standen bereit, falls etwas herausrollen sollte, was jedoch nicht passierte; selbst die Spule für die Nähmaschine blieb direkt dort liegen, wo sie hingefallen war. Das Blitzlichtgewitter hielt noch eine Weile an, während Carmine den Inhalt sortierte.

»Wenn ihre Fingerabdrücke hier drauf sind«, sagte Corey grinsend, »ist sie erledigt.«

»Das werden sie«, erwiderte Carmine ruhig. »Hol den Asservatenbeutel, Corey.«

Sie stellten ein Paket von Dean Denbighs Jasmintee aus seinem besonderen Laden sicher, eine Rolle glänzendes rosafarbenes Papier, das mit Jugendstilbuchstaben bedruckt war, eine Rolle dünner Gaze, aus der Teebeutel hergestellt wurden, einige Fäden, an deren Ende Jasmintee-Schildchen befestigt waren, die Fadenspule und ein Schraubglas mit Zyankali.

»Kein Wort darüber, Dr. Ceruski«, sagte Carmine und scheuchte ihn heraus. »Wenn die Verteidigung behaupten sollte, dass diese Beweismittel von der Polizei Holloman hier deponiert worden seien, werden Sie in den Zeugenstand gerufen, sonst nicht.«

»Sie hat ihre eigenen Teebeutel hergestellt und die Papiertüten, mit denen sie eingewickelt waren«, sagte Corey verwundert. »Wo zum Teufel hatte sie das pinkfarbene Papier und die Gaze her? Und die Fäden mit den Schildern am Ende?«

»Vom Hersteller«, sagte Abe. »Steht auf dem Schild, aus Queens.«

»Wo sonst? Abe, finde beim Hersteller heraus, ob sie das Zeug dort öffentlich erworben oder geklaut hat. Ich vermute, sie hat es gestohlen. Es wäre nicht schwer, nur ein kurzer nächtlicher Ausflug nach Queens. Dort gibt es als Sicherheitsdienst höchstens einen Nachtwächter. Das Zyanid war schon schwieriger zu beschaffen.«

»Sie ist eine einfallsreiche Frau«, meinte Abe. »Aus einem Chemielabor?«

»Kein Gedanke. Zyanid ist in jedem Labor in der Liste registriert und muss in einem Safe aufbewahrt werden.«

»Hmh«, grunzte Corey. »Fachidioten bleiben Fachidioten, Carmine. Sie laufen mit dem Kopf in den Wolken herum und lassen den Safe offen stehen.«

Doug Thwaites würde hocherfreut sein. Der Richter hatte es sofort gewusst, dass Dr. Denbigh eine Betrügerin ist.

 

Er sah Dr. Denbigh erst wieder, als er am späten Nachmittag in den Verhörraum kam.

»Sind Sie sich Ihrer Rechte bewusst?«, fragte er.

»Ja, absolut.« Dr. Denbigh hatte ihre Fassung zurückgewonnen und sah wieder besser aus; eine der Polizistinnen hatte ihr die gewünschte Kleidung herausgesucht und es ihr gemeinsam mit ihrem Make-up gebracht. Und so wellten sich die prächtigen rotgoldenen Haare weich um ihr geschminktes Gesicht und über ihr streng geschnittenes Kleid.

»Wünschen Sie die Anwesenheit eines Anwaltes?«, fragte Carmine und bat die Polizistin mit einem Nicken, ihren Stuhl in die hintere Ecke zu bewegen.

»Noch nicht«, antwortete sie und gestikulierte dann irritiert in Richtung der Polizistin. »Muss das arme Mädel hier sein? Ich würde mich lieber mit Ihnen unter vier Augen unterhalten.«

»Tut mir leid, Ma’am, sie ist ein Anstandsdame, die sicherstellt, dass ich nichts Ungehöriges tue.«

»Sie sind mir ein Rätsel, Captain. Einmal sprechen Sie wie aus der Gosse und das nächste Mal wie ein gebildeter Mann.«

»Aber die Gossensprache ist etwas Wunderbares, Dr. Denbigh. Sie zeigt, dass Englisch eine Sprache ist, die sich immer weiterentwickelt.« Er setzte sich, schaltete das Aufnahmegerät ein und diktierte die Einzelheiten.

»Wir haben Ihr Versteck in dem Geheimfach in der Küche des Dekans gefunden, Dr. Denbigh.«

Die gelben Augen weiteten sich. »Versteck? Geheimfach? Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«

»Ihre Fingerabdrücke sagen da etwas anderes, Ma’am. Sie sind über den ganzen Inhalt des Beutels verstreut, genauso wie auf dem Rohr und der Tür. Wir haben Sie, Dr. Denbigh.«

Dr. Denbigh hörte nicht auf zu kämpfen, sondern änderte ihre Taktik. »Wenn sie meine Geschichte gehört haben, Captain, wird kein Geschworener dieser Welt meine Tat verurteilen.«

»Sie wollen ein Geschworenengericht? Das bedeutet, Sie plädieren auf nicht schuldig, aber Sie haben quasi gestanden. Ein Geständnis bedeutet, keine Geschworenen.«

»Ich habe doch keinen Mord gestanden! Es war Notwehr!«

Carmine beugte sich vor. »Dr. Denbigh, es war ein vorsätzliches Verbrechen. Sorgfältig geplant und ausgeführt. Vorsatz und Notwehr schließen sich aus.«

»Blödsinn!«, sagte sie und schnaubte vor Verachtung. »Die Angst um das eigene Leben, Sir, ruft bei Menschen unterschiedliche Reaktionen hervor, weil alle Menschen verschieden sind. Wäre ich eine geschlagene Hausfrau, hätte ich einen Hammer oder eine Axt benutzt. Aber ich bin eine Professorin der Universität Chubb, und mein Ehemann, die Quelle meiner Angst, war Dekan an derselben Institution. Natürlich habe ich gehofft, dass meine Beteiligung an seinem Tod unentdeckt bleibt, aber nur die Entdeckung macht mich noch nicht zu einer kaltblütigen Mörderin. Ich habe jeden Tag in Todesangst gelebt, da ich die einzige Frau war, die von Johns sexuellen Aktivitäten wusste. Wenn ich geplant habe, mein Leben zu retten, Captain, dann plante er, es zu beenden! Die Geschichte, die ich Ihnen direkt nach Johns Tod erzählt habe, war wahr, aber sie war nur die Spitze eines Berges schmutziger Details. Es gab sechs Versuche meines Ehemannes, mich umzubringen. Ein Autounfall, ein Skiunfall, drei Angriffe mit vergifteten Lebensmitteln und ein Jagdunfall, als wir in Maine waren. John liebte es, Rehe zu schießen und sie dann zu essen!«

Carmine starrte sie hingerissen an und dankte Gott, dass nicht alle Mörder so clever waren wie sie und so gut aussahen. Mit zweiunddreißig Jahren war sie in der Blüte ihres Lebens. »Ich hoffe, Sie können diese Mordversuche beweisen«, sagte er.

»Natürlich, ich habe Zeugen«, sagte sie kalt.

»Was hat Sie dazu gebracht, sein Leben mit einer Dosis Zyanid in einem Teebeutel zu beenden?«

»Eigentlich das Zyanid. Ich habe es in einem Regal im Gemeinschaftsraum der Erstsemester gefunden. Ich war auf der Suche nach einem meiner Bücher, von dem ich wusste, dass ein Erstsemester es sich ausgeliehen hatte – sehr ungewöhnlich. Er hatte mich natürlich nicht um mein Einverständnis gebeten, aber ich hatte ihn in Verdacht, weil nur wenige aus dem ersten Semester sich für Rilke interessieren. Ich habe das Zyanid mitgenommen – es ist sehr gefährlich. Und dann wurde mir klar, dass ich den idealen Weg gefunden hatte, um John für immer aus meinem Leben zu schaffen, vorausgesetzt, ich fände einen Weg, der niemand anderen gefährdet. Und das führte zu dem Jasmintee und diesen idiotischen zweiwöchigen Montagskaffees. Danach« – sagte sie und zuckte die Achseln – »war es einfach. Der Laden war in Manhattan, aber die Teebeutel werden in Queens hergestellt.«

»Sie haben keine ausreichenden Beschuldigungen gegen den Dekan, Dr. Denbigh«, sagte Carmine.

»Ich werde meinen Fall vor Gericht vertreten. Mr. Anthony Bera wird mein Verteidiger sein«, sagte die Löwin und leckte sich die Lippen. »Und das ist alles, was ich zu sagen habe, bevor Mr. Bera hier eintrifft. Ich denke, es ist sehr fair von mir, meine Karten sozusagen auf den Tisch gelegt zu haben. Sie wissen jetzt, worauf ich plädieren werde und wie meine Verteidigung aussehen wird.«

Carmine stoppte das Aufnahmegerät. »Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit, Dr. Denbigh, aber ich muss Sie warnen. Die Staatsanwaltschaft wird Ihnen Mord nachweisen und die Höchststrafe verlangen.«

 

»Wetten, dass sie durch die Maschen schlüpft?«, sagte Carmine Silvestri ein paar Minuten später. »Das ist eine verdammt kluge Frau.«

»Hängt davon ab, wie gut Bera seine Geschworenen aussucht«, meinte Silvestri und rollte die Zigarre von einem Mundwinkel in den anderen. »Er wird beantragen, dass der Fall in einem anderen Zuständigkeitsbezirk verhandelt wird. Und es war schon immer schwer, eine Verurteilung durchzukriegen, wenn die Angeklagte eine Schönheit ist. Man würde denken, die weiblichen Juroren würden sich gegen sie wenden, aber das tun sie nicht, und die Männer sind Wachs in ihren Händen. Also, ja, Carmine, damit könnten Sie recht haben.« Sein gepflegtes Katzengesicht sah sehr zufrieden aus, trotz des ungewissen Ausgangs von Pauline Denbighs Gerichtsverhandlung. »Wenn Sie mich fragen, ob es mich kümmert? Nicht besonders. Die Hauptsache ist, dass Dean Denbighs Fall gelöst ist.«

»Ich denke nicht, dass die anderen zehn so einfach sein werden.«

»Sind Sie immer noch der Meinung, es handele sich um einen einzigen Mörder?«

»Mehr denn je. Keiner fällt aus dem Muster, Chef«, antwortete Carmine. Er runzelte die Stirn. »Und diese verdammte Frau! Sie hat mich derart aus dem Konzept gebracht mit ihrer Notwehrnummer, dass ich vergessen habe, ihr die einzige Frage zu stellen, die ich eigentlich stellen wollte.«

»Dann gehen Sie zurück und fragen Sie.«

»Während Bera dabei ist? Er wird ihr raten, nicht zu antworten.«

 

»Die Anhörung ist in einer Stunde, Captain, also hat Dr. Denbigh nicht viel Zeit für Sie«, sagte Bera am nächsten Morgen.

»Dessen bin ich mir bewusst.« Carmine setzte sich und schaltete das Aufnahmegerät ein. »Dr. Denbigh, wie geht es Ihnen?«

»Danke, gut«, sagte sie, da sie nicht wusste, dass Judge Thwaites gleich den Vorsitz hatte, der der Ansicht war, sie sei zu allem fähig.

»Es gibt eine Frage, die ich Ihnen noch gerne stellen würde. Es hat nicht direkt etwas mit Ihrem Fall oder Ihrer Verteidigung zu tun, aber es ist sehr wichtig für die Ermittlung der zehn anderen Mordfälle.«

»Meine Klientin hat keinen Mord begangen«, sagte Bera.

»Der zehn Morde«, berichtigte sich Carmine.

»Stellen Sie Ihre Frage, Captain Delmonico.«

»Gab es irgendeinen Grund dafür, dass Sie sich dazu entschlossen haben, das Leben Ihres Mannes genau am Montag, den dritten April, zu beenden?«

Mit zur Seite geneigtem Kopf dachte Bera über die Folgen nach, während Pauline Denbigh daneben saß und ihn anstarrte.

»Dr. Denbigh hatte einen Grund«, sagte Bera.

Verärgert schüttelte Carmine den Kopf. »Das ist nicht die Antwort, die ich hören wollte. Genauere Angaben, bitte.«

»Die werden Sie nicht bekommen, Captain.«

»Dann lassen Sie es mich erneut versuchen. Was für Gründe Sie auch immer gehabt haben, Dr. Denbigh, standen sie in irgendeiner Verbindung zu – sagen wir, Gerüchten, die Sie gehört haben, dass andere Todesfälle stattfinden werden?«

»Geschwätz«, sagte Bera verächtlich.

»Hatte es etwas mit einem Pakt oder einem Abkommen zu tun, dass andere Menschen sterben sollten? Oder war es reiner Zufall, dass Sie beschlossen hatten, am Montag, den dritten April, in Aktion zu treten, der Tag, an dem in Holloman elf weitere Morde stattfanden?«

»Ohhh!«, rief sie aus. »Ich verstehe, was Sie meinen. Die Gründe für mein Handeln werden bei Gericht zutage kommen, Captain, aber sie hatten nichts mit zehn – oder elf – Morden zu tun. Das war reiner Zufall.«

Carmines seufzte vor Erleichterung. »Danke. Ich kann nichts tun, um Ihnen zu helfen, aber Sie haben mir gerade sehr geholfen.« Er entschied, sein Glück herauszufordern. »Wer wusste, dass Sie vor Ihrem Ehemann Angst hatten? Dass Sie um Ihr Leben fürchteten?«

»Wenn Sie das beantworten, Dr. Denbigh, kann ich Ihnen nicht mehr helfen«, sagte Bera unheilverheißend.

Sie hob die Schultern und lächelte Carmine reumütig an. »Mein Schicksal liegt in Mr. Beras Händen, Captain. Ihnen das zu sagen würde meine Verteidigung gefährden.«

Was, dachte Carmine, ein brillanter Weg war, zu sagen, ja, sie hätte sich zumindest einer anderen Frau anvertraut. Nun musste er ihre beste Freundin finden.

Erica Davenport? Philomena Skeps? Oder eine Mitstreiterin, die er noch nicht kennengelernt hatte?

Er wartete auf dem Gang, bis Anthony Bera das Verhörzimmer verließ, und hielt ihn zurück. »Sie sollten keine Schwierigkeiten haben, einen Freispruch zu erwirken«, sagte er freundlich.

»Das denke ich auch.«

»Wie kann sie sich Ihre Gebühren leisten, Mr. Bera? Die Chubb ist nicht gerade dafür bekannt, dass sie ihre weiblichen Gelehrten überbezahlt.«

»Ich arbeite pro bono«, antwortete Bera kurz angebunden.

 

Carmine berief eine Konferenz in seinem Büro ein, mit Abe und Corey, Delia und Patrick.

»Okay, es sind nur noch zehn«, sagte er. »Die drei Erschießungen können wir vergessen, aber sie lege ich erst als gelöst zur Seite, wenn wir das Superhirn gefangen haben, denn das waren eindeutig Auftragsjobs. Bleiben noch sechs Fälle: Beatrice Egmont, Bianca Tolano, Peter Norton, Cathy Cartwright, Evan Pugh und Desmond Skeps. Für den Moment legen wir Beatrice Egmont als unlösbar beiseite. Okay, fünf tote Leute, und bei denen fangen wir an. Wir konzentrieren uns jetzt alle auf die Vergewaltigung von Bianca Tolano. Ein Auftragsmord, ja, aber nachdem ich etwas darüber nachgedacht hatte, fiel mir auf, dass man nicht einfach so einen Sexualverbrecher kaufen kann. Geld interessiert ihn nicht. Daher muss es jemand von hier sein. Unser Superhirn hat herausgefunden, welche Fantasien er hat, und hat ihn an die Sache herangeführt. Wenn wir ihn nicht kriegen, wird er wieder morden, jetzt, wo er Blut geleckt hat. Wenn ich in der Vergangenheit eines gelernt habe, dann, dass Sex-Mörder nicht aufhören können.«

»Woher wissen wir, wonach wir suchen sollen?«, fragte Patsy. »Das war beim letzten Fall unser Problem – diese komplette Anonymität. Warum soll das hier anders sein?« Er blickte finster drein. »Außerdem dachte ich, du wolltest den Mörder nicht Superhirn nennen?«

»Ich hasse es, stimmt«, sagte Carmine geduldig, »aber es passt. Oder, du willst ganz einen auf FBI machen und ihm einen Codenamen geben. Wie wäre es mit Einstein oder Pauling? Lass uns einfach bei dem bleiben, was wir haben. Und was den Unterschied angeht, Patsy, rührt der daher, dass jemand anderes – das Superhirn – den Mörder aus seinem Phantasiereich vertrieben hat. Und unser Einsiedlerkrebs fühlt sich in seiner neuen Muschel noch nicht so ganz wohl; seitwärts zu gehen macht ihm noch Angst. Ich habe eine Vorstellung davon, wo wir suchen sollten, der letzte Fall war dafür gutes Training. Fasse bitte noch mal den Fall Bianca zusammen, Patsy.«

»Sie wurde nackt aufgefunden«, begann Patsy, »an Fuß- und Handgelenken mit einem Stahlseil gefesselt. Sie war die ganze Zeit bei Bewusstsein, abgesehen von den kurzfristigen Erstickungsphasen, während sie mit einer Strumpfhose um den Hals gewürgt wurde. An neunundzwanzig Stellen Verbrennungen durch eine Zigarette und an siebzehn Stellen Schnittverletzungen von einem Teppichmesser. Speziell an den Brüsten und den Schamlippen. Mehrfache Vergewaltigung, aber in keiner Körperöffnung wurde Sperma gefunden. Der Tod wurde durch eine kaputte Flasche herbeigeführt, die ihr in die Vagina gerammt wurde; sie ist verblutet. Es gibt exakt diesen Fall in einem Soziologiebuch, das von den Psychologie-Studenten häufig gelesen wird.«

»Wie alt ist dieses Buch?«, fragte Delia.

»Vor zehn Jahren veröffentlicht. Es löste einen Aufschrei des Entsetzens aus. Man fand, es sei zu leicht zugänglich für Leute, die Nervenkitzel suchen. Ich glaube, der Autor war ein Deutscher, und das Buch war aus dem Deutschen übersetzt.«

»Danke, Patsy«, sagte Carmine nachdrücklich. »Wir kennen diesen Kerl. Damit meine ich, wir müssen sein Gesicht schon diverse Male gesehen haben, vielleicht haben wir ihn sogar verhört. Er ist von kleinem Wuchs und unattraktiv, aber ich bin nicht sicher, aus welcher Altersgruppe.«

»Wir fahren zu Cornucopia«, sagte Abe sofort, »und fangen direkt mit Dr. Davenports Sekretär an.«

»Weswegen schlägst du das vor?«, wollte Corey wissen.

»Ich erinnere mich an den Sekretär«, sagte Abe, »es passt.«

»Als du sagtest, du wärest nicht sicher, was seine Altersgruppe angeht, Carmine«, fragte Delia, »meintest du da, sehr jung, jung und nicht mehr ganz so jung?«

»Nein, Delia, ich meinte jung, mittleren Alters und alt.«

»Was ist mit seinem Job?«, fragte sie weiter.

»Bei Sexualverbrechern ist das oft ein Rätsel, aber in diesem Fall würde ich sagen, er ist eher daran gewöhnt, Befehle zu empfangen, als zu erteilen. Sonst hätte ihm das Superhirn keine Gehirnwäsche verpassen können.«

»Das ist eine interessante Formulierung«, sagte Patsy. »Ich dachte, dass hat etwas mit Manipulation zu tun.«

»Gehirnwäsche? Vergiss nicht, dass bei diesem Fall das FBI irgendwo in der Peripherie herumschnüffelt«, meinte Carmine. »Aber ernsthaft: Ich glaube, diese Formulierung kann man auf alle Formen von Umwandlungsprozessen anwenden, die tief in die Psyche eindringen.«

»Besonders«, sagte Abe, »wenn bereits die Tendenz vorhanden ist.«

 

Also ging es zurück zu Cornucopia, wo sie mit Richard Oakes anfingen, dem Sekretär von Dr. Erica Davenport, Vorstandsvorsitzende und nun Geschäftsführerin von Cornucopia Central. Sie war außer sich vor Wut, aber konnte weder Abe noch Corey davon abhalten, den jungen Mann einem Verhör zu unterziehen, das mehr als zwei Stunden dauerte. Als er wieder herauskam, war er den Tränen nahe, zitterte wie Espenlaub und litt unter den Anfängen eine Migräne, die seinen Boss dazu veranlasste, ihn per Krankenwagen ins Chubb Holloman Hospital bringen zu lassen.

»Dafür werde ich Sie verklagen!«, brüllte sie Carmine an.

»Unsinn«, erwiderte er verächtlich. »Er war von Anfang an total nervös. Wichtig für mich ist, dass er mit dem Tolano-Mord nichts zu tun hat.«

»Was für Gründe hatten Sie, zu glauben, er könnte schuldig sein?«, fragte sie stocksauer.

»Das geht Sie gar nichts an, Dr. Davenport, aber ich informiere Sie hiermit darüber, dass wir einige weitere Männer bei Cornucopia verhören werden.«

Erica Davenport gab ein Schnauben von sich und stolzierte in ihr Büro.

Mhm, dachte Carmine, ich beginne zu verstehen, warum Wally Grierson denkt, dass sie Cornucopia zugrunde richten wird.

Als beabsichtigte er, genau das Gegenteil von Richard Oakes zu sein, kam Michael Donald Sykes mit einem freudestrahlenden Gesicht zum Verhör. Er war entzückt, dass jemand ihn eines Sexualmordes verdächtigte, und machte Abe und Corey, die ihn befragten, das Leben zur Hölle.

»Ich glaube, dass Sie sich auf mich festgelegt haben«, sagte er feierlich, »weil ich nicht Gettysburg in meinem Keller aufgebaut habe. Wie sollte ich, ein Amerikaner, Austerlitz bevorzugen? Und was, werden Sie fragen, ist Marengo, wenn nicht ein Rezept für Hühnchen? Napoleon Bonaparte, meine Herren, war ein militärischer Genius und hat Sherman, Grant und Lee in den Schatten gestellt! Er hatte italienisches Blut in den Adern, kein französisches.«

»Halten Sie den Mund, Mr. Sykes«, sagte Corey.

»Ja, Mr. Sykes, seien Sie ruhig«, meinte Abe.

Letzten Endes vertrieben sie ihn aus ihrem requirierten Büro, und Sykes tänzelte zufrieden mit sich selbst von dannen. Als er an Carmine vorbeikam, hielt er inne.

»Es gibt einen Kerl in den Buchhaltung, den Sie befragen sollten«, sagte er lächelnd. »Das war ja so erfrischend! Und wenn ich daran denke, dass ich mir vor Angst fast in die Hose gemacht habe, als Sie vor ungefähr einer Woche hier aufgetaucht sind. Aber jetzt nicht mehr, o nein. Ihre folgsamen Ergebenen sind Gentlemen, die meine Ablehnung gegenüber den Feldherren des Bürgerkrieges angenommen haben, als wäre das selbstverständlich. Wie außerordentlich freundlich von Ihnen.«

»Wer in der Buchhaltung?«, fragte Carmine.

»Ich glaube nicht, dass ich je seinen Namen gehört habe, aber Sie können ihn gar nicht verfehlen, Captain. Nicht größer als eins fünfzig, extrem dünn, und er hinkt sehr stark«, sagte Mr. Sykes.

Carmine griff sich Abe mit der einen und Corey mit der anderen Hand und hetzte sie zum Fahrstuhl. »In welchem Stockwerk ist die Buchhaltung von Cornucopia General?«, fragte er.

»Achtzehnter, neunzehnter und zwanzigster«, antwortete Corey.

»Zwanzigster«, sagte er, »wir arbeiten uns nach unten vor.«

»Himmel!«, sagte Abe, als sie im zwanzigsten Stock ankamen. »Mr. Highmans Zimmermann!«

Aber er war nicht da, und die wenigen Leute, die sie trafen, hatten ihn gesehen, aber wussten nicht, wo er sich aufhielt.

»Arrogante Idioten«, schimpfte Corey, als sie ein Stockwerk tiefer hasteten. »Die Tagelöhner werden gar nicht wahrgenommen.«

Woher wusste ich, dass es zu schön war, um wahr zu sein? fragte sich Carmine. Zwei Rettungssanitäter kamen mit einer Trage aus einem anderen Fahrstuhl gerollt, sie wurden von einem halben Dutzend aufgeregter Leute begleitet. Mit Hilfe ihrer Dienstmarken schoben Carmine und sein Team sich nach vorne.

Aber es war zu spät. Der kleine Mann war tot über einem Schreibtisch zusammengebrochen. Carmine untersuchte ihn auf Lebenszeichen, während Abe und Corey die Leute auf Abstand hielten.

»Ihr könnt gehen, Jungs«, sagte Carmine zu den Sanitätern, während er den Hörer eines Telefons anhob. »Der Tote kommt zum Rechtsmediziner.«

Innerhalb von Minuten war der Bereich abgeriegelt. Kurz danach kamen Patrick O’Donnell und sein Team hereinmarschiert. Patricks hatte einen grimmigen Ausdruck auf seinem Gesicht, aber er sprach erst, nachdem er eine erste Untersuchung der Leiche abgeschlossen hatte.

»Ich wette, Zyanid«, sagte er zu Carmine. »Das scheint das Gift der Wahl zu sein, oder? Ich frage mich, durch wie viel Hände dieses Glas aus Dr. Denbighs Beutel gegangen ist? Die tödliche Dosis ist sehr klein.«

»Könnte dies Mrs. Dean Highmans Handwerker gewesen sein?«

»Zweifellos, außer es gibt zwei eins fünfzig große Hänflinge in Holloman, deren linkes Bein sieben Zentimeter kürzer ist als das rechte«, sagte Patsy. »Er trug Stiefel, bei denen die eine Sohle aufgefüttert war, aber das Hinken verschwand nie ganz. Die ausgeglichene Sohlenhöhe hat seine Hüfte gerade gerichtet und geholfen, die Schmerzen in den Lendenwirbeln zu mindern. Bis ich ihn auf meinem Tisch gehabt habe, werde ich nicht sagen können, ob es angeboren war oder später gekommen ist.«

 

»Nun«, sagte Abe, als sie zum County Services Building zurückkehrten, »ich vermute, Erica Davenport ist unser Superhirn.«

»Denke ich auch«, stimmte Corey zu.

»Nicht notwendigerweise«, kam es düster vom Rücksitz, wo Carmine saß. »Als wir angefangen haben, kleine unattraktive Männer zu verhören, kann sich das schneller als ein Lauffeuer verbreitet haben. Mrs. Highman ist ein Schatz, aber besonders diskret ist sie nicht. Dotty Thwaites ebenso wenig wie Simonetta Marciano oder Angela MacIntosh. Habt ihr schon bemerkt, dass das ein Fall voller Frauen ist? Verdächtige, Opfer, Zuschauer, Zeuginnen – Frauen, Frauen, Frauen. Ich hasse solche Fälle! Ich kenne nur zwei Frauen, die den Mund halten können – die eine ist meine Frau und die andere meine Sekretärin!«

Die zwei vorne verstanden den Wink mit dem Zaunpfahl und sagten nichts mehr.

Am Präsidium trennten sich ihre Wege. Bewaffnet mit Details, die sie vom Leiter der Buchhaltung bekommen hatten, gingen Abe und Corey zur Wohnung des Toten. Carmine begab sich mit einem grimmigen Gesichtsausdruck in den Obduktionssaal, wobei er gar nicht bemerkte, dass alle Leute ihm auswichen.

»Joshua Bulter, Single, fünfunddreißig Jahre alt«, sagte Patsy, der die unbekleidete Leiche bereits auf dem Tisch liegen hatte. »Er ist eine dieser armen Schweine mit einer angeborenen Hypophyseninsuffizienz, die hormonelle Störungen verursacht. Er hat einen Hodenhochstand, keine Körperbehaarung und den Penis eines vorpubertären Jungen. Ich bezweifle, dass er je eine Erektion hatte, von der Produktion von Sperma ganz abgesehen. Wenn er also Bianca Tolanos Mörder ist, muss die Vergewaltigung mit einem anderen Objekt durchgeführt worden sein, vielleicht der Flasche, bevor er sie zerbrochen hat. Sein kürzeres Bein beruht auf einem Bruch irgendwann in seiner Kindheit, der unzureichend behandelt wurde. Ich bezweifle, dass ein Arzt ihn überhaupt gesehen hat. Das, was ich suche, werde ich im Schädel finden, wenn ich mir die Gehirnbasis und die Hypophyse ansehe. Die Histologie wird sehr wichtig sein. Vielleicht ist er auch ein Situs inversus viscerum – das Herz auf der rechten Seite und ein paar andere Organe auch verdreht. Todesursache? Ich bin immer noch derselben Meinung. Zyanid.«

Carmine seufzte. »Er wäre niemals in der Lage gewesen, die Bärenfalle in Evan Pughs Kleiderschrank einzubauen«, sagte er. »Ich weiß, dass man Kraft nicht immer mit Größe gleichsetzen kann, aber dieser Kerl ist definitiv ein Schwächling. Habe ich recht?«

»Ja«, sagte Patsy, den es juckte, mit seiner Untersuchung fortzufahren. Eine Leiche wie diese sah er nicht jeden Tag.

Also gibt es irgendwo ein außergewöhnlich gewieftes Schlitzohr, das in der Lage war, einen Kümmerling wie Joshua Butler darzustellen, dachte Carmine und überließ Patsy seiner Arbeit. Und der fähig war, ein Feuer in Joshua Butler zu entzünden, so heiß, dass es ihn zum Mörder werden ließ.

Keine fünf Minuten später rief Patsy an.

»Carmine, die Todesursache ist definitiv Zyanid, aber ich glaube nicht, dass es Mord war. Ich habe in seinem Mund eine Kapsel aus sehr dünnem Plastik gefunden, und Krümel des Plastiks hingen zwischen seinen Zähnen. Er hat Selbstmord begangen.«

»Das ergibt Sinn«, sagte Carmine ohne Verwunderung. »Genau wie Dr. Goebbels, außer, dass er keine Kinder hatte.«

»Kopf hoch«, sagte Delia und versuchte ihn aufzumuntern. »Zumindest brauchst du dort nicht weiter zu graben. Bianca Tolanos Fall ist gelöst.«

»Hmh«, knurrte Carmine. »Es zeigt nur, dass wenn man genug Steine umdreht, man mit Sicherheit irgendwann etwas Grausiges findet. Wir haben nur noch vier, die uns eine echte Antwort auf unsere Fragen geben können.«

»Geh nach Hause«, sagte Delia streng. »Du brauchst eine große Dosis Julian.«

 

Eine Dosis Julian half, aber dann verdarb Myron Carmines Wohlbefinden, der auf seiner Türschwelle erschien, wütend genug, um in Kampfstellung zu gehen. Carmine blickte ihn an und brach in Gelächter aus.

»Myron, du Narr!«, sagte er, legte seinem Freund einen Arm um die Schulter und zwang ihn, hereinzukommen. »Du siehst aus wie ein Windhund, der einer Dänischen Dogge die Zähne zeigt.«

Myrons Wut dauerte noch einen Moment an, dann gab er nach. »Zumindest kann ich froh sein«, sagte er dann, »dass du mich Windhund genannt hast und nicht Chihuahua.«

»Nein«, sagte Carmine und rollte, zu Desdemona gewandt, mit den Augen, »du bist doch kein Kläffer. Lass uns einen trinken und erzähle mir, was dich so wütend macht.«

»Deine – deine Hetzjagd auf Erica macht mich wütend. Warum schikanierst du sie so?«

»Ich schikaniere sie nicht, Myron. Sie kann nicht ihren Kuchen behalten und ihn gleichzeitig essen. Cornucopia steckt in der Krise, und nun ist sie der Oberboss – oder die Oberbossin. Du bist ein Geschäftsmann, du weißt, dass an der Macht ein Preisschild hängt. Wenn Erica die Hitze nicht aushält, geht sie besser aus der Küche.«

Myrons Laune hatte sich gänzlich geändert; er konnte seinem geliebten Freund nie lange böse sein, besonders wenn seine Position nicht haltbar war. »Ach, Carmine«, jammerte er, »wie bin ich bloß dazwischen geraten? Ich liebe das Mädel, und ich hasse es, mit anzusehen, wie sie gehetzt wird, aber ich musste ihr versprechen, zu dir zu gehen und zu versuchen, dich dazu zu bewegen, dass du sie etwas mehr in Ruhe lässt.« Er sah traurig aus. »Aber das schaffe ich nicht, oder?«

Carmine gab ihm einen Scotch. »Hast du dir mal überlegt, dass Erica vielleicht wie erstarrt ist, weil man ihr Cornucopia übergeben hat? Ich glaube, sie hatte es nicht erwartet, und nun hat sie Angst davor, zu versagen.«

Der Scotch glitt sanft die Kehle hinunter. Carmine legte Wert auf gute Alkoholika. »Da ist was dran«, meinte Myron.

»Sie glaubt dir eher als mir. Warum rätst du ihr dann nicht, den Ball flach zu halten? Meiner Erfahrung nach neigen große Unternehmen dazu, sich selbst zu lenken. Probleme treten nur dann auf, wenn Leute sich dem Lauf der Dinge in die Quere stellen. Sie sollte einfach alles laufen lassen.«

»Du würdest die Firma besser führen als wir alle«, sagte Myron.

»Ich? Nie im Leben. Den Worten deiner geliebten Frau nach bin ich zu unersättlich neugierig, und da hat sie recht. Ich verbringe mein ganzes Leben damit, in Dingen herumzustochern, die mich nichts angehen.«

»Bleibst du zum Abendessen, Myron?«, fragte Desdemona. »Es gibt gegrillte Rippchen.«

Myron seufzte, »Ich wünschte, ich könnte, aber ich muss zurück zu Erica.« Er stand auf und blickte sie niedergeschlagen an. »Ich wünschte, alles könnte so weitergehen, wie es war, aber das kann es nicht, oder?«

»So ist das Leben«, sagte Desdemona und lachte. »Klingt das nicht abgedroschen? Mach dir keine Gedanken, Myron. Es wird sich alles schon wieder beruhigen.«

»Aber das wird es nicht«, sagte sie später zu Carmine. »Wenn ich Erica doch nur mögen könnte. Aber das kann ich nicht. Sie ist so spröde, obwohl, damit könnte ich ja noch umgehen, wenn sie dabei nicht so kalt und abweisend wäre. Sie wird dem armen Myron das Herz brechen.«

»Vielleicht nicht«, meinte Carmine, den das gute Essen und Trinken optimistisch gestimmt hatten. »Ich glaube, er ist fasziniert von all den Dingen an ihr, die wir nicht mögen. Er ist fünfzig Jahre alt und bereit für eine Hexe. Erica ist eine Phase.«

»Glaubst du wirklich?«

»Ja, tue ich.«

»Eigentlich hatte Sophia gesagt, sie sei zum Essen da und brächte zwei Freundinnen zum Übernachten mit.«

Bei Carmine flammte Ärger auf. »Es ist wahrscheinlich an der Zeit, dass ich mal wieder ein ernstes Wörtchen mit meiner Tochter rede«, sagte er.

»Nein, Carmine, tu’s nicht. Es wird wahrscheinlich einen guten Grund dafür geben. Ich bin ganz sicher«, sagte Desdemona.

Wie auf ein Stichwort kam Sophia zur Haustür hereingestürmt, die Augen weit aufgerissen und bleich im Gesicht. »Daddy!«, rief sie und lief auf ihn zu, »jemand hat mich im Physiklabor in der Abstellkammer eingeschlossen!«

Siehst du, was habe ich dir gesagt? bedeuteten Desdemonas Augen ihm, aber Carmine hielt Sophia ein Stück von sich weg und blickte sie an. Sie war etwas zerzaust, und ihre Panik war echt. »Weißt du, wie es passiert ist, Liebling?«, fragte er.

»Nein. Es hätte nicht passieren dürfen. Diese Kammer wird nie abgeschlossen!« Sie zitterte und lehnte sich an ihn. »Ich konnte jemanden draußen hin und her gehen hören und etwas, das auf den Boden geklopft hat. Daddy, ich weiß nicht, warum, aber ich bin sicher, dass er hinter mir her war. Ich hatte Aufräumdienst, und jeder hat gesehen, wie ich hin und her zum Wandschrank gegangen bin. Erst dachte ich, es wäre ein Witz, aber dann habe ich die Schritte gehört und diese seltsame Angst bekommen!«

»Ist er wieder weggegangen?«, fragte Carmine. »Wie lange warst du dort drinnen?«

»Ungefähr fünf Minuten. Ich wusste, dass er die Tür öffnen und mich angreifen würde, sowie es in der Schule ruhig geworden war, also bin ich durch das Mannloch in der Decke geklettert. Es führte zu dem Hauptdunstabzug, und ich bin endlos lange gekrochen, bis ich bei der Dunstabzugskammer des anderen Ende des Labors war. Die Lichter waren schon aus, aber draußen war es noch hell, und ich konnte ihn sehen – ein kleiner Kerl, der hinkte. Ich habe versucht, kein Geräusch zu machen, und bin irgendwie aus der Kammer runter auf den Boden gekrochen. Dann bin ich zur Tür an meinem Ende gekrochen und habe gewartet, bis er in die andere Richtung ging, habe die Tür einen Spalt geöffnet und mich durchgeschoben. Dann bin ich aufgestanden und gerannt!«

Erstaunlich, dachte Carmine, sie ist eindeutig meine Tochter. Gibt einen vollständigen Bericht ab, obwohl ihr der Schreck in den Gliedern sitzt. »Dann hast du es bis zu deinem Auto geschafft und bist hergefahren«, sagte er.

Sie starrte ihn verächtlich an. »Daddy! Wenn ich das getan hätte, wäre ich schon vor Ewigkeiten zu Hause gewesen. Nein, er muss die Tür von der Abstellkammer geöffnet haben und hat gemerkt, dass niemand mehr drin war. Ich bin gerannt und habe mich gerade rechtzeitig hinter den Forsythien versteckt – als er kam und genau auf mein Auto zuging. Also wusste ich, dass er hinter mir her war. Nicht irgendwem – hinter mir! Also habe ich mich geduckt und gewartet, bis es dunkel war, bin dann zur Route 133 geschlichen und habe mir ein Taxi genommen. Aber ich bin erst eingestiegen, nachdem ich mir den Fahrer genau angeschaut hatte. Er war schwarz, also wusste ich, dass ich sicher war. Er ist jetzt oben am Circle, Daddy. Ich hatte mein Portemonnaie nicht dabei, und die Fahrt war gigantisch teuer.«

Desdemona ging mit der Brieftasche in der Hand hinaus, während Carmine seine Tochter ins Wohnzimmer brachte und ihr eine Weinschorle einschenkte. »Das hast du gut gemacht, Kleine«, sagte Carmine und platzte fast vor Stolz.

Das und die Dankbarkeit, welche Macht auch immer auf Sophia aufgepasst hatte, half ihn über die Zeit hinweg, bis Sophia zu Abend gegessen hatte und dann von Desdemona eine Schlaftablette verabreicht bekam.

Dann setzte die Reaktion ein. Carmine setzte sich zitternd und krampfte seine Hände zusammen.

»Dieser Bastard! Dieser verdammte Bastard!«, sagte er zu Desdemona. »Warum konnte er nicht mir nachstellen? Warum einem sechzehn Jahre alten, unschuldigen Mädchen? Ich werde ihm eigenhändig den Kopf abreißen!«

Sie nahm ihn in die Arme, drückte ihn an sich und streichelte sein Gesicht. »Sag so etwas nicht, Carmine. Du meinst lebenslänglich ohne die Möglichkeit auf Bewährung. Bist du sicher, dass es sich um deinen Mörder handelt?«

»Ein kleiner Kerl, der humpelt? Er muss es sein. Aber, warum Sophia? Er hat sie ganz bewusst ausgesucht – hat sie in der Schule ins Visier genommen. Eigentlich hätte ich ihre Leiche morgen in der Abstellkammer des Physiklabors finden sollen, zu Tode geprügelt, wenn das, was auf den Boden geklopft hat, ein Baseballschläger gewesen ist. Womit er nicht gerechnet hatte, war Sophias Geistesgegenwart.«

»Und der Tatsache, dass sie dein Bauchgefühl geerbt hat. Während alle anderen angenommen hätten, sie wären versehentlich eingeschlossen worden, wusste Sophia sofort, dass sie in Gefahr schwebte. Also hat sie sich darauf konzentriert, zu fliehen.«

Carmine rang sich ein Lächeln ab. »Einfallsreich, was?«

»Ja, sehr. Ich glaube nicht, dass du dir jemals um Sophia Sorgen zu machen brauchst.«

Er stand auf und fühlte sich wie ein alter Mann. »Ich glaube nicht, dass ich heute Abend einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester für Julian machen möchte, Desdemona.«

»Es gibt immer ein Morgen«, sagte Desdemona sanft. »Jetzt lass uns noch einen Drink vor dem Zubettgehen genehmigen. Ich kann Sophia morgen zu Hause behalten, aber mit dir geht das nicht. Ein Cognac ist das richtige Mittel heute für den Daddy.«

»Ich muss einen Polizisten an der Dormer stationieren, der unsere Tochter im Auge behält«, sagte er, nahm den Cognacschwenker und wärmte ihn mit seiner Hand. »Verdeckte Überwachung, aber Seth Gaylord wird darüber informiert werden müssen, falls der Duty Sergeant einen Deppen für die Überwachung schickt. Du wirst morgen mit Sophia reden müssen, um sie davon zu überzeugen, den Zwischenfall gegenüber niemandem zu erwähnen, einschließlich Myron.«

Desdemona blinzelte. »Einschließlich Myron?«

»Wir können zurzeit nicht blind darauf vertrauen, dass er seinen Mund hält, denn ich weiß nicht, wie verschwiegen seine neue Liebe ist. Sag Sophia, dass es keine gute Idee ist, sich irgendwo allein hinzubegeben. Sie soll bei einer Gruppe bleiben und die Schule mit allen anderen verlassen. Und der verdammte rote Mercedes, den Myron ihr geschenkt hat, bleibt in der Garage. Sie kann die alte Mercury-Karre meiner Mutter fahren.«

Desdemona zitterte. »Es wie damals, beim Gespenst«, sagte sie.

»Ja. Darum bin ich davon überzeugt, dass unsere beste Waffe Sophias Scharfsinn ist. Wenn du offen und ehrlich mit ihr sprichst, wird sie gehorchen.«

 

Die Nachricht von Sophias Erlebnis traf niemanden so sehr wie John Silvestri, dessen Tochter Maria vor einigen Jahren brutal zusammengeschlagen worden war. Aber Marias Wunden verheilten, sie war inzwischen glücklich verheiratet. Der Täter hatte eine dreißigjährige Haftstrafe bekommen, die erst nach zwanzig Jahren zur Bewährung ausgesetzt werden konnte. Da er das alles wusste, erzählte Carmine ihm von dem versuchten Anschlag auf Sophia.

»Schrecklich, einfach nur schrecklich!«, sagte der Commissioner und wischte sich die Augen. »Wir müssen dieses Arschloch finden, Carmine. Du kriegst alles, was du willst. So ein zauberhaftes kleines Mädchen.«

»Ich weiß, es sieht nicht so aus«, sagte Carmine, »aber ich glaube, wir haben ihn wirklich verärgert. Es sind neun Tage seit den zwölf Morden vergangen, und wir haben es tatsächlich geschafft, einige davon aufzuklären – Jimmy Cartwright, Dean Denbigh, Bianca Tolano –, und wir haben die Erschießungen der drei Schwarzen als Auftragsmorde eingestuft. Es gab einen dreizehnten Toten – den Selbstmord von Bianca Tolanos Mörder.«

»Das finde ich beeindruckend«, sagte Silvestri, der seine Fassung wiedergefunden hatte. »Wie geht es weiter?«

»Mit Peter Norton, der Strychnin mit seinem Orangensaft getrunken hat. Ein qualvoller Tod.«

»Genauso wie Zyanid«, meinte Silvestri.

»Ja, aber Zyanid ist schnell. Sowie genug Sauerstoff vom Hämoglobin gelöst wurde, tritt der Tod ein. Wohingegen es mit Strychnin zwanzig, dreißig Minuten dauert, je nach Dosis. Norton hat eine riesige Dosis verabreicht bekommen, aber nur die Hälfte getrunken. Er war ein toter Mann, aber bis dahin dauerte es eine Weile. Erbrechen, Durchfall, starke Krämpfe – ich weiß nicht, wie weit er bei Bewusstsein war, aber seine Frau und die Kinder haben alles mitbekommen.«

»Willst du damit andeuten, dass das die Absicht des Mörders war?«

»Vielleicht«, sagte Carmine und hörte sich überrascht an.

»Wenn die Methode absichtlich gewählt wurde, um Nortons Frau und die Kinder zu quälen, eröffnet das eine ganz neue Perspektive, Carmine«, sagte der Commissioner gedankenvoll. »Vielleicht sollten wir uns die Familien der Opfer näher ansehen.«

»Wir werden jeden Stein erneut umdrehen«, versprach Carmine.

 

Mrs. Barbara Norton hatte über eine Woche Zeit gehabt, um sich zu beruhigen, aber Carmine nahm an, dass der Arzt ihr ein starkes Beruhigungsmittel verschrieben hatte. Sie hatte einen stieren Blick und ging, als bewege sie sich durch zähen Sirup.

»Es ist irgendein Irrer, dem er keinen Kredit gewährt hat«, sagte sie und reichte Carmine eine Tasse Kaffee. »Sie haben ja keine Vorstellung, Captain. Die Leute erwarten, dass die Bank ihnen Geld leiht, ohne die geringsten Sicherheiten. Die meisten Leuten geben irgendwann auf, aber die Irren nie. Ich erinnere mich an ein paar Verrückte, die unseren Briefkasten mit Hundekot gefüllt haben, Natronlauge in unseren Pool gekippt oder sogar in unsere Milch gepinkelt haben! Peter hat sie alle der Polizei von North Holloman gemeldet, also können Sie dort nach den Namen suchen.«

Sie war relativ mollig, fiel Carmine auf, aber ihre Rundlichkeit wirkte auf einige Männer sicher anziehend. Ihr Gesicht war hübsch – Grübchen, rosige Wangen und makellose Haut. Als die Kinder hereinkamen, unterdrückte er bei ihrem Anblick einen Seufzer: Das hier war eine Familie, deren Gene für Fettleibigkeit anfällig machten. Peter Norton, erinnerte er sich von der Obduktion, war sehr übergewichtig gewesen: fette Arme und Beine, aufgedunsene Hände und Füße. Laut Aussagen der Nachbarschaft hatte Mrs. Norton versucht, die Kalorienaufnahme der Familie zu reduzieren, aber ihr Mann wollte nichts davon hören. Er nahm die Kinder immer mit zu Friendly’s, wo er ihnen Parfaits und Milchshakes spendierte.

»Waren Ihre Freunde auch die Freunde Ihres Mannes, Mrs. Norton?«, fragte Carmine.

»Oh, sicher. Wir haben alles gemeinsam gemacht. Peter mochte es, wenn wir dieselben Freunde hatten.«

»Was haben Sie gemeinsam unternommen?«

»Dienstagabend haben wir Bowling gespielt. Donnerstagabend haben wir uns bei einem der Freunde zum Canasta getroffen. Samstagabend sind wir essen gegangen und danach ins Kino oder Theater.«

»Haben Sie einen Babysitter, Ma’am?«

»Ja, Imelda Gonzalez. Peter hat sie abgeholt und wieder nach Hause gefahren.«

»Sind Sie nie alleine ausgegangen?«

»Oh nein!«

»Wer sind Ihre Freunde?«

»Grace und Chuck Simmons, Hetty und Hank Sugarman, Mary und Ernie Tripodi. Chuck arbeitet bei der Holloman National, Hank ist ein Buchhalter mit einem Steuerbüro, und Ernie hat einen Sanitätshandel. Keine von uns Frauen arbeitet.«

»Sind Sie jemals woanders hingegangen, Mrs. Norton?«

Ihre Locken wippten, als sie nickte. »Oh, sicher. Wohltätigkeitsveranstaltungen, meistens, aber nicht regelmäßig. Zu Veranstaltungen von Cornucopia sind Peter und ich immer allein hingegangen – die Fourth National ist eine Tochter von Cornucopia. Ansonsten sind wir acht immer zusammen weggegangen.« Ihr Kinn fing an zu zittern. »Jetzt kann ich natürlich fast nirgendwo mehr hingehen. Unsere Freunde sind sehr nett, aber ohne Peter bin ich ein ziemlicher Langweiler. Er war so lustig, so voller Ideen.«

»Es wird sich alles finden, Mrs. Norton«, tröstete Carmine sie. »Sie werden viele neue Freunde finden.«

Besonders, dachte er insgeheim, bei dem Umfang von Peters Rente und dem, was die Versicherung zahlt. Unter der unterdrückten Hausfrau lauerte jemand, der entschlossen war, sich selbst zu retten.

Carmine wandte sich den Kindern zu, um eine Idee zu bekommen, was für eine Art Familie sie waren. Das kleine Mädchen, Marlene, war aggressiv und intelligent – wahrscheinlich in der Schule nicht besonders beliebt, dachte er. Der kleine Junge, Tommy, lebte offensichtlich nur für’s Essen. Als er nach den Keksen griff, die für Carmine dort standen, schlug seine Mutter böse die Hand fort, mit einem Ausdruck im Gesicht, bei dem sich das Kind sofort zurückzog.

»Und Sie gehen nie mal alleine aus?«, fragte Carmine.

»Nein, nie – Tommy, lass die Kekse in Ruhe!«

Es fiel ihm gerade so ein. »Frauenbewegung?«

»Ich denke wohl, eher nicht!«, blaffte sie und warf bockig den Kopf hoch. »Ausgerechnet so eine dumme, peinliche Sache! Wussten Sie, dass die tatsächlich versucht haben, mich zu bekehren? Ich weiß nicht mehr, wie die Frau hieß, aber ich habe sie zum Teufel gejagt.«

»Wann war das?«

»Weiß ich nicht mehr«, sagte Mrs. Norton. »Auf irgendeiner Veranstaltung, ist schon lange her.«

»Wie hat die Frau ausgesehen?«

»Genau das war es ja! Sie sah ganz normal aus. Rasierte Beine, Make-up, hübsche Kleidung. Eine Weile war ich ganz angetan, aber dann – dann hat sie ihre ganzen bösen Waffen gezückt. Das habe ich in der Schule gelernt, und es passte, Captain. Als ich ihr sagte, was ich von Emanzen halte, wurde sie bissig, und ich habe direkt zurückgebissen. Ich muss sie verschreckt haben – sie hat aufgegeben und ist gegangen.«

»War es eine Blondine? Eine Brünette? Eine Rothaarige?«

»Das weiß ich nicht mehr«, sagte Mrs. Norton und gähnte. »Ich bin müde.«

 

»Ich hab’s euch gesagt«, meinte Carmine zu Abe und Corey, »dieser Fall wimmelt nur so von Frauen. Aber wo zum Teufel passt der Feminismus mit ins Bild? Denn ich glaube, dass er irgendwie dazugehört, zumindest beim Tod von Peter Norton. Jemand oder etwas hat unseren Mörder beeinflusst, Mrs. Norton zu bestrafen, indem sie seinen Tod mit ansehen musste. Es hat gewirkt – sie steht immer noch unter starken Beruhigungsmitteln, aber sie hatte einen hellen Moment, in dem sie von einer Feministin sprach, die ›normal‹ aussah. Ich wünschte, ich wüsste mehr über die Nortons. Ich übersehe irgendetwas, aber ich komme nicht drauf, was es sein könnte. Vielleicht deshalb, weil ich nicht weiß, was für eine Frau Mrs. Norton eigentlich ist. Wie ein Psychiater, der einen Patienten übernimmt, der so zugedröhnt ist, dass er mit seiner Diagnose keinen Schritt weiterkommt.«

»Konntest du nicht mehr aus ihr herausbekommen?«, fragte Corey.

Carmine blickte Corey mitfühlend an; seine Frau ließ ihn nicht in Ruhe, sie keifte und nörgelte ununterbrochen. »Sie erinnert sich nur an das, was ihr passt«, sagte er. »Corey, du übernimmst den Hintergrund der Nortons. Ich will die Namen und Termine aller Veranstaltungen, an denen Mrs. Norton je teilgenommen hat – obwohl, nein, fünf Jahre reichen.« Er wandte sich an Abe. »Abe, du kümmerst dich um die Feministinnen. Nimm die gute Dr. Denbigh als Ausgangspunkt. Sie sitzt inmitten der Bewegung und passt auf Mrs. Nortons Beschreibung – behaarte Arme oder Beine gibt’s bei unserer Pauline nicht. Nebenbei bemerkt, sie hat mir erzählt, sie wäre frigide, aber das bezweifle ich sehr. Ich weiß, dass wir sie schon als Mörderin des Dekans haben, aber wir sollten doch einen Blick in ihre Vergangenheit werfen. Was war der Grund, dass sie ausgerechnet den dritten April für ihre Tat gewählt hat?«

»Du glaubst nicht, dass es nichts mit den anderen Morden zu tun hat?«, fragte Corey, der sich ärgerte, weil er nicht genügend Punkte sammelte.

»Sie ist die geborene Lügnerin. Wenn sie mal die Wahrheit sagt, dann indirekt.«

Er blickte ihnen hinterher, als sie das Büro verließen, stützte das Kinn auf die Hände und wollte nachdenken.

»Carmine?«

Überrascht hob er den Kopf; es passte gar nicht zu Delia, einen nachdenkenden Chef zu unterbrechen. »Ja?«

»Ich habe eine Idee«, sagte sie und blieb stehen.

»Aus deinem Mund klingt das vielversprechend. Lass hören.«

»Die Ablage ist auf dem neuesten Stand, und du hast mich in letzter Zeit nicht gerade mit Briefen eingedeckt«, sagte sie vorsichtig und blickte ihn mit Augen an, die ihn immer an eine Puppe erinnerten – groß und treuherzig.

»Das stimmt, Delia, das muss ich zugeben.«

»Nun – wäre es dir recht, wenn ich einer eigenen Vermutung nachgehe? Das ist doch der richtige Ausdruck, oder?«

»Für ein Bauchgefühl, ja. Setz dich doch bitte, Delia. Ich kann es nicht ertragen, wenn eine Frau steht, während ich selbst auf meinem Hintern hocke.«

Sie setzte sich, freudig errötet. »Weißt du, zwischen den meisten dieser Toten muss irgendeine Verbindung bestehen, oder? Das hast du immer gespürt, aber nichts ist ans Licht gekommen, was diese These unterstützt. Ich frage mich die ganze Zeit, wo sie alle mal gemeinsam gewesen sein könnten? Die einzige Antwort ist: entweder ein öffentlicher Treffpunkt oder eine Veranstaltung. Du weißt, was ich meine – man sitzt in einer Reihe und wartet ewig, dass der Theatervorhang sich hebt, und beginnt dann, mit den Leuten um sich herum zu reden. Oder du sitzt mit Fremden am selben Tisch und bemühst dich, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, weil es sonst ein schrecklicher Abend werden würde. Die meisten Leute sind von Natur aus gesellig, also klappt das meistens. Du verstehst, was ich sagen will, oder?«

»Ich liebe diese englische Angewohnheit, jeden Satz mit einer Frage zu beenden«, sagte Carmine lächelnd, »Aber ich sehe, worauf du hinauswillst, Delia.«

»Dann würde ich, wenn das in Ordnung ist, meine übrige Zeit dazu nutzen, herauszufinden, wie viele öffentliche Treffen, Veranstaltungen oder Ähnliches es in den letzten sechs Monaten in Holloman gab.«

»Nur sechs Monate?«

»Oh, ich denke ja. Wenn es länger her ist, glaube ich, hätte die Krise des Mörders überhaupt nicht stattgefunden. Etwas ist passiert, das zum damaligen Zeitpunkt keine Bedrohung darstellte, aber am dritten April tat es das. Wenn ich eine Veranstaltung finde, an der alle toten Leute teilgenommen haben, dann haben wir einen Teil der Gleichung.«

»Delia, das ist ein riesiges Unterfangen«, sagte Carmine. »Früher oder später hätte das sowieso passieren müssen, aber das hatte ich für Corey und Abe bei einem Stillstand der Ermittlungen aufgehoben.«

»Dessen bin ich mir bewusst, und ich behaupte auch nicht, dass es meine eigene Idee ist«, sagte sie würdevoll.

»Ach, Delia, nun sei nicht beleidigt!«, sagte er. »Ich wollte dir doch nicht die Schau stehlen, ehrlich.«

Sie wurde sofort weich. »Ach, das weiß ich doch, lieber Carmine. Darf ich denn?«

Er schüttelte den Kopf. »Du würdest sowieso nicht hören, wenn ich dich warne. Was soll ich anderes sagen als: Leg los?«

Sie strahlte. »Oh, danke, danke! Ich habe schon ein Protokoll ausgearbeitet«, plapperte sie, während sie zur Tür ging. »Ich werde mich zuerst mit den Veranstaltungen selbst auseinandersetzen. Und wenn ich dann eine oder zwei finde, die passen, gehe ich zu Phase zwei über.«

 

Ein Blick auf seine Uhr sagte Carmine, dass es fast Mittag war. Er hob den Hörer ab, und nach einigen missglückten Versuchen wurde er schließlich mit Special Agent Ted Kelly verbunden.

»Schon gegessen?«, fragte Carmine.

»Nein.«

»Dann sehe ich dich in einer Viertelstunde im Malvolio’s.«

Obwohl Kelly hinfahren und einen Platz in der Tiefgarage des County Services Buildings finden musste, saß Kelly bereits und hielt eine Sitzecke frei.

»Ich könnte schwören, sie wussten, wer ich war, als ich hereingekommen bin«, sagte er, als Carmine ihm gegenüber auf die Bank glitt, »obwohl hier kein einziger Bulle ist, den ich je gesehen hätte.«

Carmine grinste. »Sie können dich riechen, Ted. Nein, ernsthaft, was erwartest du von einem Ort wie Holloman? Die ganze Abteilung weiß, dass ein Gigant vom FBI in der Stadt ist.« Er blickte auf die Speisekarte, als wüsste er noch nicht, was er essen sollte. »Einen Luigi Special-Salat mit Thousand Island Dressing. Dann brauche ich heute Abend keinen Platz mit Gemüse zu verschwenden.«

Merele, die Kellnerin, hatte ihre Kaffeetassen bereits gefüllt und stand bereit. Kelly bestellte ein warmes Roastbeef-Sandwich und lehnte sich dann mit einem Seufzer zurück. »Du hattest recht mit dem Malvolio’s«, sagte er. »Der Laden ist noch das Beste an dieser grässlichen Stadt.«

Kelly meinte es ernst. Solche unverschämten Worte machten Carmine wütend. Bleib ruhig, Carmine, sag jetzt keinen Ton.

»Wie geht die Suche nach Odysseus voran?«

»Gar nicht. Erzähl mir etwas über Joshua Butler.«

Carmine blickte ihn erstaunt an. »Ich habe dir meinen Bericht geschickt, Ted, aber wenn du einen mündlichen vorziehst, okay. Er hat Bianca Tolano vergewaltigt, ermordet und dann lieber eine Zyanidkapsel gekaut, als dafür eingebuchtet zu werden. Dem Verbrechen fehlte die Spontaneität – womit ich meine, dass Butler ganz genau eine Vergewaltigung aus einem Fachbuch nachgemacht hat.«

Der FBI-Mann gab ein lautes Stöhnen von sich. »Sei nicht blöd, Delmonico! Ich will die anderen Details.« Er grinste anzüglich. »Ein kleiner Vogel hat mir geflüstert, er hätte erdnussgroße Eier.«

»Welcher kleine Vogel?«, fragte Carmine.

»Das brauchst du nicht zu wissen«, sagte Kelly selbstgefällig.

»Verarsch mich nicht, du FBI-Arsch!«

Dem FBI-Mann fiel die Kinnlade herunter. Ungläubig blickte er Carmine an. Dann gewann seine Entrüstung die Oberhand über die Verblüffung, und er erstarrte in seinem Sitz. »Das ist eine Kampfansage«, sagte er, ohne Witz.

»Dann lass uns nach draußen gehen.«

Im Diner war es komplett still geworden. Luigi schnippte mit den Fingern, Merele und Minnie tippelten hinter den Tresen, und dreißig verschiedene Polizisten sahen gebannt zu.

»Ist das dein Ernst? Das meinst du wirklich so?«

»Ich habe es satt, von einem FBI-Typen angepisst zu werden!« Der Zorn dröhnte in seinen Ohren, und Carmine zischte: »Gehen wir raus.«

»Das nimmst du zurück! Wenn du dich mit mir anlegst, dann wird man deine Schreie von hier bis Portland hören!«

»Du tust immer noch so schlau, du Klugscheißer! Du hast meine Stadt angepisst und meine Abteilung – und jetzt frisst du Scheiße!«

»Gehen wir raus«, sagte Kelly und stand auf.

Es ging schnell. Die Männer standen sich mit geballten Fäusten gegenüber. Dann holte Kelly zum Schlag aus, traf daneben, und als Nächstes saß er am Boden und fragte sich, ob er jemals wieder atmen können würde. Alles, was er sah, waren die Gesichter der Polizisten hinter den Fenstern des Malvolio’s und Carmines Hand, die sich ihm entgegenstreckte.

»Den Schlag habe ich noch nicht einmal kommen sehen«, sagte er, als er wieder atmen konnte – eine schmerzliche Angelegenheit. »Aber ich lasse es nicht zu, dass man mich Klugscheißer nennt. Vergiss das Essen!«

»Wenn du dich weigerst, mit mir zu essen, nachdem ich dich auf deinen Arsch gesetzt habe, können wir gleich draußen bleiben«, sagte Carmine, dessen gute Laune zurückkehrte. »Es ist höchste Zeit, dass Typen wir ihr lernt, nicht auf den Einheimischen herumzutrampeln.«

Sie gingen wieder hinein und setzten sich.

»Danke, dass du mir keine sichtbaren Schäden verpasst hast«, sagte Kelly säuerlich.

»Oh, ich bin nicht an deinen Kopf rangekommen, also musste ich den Brustkorb nehmen«, sagte Carmine und freute sich immer noch über seinen Sieg. »Nun, wer hat dir etwas über Joshua Butlers Hoden erzählt?«

»Lancelot Sterling, der Leiter von Joshuas Abteilung.«

»Was für ein toller Boss! Erinnere mich daran, dass ich mich nie bei Cornucopia um einen Job bewerbe. Und warum durfte ich das jetzt nicht erfahren?«

»Kein Grund, ehrlich. Ich war – ich war einfach nur ein Besserwisser. Aber ich hätte nie gedacht, dass du ein kleines Stück Scheiße wie Joshua Butler verteidigen würdest.«

Nun war es an Carmine, ungläubig zu gucken. »Himmel, Mr. Kelly, bist du blöd. Es stimmt, dass ich es verabscheue, Tratsch zu wichtigen Informationen aufbauschen, aber ich habe dir nicht im Namen von Joshua Butler eine reingehauen. Ich habe es für mich getan, und Mann, das hat sich gut angefühlt.«

»Du lenkst nur vom Thema ab«, sagte er. »Du hast Joshua Butler verteidigt, Delmonico.«

»Wenn das dein schriftlicher Grund ist, wenn du J. Edgar oder wem auch immer deinen Bericht ablieferst, vermeidest du vielleicht, eins auf die Finger zu kriegen, aber glücklicherweise reicht meinem Boss mein Wort.« Carmine schob seine leere Schale von sich weg. »Das war ein guter Salat. Großer Gott, Mr. Kelly, du hast ja fast noch nichts gegessen. Bauchweh, was?«

»Du bis ein scheinheiliges Arschloch!«, zischte der FBI-Agent.

Carmine lachte. »Und da das Kind jetzt schon in den Brunnen gefallen ist, kannst du mir bitte die FBI-Akte über Erica Davenport geben?«

Ted Kelly schaute ihn argwöhnisch an, aber zuckte nach einigem Nachdenken die Achseln. »Mir fällt kein Grund ein, warum nicht. Sie ist eine unserer Verdächtigen im Fall Desmond Skeps, und es passt uns in den Kram. Je mehr Hände an der Pumpe, desto besser.«

»Wenn du etwas von Booten verstündest, wüsstest du, dass die beste Pumpe von allen der ängstliche Mann mit dem Eimer ist«, sagte Carmine.

»Ich schicke die Akte rüber«, sagte Kelly.

»Sag mal«, meinte Carmine in lockerem Tonfall, »haben eure Cornucopia-Informanten – oder sollte ich sagen Klatschtanten? – irgendetwas von einem versuchten Mord an meiner Tochter erzählt?«

Kelly starrte ihn an. »N-nein«, stammelte er.

»Selbst Erica Davenport nicht?«

»Nein.« Kelly gewann seine Fassung wieder und sah ernsthaft besorgt aus. »Himmel, Carmine! Wann ist das passiert?«

»Spielt keine Rolle«, entgegnete Carmine. »Ich kann auf Sophia aufpassen. Aber, was viel wichtiger ist, sie kann auf sich selbst aufpassen. Gut! Es ist noch kein Wort darüber durchgesickert, und ich will auch nicht, dass du etwas durchsickern lässt, verstanden? Ich frage, weil ich es wissen muss, und du bist der Einzige bei Cornucopia, auf dessen Verschwiegenheit zumindest halbwegs Verlass ist. Enttäusche mein Vertrauen nicht, Mr. Kelly.«

Der war viel zu fasziniert, um sich verletzt zu fühlen. »Wurde sie bedroht?«

»Ich sollte meine Tochter eigentlich tot auffinden, und das hätte ich auch, wenn sie ein ganz durchschnittliches Kind wäre. Aber gut für mich, schlecht für ihn, ist sie alles andere als durchschnittlich. Sie ist geflohen. Ich habe es erst erfahren, als alles vorbei war.«

»Sie muss total fertig gewesen sein.«

»Sophia? Nein. Sie ist einen Tag nicht in die Schule gegangen, aber soweit meine Frau und ich feststellen können, hat es keine seelischen Wunden hinterlassen. Es hilft, wenn man auf eigene Faust entkommen ist. Sie fühlt sich wie eine Siegerin, nicht wie ein Opfer.«

»Ich halte die Ohren offen.«

»Gut, solange dein Mund geschlossen bleibt.«

 

Erica Davenports Akte war nicht besonders dick und bestand hauptsächlich aus einer Reihe von Aussagen von Leuten, die sie aus den vergangenen vierzig Jahren kannten. Phil Smith hatte – angedeutet? – gesagt? –, dass sie aus einer reichen Familie aus Massachusetts stammte, aber nichts aus ihrer frühen Vergangenheit bestätigte das. Wenn die Davenports Pilger-Vorväter hatten, war das Wissen darüber bis 1927, als Erica geboren wurde, verlorengegangen. Ihr Vater war Vorarbeiter in einer Schuhfabrik, und die Familie lebte in einer weißen Arbeitergegend. Ihre ganzen A-Noten hatte sie sich in einer staatlichen Schule erarbeitet, wobei sie, wie Carmine interessiert feststellte, nie zu den Cheerleadern gehört hatte. Während der Wirtschaftskrise verlor der Vater seinen Job, als die Schuhfabrik dichtmachte, und wurde depressiv. Er trank nicht oder verschleuderte auf andere Weise das Geld, aber er war auch keine Hilfe. Die Mutter arbeitete als Putzfrau zu einem Hungerlohn und beging, als Erica sieben Jahre alt war, Selbstmord. Die größere Schwester, die sich danach um Erica und ihre beiden jüngeren Brüder kümmerte, diente nicht in Haushalten, sondern war Männern zu Diensten.

Wie zum Teufel war Erica an die Smith geraten? Die Antwort lag in einer Aussage der Witwe des Rektors von Ericas letzter Highschool. Lawrence Shawcross hatte in Erica Davenport das brillante, vielversprechende Kind gesehen und sie an die Hand genommen. Obwohl Marjorie Shawcross sich mit aller Macht dagegen wehrte, zog Erica Davenport im September 1942, mit fünfzehn Jahren, bei ihnen ein. Der Kampf, der folgte, war ein versteckter, denn wenn herausgekommen wäre, dass Mr. Shawcross’ Frau eine unwillige Teilnehmerin der ganzen Sache war, hätte er seinen Job, sein Ansehen und seine Pension verloren. Also tat Mrs. Shawcross so, als wäre sie hocherfreut über dieses Kind. Erica bekam neue Kleidung, ihr wurde beigebracht, wie man anständig isst, eine Serviette benutzt und das richtige Besteck, wie man deutlich spricht und mit der richtigen Betonung und all die anderen Dinge, die Lawrence Shawcross für lebenswichtig hielt.

1944, als Erica siebzehn wurde, begannen Lehrer und Schülerin ein Verhältnis miteinander, behauptete Marjorie Shawcross. Stirnrunzelnd dachte Carmine darüber nach und kam zu dem Schluss, dass es durchaus denkbar war, dass Erica einen Liebhaber gefunden hatte, aber sicher nicht Lawrence Shawcross. Eines der Dinge, die dieser Möchtegern-Professor Higgins ihr mit Sicherheit beigebracht hatte, war, niemals sein eigenes Nest zu beschmutzen. Und sie, die alle seine Worte auf die Goldwaage legte, hätte den gesunden Menschenverstand dieser Worte sofort begriffen.

Ihre Noten wurden immer besser, aber mit dem endenden Krieg und Millionen von Soldaten, die heimkehrten, hatte Erica keine Chance, an einer der Spitzenuniversitäten einen Platz zu bekommen; es hätte ein Frauen-College sein müssen. Abgesehen von einem Teilstipendium an der Smith standen die Aussichten schlecht für Erica: 1945 gab es begabte Studenten wie Sand am Meer. Und dann starb, wie aus heiterem Himmel, Lawrence Shawcross. Als Todesursache wurde durch seinen Arzt, der ihn wegen Bluthochdruck behandelte, ein Aortenaneurysma festgestellt. Mrs. Shawcross beschuldigte Erica des Mordes, doch das wurde als Tobsucht einer von Schmerz erfüllten Frau abgetan, obwohl sein Testament Gründe dafür geliefert hätte. Der Großteil seines Vermögens ging an die Witwe, aber die Summe von 50 000 $ wurde Erica Davenport zuteil.

Erica ging an die Smith, wählte Ökonomie als Hauptfach und hatte hervorragende Noten in Mathematik, Englischer Literatur und … Russisch? Wurde an der Smith sogar Russisch gelehrt?

Carmine blätterte zurück in ihre Kindheit, wobei er sich dafür verfluchte, einige der Aussagen nur überflogen zu haben. Aber nein, er fand keinen einzigen Hinweis, Davenport war nie Davenski, so viel war sicher. Er wühlte sich weiter durch die verschiedenen Schulen, die Erica besucht hatte – dann entsann er sich Delias und rief sie herein.

»Du hast ein besseres Auge für solche Dinge«, sagte er und gab ihr die Jahre durch, die Erica bei Shawcross verbracht hatte. »Sieh, ob du irgendeinen Bezug zu einem Russen oder der russischen Sprache finden kannst.«

Delia eilte davon, und Carmine schwirrte der Kopf. Das FBI wusste, dass diese Tatverdächtige Russisch gelernt hatte, was sie mit Sicherheit an die Spitze ihrer Odysseus-Verdächtigen katapultierte. Warum also hatten sie ihm nichts davon erzählt? »Weil«, brummelte er in das leere Zimmer, »du ein Provinzidiot bist, ein dumpfer Spaghettifresser-Bulle in einem Ministaat voller Exzentriker. Das nächste Mal knöpfe ich mir den FBI-Kerl richtig vor.«

»Nein, nein«, sagte Delia, als sie zurückkam, »du tust dem Mann Unrecht. Es steht in der Akte.«

»Er glaubt, ich bin zu dumm zum Lesen.«

»Dann ist das sein Fehler, oder?« Nachdem sie das Durcheinander auf seinem Schreibtisch geordnet hatte, setzte sie sich und händigte ihm die Unterlagen aus, die er ihr gegeben hatte. »Es ist eine flüchtige Bemerkung von – ausgerechnet vom Milchmann. Nun, er ist eindeutig unterbelichtet, und man bekommt den Eindruck, dass er in Erica verknallt war. Es steht in den ausufernden Beschreibungen ihrer Männerfreundschaften – hier muss ich abschweifen und sagen, dass sie nicht fundiert wirken, weswegen niemand eine Anmerkung dazu gemacht hat. Warum haben sie einige Worte oder Sätze durchgestrichen? Jeder mit ein bisschen Phantasie kann sie wieder ausfüllen.«

»Mach weiter, Delia!«

»Einer ihrer Freunde spricht Kauderwelsch, und sie spricht Kauderwelsch mit ihm. Hier ist es, ich zitiere: ›Er brabbelt sie voll, so, wie er mit seinen Kumpels redet, echt schnell.‹ Das kann bedeuten, dass er schnell spricht, aber wenn er mit Erica brabbelt, muss sie das Gebrabbel verstehen und ihm wahrscheinlich genauso antworten.«

»Ein russischer Freund, 1944? Ein Immigrant?«

»Warum nicht? Von allem, was ich über Dr. Davenport weiß und gesehen habe, mag sie Heimlichtuerei. Eine Unterhaltung in einer anderen Sprache ist wahrscheinlich genau ihr Ding.«

»Dem Milchmann zufolge, hatte der Mann Freunde.«

»Das ist nicht ungewöhnlich, Carmine. Immigranten mit schlechten Englischkenntnissen tendieren dazu, sich zusammenzurotten. Wo spielte sich das Ganze ab?«

»In einem Vorort von Boston.«

»Dann gab es dort wahrscheinlich Arbeit.«

»1944? Haufenweise.«

Okay, also sprach sie Russisch, entschied Carmine und blätterte zurück zu den Smith-Jahren. Das Geld von Shawcross kam gerade richtig. Die offiziellen Austauschprogramme gab es noch nicht, aber die Studenten wurden angehalten, zwei Semester, Herbst und Frühling, im Ausland zu verbringen, um ihren Horizont zu erweitern. 1947 bat die zwanzigjährige Erica, die London School of Economics besuchen zu dürfen, vorausgesetzt, die Kurse dort würden ihr für das Studium angerechnet. Und so ging sie nach London. Ihre Brillanz und ihr Engagement kamen an der L. S. E. nie ins Straucheln; während andere Studenten mit der Fremdheit anderer Geisteshaltung und Gewohnheiten ihre Schwierigkeiten hatten, passte sich Erica Davenport problemlos ihrer neuen Umgebung an. Sie schloss Freundschaften, ging auf Partys und hatte ein paar Liebesaffären mit Männern.

Nach dem erfolgreichen Ende der Auslandssemester verbrachte sie den Sommer 1948 damit, den europäischen Kontinent zu erforschen; in ihrem alten Reisepass waren Stempel aus Frankreich, den Niederlanden, Skandinavien, Spanien, Portugal, Italien und Griechenland. Sie reiste zweiter Klasse, ohne Begleitung, was sie damit erklärte, dass die Einsamkeit ihrer Seele guttäte. Als sie auf dem Rückweg einen Zwischenstop in London einlegte, zeigte sie ihren Uni-Freunden Dias, wobei einer bemängelte, dass die Landschaft zauberhaft sei, aber wo seien eigentlich die Menschen?

»Ich habe genug Anstand und Gefühl, nicht die Leute zu fotografieren, als wären sie Sonderlinge«, hatte Erica verärgert erklärt. »Auf uns wirkt ihre Kleidung fremd, aber für sie ist es normal, weil jeder so rumläuft.«

»Dann bezahl sie doch, damit du sie fotografieren kannst«, schlug einer vor. »Du bist eine reiche Amerikanerin und kannst dir die paar Dollars leisten.«

»Was, und sie dann auf unser Niveau runterziehen? Das ist widerwärtig.«

Schau, schau, dachte Carmine und hielt das Dokument, als hätte es einen Überzug aus Gold. Irgendwann mal hast du Leidenschaft besessen, Erica! Starke, tief sitzende Leidenschaft. Und Ideale.

Das Examen in Rechtswissenschaften und die Promotion an der Chubb förderten nichts Neues zutage. Nachdem sie drei Monate durch Europa getourt war, reiste Erica nie wieder dorthin zurück, und das war seltsam. Seiner Erfahrung nach versuchten die Menschen immer, die Freuden und Abenteuer der Jugend wieder zurückzuholen. Sie war auch nicht in Westdeutschland gewesen. Sie hatte eine Fähre von Brindisi nach Patras genommen und hatte so Jugoslawien umgangen. War die Visa-Situation 1948 schon derart schlecht gewesen, bevor der Kalte Krieg so richtig in Gang gekommen war?

»Delia!«, rief Carmine. »Ich fahre zu Cornucopia.«

 

»Wie gut ist Ihr Russisch?«, fragte er Dr. Erica Davenport geradeheraus. »Hat Ihr russischer Freund Ihren Sprachkenntnissen einen Feinschliff verpasst?«

»Oh, Sie sind wirklich aufdringlich!«, sagte sie und klopfte mit dem Ende eines goldenen Kugelschreibers auf ihren Schreibtisch.

»Das kann doch kein Geheimnis sein. Es steht in Ihren FBI-Akten.«

»Kann ich daher annehmen, dass Sie glauben, das FBI hätte mich im Zusammenhang mit den Spionagefällen von dem Verdacht freigesprochen?«, fragte sie kalt.

»Das FBI ist das FBI und hat seine eigenen Gesetze. In meinen Augen befreit Sie das nicht von einem Verdacht«, meinte Carmine.

»Ich gebe zu, ich hatte in meiner Jugend einen russischen Freund, und es fällt mir leicht, Fremdsprachen zu lernen. Ein Professor an der Smith hat mich in russischer Grammatik und Literatur unterrichtet, aus schierer Dankbarkeit, dass überhaupt jemand Interesse zeigte. Ich habe außerdem mit der Idee gespielt, als Diplomatin ins Außenministerium zu gehen. Zufrieden?«

»Wie viel davon weiß das FBI?«

»Schlauer Captain Delmonico! Sie wissen, dass ich den Freund nicht erwähnt habe, und trotzdem wissen Sie von ihm. Es ist wohl jemandem beim FBI durch die Lappen gegangen.«

»Je größer die Organisation, desto mehr Leuten geht etwas durch die Lappen. Was ist mit der Leidenschaft passiert?«

»Wie bitte?«

»Der Leidenschaft. Mit zwanzig waren Sie voll davon.«

Erica Davenport lächelte höhnisch. »Das denke ich nicht.«

»Ich schon. Ihre Bestrebungen für mehr Menschlichkeit brannten in Ihnen wie glühende Kohlen. Sie wollten die Welt verändern. Stattdessen haben Sie sich eingefügt.«

Ihr Gesicht wirkte auf einmal bleich und verkniffen. »Ich denke«, sagte sie langsam, »ich hatte neue Ventile für meine Leidenschaft gefunden, wenn Sie damit jugendliche Träume meinten. Ich fand heraus, dass Frauen nicht dafür ausgestattet sind, die Welt zu verändern, weil die Macht in den Händen der Männer liegt. Sie setzen sich durch. Zuerst, Captain, müssen wir Macht erlangen, dass ist dieser Tage unser erstes Ziel.«

»Wir? Unser?«

»The Monsterous Regimen of Woman.«

»Knox war ein Frauenhasser und ein geiler alter Bock.«

»Aber bedenken Sie, welche Macht er hatte! Und dann nennen Sie mir ein weibliches Äquivalent. Können Sie nicht. Alte Männer können kleine Mädchen straffrei entjungfern, wenn sie die Gedanken anderer kontrollieren und lenken.«

»Haben Sie eine enge Verbindung zu Dr. Pauline Denbigh und den Feministinnen?«

»Nein.«

»Und Philemona Skeps?«

Erica Davenport lachte. »Nein.«

Carmine stand auf. »Ich würde mich gern mit Dr. Duncan MacDougall unterhalten.«

»Warum? Um ihn so zu quälen wie meinen Sekretär?«

»Wohl kaum. Er ist der Geschäftsführer von Cornucopia Research.«

»Ich verstehe. Mal wieder die Macht. Untergebene können gequält werden, aber die Chefs sind unantastbar.« Sie nahm einen Aktenordner. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, sagte sie und klang gelangweilt. »Er macht seine eigenen Termine.«

 

Das Problem bei der Unterhaltung mit Dr. Duncan MacDougall lag nicht an seiner mangelnden Kooperationsbereitschaft, sondern darin, überhaupt zu verstehen, was er sagte. Einen Vorgeschmack davon bekam Carmine auf dem Parkplatz, ihrem verabredeten Treffpunkt. Er beobachtete, wie der schlanke, kleine Mann auf ihn zusteuerte, anhielt, auf die Reihe von Schornsteinen starrte, die das breite Dach des Gebäudes zierten, das aussah wie ein Hangar, und dann mit entsetztem Gesichtsausdruck zu ihm kam. »Kommen Sie, Mann, die Lampe raucht!«, brüllte er und scheuchte Carmine wie ein Lehrer ein verspätetes Schulkind.

Zumindest dachte Carmine, dass er das gesagt hätte. Drinnen brüllte er in ein Telefon und sah dann ganz erleichtert aus.

»Die Lamp soll nit stinkn«, sagte er zu Carmine.

»Wie bitte?«

»Aus Peabodys Schornst’n kam Rauch.«

Und so ging es weiter. Carmine schaffte es, das meiste von dem, was Dr. MacDougall sagte, in verständliches Englisch zu übersetzen. Man konnte ihm keine Fehler in den Sicherheitsmaßnahmen nachweisen, und es gab auch keine Verbesserungsmöglichkeiten. Innerhalb seines Tresors gab es eine Reihe von Safes; Blaupausen wurden in großen, flachen Safes mit Schubladen gelagert, wohingegen normale Unterlagen in gewöhnlichen Schließfächern landeten. Es gab Sicherheitskräfte, die gut ausgebildet waren.

»Ich glaube nicht, dass der Diebstahl hier passiert ist, Dr. MacDougall«, sagte Carmine am Ende einer sehr umfassenden Aufschlüsselung der Prozedur. »Zum Beispiel die neue Formel für Polycorn Plastics und alle Ergebnisse aus dem Experiment haben diesen Tresor nie verlassen, seit Mr. Collins die Annahme verweigert hat. Und ich würde Gift darauf nehmen, dass Odysseus noch nicht einmal einen Lufthauch davon in die Finger bekommen hat. Ich habe zu den Sicherheitsmaßnahmen der Firmenzentrale eine sehr klare Meinung, aber das trifft für diese Anlage hier nicht zu, Sir. Machen Sie so weiter, dann haben Sie nichts zu befürchten.«

»Ja, aber das reicht noch nicht«, sagte MacDougall ärgerlich. »Cornucopia Research erzielt so viele großartige Forschungsergebnisse, und niemand hier kann es wirklich begreifen, dass ihre oder seine Ideen und die ganze Energie, die sie in die Arbeit gesteckt haben, in Moskau oder Peking landen.«

»Dann müssen wir Odysseus fangen, Sir. Sie können Ihren Teil dazu beitragen, indem Sie genau Buch darüber führen, durch wessen Hände sensibles Material geht. Es würde mich wirklich interessieren, auf welche Namen Sie dabei kommen.«

»Unabhängig vom FBI«, sagte Dr. MacDougall.

»Absolut«, meinte Carmine. »Die teilen nicht gerne.«

»Ach, da sollt se ab’r!«, sagte der Direktor. Oder irgendwie so ähnlich.

 

»Niemand außer einem Schotten versteht einen Schotten«, meinte Desdemona, die Kalbsschnitzel in einer Weißwein-Sahne-Sauce mit Champignons auftischte.

»Er hätte ebenso gut eine Fremdsprache sprechen können«, sagte Carmine und beäugte seinen Teller mit großem Appetit. Reis – perfekt, um die Sauce zu genießen – und Spargel.

Er sprach erst wieder, als die Kalbsschnitzel alle vertilgt waren. Dann griff er die Hand seiner Frau und küsste sie ehrfurchtsvoll.

»Superb!«, sagte er. »Viel besser als bei meiner Mutter. Sogar noch besser als bei Großmutter Cerutti, und das soll was heißen. Wie hast du das Kalbfleisch so zart hinbekommen? Sophia hat ein Festessen verpasst. Geschieht ihr recht, dann soll sie eben Pizza essen.«

»Sie hat Besuch in ihrem Adlernest, mein Liebster. So gern ich sie auch habe – es ist auch schön, dich manchmal ganz für mich zu haben.«

»Das stimmt, aber irgendwie wäre es nett, wenn noch jemand deine Künste bewundern würde.«

»Genug davon, sonst werde ich noch größenwahnsinnig. Du siehst heute Abend sehr zufrieden aus, und das hat andere Gründe als nur gutes Essen. Was gibt’s Neues?«

»Ich habe Kelly heute unbeschreiblich beleidigt, er hat darauf bestanden, vor die Tür zu gehen – wir waren im Malvolio’s –, und wir haben uns geprügelt.«

»Ach, du meine Güte«, sagte sie seufzend. »Lebt er noch?«

»Schwer angeschlagen. Er ist kein Boxer, stolpert eher über seine eigenen Füße, weil sie so groß sind. Es tat gut, ich hab’s genossen. Dann hab ich noch die üblichen Verdächtigen befragt. Hab den armen Corey bedauert – seine Frau sitzt ihm richtig im Nacken. Danach habe ich noch in ein oder zwei Hornissennester gestochen und Delia auf eine neue Fährte angesetzt. Ich wünschte, ich könnte sie zum Lieutenant befördern!«

Er macht sich mehr Sorgen um diese verdammte Beförderung als um seine Morde, dachte Desdemona, während sie ihn beobachtete. Einer von ihnen muss verlieren.

»Arme Erica Davenport«, sagte sie unvermittelt. »Intelligenz, Schönheit und ein dickes Bankkonto. Ihr Leben ist so verdammt leer.«

»Da ist sie selbst aber anderer Meinung«, sagte Carmine grinsend. »Sie hat mir darüber heute sogar einen Vortrag gehalten. Macht, das ist die Quelle ihrer Existenz.«

»Macht? Worüber? Anderer Menschen Jobs? Anderer Menschen Leben? Das ist eine Illusion und genauso wenig fundiert wie bei Schachfiguren auf einem Schachbrett – sehr intelligente Männer spielen ein Spiel mit leblosen Figuren. Nur eine Sache garantiert absolute Macht – der Verlust von persönlicher Freiheit. Diese schreckliche Gewissheit, dass, wenn die Papiere nicht richtig gestempelt sind oder dort ein Stempel ist, wo keiner hingehört, man an die Wand gestellt und erschossen wird. Dass jemand ohne ein Wort der Erklärung in ein Konzentrationslager geschleppt werden kann und man keinen Einspruch erheben kann. Macht verwandelt Menschen in Bestien – das kannst du der guten Dr. Davenport das nächste Mal sagen, wenn du sie siehst!«