Der Mord an Desmond Skeps beschäftigte Carmine weiterhin, der sich ohne Abe und Corey mit Ted Kelly in einer ruhigen Ecke der Cornucopia Cafeteria traf.
»Der Inhalt des Aktenschrankes war enttäuschend«, sagte er, während er Rührei auf Toast, ein Dutzend Streifen gebratenen Speck und einen Haufen gebackene Bohnen aß. Mortadella-Brote hatten kein Abendessen ersetzen können, und gerade, als Desdemona die Bratpfanne herausholen wollte, hatte Julian beschlossen, eine Kolik zu bekommen.
»Woher weißt du, was in dem Aktenschrank war?«, wollte Kelly wissen. »Ich habe ihn zurückbekommen, bevor du Zeit hattest, ihn durchzusehen.«
»Oh … Fotokopierer?«
Kelly schnappte nach Luft. »Du kannst doch keine strenggeheimen Unterlagen fotokopieren. Dafür droht einem der Strick!«
»Das war mir bei unserer Todesstrafe noch nie klar – hängt ihr sie, erschießt sie oder verbrutzelt ihr sie? Ist schon eine ganze Weile her, seit das letzte Mal in den Zeitungen über Hochverrat berichtet wurde. Was jedoch deine Bemerkung angeht, Ted: Niemand hat meine Fotokopien gesehen, seit sie aus dem Kopierer gekommen sind, natürlich außer Delia Carstairs und mir, und wir haben die entsprechenden Unbedenklichkeitserklärungen. Und außerdem, kannst du dir vorstellen, dass Odysseus sich auf der Suche nach Geheimnissen in die Bezirksverwaltung einschleicht? Unsere Kopien sind in der Asservatenkammer eingeschlossen, zusammen mit allem anderen Kram, von blutigen Äxten bis zu ein paar Kilo Heroin. Wir sind nur eine kleine Behörde, was bedeutet, dass die für unsere Asservate zuständigen Sergeants das Gesicht jedes einzelnen Cops kennen, der durch die Tür kommt. Tatsache ist, dass der Sicherheitsstandard des Holloman PD deutlich besser ist als der Sicherheitsstandard von Cornucopia. Diese Deppen, die du bei Cornucopia quasi unbesehen als Sicherheitspersonal durchgewinkt hast, sind ja noch nicht mal in der Lage, mit beiden Händen in der Hose den eigenen Arsch zu finden. Bei einem guten Sicherheitsdienst kommt es ganz entscheidend darauf an, dass jedes Gesicht bekannt ist, das durch die Tür kommt, und dass jede einzelne dieser Personen in ein Protokoll eingetragen wird. Wenn das so gemacht worden wäre, wüsstest du jetzt, wer Odysseus ist, selbst wenn es Desmond Skeps selbst gewesen wäre, denn nicht jeder Besuch wäre auf Treu und Glauben verlaufen. Menschen sind faul, Ted! Sie nehmen Abkürzungen. Und leider sind bei Unternehmen wie Cornucopia hohe Gehälter allein dem Vorstand vorbehalten. Aber wenn man nur Peanuts bezahlt, dann bekommt man eben auch nur Affen. Wenn es Logbücher gibt, wie häufig werden sie benutzt? Ja, ja, ich weiß, das unterliegt nicht deiner direkten Kontrolle, aber das sollte es. Du hast zwar eine Statur wie Herkules, aber dieser spezielle Augiasstall füllt sich schneller mit Scheiße, als du schaufeln kannst.«
Während dieses langen Monologs hatte Carmine sich durch den Teller gemampft und war dabei von einem faszinierten Ted Kelly beobachtet worden; man könnte meinen, dieser Kerl hätte nichts zum Abendessen bekommen.
»Da ist was dran, Carmine. Was wir brauchen, sind strengere Gesetze und Strafen, und in dieser Hinsicht kommt Odysseus gerade recht.« Er lächelte reumütig. »Und ich bin froh, dass du einen Blick in den Aktenschrank geworfen hast. So weiß ich zumindest, dass er eine Enttäuschung ist.«
»Unter bewaffneter Begleitung auf dem Weg nach Washington. Wenn er dort angekommen ist, wird es Wochen dauern, bis mich irgendwelche Informationen über seinen Inhalt erreichen.«
»Na ja, beim FBI ist es wie bei allem anderen in der Hauptstadt unseres schönen Landes – es wimmelt von Bürokraten, die irgendwie ihre Existenz rechtfertigen müssen.«
Der Teller war blitzblank. Carmine trank einen Schluck Kaffee und betrachtete Ted Kelly zufrieden. »Ich wüsste noch gern, was du aus Desmond Skeps’ Apartment hast mitgehen lassen.«
»Ich habe gar nichts mitgehen lassen!«
»Blödsinn. Das hast du, und zwar bevor mein Rechtsmediziner mit seinem Team am Tatort eingetroffen ist.«
»Für diese Behauptung hast du keine Beweise.«
»Doch, habe ich. Sonst, mein Freund, hättest du meinen Tatort nicht vor meinem Rechtsmediziner berührt. Du kennst die Regeln genauso gut wie ich, und du weißt, in wessen Zuständigkeit ein Mordfall innerhalb einer Staatsgrenze fällt, der nicht im konkreten Zusammenhang mit solch delikaten Dingen wie Spionage steht. Es gab etwas in Skeps Penthaus, von dem du nicht wolltest, dass wir Provinzidioten es sehen, und ich werde herausfinden, was es war.«
»Ich habe noch nicht einmal eine Büroklammer mitgenommen! Ich habe nur einen Blick auf die Leiche geworfen und bin herumgegangen.«
»Du hast die Leiche also nicht angefasst?«
»Nein!«
»Beschreibe sie.«
»Nach mehr als vierundzwanzig Stunden? Nun halt mal die Luft an.«
»Unsinn! Du bist ein ausgebildeter Beobachter. Beschreib sie.«
Special Agent Kelly schloss die Augen. »Skeps lag auf dem Rücken auf der Massagebank, an seinem Arm die Einstichwunde einer Infusionsnadel. Ein kleiner Tropfen einer klaren, pinkfarbenen Flüssigkeit, kein Blut, war herausgeflossen, und, ja, ich habe mit einem Tupfer eine Probe genommen, die den Tropfen aufgesogen hat. Skeps war nackt. Jemand hatte ihn grob bis hinunter zum Penis rasiert, aber nicht weiter, und in einen Brandfleck war sein Name geschrieben worden. Es gab noch weitere Verbrennungen. Seine Brustwarzen waren abgeschnitten worden. An seinen Hand- und Fußgelenken waren Abschnürungsmale. Das ist alles.«
»Himmel, du bist ein Lügner, Kelly! Hast die Leiche nicht angefasst, was? Wie viel Zeit ist vergangen zwischen deinem Verlassen des Penthouses und der Ankunft von Dr. O’Donnell?«
»Eine halbe Stunde.«
»Bist du in der Nähe geblieben?«
»Nein, ich bin hinunter in Skeps’ Büro gegangen.«
»Und du weigerst dich weiterhin, mir zu sagen, was du hast mitgehen lassen?«
»Ich habe nichts mitgehen lassen.«
»Nun, so weit es mich angeht, Ted, ist dieser Spionagefall verdammt lästig. Wenn du alles in Ruhe gelassen hättest, hätten wir unser Wissen mit dir geteilt. Es ist schade, dass das Pendel nur in eine Richtung schwingt. Ich warne dich, ich werde keine beruflichen Höflichkeiten mit dir austauschen.«
»Skeps ist von Odysseus ermordet worden, das hier ist ein Fall für den Staat.«
»Dann zeig mir dafür handfeste Beweise.«
»Kann ich nicht.«
»Ehrlich, Carmine, mir sind die Hände gebunden.«
»Mir glücklicherweise nicht.« Carmine stand auf. »Tröstet irgendwie, zu wissen, dass der Kaffee in allen Cafeterias schlecht ist, oder? Wenn du ein gutes Essen und einen guten Kaffee willst, während du dich in unserem Miniaturstaat voller Exzentriker aufhältst, Ted, dann geh in Malvolio’s Diner. Es ist direkt neben dem County Services Building.« Er hielt inne. »Bist du verheiratet?«
»War ich mal«, sagte Kelly säuerlich. »Sie hasste es, dass ich so oft von zu Hause fort war, und dachte, ich hätte eine andere Frau.«
»Haben sie dich je als verdeckten Ermittler eingesetzt?«
»Bei meiner Größe?«
Carmine grinste und ging zur Tür. »Gut zu wissen, dass zumindest irgendwer beim FBI ein Hirn hat. Man sieht sich.«
»An der Einstichstelle der Infusionsnadel konnte eigentlich gar kein Tropfen hängen«, sagte Patsy, als Carmine ihm erzählte, was Ted Kelly getan hatte. »Ich weiß, wir waren spät dran, aber als er entdeckt wurde, war Skeps schon viel zu lange tot, als dass Flüssigkeit hätte heraussickern können, die Kelly hätte abtupfen können. Unabsichtlich hat er damit zugegeben, mit einer ganzen Ausrüstung von Probegläsern, Röhrchen, Tupfern, eben der ganzen Ladung da gewesen zu sein. Er muss jede Körperöffnung abgetupft haben und die Leiche überall dort, wo er hinkam, mit einem Vergrößerungsglas unter die Lupe genommen haben. Ich wette, niemandem dort ist überhaupt aufgefallen, dass er eine Ausrüstung dabei hatte.«
»Ich werde das FBI auf Herausgabe der Analyseergebnisse verklagen«, sagte Carmine. »Judge Thwaites wird es lieben. Wirklich ein Longfellow-Exzentriker. Kelly wusste noch nicht einmal, dass Longfellow ein Dichter war, dieses ignorante Stück Dreck. Obwohl ich mich manchmal frage, wie viel von seiner Schauspielerei wirklich Theater ist.«
»Ich grübele immer noch, was das für eine Flüssigkeit gewesen sein könnte«, sagte Patsy.
»Heparin?«
»Warum um alles in der Welt? Skeps war bewegungsunfähig. Wenn die Infusionsnadel wieder herausgekommen ist, gab es noch andere Venen. Es sei denn, unser Mörder ist kein Experte. Vielleicht hatte er mit der ersten Vene Glück und entschied, kein weiteres Risiko einzugehen, deswegen das Heparin. Ich werde den Bereich selbst noch mal abtupfen und Proben nehmen.« Er schaute unglücklich drein. »Was mir aber zweifellos zeigt, dass ich mir Skeps’ Leiche noch einmal vornehmen muss. Ich war nicht gründlich genug.«
»Patsy, Skeps war einer von zwölf Fällen.«
»Ich weiß, und das macht mir wirklich Angst. Bei wie vielen von ihnen habe ich mein Bestes gegeben? Das Baby und seine Mutter … Ich werde mir neun von elf noch mal vorknöpfen, Carmine, und dieses Mal gebe ich bei jedem mein Allerbestes.«
Es hatte keinen Sinn, zu diskutieren, Patrick hatte es sich in den Kopf gesetzt. »Dann fang mit Evan Pugh an«, sagte Carmine.
»Der Wichtigste, glaubst du?«
»Glaube ich nicht. Weiß ich.«
»Also dann, mit Evan Pugh. Übrigens«, sagte Patsy etwas zu beiläufig, »habe ich gehört, dass Myron bei euch ausgezogen ist?«
»Wo zum Teufel hast du das denn wieder her?«
»Vom Flurfunk, der ein besonders langes Kabel um die Bullen gewunden hat. Tante Emilia ist auf hundertachtzig.«
Da es sich bei Tante Emilia um Carmines Mutter handelte, zuckte er auf sehr italienische Manier die Achseln. »Dann weißt du genauso viel wie ich.«
»Wahrscheinlich sogar noch mehr. Er hat die gesamte obere Etage des Cleveland Hotels gemietet und plant, seine liebe Erica der gesamten High Society Hollomans vorzustellen.«
»Er meint es ernst.«
»Ich hoffe nur, sie auch.«
»Ich hoffe eher, sie ist in dem Mordfall unschuldig.«
»Steht sie weit oben auf deiner Liste?«
»Nein. Ungefähr auf der Hälfte.«
Carmine überließ Patrick das Zusammentrommeln seiner Streitkräfte für eine neue Attacke auf Evan Pugh und ging in sein Büro, wo ihn ein Stapel Papiere erwartete. Die meisten davon waren Aktennotizen, ein paar förmliche Briefe, die aber Delia ins Auge gesprungen waren, weil sie so ordentlich getippt waren, weder Unterschrift noch Initialen trugen und es keinen Hinweis auf ihre Herkunft gab.
»Sir«, hieß es auf dem obersten Blatt, einer Notiz, »hiermit möchte ich Sie daran erinnern, dass Sie zugesagt hatten, sich mit mir zu treffen, um die vorgeschlagenen Verbesserungen am Design unseres Atomreaktors zu diskutieren. Dieselbe Zeit, derselbe Ort wie immer, bitte.«
Bei allen fünfzehn – vier Briefe, elf Notizen – sei irgendetwas faul, meinte Delia.
»Sie wirken, als seien sie auf derselben Maschine getippt worden, aber das ist viel schwieriger festzustellen, wenn in der ganzen Firma Kugelkopf-Schreibmaschinen von IBM benutzt werden, deren Buchstaben nicht abgenutzt oder verbogen sind, und mir scheint, als hätten alle Sekretärinnen der Geschäftsführer neue oder fast neue Schreibmaschinen. Das Farbband wurde immer nur einmal benutzt, und es gibt keine Tippfehler, was auf eine sehr gute Sekretärin hindeutet. Ich mag es kaum sagen, Carmine, aber Mr. Kelly sollte sich eher die Sekretärinnen genau ansehen als die Geschäftsführer. Ich kennen keinen Manager, der auch nur ansatzweise vernünftig tippen könnte.«
»Was ist mit weiblichen Geschäftsführern?«, fragte Carmine.
»Außer, sie haben als Sekretärin angefangen. Dr. Davenport war aber nie Sekretärin. Am College hat sie eine Sekretärin dafür bezahlt, ihre Arbeiten abzutippen.«
»Ich vermute mal, das ist eine Erleichterung.« Carmine dachte an Myron.
»Hast du deine Einladung schon bekommen?«
»Einladung wozu?«
»Mr. Mandelbaum gibt einen Empfang und ein Abendessen am Samstagabend im Cleveland Hotel. Onkel John ist eingeladen, genauso wie Danny und ich«, sagte Delia.
»Dann vermute ich mal, dass Desdemona, Sophia und ich dich dort treffen werden. Gab es in der Zwischenzeit aus dem Aktenschrank noch etwas, was ich mir vornehmen sollte, oder kann ich dir das überlassen?«
»Ich denke, wir können problemlos den restlichen Inhalt verbrennen.«
»Dann lass uns nicht Kelly die Arbeit abnehmen, diesem verlogenen Hurensohn. Wir widmen uns wieder unseren Mordfällen. Heute ist Donnerstag, aber es ist zu spät, um nach Orleans zu fahren und rechtzeitig zum Abendessen wieder zurück zu sein. Also muss Mrs. Skeps bis morgen warten. Lass sie bitte wissen, dass wir kommen, ja? Und wo sind Abe und Corey?«
»Im Zeitungsarchiv. Soll ich sie anrufen?«
»Nicht nötig. Ich hole sie auf dem Weg ab.«
Die öffentliche Bibliothek hatte ihre eigenen Räumlichkeiten, etwas weiter die Cedar Street hinunter, aber das Zeitungsarchiv lag im County Services Building, was praktischer für alle war, von der Polizei bis zur Feuerwehr. Es wurde auch von der Öffentlichkeit genutzt, und es gab zahlreiche regelmäßige Besucher, die selbstvergessen durch die großen Seiten uralter Ausgaben der Holloman Post blätterten, wo sich immer wieder interessante Berichte aus der damaligen Zeit fanden. Das Archiv wurde langsam und stetig auf Mikrofilm gesichert, und Carmine fragte sich, wie es ihnen wohl gefiel, auf einen schwarzweißen Bildschirm zu starren. Sie werden es hassen, beschloss er und runzelte fragend die Stirn Richtung Abe und Corey.
»Fortschritt«, sagte er beiläufig zu seinen verblüfften Kollegen, »kann einem mächtig den Spaß verderben.« Und dann, als sie das Gebäude verließen: »Was gefunden?«
»Einiges zu den Denbighs, die sich der guten Sache verschrieben haben. Mrs. Dr. Denbigh ist eine Bildungs-Fanatikerin. Der Dekan hatte es mit der Renaissance. Beide förderten Wohltätigkeitsorganisationen zugunsten kranker Kinder. Mrs. Dr. Denbigh ist außerdem eine ziemlich aktive Frauenrechtlerin. Desmond Skeps ist häufig in der Presse, aber das war ja zu erwarten. Wir haben die Artikel notiert, die ihn erwähnen, und die fotokopiert, bei denen es direkt um ihn ging. Seltsamerweise war wenig über die Scheidung dabei.«
»Na ja, sie fand außerhalb des Bundesstaates statt, und Cornucopia wird versucht haben, die Sache herunterzuspielen.« Carmine lächelte Corey zu, der Bericht erstattet hatte, aber bemühte sich, auch Abe Aufmerksamkeit zu schenken – diese Sache mit der Beförderung nervte, und als er versucht hatte, das Komitee zu verlassen, hatte Silvestri darauf bestanden, dass er blieb.
»Wohin fahren wir?«, fragte Abe, als sie die South Green Street Richtung Mapel entlangfuhren.
»Zum Cleveland Hotel, wo wir die Pughs treffen werden. Sie sind hier, um den Leichnam zu identifizieren, aber sie werden nicht eher wieder abreisen, bevor sie ihren Sohn mit nach Hause nehmen können. Ihr Anwalt ist bei ihnen.«
»Ärger, Carmine?«
»Ich glaube nicht. Danny Marciano hat den Anruf entgegengenommen und meinte, sie klängen wie anständige Leute.«
Die Pughs waren in einer Suite auf der vorletzten Etage einquartiert worden, von wo sie die rote Felsnase des North Rock sehen konnten. Mit den Bäumen, die gerade erst ausgeschlagen waren, sah der Wald von Holloman aus, als wäre ein zerbrechlicher, durchsichtiger hellgrüner Vorhang darüber geworfen worden, aber Carmine wusste, dass David und Enid Pugh dafür im Moment kein Auge hatten.
Sie waren in den Mittvierzigern und sahen deutlich besser aus als ihr Sohn. Wenn es so etwas wie einen Wechselbalg gäbe, dann wäre es jemand wie Evan Pugh, so arrogant, von sich eingenommen und ohne Moral. Die Pughs waren nichts dergleichen, und nach fünf Minuten in ihrer Gesellschaft wurde klar, dass der Rechtsanwalt nur dabei war, um ihnen bei irgendwelchen Formalitäten zu helfen. Ihr Kummer war still, aber doch unübersehbar. Wie konnte aus ihnen jemanden wie Evan entspringen? Sie bestanden darauf, die ganze Geschichte seines Mordes zu hören, eine sehr unschöne Angelegenheit für Carmine.
»Ja, das war seine Art«, sagte Mrs. Pugh traurig. »Evan hatte Spaß daran, Schmetterlingen die Flügel abzureißen. Wir haben jede erdenkliche Heilmethode ausprobiert, Captain Delmonico, aber keiner von uns hat es geschafft, dass er menschlicher wurde. Die Psychiater haben ihn einen Psychopathen genannt und sagten, dafür gäbe es keine Behandlung. Davy und ich haben nur gehofft und gebetet, dass er menschlicher würde, wenn er erst einmal erwachsen war. Er war so brillant. Überall nur Bestnoten. Als er sich die Chubb ausgesucht hatte, mussten wir ihn ziehen lassen – wir hätten es lieber gehabt, wenn es irgendwo in unserer Nähe gewesen wäre, aber er hatte sich die Chubb in den Kopf gesetzt. Die beste medizinische Fakultät. Und für ihn kam nur das Medizinstudium in Frage.« Sie seufzte.
»Es tut mir wirklich sehr leid, Mrs. Pugh, Mr. Pugh«, sagte Carmine.
Er sprach erst wieder, nachdem sich die Fahrstuhltür hinter ihm und seinen Sergeants geschlossen hatte. »Ich nehme an, es ist ganz normal, dass einige dieser Kreaturen vorbildliche Eltern haben.«
Als sie auf Myron trafen, der Erica Davenport durch das Hotelfoyer begleitete, fühlte sich Carmine ertappt. Dr. Davenport trug ein lilafarbenes Kostüm, das ihre Augen violett erschienen ließ, und, wie Carmine amüsiert feststellte, relativ flache Absätze; Myron war nicht besonders groß.
»Wie geht es Sophia?«, war Myrons erste Frage.
»Desdemona ist der Meinung, dass du eine Chance hast, wieder mit ihr ins Reine zu kommen, wenn du sie zum Essen ausführst – alleine – und ihr den Peridot-Schmuck schenkst, auf den sie schon so lange ein Auge geworfen hat«, sagte Carmine.
»Dann mache ich das direkt morgen, sie hat ja Ferien.«
»Das ist der zweite Punkt, Myron. Abgesehen davon, was du über Erica gesagt hast, hat Sophia es sich in den Kopf gesetzt, dass du eigentlich nur gekommen bist, um mit ihr einen Teil der Ferienzeit zu verbringen, während ich an einem schweren Fall arbeite. Sie liebt ihren kleinen Bruder, aber er nimmt den Großteil von Desdemonas Zeit in Anspruch.«
Myron stöhnte. »Oh, Carmine, das tut mir wirklich leid.«
»Sag das ihr, nicht mir.«
»Ich werde ihr Diamanten kaufen.«
»Das wirst du nicht. Desdemona sagt, Peridot-Steine sind das Passende für eine Sechzehnjährige, und ihrem Urteil traue ich einhundert Prozent.«
Er nickte Erica Davenport wieder zu, die die ganze Zeit geschwiegen hatte, und folgte dann Abe und Corey hinaus.
»Wer ist Desdemona?«, hörte er ihre helle, scharfe Stimme.
Was auch immer Myron antwortete, konnte er nicht mehr hören, aber Carmine hatte eine ungefähre Vorstellung davon, dass er lachen, geheimnisvoll gucken und ihr sagen würde, sie solle abwarten und Tee trinken.
»Alle reden über sie und Myron«, sagte Abe.
»Kein Wunder, dass sie Diamanten trägt«, meinte Corey.
Ja, kein Wunder, dachte Carmine. Wie lange kannte Myron sie schon, und wie können wir beide weiter Freunde sein, wenn ich diese Frau nicht ausstehen kann? Sie ist eine Hyäne, die lebendige Männer verschlingt.
Der Rest des Tages verlief ergebnislos, und als Freitagmorgen die Sonne klar und strahlend aufging, seufzte Carmine erleichtert. Er brauchte eine Unterbrechung seiner Routine. Er setzte sich in den Wagen und nahm die I-95 nach Cape Cod, ein schwieriges Unterfangen, weil die Küstenroute immer wieder große Buchten umrunden musste. Egal, wie er fuhr, es war ein weiter Weg, also setzte er, während er noch in Connecticut war, sein Blaulicht aufs Dach des Fairlane, schaltete die Sirene ein und trat ohne Rücksicht auf Geschwindigkeitsbegrenzungen das Gaspedal durch.
Orleans galt allgemein als das hübscheste vieler hübscher Städtchen Cape Cods, obwohl um diese Jahreszeit die meisten Häuschen unbewohnt waren. Häuser bestanden meistens aus Zedernholz und Schindeln, die man unbehandelt ließ, damit sie an der Seeluft zu einer silbernen Farbe verwitterten. Die Halbinsel war geformt wie der geknickte Arm eines Mannes, der seinen Bizeps zeigt, und umarmte das ruhige Gewässer der Cape Cod Bay.
Carmine liebte Cape Cod, und wenn er einen Wunsch frei hätte, dann wäre es ein Sommerhaus irgendwo hier zwischen Hyannis und Provincetown.
Das Haus von Philomena Skeps lag am Ende einer kleinen Straße. Es war ein Haus im traditionellen Kolonialstil, an dessen Grundstücksgröße man direkt erkannte, dass es sich um eine extrem teure Immobilie handelte. Es ging hinunter bis zur ruhigen Seeseite, mit eigenem Steg und Bootshaus. Jemand schien dort an Booten herumzuhantieren. An der einen Hauswand war eine Öffnung für den Öltank, der darauf hindeutete, dass hier jemand das ganze Jahr über wohnte. Während er sich fasziniert umsah, trottete Carmine den Kiesweg zur Haustür hoch.
Mrs. Skeps persönlich öffnete ihm. Sie war eine dunkle Schönheit mit dichten, schwarzen Locken.
»Kommen Sie herein, Captain«, sagte sie und führte ihn durch einen langen Flur zur Rückseite des Hauses, wo ein Wintergarten in englischem Stil angebaut war. Der Wintergarten war voller Pflanzen, von denen einige bis zum Glasdach reichten, aber es war genug Platz für einen weiß gestrichenen Tisch mit Stühlen und zwei kleinen Sofas mit weißen Kissen.
Mrs. Skeps bot ihm Gebäck an. Da er auf dem Weg nicht angehalten und gefrühstückt hatte, machte Carmine kurzen Prozess mit den Leckereien und trank dazu einige Tassen Kaffee. Erst als er fertig war, kam er zur Sache.
»Sie haben nie wieder geheiratet, oder?«
»Nein. Desmond war meine große Liebe«, sagte sie und nannte Skeps bei seinem vollen Namen. »Wir waren auf dem Weg, uns wieder zu versöhnen.«
Seine erstaunten Augen blieben an ihrem Gesicht hängen, das ruhig und unbeteiligt wirkte. »Waren Sie? Nach so langer Zeit?«
»Ja, um Desmond juniors willen. Ich habe vor vier Monaten mit Desmond Kontakt aufgenommen, und wir hatten seitdem eine Reihe von Diskussionen. Es gab da eine andere Frau, wissen Sie.«
»Wenn es sie gibt, Mrs. Skeps, haben wir keine Spur von ihr gefunden.«
»Es ist natürlich Erica Davenport.«
»Sie hat das entschieden zurückgewiesen.«
»Natürlich. Es war allerdings keine große Liebesaffäre. Von keiner der beiden Seiten. Dennoch, Captain, bestand eine meiner Forderungen darin, dass er auf ihre Gefälligkeiten verzichtete.«
»Und, verzichtete er auf sie?«
»Ja, kurz nachdem ich das erste Mal zu ihm Kontakt aufgenommen hatte.«
»Hat er ihr ein Abschiedsgeschenk in Form von Diamantohrringen und einem Diamant-Anhänger gemacht?«, fragte Carmine neugierig.
Mrs. Skeps lachte, ehrlich amüsiert. »Desmond? Nein. Er ist vielleicht einer von Amerikas reichsten Männern, aber er ist ein Geizhals.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ach je, es ist so schwer, von Desmond in der Vergangenheit zu sprechen – oder zu denken. Nein, was Desmond Erica gab, war definitiv mehr wert als Diamanten, und es kostete ihn fast nichts.«
»Unter anderem ein Platz im Vorstand.«
»Genau. Das machte mir gar nichts aus. Wenn sie bei Desmond war, drangsalierte er mich nicht.«
»Sie sind sehr gebildet.«
»Ja, ich lese viel.«
»Warum, Mrs. Skeps, haben Sie ihm den Vorschlag der Versöhnung gemacht? Die Eifersucht Ihres Mannes hat Ihre Ehe ruiniert.«
»Das sagte ich Ihnen doch schon, wegen Desmond junior.«
»Ist er nicht ohne die Schrecken, in die sein Vater Sie versetzte, besser dran? Ich musste die ganzen Unterlagen über die Scheidung lesen, deshalb weiß ich Bescheid.«
»Ich habe ihn gezwungen, mir sein Wort zu geben, dass er sich nie wieder so aufführt«, sagte Mrs. Skeps. »Und sein Wort war Desmond heilig. Wissen Sie, Desmond junior kommt jetzt langsam in die Pubertät, und ein Junge in diesem Alter braucht einen Vater, egal, wie unzulänglich er ist. Ich würde für mein Kind sterben, Captain. Ich glaube auch, dass Desmond sein Wort gehalten hätte.«
»Und nun sind alle Pläne in sich zusammengefallen.«
»Ja, aber zumindest habe ich es probiert, und Desmond junior weiß, dass ich es versucht habe. Ohne seinen Vater können nun meine Brüder an diese Stelle treten – das haben sie nicht gewagt, während Desmond am Leben war. Er hat ihnen mit Auftragsmördern gedroht. Er sagte, jeder könnte sich einen Killer kaufen, wenn man wüsste, wohin man gehen müsste.«
Ich frage mich, wer noch weiß, wo man einen Killer kaufen kann? Dr. Erica Davenport vielleicht? Philip Smith? Frederick Collins? dachte Carmine. Laut fragte er: »Wie geht es Ihrem Sohn?«
»Er ist auf dem Weg der Besserung. Er hatte einen schrecklichen Anfall von etwas, das ich immer als harmlose Kinderkrankheit abgetan hatte – Windpocken. Er hatte Bläschen bis in den Rachen hinein. Das Schlimmste ist, dass er dieses Schuljahr wohl wiederholen muss.«
»Nicht, wenn Sie Nachhilfelehrer engagieren und er die Sommerschule besucht«, sagte Carmine.
»Nur, wenn er sich danach fühlt«, erwiderte Philomena mit eisiger Stimme.
Eine überfürsorgliche Mutter. Carmine wechselte das Thema. »Erzählen Sie mir etwas über Erica Davenport, Mrs. Skeps.«
»Als Mensch hasse ich sie, aber sie verdient einen Platz im Vorstand, was mehr ist, als ich über die anderen Faulpelze sagen kann. Oh, nicht Wally Grierson. Dieser Mann ist ein Geschenk. Als der alte Walter Seymonds die Rechtsabteilung leitete, war es erbärmlich. Cornucopia unterliefen ständig vertragliche Fehler und musste sich außergerichtlich mit großen Summen einigen, um Prozesse zu vermeiden. Aber nachdem Erica die Kontrolle übernommen hatte, ließ das mit der Zeit nach. Desmond hat sie verehrt, weil sie der Firma so viel Geld gespart hat.«
In diesem Moment hörte man jemanden im vorderen Teil des Hauses rufen und eine helle Jungenstimme, die darauf antwortete. Nach einem kurzen Wortwechsel trat jemand ins Zimmer, aber Desmond III war nicht dabei. Der Mann wäre als Carmines Bruder durchgegangen, ein ähnlicher Körperbau, derselbe südländische Typ. Er hatte intelligente Augen, trug Jeans und einen weißen Pullover, aber schaffte es, darin förmlich auszusehen, und erweckte den Eindruck, als wäre er der Hausherr.
»Tony Bera«, sagte er und streckte die Hand aus.
»Carmine Delmonico.«
»Mit dir alles okay, Philomena?«, fragte Bera.
»Alles bestens, danke.« Sie wandte sich an Carmine. »Tony scheint zu denken, die ganze Welt sei hinter mir her.«
»Verjagen Sie keinen guten Wachhund, Mrs. Skeps. Ich würde Ihnen keinen Besuch abstatten, wenn nicht ein Mörder frei herumliefe. Nicht, dass ich glaube, Sie wären in Gefahr. Trotzdem bin ich froh, Mr. Bera zu sehen. Wohnen Sie hier in der Gegend, Sir?«
»Ja, einfach nur die Straße runter.«
»Gut. Was Desmond Skeps’ Testament angeht, so erbt Desmond Skeps der Dritte alles. Ich sollte eigentlich eine Kopie bekommen, aber bisher ist sie nicht aufgetaucht. Dr. Davenport hat Captain Marciano angerufen und gesagt, Ihr Sohn wäre der Alleinerbe, hat aber keine weiteren Details mitgeteilt. Vielleicht können Sie mich auf den neuesten Stand bringen, Mr. Bera?«
»Ich wünschte, ich könnte«, sagte der Rechtsanwalt mit gerunzelter Stirn, »aber bisher haben wir noch nicht einmal das gehört.«
»Ich dachte, es müsse eine Testamentseröffnung geben«, sagte Carmine.
»Nicht notwendigerweise. Es hängt alles davon ab, was der Letzte Wille genau vorschreibt. Die Anwälte von Mr. Skeps in New York werden den Inhalt gekannt haben. Wenn Desmond junior der Erbe ist, bin ich befugt, das Testament in Gänze zu sehen, da ich im Namen seiner Mutter handle und daher in seinem Auftrag.«
»Steht das fest, Sir?«
»Nun, nein, aber sie wird sein Vormund sein.«
»Ja, natürlich.« Carmine blickte Philomena Skeps an. »Ich müsste da noch ein paar Dinge wissen. Könnten Sie mir das genaue Datum Ihres ersten Versöhnungsangebots an Ihren Exmann sagen?«
»Wir haben darüber am Montag in der dritten Novemberwoche gesprochen.«
»Und wann hat Mr. Skeps Mrs. Davenport den Abreisebefehl gegeben?«
»Sehr bald danach. Sicher noch in derselben Woche.«
Also wusste Erica Davenport bereits seit ungefähr vier Monaten von der Versöhnung. Kein Grund, jetzt zu morden. Eine verschmähte Frau, die Mordgedanken hegt, wartet nicht so lange. Es sah mehr so aus, als hätte sie, nachdem ihr der Fisch Skeps vom Haken gehüpft war, die Angel erneut ausgeworfen und Myron gefangen. Die Diamanten waren ein Geschenk von Myron, dem großzügigsten aller Männer. In der Annahme, dass es zusammen ungefähr acht Karat waren, hatten sie sicher zwischen einem Viertel und einer halben Million Dollar gekostet. Myron machte keine halben Sachen. Und es war ihm ernst.
»Nun erzählen Sie mir bitte noch etwas über die Faulpelze, Mrs. Skeps.«
Sie lächelte spöttisch, ein Ausdruck, der nicht zu ihrem Gesicht passte. »Desmond hat sie seine Jasager genannt, und das mit gutem Grund. Phil Smith gibt es offen zu – er macht sich noch nicht einmal die Mühe, die Geschäftsführung einer Firma zu übernehmen, was bedeutet, dass er mal wieder auf seinen Füßen gelandet ist, wie üblich. Er wird in Desmonds Fußstapfen treten, den Vorstandsvorsitz übernehmen. Dieser Heuchler. Man würde meinen, er sei adelig.«
»Was ist mit ihrer gemeinsamen Vergangenheit? Gibt es dubiose Aktivitäten? Zwielichtige Geschäfte? Halbseidene Frauen?«
»Nicht, dass ich wüsste, außer vielleicht Gus Purvey, der so tut, als wäre er ein sehr männlicher Mann. Allerdings ist er homosexuell, mit einer Schwäche für Jungs in Frauenkleidern.«
Carmine blickte Anthony Bera an. »Gibt es noch etwas hinzuzufügen?«
»Nein, ich bin kein Teil der Cornucopia-Welt.«
Vielleicht nicht, dachte Carmine und stand auf, aber ich werde Nachforschungen über dich anstellen, wo du dich am dritten April aufgehalten hast. Ein winterfestes Haus in Orleans weist darauf hin, dass deine Kanzlei ein gesundes Einkommen generiert. Du bist in Mrs. Skeps verliebt, aber sie sieht dich nur als Freund. Das ist eine ziemlich frustrierende Situation.
Carmine wiederholte seinen Trick mit dem Blaulicht und der Sirene auf dem Heimweg. Vielleicht hatte der Besuch in Orleans seiner Seele gutgetan, aber seinen Ermittlungen hatte er nichts gebracht. Zeit, die Sache richtig anzupacken. Wenn keine Kopie des Testaments im Präsidium aufgetaucht war, würde er definitiv in Erica Davenports Höhle vordringen und sofort eine verlangen. Aber das Dokument wartete schon. Mit der Juristensprache vertraut, überflog er zügig die vielen Seiten und lehnte sich dann atemlos zurück. Jemand hatte geplaudert, dass er sich heute mit Philomena Skeps treffen wollte, und Erica Davenport hatte ihm und ihr wissentlich den Inhalt des Letzten Willens vorenthalten, bis das Treffen vorbei war. Kein Wunder. Es wären die Fetzen geflogen. Ein harter Schlag für Philomena Skeps und Anthony Bera. Was hätte sie in ihrer Wut wohl alles gesagt?
Desmond Skeps junior war tatsächlich der Erbe, aber sein Vormund war Erica Davenport. Nicht im mütterlichen Sinne: Er würde nach wie vor bei Philomena wohnen, aber sie konnte nicht mehr über sein Schicksal bestimmen, sein Vermögen und die Zukunft Cornucopias. Was das Geld und Macht anging, entschied Erica Davenport in loco parentis. Und bis der Junge einundzwanzig Jahre alt war, war Erica Davenport die Vorstandsvorsitzende von Cornucopia. Carmine sah keine Möglichkeit, wie Anthony Bera diese Entscheidungen bei Gericht anfechten könnte. Philomena Skeps hatte keinerlei Geschäftspraxis, nichts, was sie einem richterlichem Gremium bieten konnte. Nein, der einzige Weg, wie Philomena Skeps gewinnen konnte, war, auf der Seite von Dr. Erica Davenport zu stehen.
Armer Myron! Dieser Blitzschlag bedeutete, dass Erica keinen reichen Ehemann mehr zu finden brauchte, wenn es das war, weswegen sie den Angriff auf die Gefühle von Carmines Freund vorgenommen hatte. Sie konnte ihr eigenes Gehalt und die Boni festsetzen, ohne jemanden, der ihr widersprach. Nein, dachte Carmine, das Goldgräber-Image fühlte sich falsch an. Diese Frau war hinter Macht her, nicht hinter Geld, was ihm eine Seite an Myron verdeutlichte, die er nicht erwartet hätte. Myron war vor fünfzehn Jahren in sein Leben getreten, und er hatte ihn, ohne zu hinterfragen, als einen sehr wohlhabender Filmproduzenten angesehen. Es wäre Carmine nie in den Sinn gekommen, einen Blick in die geschäftlichen Angelegenheiten des geschätzten Mannes zu werfen. Nun, viel zu spät, als dass es noch eine Rolle spielte, dachte er, dass er das vielleicht hätte tun sollen.
Und was war mit der Frau, der Desmond Skeps vor vier Monaten eine Abfuhr erteilt hatte? Sie hatte vielleicht das Handeln ihres Liebhabers als den Beginn ihres absoluten Endes interpretiert. Stattdessen hatte sie ihn als die Herrscherin über das Cornucopia-Reich überlebt. Also war die große Frage: Kannte Erica Davenport den Inhalt von Desmond Skeps Letztem Willen? Ein ungeheures Mordmotiv, wenn das der Fall wäre. Aber wie sollte sie herausgefunden haben, was sich im Tresor einer New Yorker Bank befand, der von einer Firma bewacht wurde, die sie gar nicht kannte? Der einzige Weg wäre gewesen, dass Skeps es ihr selbst erzählt hätte, aber würde er so etwas tun? Nein, würde er nicht, entschied Carmine instinktiv. Diese Sorte Mann war Skeps nicht.
Wann war das Testament verfasst worden? Carmine schaute noch einmal nach, ob er sich nicht im Datum verlesen hätte. Nein, hatte er nicht. Es war vor zwei Monaten aufgesetzt worden, lange, nachdem sich Skeps von seiner Geliebten getrennt hatte. Das bedeutete, Skeps hatte sie einzig ihrer Fähigkeiten wegen eingesetzt.
Er blickte auf die Uhr: noch genug Zeit, um Dr. Davenport einen Besuch abzustatten, bevor die Cornucopia-Büros schlossen. Er machte sich nicht die Mühe, sie vorher anzurufen.
Carmine fand sie oben im Penthouse. In das, wie Abe herausgefunden hatte, eine kleine Wendeltreppe führte, die im Gäste-WC versteckt war. Die Rückwand öffnete sich nach innen, wenn man den zweiten in einer Reihe schicker Knöpfe drückte, und gab eine sehr enge, eiserne Wendeltreppe frei. Also nutzte Carmine diese und tauchte auf, als hätte er soeben das WC benutzt. Sein Erscheinen alarmierte Erica Davenport nicht, sondern störte sie nur.
»Ich bin wohl jetzt Ihre Hauptverdächtige«, sagte sie.
»Nein, wenn überhaupt. Außer, wenn er Ihnen gesagt hätte, was in seinem Testament stand.«
»Desmond Skeps so indiskret? Das Einzige, was Desmonds Zunge lockerte, war Alkohol, aber als ich ihn kennenlernte, hatte er seinem Konsum bereits ernste Grenzen auferlegt. Ein Single-Malt Scotch pro Tag, das war’s, und er ist nie davon abgekommen. Er leitete eine der größten Firmen des Landes und kannte den Schaden, den zu viel Geplauder anrichten konnte. Am Anfang, kurz nachdem er die Firma übernommen hatte, setzte er Cornucopias eigenen Kostenvoranschlag für einen der ersten Atomreaktoren aufs Spiel, was es der Konkurrenzfirma ermöglichte, ihn mit Cornucopias eigenem Design zu unterbieten. Er hätte beinahe alles verloren. Wal Grierson hat damals für ihn die Kohlen aus dem Feuer geholt – wenn Des irgendjemanden liebte, dann war es Wal Grierson. Sein Vorstand war damals brandneu. Er hätte sie alle außer Grierson feuern sollen, aber er entschied, dass Jasager durchaus ihren Nutzen haben – vorausgesetzt, der Boss betrank sich nicht.«
»Offensichtlich frönen Sie dem Bettgeflüster, Dr. Davenport.«
»Oh, hat sie es Ihnen erzählt? Das ist typisch.«
»Mochte Mr. Skeps Frauen? Kam er gut mit ihnen aus?«
»Ach, kommen Sie, Captain, Sie wissen ganz genau, dass er Frauen hasste. Das ist der Grund, warum mich sein Letzter Wille tatsächlich überraschte. Es ist mir nie in den Sinn gekommen, dass er meinen Geschäftssinn wirklich schätzte. Und nun, sehen Sie mich an! Ich bin Vorstandsvorsitzende und habe die komplette Kontrolle über Desmond juniors Anteile, Zinsen und Vermögen.« Sie schnaufte lachend. »Ich, Erica Davenport, bin der Hahn im Korb.«
»Also werden Sie es Mrs. Skeps so richtig unter die Nase reiben.«
»Überhaupt nicht.« Ihre Augen waren so ernst, dass sie fast blau wirkten. »Ich habe keinerlei Absicht, Philomena Skeps irgendwie zu beeinträchtigen, auch nicht in ihrer Funktion als Mutter.«
»Ich habe noch eine andere Frage an Sie, Dr. Davenport. Was würde passieren, wenn Desmond der Dritte stirbt?«
Sie erbleichte. »Denken Sie das nicht!«
»Sie sind Anwältin, die Möglichkeit muss Ihnen in den Sinn gekommen sein. Also, was passiert dann?«
»Es gibt noch weitere Mitglieder der Familie Skeps. Ich könnte mir denken, dass jemand aus der Verwandtschaft väterlicherseits erben würde.«
Carmine ahnte Böses. »Mr. Philip Smith?«
»Nein, definitiv nicht. Mr. Smith behauptet, er sei blutsverwandt, aber in welchem Grad wurde nie untersucht. Es gibt einen Neffen und einen Cousin ersten Grades. Sie wären die Nächsten, mit dem Cousin an erster Stelle. Der Neffe ist das Kind von Desmond Skeps’ Schwester. Der erste Cousin ist das Kind von Desmond Skeps seniors jüngerem Bruder. Wie auch immer, das Testament wurde unter dem New York State Law aufgesetzt, und darin bin ich keine Expertin.«
»Ich danke Ihnen.« Carmine sah sich um. »Haben Sie vor, hier zu wohnen?«
»Warum nicht? Obwohl ich mächtig ausmisten muss. Der arme Desmond hatte keinen Geschmack.«
»Und Sie?«
»Ich würde sagen, mein Geschmack ist sehr, sehr anders. Ich werde Gemälde als Altersvorsorge kaufen und sie hier aufhängen. Und ich werde dieses Monstrum loswerden.« Sie wies auf das Teleskop. »Er war ein leidenschaftlicher Spanner.«
»Das habe ich auch bemerkt. Hatte er eine Kamera daran befestigt?«
Sie zuckte. »Ja, das hatte er! Aber sie ist nicht mehr da.«
»Sie war nicht mehr da, als seine Leiche noch auf der Massagebank lag«, sagte Carmine grimmig. »Nun weiß ich zumindest, was Ted Kelly mitgenommen hat.«
»Oder vielleicht hat der Mörder sie mitgenommen«, meinte Erica Davenport.
»Möglich.«
Carmine ging Richtung Fahrstuhl.
»Werden Sie und Ihre Familie morgen auf Myrons Party sein?«
»Wenn wir eingeladen wurden, ja.«
»Schön. Ich bin schon ganz gespannt, Ihre Frau kennenzulernen.«
»Weswegen?«
»Weil sie tapfer ist. Myron hat es mir erzählt. Das ist kein Charakterzug, den man normalerweise mit Frauen in Verbindung bringt.«
»Blödsinn«, blaffte Carmine. »Frauen sind unglaublich tapfer, jeden Tag ihres Lebens. Frauen sind tapfer, weil sie Babys zur Welt bringen und Haushalt und Familie zusammenhalten – und das kann verdammt schwer sein.«
»Sie sind ein Romantiker«, sagte Erica Davenport überrascht, aber ohne Empathie.
»Nein, ich bin ein Realist. Guten Abend, Dr. Davenport.«
»Du bist auch so ein Romantiker«, sagte Desdemona und gab ihm seinen Bourbon mit Soda.
Er hatte es tatsächlich geschafft, so früh zu Hause zu sein, dass er einem hellwachen Julian begegnete. Die Augen des Jungen waren hellblau, und er hatte einen dunklen Lockenkopf, der jedem Mädchen zur Ehre gereicht hätte. Aber er hatte zu viel von Carmines Entschlossenheit und Hartnäckigkeit, als dass man ihn für ein Mädchen halten könnte. Seine Entstehung war immer wieder wie ein Wunder für Carmine, der sich nie hatte vorstellen können, einen Sohn zu zeugen. Vater und Sohn liebkosten sich so lange, bis Desdemona den Kleinen nahm und ins Bettchen steckte.
»Er wehrt sich nie«, sagte Carmine, als sie wieder zurückkam und sich setzte, um ihren Gin Tonic zu trinken. »Ich erwarte immer, dass er anfängt zu schreien. Wir haben richtig Spaß und dann – wumm. Kommt Mummy und beendet das Ganze.«
»Er ist schlau genug, zu wissen, dass er das Zubettgehen schon eine ganze Stunde hinausgezögert hat«, sagte sie lächelnd und hob ihr Glas zum Toast.
»Wo ist Sophia?«
»Zum Abendessen im Cleveland mit Myron und seiner Erica.«
»Kein Witz?«
»Kein Witz. Myron hat sie zum Mittagessen ausgeführt und ihr den Peridot-Schmuck geschenkt, obwohl er nicht Myron wäre, wenn er sich an die Vorgaben gehalten hätte. Sie hat auch noch ein sehr hübsches Set Schmuck bekommen.«
»Ich vermute, der Bruch ist geheilt?«
»Oh, ja. Dann hat dieses kleine Luder ihn so umschwärmt, bis er nicht anders konnte, als einverstanden zu sein, dass sie mit ihm und Erica zu Abend isst. Er hat nachgegeben, denn wenn Sophia mit der neuen Frau nicht auskommt, dann passiert das besser im kleinen Kreis als vor einer Million Leute auf dieser verdammten Feier, zu der Myron morgen einlädt. Ich habe in unserem Namen zugesagt.« Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Ich vermute, sie wäre schon lange zu Hause, wenn es nicht gut liefe.«
»Erica Davenport ist ein Rätsel, Desdemona.«
»Und eine Mörderin?«
»Das glaube ich nicht, obwohl ihr Skeps durch seinen Tod zu großer Macht verholfen hat. Seinem Testament nach ist sie der Oberboss.«
»Meine Güte! Was für ein Sieg für die Frauen«, sagte Desdemona und blickte Carmine voller Liebe an.
»Was gibt es zum Abendessen?«, fragte er und hoffte auf etwas Italienisches.
»Spaghetti mit Fleischbällchen à la Emilia Delmonico.«
Was für ein Abend! Erst hatte er mit einem wachen und munteren Julian knuddeln können, sein Essenswunsch ging in Erfüllung – und später würden er und Desdemona vielleicht noch ein Brüderchen oder Schwesterchen für ihren Sohn zeugen.
Er leerte sein Glas. »Dann lass uns essen«, sagte er. »Morgen Abend müssen wir all die Dinge essen, die uns Verdauungsprobleme bereiten werden – Hummer, Krabben, Kaviar. Myron hat einen Chefkoch einfliegen lassen.«
Carmine mochte sich vielleicht nicht auf Myrons Party gefreut haben, aber alle anderen hatten es. Nach Ericas Beförderung war der Dresscode von Jackett und Krawatte auf Abendgarderobe geändert worden, wobei niemand wusste, ob das Myrons oder Ericas Laune entsprungen war.
Sehr zur Erleichterung ihres Vaters entschied Sophia, nicht mitzugehen. Sie gab keinen Grund an, aber Desdemona vermutete, dass das Mädchen von Myrons neuer Freundin schwer eingeschüchtert worden war. Nach dem Essen war sie enthusiastisch nach Haus gekommen, voller »Erica hier« und »Erica dort«, aber es klang hohl. So viel adelige Schönheit, Perfektion, Intelligenz und Unnahbarkeit waren einfach zu viel, wenn sie in einer Person zusammentrafen. Sophia fühlte sich schachmatt gesetzt.
Da Desdemona bei ihrer Größe kaum Kleider von der Stange kaufen konnte, blieb Carmine das Was-soll-ich-anziehen?-Dilemma erspart. Obwohl er nicht groß war, hatte seine Frau einen Kleiderschrank voller Sachen für jede Gelegenheit. Im Geheimen fand er, dass sie atemberaubend aussah in dem blauen Kleid, das sie selbst nach der Vorlage eines Kleides bestickt hatte, was Audrey Hepburn in dem Film Sabrina getragen hatte. Das erste Paar, dem Carmine und Desdemona begegneten – im Fahrstuhl –, waren Mawson McIntosh – M. M.– und dessen Frau Angela. Sie überließ die Chubb-Politik ihrem Mann und widmete sich höheren Dingen, von Yoga bis Astrologie. Es war eine gute Partnerschaft, denn Angela hatte ein hervorragendes Gedächtnis und vergaß nie einen Namen. Wie überaus praktisch für den Präsidenten des Chubb.
»Heute Abend lernen wir also den neuen Boss von Cornucopia kenne«, sagte M. M.
»Das tun wir in der Tat«, erwiderte Carmine und hielt sich zurück, hinzuzufügen, dass sie eine der Verdächtigen war. M. M. wusste es wahrscheinlich sowieso.
»Liebling, wir haben sie doch schon kennengelernt«, sagte Angela. »Du erinnerst dich doch sicher? Auf einem Wohltätigkeitsbankett vor vier Monaten. Sie war mit Gus Purvey dort. Ich erinnere mich an sie, weil sie so wunderschön ist – ein Wassermann mit Aszendent Skorpion.«
»Huh«, grummelte M.M und trat einen Schritt zurück, um den Damen Platz zum Aussteigen zu geben. »Sie sehen fabelhaft aus, Desdemona.«
Sie stürzten sich direkt ins Gefecht, das von Myron und Erica angeführt wurde. Ihre Gastgeberin war in silbergrauen Taft und silbernes Gewebe gekleidet, mit Hacken unter vier Zentimetern, stellte Carmine fest. Myron war so stolz auf sie, so eifrig, sie jedem von Bedeutung vorzustellen, wobei er gar nicht bemerkte, dass sie selbst eine Hauptakteurin in diesem Machtspiel war.
Myron stellte sie Desdemona vor, während Carmine alles beobachte. Da Erica Davenport genötigt war, ihren Kopf zu heben, um Desdemona ins Gesicht zu blicken, sah sie es nur von unten, was nicht gerade die schmeichelhafteste Perspektive war. Also fixierten ihre Augen einen bequemeren Punkt und ließen sich auf Desdemonas Ring nieder.
»Zauberhaft«, sagte sie mit gezwungenem Lächeln. Wie konnte eine so große Frau mit ihrer Größe auch noch hohe Absätze tragen? Carmine Delmonico war ein großer Mann, aber mit den Schuhen wirkte er neben ihr wie ein Zwerg. Und das schien ihn gar nicht zu stören.
»Der Diamant ist mein Verlobungsring, und der Saphir war zur Geburt unseres Sohnes.«
»Sie sind Engländerin?«
»Ja, aber inzwischen amerikanische Staatsbürgerin.« Desdemona lächelte und wandte sich ab. Inzwischen waren immer mehr Gäste gekommen.
»Und, was hältst du von der Schneekönigin?«, fragte Carmine.
»Nicht Schnee, Liebling. Schnee ist weich und nachgiebig. Eiskönigin.«
»Guter Punkt. Sieht man ihr ihr Alter an?«
»Ich schon. Sie ist sehr hart, auf eine Art, die man mit zwanzig oder dreißig noch nicht ist. Ich vermute, dass sie sich bald liften lassen wird – die Falten neben der Nase und an den Mundwinkeln werden langsam deutlicher.«
»Ist sie fähig zu Mord?«
»Gewiss, so wie ein Hai. Sie schnappt zu, bevor dir überhaupt klar wird, dass du dich in ihren Gewässern befindest. Aber ich kann sie mir nicht in irgendeiner Situation vorstellen, die einen Mord erfordern würde. Außer, jemand drängt sie so weit in die Ecke, dass ihr ein fürchterlicher Fehler unterläuft.«
»Während du vor ihr gestanden hast, hat sie dich als Irre eingestuft, aber jetzt, wo wir auf der anderen Seite des Raumes stehen, lässt sie dich kaum aus den Augen.«
»Nein, ich glaube, sie ist mehr an dir interessiert, Carmine. Sie hatte gehofft, dich verführen zu können, aber nachdem sie mich gesehen hat, erstarben ihre Hoffnungen. Sie kann mit Leuten außerhalb ihres Erfahrungsfeldes nichts anfangen. Für sie sind Männer solche armseligen, unsicheren Kreaturen, dass sie es zum Beispiel nicht ertragen können, wenn eine Frau sie überragt. Und nun weiß sie nicht, was sie denken soll.«
»Das ist das, was ich in ihrem Gesicht gelesen habe, obwohl, nichts von der Verführung. Was hat das zu bedeuten, mein liebes Orakel?«
»Dass sie sich zu dir hingezogen fühlt, du Dummerchen.«
Delia kam, ganz ungewöhnlich, in pinkfarbenen Rüschen. Carmine überließ Desdemona und seine Sekretärin ihrem Geplauder und begann umherzustreifen. Soweit er sehen konnte, fehlte niemand.
Er hielt bei Mr. Philip Smith inne, dessen Frau woanders war.
»Woher kennen Sie Myron, Mr. Smith?«, fragte er.
Er ließ sofort wieder den Angeber heraushängen. »Auf gesellschaftlichen Anlässen für Sie Phil, Carmine. Myron ist der Chef einer großen New Yorker Bank, mit der wir einen großen Teil unserer Geschäfte abwickeln, Hardinge’s. Eine reine Handelsbank, ohne normale Kontoinhaber, wie zum Beispiel die First National.«
»Hat Myron so Dr. Davenport kennengelernt?«
»Erica, Carmine, Erica. Ja, natürlich. Als Cornucopia Legal ist sie immer in unsere Bankgeschäfte involviert.«
»Seit wann kennen sie sich?«
Smith zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Eigentlich bin ich total erstaunt, wieso Sie das nicht wissen, wo Sie doch so gut mit Myron befreundet sind. Oder ist die enge Beziehung nur eine von Myrons Übertreibungen? Er ist manchmal ein solcher Witzbold.«
»Fragen Sie ihn«, sagte Carmine leutselig, bevor er abdrehte.
Als Nächstes traf er auf Dr. Pauline Denbigh und den momentanen Dekan des Dante Colleges, Dr. Marcus Ceruski. Sie aßen gerade Hummerpasteten.
»Nicht in Trauer, Dr. Denbigh?«, fragte Carmine.
Sie schnaubte unverfroren. »Ich sehe in Schwarz aus wie im finalen Stadium von Leberzirrhose, Captain. Außerdem konnte ich es kaum erwarten, die neue Vorstandsvorsitzende von Cornucopia kennenzulernen. Was für ein Sieg für die Frauen!«
»Ja, das ist es. Besonders, weil es bei der Entscheidung ausschließlich um die Leistung ging. Warum bewerben Sie sich nicht als Dekanin des Dante? Das wäre doch genauso ein Sieg.«
»Das Chubb würde den Job eher jemandem vom Mars geben. Ich werde es am Lysistrata versuchen, wenn es fertig ist.«
»Ist es nicht seltsam, dass ein College ausschließlich für Frauen gebaut wird, wenn man reine Männer-Colleges als diskriminierend ablehnt?«
»Natürlich. Wir werden unseren Anteil männlicher Studenten haben, da bin ich sicher. Der wirkliche Sieg wird eine von Frauen dominierte Verwaltung sein. Zumindest das ist uns das Chubb schuldig«, sagte Dr. Denbigh.
»Was wäre, wenn Ihr Mann nicht ermordet worden wäre? Oder vielleicht sollte ich sagen: Was wäre passiert, wenn Ihr Mann noch am Leben gewesen wäre, zu dem Zeitpunkt, wenn das Lysistrata fertiggestellt ist?«, fragte Carmine.
»Ich hätte mich trotzdem um den Posten als Dekanin beworben. Wenn John sich geweigert hätte, mit mir zu gehen, hätte ich mich von ihm scheiden lassen. Lysistrata, da bin ich sicher, wird nicht engstirnig sein, wenn es darum geht, ob man verheiratet ist oder nicht.«
»Wie fühlen Sie sich angesichts dieses Zerfalls althergebrachter Sitten und Gebräuche, Dr. Ceruski?«
Er errötete und sah verwirrt aus. »Ähh – damit habe ich nichts zu tun, Captain.«
Carmine bedachte die beiden mit einem Lächeln und ging weiter. Der nächste Fisch, den er an der Angel hatte, waren eigentlich zwei Fische, nach Ansicht von M. M.’s astrologisch veranlagter Frau: an der Hüfte verwachsen, schwamm der eine flussaufwärts und der andere flussabwärts. Der Dekan Robert Highman mit seiner Frau Nancy. Sie war charmant und genauso alt wie der Dekan. Ihre Kinder waren schon erwachsen und bereits dem Nest entflogen, was eine ideale Voraussetzung war, um im Paracelsus College zu leben.
»Ich hoffe, Sie finden heraus, wer den armen, unglücklichen jungen Mann umgebracht hat«, sagte Mrs. Highman und nippte an einem Glas Weißwein. »Die Eltern waren bei mir zum Lunch – reizende Leute. Was kann man nur tun, um ihnen den Schmerz etwas zu erleichtern? Und was Bob angeht – er steht vollkommen neben sich. Ich weiß nicht, wie es die Runde gemacht haben kann, aber alle Eltern der Studenten wissen über die Bärenfalle Bescheid. Es kostet Bob so viel Zeit, die Leute davon zu überzeugen, dass ihre Kinder nicht gefährdet sind. Ich vermute, wir dürfen den Eltern nichts von Evans Erpressungsversuch sagen, oder?«
Wer, zum Teufel, hatte den Highmans davon erzählt? Die Pughs? »Ich fürchte nein, Mrs. Highman«, sagte Carmine freundlich. »Wenn jeder davon wüsste, würde es das Wasser trüben.«
Sie seufzte. »Ich verstehe.« Dann leuchtete ihr Gesicht auf. »Aber ich habe ein paar Informationen, die Ihnen vielleicht weiterhelfen.«
»Was denn?«, fragte er argwöhnisch.
»Ich war an diesem Nachmittag dort. Normalerweise bin ich das nicht – ich besuche einen Zeichenkurs am Taft Institute. Aber unser Lehrer war krank, und die Stunde wurde abgesagt. Ich bin relativ spät zum Mittagessen gegangen, ungefähr Viertel nach eins. Die Eingangshalle war verlassen, aber da war so ein kleiner Kerl in einer braunen Uniform, der die Stufen zu den Zweitsemestern hochging. Er fiel mir erst heute Abend wieder ein, als ich herkam und diese Frau da drüben mit dem braunen Wappenrock und der glitzernden Gobelin-Tunika darunter gesehen habe. Die mit dem riesigen Pfannkuchen-Hut. Der Bursche trug etwas auf seinem Kopf, braun und rund – das braune Tuch erinnerte mich an eine Abdeckung für Musikinstrumente. Es war deutlich größer als der Hut, aber der Hut hat mich wieder daran erinnert. Sieht sie nicht aus wie eine Vogelscheuche? Warum trägt sie einen Hut zu einem formellen Anlass? Der Bursche in Braun hatte einen Werkzeuggürtel und eine Tasche, wie Zimmerleute sie haben, weswegen ich ganz vergessen hatte, ihn zu erwähnen.«
Carmine war außer sich, aber unterdrückte diese Reaktion. Er lehnte sich etwas dichter zu Nancy Highman hinüber. »Ma’am, Sie wurden zweimal verhört. Jedes Mal haben Sie geschworen, Sie hätten niemanden gesehen – de facto haben Sie meinen Männern noch nicht einmal gesagt, dass Sie letzten Montag im College waren!«
»Oh, mein Lieber! Ich bin eine schrecklich vergessliche Person, bis mich dann wieder etwas daran erinnert, wirklich! Wie dieser Hut dort drüben. Und dann – peng. Da war dieser Handwerker in Braun mit dem Pfannkuchen auf dem Kopf.«
»War der Mann groß?«
»Nein, er war sehr klein, wie ein Kind. Dünn … und er humpelte, aber mit welchem Bein, weiß ich nicht mehr. Wenn seine Stiefel schwarze Flecken auf dem Marmorboden hinterlassen hätten, hätte ich ihn zurückgerufen und ihn zurechtgewiesen, aber sie hatten nicht diese ekligen Gummisohlen. Also bin ich in den Speisesaal gegangen und habe ihn wieder vergessen.«
»Haben Sie sein Gesicht gesehen?«
»Nein, ich habe ihn nur von hinten gesehen.«
»Sein Haar?«
»Verdeckt durch den braunen Pfannkuchen.«
»Was war mit seinen Händen? War es ein schwarzer oder ein weißer Mann?«
»Ich glaube, er hatte Arbeiterhandschuhe an.«
Himmel, der Typ hatte Nerven. Hier stehen wir, in der Annahme, der Kerl hätte sich eine Stunde ausgesucht, in der das College ganz verlassen war, und stattdessen ist er die ganze Zeit da, während im Speisesaal das Mittagessen serviert wird. Jederzeit hätte ein Student auf die Idee kommen können, hoch auf sein Zimmer zu gehen, und wäre diesem hinkenden, kleinen Mörder in die Arme gelaufen. Wie viele Überraschungen hielt Myrons Party noch für ihn bereit? Und, fragte sich Carmine, wer ist die Frau mit dem braunen Pfannkuchen-Hut?
Gus Purvey, Wallace Grierson und Fred Collins standen im Kreis beieinander, doch Carmine hatte keine Probleme, die Formation aufzulösen. Inzwischen hatte er Desdemona wieder bei sich. Purvey war allein gekommen, und Collins wurde von seiner zwanzigjährigen Frau, Candy, begleitet. Griersons Frau Margaret, eine weitere hochgewachsene Dame, wirkte unendlich gelangweilt, als die Delmonicos sich zu ihnen gesellten, und beschlagnahmte Desdemona sogleich. Die beiden stellten sich ein wenig abseits und begannen eine angeregte Unterhaltung.
»Ihre Frau hat wirklich Klasse«, sagte Grierson zu Carmine. »War sie – oder ist sie – vielleicht auch ein Detective?«
»Nein, sie war Krankenhaus-Managerin«, sagte Carmine. »Krankenhäuser werden heutzutage wie Firmen geführt.«
»Sehr bedauerlich. Gesundheit ist keine Handelsware, es ist ein Zustand.«
»Wir sollten sie in den Vorstand des Chubb-Holloman Hospitals befördern.«
»Meinetwegen gern.«
»Ich beneide jede Frau mit einer Karriere«, sagte Candy mit einem Seufzer.
»Dann machen Sie doch auch eine«, schlug Grierson freundlich vor.
»Du hast deine Karriere«, blaffte Collins. »Hausfrau und Mutter.«
Purvey lachte. »Du bist nur sauer, weil du auf den letzten Metern doch noch geschlagen worden bist, von einer alten grauen Mähre«, sagte er. »Grau steht unserer Erica gut. Aber, Kopf hoch, Fred. Vielleicht ist das Rennen ja noch nicht vorbei.«
»Für mich ist es das. Und für dich auch. Und für Phil. Natürlich nicht für unseren guten alten Wallace hier. Er wird überleben«, sagte Collins.
»Sie meinen, Sie werden sich alle draußen im eiskalten Schnee wiederfinden?«, meinte Carmine.
»Ohne Frage«, antwortete Purvey.
»Ich vermute, es war ein ziemlicher Schock«, kommentierte Carmine.
»Was?«, fragte Collins.
»Das Testament.«
»Es war eine Beleidigung! Widerlich«, zischte Collins.
»Hatte irgendjemand von Ihnen das erwartet?«
Grierson beantwortete die Frage. »Noch nicht einmal Phil Smith, und er stand Desmond am nächsten. Ich würde behaupten, es wäre Urkundenfälschung, bis herauskam, dass Tombs, Hillyard, Spender und Hunter es entworfen, Desmonds Unterschrift bezeugt und es dann in ihren Tresor gelegt haben. Es kam in einem hochgesicherten Aktenkoffer, an das Handgelenk des Kuriers gekettet, nach Holloman, und Bernard Spencer hat es in unserer Anwesenheit geöffnet. Es ist mit Sicherheit echt. Ich hatte gehofft, irgendwo würde stehen, warum sich Desmond für Erica entschieden hat, aber das war nicht der Fall. Es gibt keine einzige persönliche Bemerkung.«
»Glauben Sie nicht, dass Dr. Davenport eine gute Chefin abgeben wird?«
»Ich denke, sie wird Cornucopia zugrunde richten. Deswegen will ich ihr eine Vereinbarung abringen, dass ich das Vorkaufsrecht für Dormus erhalte, wenn der Crash eintritt«, sagte Grierson.
»Wie viele von Ihnen wissen, dass Dr. Davenport Mr. Skeps’ Geliebte war?«, fragte Carmine.
Das verblüffte sie; anders war die Reaktion nicht zu deuten. Keiner von ihnen hatte es gewusst. Und hier stehe ich, Carmine der Störenfried, und streue Salz in die Wunde. »Ach, kommen Sie!«, sagte er spöttisch. »Das müssen Sie sich doch spätestens in dem Moment gefragt haben, als Sie den Inhalt des Testaments gehört haben.«
»Ich zumindest habe ehrlich geglaubt, Desmond hätte sie wegen ihrer Fähigkeiten ausgewählt«, sagte Grierson. »Und eigentlich verstehe ich auch gar nicht, warum die Tatsache, dass sie eine Beziehung hatten, daran etwas ändert. Desmond war niemand, der von Emotionen beeinflusst wurde. Es war ein Fehler, sie für so fähig zu halten, aber dieses Urteil hat er nicht gefällt, weil sie seine Geliebte gewesen ist.«
»Danke, Mr. Grierson. In der Tat hat sich Mr. Skeps schon vor vier Monaten von Dr. Davenport getrennt und hat sein Testament erst zwei Monate später verfasst. Was für Gefühle er auch immer hatte, sie haben seine Entscheidung eindeutig nicht beeinflusst, genau wie Sie behaupten. Was mich fasziniert, ist Ihre Überzeugung, entgegen der landläufigen Meinung, dass Dr. Davenport für den Posten nicht geeignet ist. Gibt es dafür einen Grund?«
»Mein Bauchgefühl«, sagte Wallace Grierson. »Erica ist eine Hochstaplerin. Sie sind ein gescheiter Mann, Captain Delmonico. Es gibt immer ein Kind an der Spitze der Klasse mit nahezu perfekten Noten und einer brillanten Zukunft. Aber es gibt auch immer noch ein anderes Kind, das zu den Besten gehört, aber es nie bis an die Spitze schafft, weil ihre – wir benutzen mal das Femininum – Arbeiten zu individuell und zu unorthodox sind. Und wissen Sie was? Beim Klassentreffen nach zwanzig Jahren ist sie diejenige mit der brillanten Karriere. Aber Erica ist das perfekte Kind mit den perfekten Noten. Doch sie war noch nie etwas anderes als die Geschäftsführerin von Legal und hat deswegen einen Tunnelblick und einen Taschenrechner als Kopf.« Er runzelte die Stirn. »Mein Bauchgefühl sagt mir auch, dass sie nicht mit dem Herzen dabei ist, ein Firmenimperium zu leiten. Sie sehnt sich nach etwas anderem, aber wonach, weiß ich nicht.«
»Ein Bauchgefühl, Mr. Grierson, ist eine wunderbare Sache«, sagte Carmine ernst und ging weiter, ohne Desdemona mitzunehmen.
Partys, dachte er, können bessere Informationsquellen sein als Polizeiverhöre. Wenn Myron diese nicht gegeben hätte, hätte die Frau mit dem braunen Pfannkuchen-Hut nicht Mrs. Highmans Erinnerung wachgerufen, und der alte Cornucopia-Vorstand hätte nicht einen über den Durst getrunken.
Und die Gastgeberin macht langsam schlapp, stellte er fest, als er in ihre Richtung wanderte. Natürlich macht sie schlapp, weil sie eben keine Partymaus ist. Wohingegen Myron, Westküste bis aufs Blut, Partys über alle Maßen liebt – nein, drück dich anders aus, Carmine. Er muss ständig von Glamour und Betriebsamkeit umgeben sein, von wunderhübschen Leuten, die um ihn herum Geschäfte abschließen. Partys sind nur ein Teil des Ganzen. Genauso wichtig sind Mittagessen in der Polo Lounge und Abendessen in dem Restaurant. Wenn Myron uns besucht, tut er Buße. Nein, Juden tun keine Buße. Er ist wie einer dieser Typen, die mit einem Bündel Zweige gepeitscht werden, bevor sie sich unter die kalte Dusche stellen oder ins Dampfbad gehen. Wir sind Myrons Bündel Zweige, damit er die Köstlichkeiten seiner eigenen Welt besser genießen kann. Warum mag ich ihn so sehr? Weil er ein wirklicher Gentleman ist, Sophias wirklicher Vater, die Freundlichkeit und Großzügigkeit in Person und ein rundum großartiger Kerl. Was mich umbringt, ist mein Bauchgefühl, dass Myron eine sehr ungemütliche Fahrt durch den Tunnel der Liebe bevorsteht. Erst Sandra, dann Erica. Er greift immer daneben.
»Haben Sie genug?«, fragte er Erica, als er bei ihr ankam.
Sie blickte ihn überrascht an. »Sieht man das?«
»Nicht wirklich. Aber Sie haben nicht die Gabe des Smalltalks und sind auch nicht besonders motiviert, sie zu erlernen.«
»Wollen Sie andeuten, dass ich versuchen sollte, mich zu motivieren?«
»Wenn Sie es mit Myron ernst meinen, dann ja. Er lebt in einer Welt des Smalltalks, des Geplänkels und der Kungelei. Wo haben Sie sich kennengelernt?«
»In New York, bei einer Vorstandssitzung von Hardinge’s, der Bank. Ich fand Myron auf Anhieb unglaublich attraktiv.«
»Sie und die halbe Frauenwelt. Er hat Ihnen zweifellos erzählt, dass er mit meiner Exfrau verheiratet ist?«
»Ja. Ich gestehe, ich kann mir kaum vorstellen, wie Sie und er jemals Augen für dieselbe Frau gehabt haben können.«
»Oh, das kommt daher, dass Sie nicht wissen, wie Sandra mit zwanzig war. Ihnen sehr ähnlich, allerdings ohne Ihren Verstand. Aber sie hatte etwas an sich, durch das sie sehr verloren wirkte und jedem Mann das Gefühl gab, sie schützen zu wollen. Sophia ist ihrer Mutter in dieser Hinsicht sehr ähnlich, aber ihre Intelligenz kaschiert das.«
»Sehr gut. Ich verabscheue dumme Frauen«, sagte Erica mit scharfer Zunge.
»Dummheit ist doch aber sicher kein Kriterium, jemanden nicht zu mögen.«
»Für mich schon.«
»Also sind Sie froh, dass Sophia intelligent ist.«
»Ja. Sie hasst ihr Gesicht nicht, aber sie lässt es auch nicht über ihr Schicksal bestimmen.«
»Sie sehen Sophias Schönheit mit ihren eigenen Augen – als ein Werkzeug, wenn Sie mit dem Rücken zur Wand stehen. Aber Sophia ist ganz anders. Sie sieht ihr Gesicht als einen Teil des Ganzen. Sophia denkt nicht in Schubladen.«
»Sie kriegen meine Worte immer in den falschen Hals«, blaffte Erica Davenport, drehte sich um und entdeckte zwei neue Gäste. »Philomena, Tony!«
Carmine zog sich auf einen guten Beobachtungsposten zurück und schaute zu, wie Erica Philomena Skeps und Anthony Bera zu Myron führte. Myron, immer wieder erfreut, neue Gesichter zu sehen, begrüßte sie mit dem ganzen Elan eines Gastgebers, der seine ersten Gäste willkommen heißt anstatt seine letzten.
Philomena, entschied Carmine, war wahrscheinlich fünf Jahre jünger als Erica und stellte die Eiskönigin ganz klar in den Schatten. Genau wie Delia trug Philomena ein taillenbetontes Kleid mit pinkfarbenen Rüschen, aber da hörten die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Ungeachtet dessen, was sie über Skeps’ Knauserigkeit erzählt hatte, trug sie ein Set erstaunlicher, roséfarbener Diamanten. Sie und Bera waren das perfekte Paar.
Myron zog Bera fort, um ihm den Bürgermeister vorzustellen, während Erica und Philomena begonnen hatten, sich zu unterhalten. Sie schienen sich freundlich gesinnt zu sein, und das Lächeln der beiden wirkte echt, aber Carmine hatte trotzdem das Gefühl, dass der Inhalt ihrer Worte alles andere war als seicht und freundlich. Ein Glas Champagner wurde abgelehnt, ein chilenischer Rotwein jedoch angenommen. Erica flatterte um Desmond Skeps’ Exfrau herum wie eine nervöse Braut um eine grimmige Schwiegermutter. Hummer? Nein? Hühnchenpastete? Nein? Diese wundervolle Bauernterrine? Oh, gut!
Schließlich löste sich Bera aus Myrons Umklammerung und rettete Philomena, begleitete sie zu einem Stuhl, fand einen Beistelltisch, reichte ihr das Glas Rotwein und stellte den Teller auf den Tisch. Nachdem sie sich gesetzt hatte, nahm er hinter ihr Position ein und folgte Erica Davenport mit seinen Blicken, wo immer sie auch hinging. Phil Smith kam herüber, gemeinsam mit seiner Frau, die Philomena mit der ganzen Pracht ihres braunen Pfannkuchen-Hutes begrüßte.
Smith hielt sich nur kurz bei Philomena auf. Seine Frau, die arme Seele, war nicht glücklich darüber, dass sie einfach so weggezerrt wurde und versuchte zu bleiben, aber Smith scheuchte sie fort, in der Angst, sie könne irgendetwas Unpassendes von sich geben. Sie wurde durch Delia gerettet, die in ihr wegen ihrer Kleidung eine Seelenverwandte erkannte und sie dem Griff ihres Ehemannes entwand. Gemeinsam zogen die beiden am schlechtesten gekleideten Frauen von dannen. Gus Purves und Fred Collins machten als Nächstes ihre Aufwartung, Collins ohne Candy. Anthony Bera begrüßte sie steif, verfiel dann in Schweigen und hörte Philomena zu. Als Collins, inzwischen betrunken genug, um zu torkeln, sich begann aufzuregen, glitt Bera schnell vor Philomenas Stuhl und bat Purvey offensichtlich, ihn wegzuschaffen. Purvey gehorchte, aber keine Minute später befahl Philomena Bera, sie in Ruhe zu lassen. Er protestierte, doch sie hob ihr Kinn in einer so gebieterischen Geste, dass Carmine ganz fasziniert war. Bera biss sich auf die Lippen, stolzierte davon und ließ sie allein auf dem Stuhl sitzen. Wen wollte sie sehen?
Dann kam Myron zu ihr herüber, womit der exzellente Gastgeber die Pläne der Lady ruinierte. Wie sie ihn genau los wurde, wusste der beobachtende Carmine nicht, aber sie wurde es auf eine so charmante Weise, dass er ihr ein Lächeln schenkte, als er sich wieder entfernte.
Eine paar weitere Leute näherten sich ihr und wurden mit demselben Charme entlassen wie Myron: Dr. Pauline Denbigh (interessant) sowie Mawson und Angela MacIntosh. Carmine rückte dichter heran und wünschte, dass sich der Raum nicht langsam leeren würde; er wäre sonst nicht in der Lage, mitzuhören, was Philomena Skeps sagte.
Und schließlich kam die Erwünschte; die Körpersprache war eindeutig. Erica Davenport.
Ein Kellner ging vorbei, Philomena hielt ihn an, und der kleine Tisch wurde direkt geleert. Erica setzte sich darauf und wandte sich Skeps’ Exfrau zu, die sich auch seitwärts gewandt hatte. Frustriert starrte Carmine auf ihre Profile, während sie sich unterhielten; er konnte Lippen lesen, wenn er den Sprechenden von vorne sah, aber im Profil war das unmöglich.
Ihre Unterhaltung wirkte so entschieden und abgeschottet, dass die Leute, die sich ihnen näherten, wieder weggingen. Wahrscheinlich hatte sich auch die Neuigkeit von Ericas Vormundschaft auf der Party herumgesprochen, und niemand wollte diesen Pakt zerstören. Es sah in der Tat nach Verhandlungen aus und war die Lösung des Rätsels, warum Philomena Skeps überhaupt gekommen war. Neutraler Boden. Wo sonst konnte sie ihren Fall vorbringen, ohne unter dem Schatten von Cornucopia zu stehen? In Orleans? Erica wäre niemals dorthin gekommen.
Anthony Bera beobachtete die beiden mit schmerzlicher Intensität und beantwortete abwesend die Fragen, die Wally Grierson ihm stellte. Dann kamen Phil Smith und der braune Pfannkuchen dazu, die Bera die Sicht versperrten, und er gab auf.
Die Vertragsverhandlungen dauerten sicherlich eine halbe Stunde. Am Ende wirkte Erica Davenport müde und Philemona Skeps schöner denn je. Erica stand auf, gab Philomena einen Wangenkuss und ging hinüber zu Myron.
»Ich bin total erledigt«, sagte Desdemona und streifte ihre Sandalen ab, sowie sie im Wagen saßen.
»Ich auch, meine wunderschöne Frau. Du hast heute Abend phantastisch ausgesehen. Deine Figur kann mit jedem Hollywood-Star mithalten.«
»Ist das nicht komisch? Frauen sagen immer, Babys ruinieren einem die Figur, aber Julian hat meiner nur gutgetan.«
»Wie, glaubst du, fühlt sich Myron gerade?«
Sie runzelte die Stirn. »Gute Frage. Er ist total verliebt – hast du das Diamantarmband bemerkt? –, aber es muss ihm langsam dämmern, dass Erica Partys nicht besonders reizvoll findet. Sandra hätte besser zu ihm gepasst.«
»Ich habe herausgefunden, dass er die Scheidung noch gar nicht eingereicht hat.«
Desdemona setzte sich auf. »Oho, er hat also seine letzte Bastion noch nicht aufgegeben.« Sie glitt über den breiten Sitz zu ihm herüber, kuschelte sich an ihn und fragte: »Hast du die Frau mit diesem schrecklichen braunen Hut gesehen?«