Kapitel vier

Carmine fuhr zurück ins Präsidium und zu einem Schreibtisch, auf dem sich die Akten türmten, setzte sich und dankte dem Himmel für seine Sekretärin, Delia Carstairs, die zufällig auch Commissioner John Silvestris Nichte war. Delia war ein Kleinod, das er zusammen mit seiner Ernennung zum Captain geerbt hatte. Einfache Lieutenants hatten keine Sekretärin.

Delia kam aus ihrem winzigen Büro zu ihm, winzig nur deshalb, weil alle vier Wände von monströsen Aktenschränken eingenommen wurden.

»Es wurde langsam Zeit«, sagte sie und verteilte weitere Papiere auf die verschiedenen Stapel.

Sie war dreißig Jahre alt, klein und auf eine Art und Weise gekleidet, die sie selbst schick fand, Carmine dagegen eher fürchterlich. Heute trug sie ein Kostüm aus einem bunten Stoff, dessen Rock ihr nur knapp bis zu den Knien reichte. Zwei gänzlich unförmige Beine, die man sonst nur an großen Klavieren sah, trugen einen Körper wie ein Tönnchen und viel zu viel Modeschmuck. Auf ihrem Gesicht lag zentimeterdick Make-up, ihr wuscheliges Haar hatte einen unnatürlich rotblonden Ton, und ihre hellbraunen Augen waren von so viel Farbe umgeben, dass selbst Cleopatra neidisch geworden wäre. Delia war als einziger Spross einer Verbindung zwischen Commissioner Silvestris Schwester und einem Oxford-Professor in England geboren und aufgewachsen.

Beide Eltern verzweifelten an ihr. Doch Delia brauchte keine wie auch immer geartete elterliche Führung; sie wusste ganz genau, was sie tun und wo sie das tun würde. Als Jahrgangsbeste absolvierte sie ein Sekretärinnen-Kolleg in London und stieg, sowie sie ihre Papiere hatte, ins nächste Flugzeug nach New York. Dort arbeitete sie zunächst im Sekretärinnenpool des NYPD-Präsidiums und wurde wenig später die Privatsekretärin eines Deputy Commissioners. Leider standen Sozialfälle und gesellschaftliche Außenseiter im Mittelpunkt seines Aufgabenbereichs, und Delia wurde schnell klar, dass sie überqualifiziert war für die Abteilung, zu der sie eigentlich wollte – zur Mordkommission. Das NYPD war einfach zu groß, und sie war zu gut in ihrem Job.

Also setzte sie sich in den Zug nach Holloman und bat Onkel John um einen Job. Da das Telefon am Vortag ihretwegen ununterbrochen geklingelt hatte, ignorierte Silvestri sein eigenes Diktum bezüglich Vetternwirtschaft und zog sie sich an Land. Nicht für sich selbst, sondern für Danny Marciano, dessen Verwaltungsaufgaben wesentlich umfangreicher waren. Was Delia nicht über die Polizeiarbeit wusste, hätte locker auf einem Stecknadelkopf Platz gefunden, aber Onkel John kam gar nicht in den Sinn, dass seine Nichte sich eigentlich nach Mord und Totschlag sehnte, bis Carmine zum Captain befördert worden war. Bitte, bettelte Delia, dürfte sie wohl für Captain Delmonico arbeiten, den Spezialisten für Mord und Totschlag?

»Das hier bedeutet aber stundenlanges Lesen«, sagte Carmine zu ihr.

»Ich weiß«, sagte Delia in ihrem geschliffenen Oxford-Englisch, »aber es ist alles so schrecklich spannend. Zwölf Morde an einem einzigen Tag!«

»Streu nicht noch Salz in die Wunde, du schreckliches Frauenzimmer!«

Sie lachte nur, tippelte auf ihren sehr hohen Hacken hinaus und ließ ihren Chef mit den Papierbergen auf seinem Schreibtisch allein.

Wo anfangen? Am besten mit den Larry Pisano-Fällen, den drei Schüssen und der Prostituierten.

Drei verschiedene Handfeuerwaffen, alle gedämpft. Warum waren die Morde auf diese Weise durchgeführt worden? Was war mit den Opfern, dass den Einsatz drei verschiedener Waffen notwendig machte? Die Antworten führten alle ins Nichts. Schalldämpfer deuteten auf professionelle Killer hin, keine Schießerei, wie sie im Hollow oder der Argyle Avenue üblich war. Und das zeugte von viel Geld, um drei harmlose Schwarze zu erschießen … Was um alles in der Welt konnten sie gewusst haben, das so einen Aufwand rechtfertigte? Pisano und sein Team hatten beharrlich alles durchwühlt, ohne Ergebnis. Die Frau war schon älter und friedfertig, die beiden jungen Männer waren feine junge Menschen. Auch Blutanalysen befanden sich unter den Unterlagen, die jedoch nichts preisgaben. Die Opfer schienen Leute zu sein, die zufällig ausgewählt und getötet worden waren.

Okay, dachte Carmine und schob die Schießerei beiseite, ich nehme einfach mal an, es handelt sich um einen Killer von außerhalb, und werde Larry und seine Jungs auf ein neues Feld ansetzen, sowie mir klar ist, wo intensive Ermittlungen am fruchtbarsten sind.

Als Nächstes nahm er sich Larrys letzten Fall vor: die Prostituierte. Jeder kannte Dee-Dee Hall, nicht nur, weil sie ständig in Schwierigkeiten gewesen war. Im Gegenteil. Obwohl sie auf den Strich ging, hatte sie ihren festen Zuhälter und ging nie fremd. Ihr Lude hieß Marty Fane und war einer der Gründe, dass sie nicht in Schwierigkeiten geriet. Er war für einen Zuhälter recht locker und schätzte Dee-Dee zu sehr, um sie schlecht zu behandeln. Obwohl sie inzwischen zweiunddreißig Jahre alt war, hatte sie ihre achtzehn Jahre auf dem Strich besser überstanden als die meisten und ihr umwerfendes Aussehen behalten. Es war schade, dachte Carmine, dass sie nicht ein paar Jahre jünger war. Dann wäre sie eher ein Callgirl als eine Nutte geworden, aber zu dem Zeitpunkt, als Callgirls üblich wurden, hatte Dee-Dee bereits ihren Zenit überschritten. Ihre Haare waren kupferfarben, sie hatte grüne Augen, und ihre Haut besaß die Farbe von Milchkaffee. All das verschaffte ihr zwar viele Freier, war aber nicht der eigentliche Grund ihrer Beliebtheit. Sie war beliebt, weil sie einen super Blowjob liefern konnte. Ihr Zuhälter verwöhnte sie, indem er ihre Heroinsucht finanzierte und dafür sorgte, dass ihr Zimmer mit Bad und Küchenecke stets einen Putz- und Wäscheservice hatte.

Larry zufolge, der sich Dee-Dees Fall persönlich angenommen hatte, war Marty Fane wegen ihres Todes am Boden zerstört. Egal, wie intensiv Larry die Gestalten dieser zwielichtigen Welt, in der Dee-Dee und Marty lebten, verhörte, fand er keine Hinweise darauf, dass sich der Zuhälter und die Nutte gestritten hätten. Die beiden waren gesehen worden, wie sie zusammen kicherten, als sie gegen zwei Uhr gemeinsam eine Pause machten. Was Marty zu der letzten Person machte, die sie lebend gesehen hatte. Dee Dees Revier lag hinter der Holloman City Hall, wo die Nachbarschaft weitaus weniger schäbig war als an der Vorderfront. Es war eine Gegend mit Parkplätzen, Werkstätten, Lagerhäusern und einfachen Büros.

Verbittert über den Mord und tieftraurig, war Marty Fane schnell dabei, mit den Namen ihrer regulären Freier herauszurücken, sofern er sie kannte, was zu einigen sehr peinlichen Befragungen von Männern geführt hatte, die zu dumm waren, die Verbindung zu verleugnen. Die jungen Chubb-Studenten fanden das eher spannend, bevor es ihnen dämmerte, dass sie Verdächtige in einem Mordfall waren, woraufhin die mit einflussreichen Daddys plötzlich verlangten, ihren Rechtsanwalt zu sehen, und nichts mehr sagten. Als sie die Rechtsanwälte endlich davon überzeugt hatten, dass ihre Klienten eher Informationsquellen denn Verdächtige waren, kooperierten sie, allerdings ohne brauchbares Resultat. Dee-Dees Tod blieb ein Rätsel.

Null, sagte Carmine zu sich selbst und legte die Prostituierte zu den drei Erschossenen. Wer auch immer es getan hatte, war so kalt wie Dr. Pauline Denbigh. Der Killer hatte gewusst, wo er die unglücksseligen Opfer fand. Vielleicht jemand, dem Dee-Dee in der Vergangenheit einen ihrer berühmten Blowjobs verabreicht hatte?

Cathy Cartwright, ermordet, während ihr behindertes Kind noch lebte. Wie Desmond Skeps, nur ganz anders. Das mit Medikamenten versetzte Glas Bourbon – was für eine traurige Vorstellung, dass die arme Frau ins Bett gehen musste, um sich einen anständigen Drink zu genehmigen. Als sie die Auswirkungen des Chloralhydrats spürte, wird sie sich wahrscheinlich nicht dagegen gewehrt haben, in Anbetracht dessen, dass sie hundemüde war und sich nach ein paar Stunden friedlichen Schlafes gesehnt hat, bis Jimmy sie wieder wecken würde, um gewickelt zu werden. Patrick nahm an, das Pentobarbital sei direkt injiziert worden; sie war vielleicht das erste Opfer, das an diesem Abend starb, sehr schnell und schmerzlos. Die lebenswichtigen Zentren in ihrem Hirnstamm hatten sanft ihre Tätigkeit eingestellt, und sie war fortgeglitten. Warum hatte man mit ihr Mitleid gehabt?

 

Carmine, Carmine! Er setzte sich auf und spürte, wie ihm der Schweiß über den Nacken lief. Du denkst so, als gäbe es nur einen Mörder. Aber das kann nicht sein. Zu viele Morde an zu vielen Orten, ungefähr um dieselbe Zeit. Außer, einige der Morde waren Auftragsjobs. Aber das erforderte riesige Summen Geld und ein Superhirn. Schau dir alles unvoreingenommen an, und du wirst sehen, wie falsch du liegst … So ungefähr der einzige Grund für eine solche Mordorgie ist Bosheit, was lächerlich ist. Absolut lächerlich. Denk an die Risiken.

Gib’s zu, Carmine, der Gedanke kam dir erst, nachdem du erfahren hast, dass Desmond Skeps unter den Toten ist. Wie brillant, die Bedeutung eines solchen Mordes unter einer Lawine anderer Morde zu verstecken. Die Idee hätte wasserdicht sein können, wenn es weniger Morde gewesen wären. Aber zehn andere? Jimmy Cartwright war eine falsche Spur, doch der Rest wirkte wie geplant. Vier andere Morde wären ideal gewesen und plausibel. Zehn andere? Wahnsinn.

Außer … außer, Carmine, alle diese Menschen mussten sterben. Das heißt, zwischen dem neunundzwanzigsten März und dem dritten April passierte etwas, das diese eine Lösung erforderte. Nur, was? Oh, Carmine, verkompliziere deine Aufgabe doch nicht so irrsinnig. Und wage es ja nicht, jemandem gegenüber deine Vermutungen zu äußern, noch nicht einmal gegenüber John Silvestri.

Carmine griff sich Coreys Akte über Bianca Tolano.

Bianca, zweiundzwanzig Jahre alt, war vor zehn Monaten aus Pennsylvania nach Holloman gekommen. Als Wirtschafts-Absolventin der Penn State wollte sie an der Harvard Business School ihren MBA machen, hatte Corey der Korrespondenz und den andern Papieren in ihrem Apartment entnommen. Aber da es ihr an Geld fehlte, hatte sie einen Job als Assistentin der Geschäftsleitung bei Carrington Machine Parts angenommen, eine der vielen Cornucopia-Firmen, die verstreut um Holloman herum lagen. Die Firma zahlte gut, und Bianca war erfolgreich; ihre Ersparnisse auf ihrem Konto bei der Holloman National Bank wuchsen schnell. Das oberste Geschoss eines Dreifamilien-Hauses in der Sycamore Street lag weniger als einen Block von dem alten Apartment seiner Frau entfernt, stellte Carmine mit einem Schaudern fest.

Biancas Vermieter hatte die offene Haustür bemerkt, gerufen und war dann, als er keine Antwort erhielt, hineingegangen, wo er sie nackt auf dem Wohnzimmerfußboden fand. Patricks Aussagen zufolge war sie gefoltert worden; sie war mit einer Zigarette verbrannt und mit einer Strumpfhose stranguliert worden, hatte Schnitte von einer Schere, war grausam mit einer Pinzette malträtiert und dann mit einer zerbrochenen Glasflasche, die ihr in die Vagina gerammt wurde, umgebracht worden.

Die Nachforschungen bei ihren Kollegen hatten ergeben, dass Bianca zwar eher für sich blieb, aber durchaus nicht schüchtern war. Ihre Beziehung zu ihrem Chef, James Dorley, war auf eine professionelle Art angenehm und freundlich. Sie war attraktiv, erhielt Einladungen ins Kino oder zum Essen und hatte einige davon angenommen, ohne romantische Konsequenzen. Die Männer beeilten sich zu beteuern, dass Bianca sehr distanziert gewesen sei und ihr Verhalten nie zu irgendetwas ermutigt habe. Ihr Vermieter, ein neugieriger alter Mann, sagte, er schwöre auf einen Stapel Bibeln, dass sie nie irgendwelche männlichen Besucher gehabt hätte. Ruhig, das war Miss Tolano. Auch von den Frauen, mit denen sie zusammenarbeitete, bekam Corey keinerlei Hinweise. Bianca nahm an dem einen oder anderen Kaffeeklatsch teil, trug ihren Teil zum Gekicher bei, hinterließ aber bei den anderen Mädchen den Eindruck, dass sich nichts zwischen sie und diesen Magister der Betriebswirtschaftslehre von Harvard schieben konnte. War sie je ausgegangen?, hatte Corey gefragt. Manchmal, hatten die Frauen geantwortet, für gewöhnlich, weil sie von Mr. Dorley Karten fürs Theater oder andere Veranstaltungen erhielt, zu denen er selbst aus Zeitgründen nicht gehen konnte.

Eine weitere dicke fette Null, dachte Carmine und legte Bianca Tolano auf den »Gesichtet«-Stapel. Falls Corey hoffte, dass Bianca Tolano ihm für das Auswahlkomitee Glanz und Gloria verlieh, so war das ein Trugschluss. Sein Fall war so unergiebig und schmucklos wie der von Abe.

Abe hatte bei Beatrice Egmont sein Bestes gegeben: kein Stein, der nicht umgedreht worden war, von der Mülltonne über die Söhne bis hin zu den Nachbarn. Wohin man auch schaute: Jeder, der Beatrice Egmont gekannt hatte, mochte sie. Sie mischte sich nicht in die Angelegenheiten anderer Leute ein, aber sie war immer zur Hand mit einer passenden Geste, einem Vorschlag oder einem Geschenk. Und sie lebte auch nicht das Leben einer Einsiedlerin, nur weil sie seit vielen Jahren Witwe war. Sie wurde zu allen lokalen Feiern eingeladen, liebte es, mit dem Bus nach Manhattan zu fahren, wo sie zu Abend aß und sich eine Show ansah. Sie kaufte Pfadfinder-Kekse und Tombola-Lose und fehlte nie auf der Gästeliste einer Wohltätigkeitsveranstaltung. Sie war gut bekannt mit dem Bürgermeister, was zu Anfragen seitens des Rathauses über ihren Mord geführt hatte. Soweit Abe sagen konnte, fehlte nichts aus ihrem Haus; ihre Ming-Vasen und ihr flämischer Gobelin waren unberührt, ihre Baume & Mercier immer noch an ihrem Handgelenk, als man sie fand. Sie hatte vor dem Schlafengehen keine Medikamente bekommen, aber ihr Herz hatte zu schnell aufgegeben, um sich noch wehren zu können. »Ich finde nicht den geringsten Grund für ihren Tod«, schrieb Abe.

Adieu, Beatrice Egmont, du armes, altes Ding. Carmine legte ihre Akte auf den wachsenden Stapel. Nun blieben nur noch seine eigenen Fälle: Dean Denbigh, Peter Norton, Desmond Skeps, Cathy Cartwright und Evan Pugh.

Unzweifelhaft hatte Dean Denbigh mit dem Feuer gespielt, aber seine Frau hatte recht: warum ein subtiler Tod wie Zyanid in seinem Arbeitszimmer? Er hätte in der Nähe von Joeys Pancake Diner erschossen, erstochen oder zu Tode geprügelt werden müssen. War das Diner eine Verbindung zwischen ihm und Gerald Cartwright, dem Besitzer? Patrick zufolge war das Paket, in dem der Teebeutel steckte, nur einmal aufgerissen worden, und zwar von dem Dekan. Ein starkes Mikroskop hatte keine Stiche offenbart, mit denen der Teebeutel wieder zugenäht worden wäre. Der Diebstahl der zwei Teebeutel hatte den Dean dazu gezwungen, den letzten in seiner Dose zu benutzen; er war ausersehen gewesen, an diesem Tag zu sterben und an keinem anderen, wodurch sich seine Vergiftung von den üblichen Vergiftungsfällen abhob. Einige Mörder nahmen eine gewisse Zufälligkeit hin, aber nicht dieser Mörder. Sterben sollst du heute, am dritten Tage des April und an keinem anderen Tage …, aber warum Zyanid? Um absolut sicherzugehen, dass der Dekan des Dante Colleges nicht überleben würde.

Peter Charles Norton war anders. Obwohl Carmine es nur ein Mal geschafft hatte, das Haus der Nortons zu besuchen, hatte er die Idee, seine Frau zu verdächtigen, verworfen. Er hatte sie in Ruhe gelassen, weil sie als einzige erwachsene Zeugin unglaublich hysterisch gewesen war. Morgen würde er Abe oder Corey wieder hinschicken und erwarten, dass einige Fragen dann beantwortet werden würden. Trotzdem hatte er schon seine Schlussfolgerungen gezogen: Erstens, dass Peter Norton der Einzige war, der Orangensaft trank, denn im Kühlschrank stand eine Flasche Cranberry-Saft, der darauf hindeutete, dass die Frau und die Kinder ihn tranken. Zweitens: Sie presste nur ein Glas aus, für einen Mann, der ihn hinunterstürzte und seinen Toast im Gehen verschlang. Carmine wettete insgeheim, dass er bei Johns Pancake Diner ein zweites Frühstück eingenommen hatte. Der Toast und der Saft waren Beruhigungspillen für Mrs. Norton.

Am dritten April war er gestorben, aber erst nach einer langen, entsetzlichen Qual. Das bedeutete, der Killer beabsichtigte, Norton mit maximalem visuellen Effekt sterben zu lassen. Wen hatte er bestraft, den Mann oder die Frau? Das hing davon ab, wie schnell Norton in seinem Todeskampf das Bewusstsein verloren hatte. Es gab keine Spuren irgendwelcher Substanzen in seinem Blut, obwohl sein Blutzucker signifikant erhöht war und seine Arterien bereits erste Anzeichen einer Hamburger-und-Fritten-Ernährung trugen, wie ein Polizist bei seiner Befragung der Nachbarschaft herausfand. Patsy war zurückgerast und hatte den Zucker in einer Schale und einer großen Dose getestet, da das Blut Hinweise darauf enthielt, dass Mrs. Norton den Saft süßte, und was, wenn die Kinder ihn auf ihre Cornflakes streuten? Aber es fand sich keinerlei Gift.

Delia hatte Nortons Unterlagen Kontoauszüge beigefügt – sie war ein Juwel. Als Manager der Fourth National Bank hatte Norton eindeutig keine Geldprobleme. Er lebte innerhalb seiner finanziellen Möglichkeiten und hatte während des letzten Jahres keine größeren Summen abgehoben. Seine Familie in Ohio war wohlhabend, während Mrs. Norton Kind einer Arbeiterfamilie aus Waterbury war.

Carmine warf die Akte beiseite und starrte mit einem Stirnrunzeln auf die von Evan Pugh. Wer war Quasselstrippe? Und was hatte solche bizarre Mordmethode provoziert? Eine Bärenfalle! Keine dieser Dinger, die dafür gemacht waren, den Bären an einem Ort zu halten, bis man sich das Vergnügen leistete, ihn zu schießen. Dies war eine Art Menschenfalle, groß genug, um Bären mit Sicherheit verbluten zu lassen.

Evan Pughs Eltern waren auf ihrem Weg aus Florida, wo sie in einer dieser großen Villen an einem der künstlichen Kanäle lebten. Nachdem er im Elektronik-Einzelhandel genug verdient hatte, war sein Vater in Rente gegangen, um das Leben an einem Ort zu genießen, an dem es nie wirklich kalt wurde. Evan war ihr einziges Kind, wodurch die polizeilichen Untersuchungen deutlich unbequemer wurden; die Pughs brachten ihren Anwalt mit.

Blieb nur noch ein Verbrechen, dessen Tatort Carmine aus Zeitgründen noch nicht aufgesucht hatte. Doch er wusste, es bestand keine Eile. Desmond Skeps’ Penthouse war versiegelt, sein Privatfahrstuhl verschlossen, die beiden Feuerleitern verbarrikadiert und mit einem Schloss versehen. Abe hatte keine Zeit damit verschwendet, dorthin zu gehen, sondern hatte sich in Skeps’ Büro die Informationen über die Untergebenen und Bekannten des Großindustriellen zusammengesammelt. Die grausigen Details seines Mordes hatte Carmine von Patsy. Wie Bianca Tolano war Skeps gefoltert worden, obwohl es kein Sexualverbrechen war, und wie Cathy Cartwright, Peter Norton und Dekan Denbigh war er vergiftet worden. Aber wo lag die wirkliche Bedeutung, in den Gemeinsamkeiten oder den Unterschieden?

Und schon bist du wieder dabei, Carmine, und nimmst an, es sei nur ein Mörder. Du hast nicht den Funken eines Hinweises, um das zu belegen – aber andererseits hast du auch keine Beweise für mehrere Mörder. Genau genommen fühlten sich die angeheuerten Killer von außerhalb für die Hälfte der Opfer richtig an, und das deutete auf ein Superhirn hin, zumindest für diese Morde. Warum dann keinen Todesschützen für alle? Gab es irgendetwas, was einen handgreiflichen Mord erforderte? Ja, aber nur in zwei Fällen – Desmond Skeps und Evan Pugh. Dieser schale Geschmack von persönlichem Vergnügen. Und wenn Pughs Erpressung die Morde betraf, ergab das einen Sinn, selbst wenn man bedachte, dass keine schriftlichen Beweise existierten. Alles, was Pugh tun musste, war, zu sprechen, und das gleißende Licht der polizeilichen Ermittlung würde auf einen neuen Punkt gelenkt. Was Skeps als das Hauptopfer zurück ins Spiel brachte. Aber warum mussten die anderen überhaupt sterben?

Die Zeit wird es verraten, dachte Carmine. Morgen kehre ich zurück zu meiner gewohnten Weise; jeden Fall selbst bearbeiten, mit Abe und Corey im Schlepptau. Zu dumm, dass die beiden keinen eigenen Fall bekommen, aber ich bin ohne Abe und Corey wie amputiert. Ich brauche drei Paar Augen, drei Paar Ohren und drei Gehirne.

Er warf einen Blick auf die große Uhr über Delias Tür. Schon halb sieben. Bei ihr brannte Licht, also steckte er seinen Kopf durch die offene Tür.

»Geh nach Hause, sonst baggert dich noch ein lustvoller Bulle an.«

»In einer Minute«, kam die abwesende Antwort. »Ich will nur noch diese Bankdaten abgleichen. Ich habe den ganzen Tag gebraucht, um sie zu bekommen.«

»Okay, aber bleib keine Ewigkeiten. Und ruf bitte alle zu einer Besprechung morgen um neun Uhr in Silvestris Büro zusammen.«

 

Nun, da Myron in der East Circle weilte, ging er besser nach Hause.

Es gab nur ein paar Männer, denen Carmine von Herzen zugetan war. Der erste Platz wurde von Patrick O’Donnell belegt, aber der nächste auf der Liste war der zweite Ehemann seiner Exfrau. Keiner der beiden Männer hatte noch viel für Sandra übrig, die Frau, die sie verband, aber beide liebten die Tochter Sophia hingebungsvoll, die aus der Beziehung von Carmine und Sandra entstanden war. Obwohl Myron sie schrecklich vermisste, hatte er keine Sekunde gezögert, sie nach Osten zu schicken, nachdem Carmine und Desdemona geheiratet hatten. Er wusste, dass ihr Leben in dem bescheidenen Haus in der East Circle für sie weitaus besser sein würde als in seinem eigenen, einem Nachbau des Hampton Court Palace, in dem ihre Mutter kein Interesse an ihr zeigte und Myron zu viele Verpflichtungen hatte. Ein Ehevertrag, 1952 noch recht unüblich, hatte sichergestellt, dass Sandra nach seinem Tod nicht mehr als ein paar Millionen bekäme und Sophia seine einzige Erbin war. Und er wollte dem Mädchen ein großes Vermögen hinterlassen. Keine Sekunde lang kam ihm in den Sinn, Sophia könnte ihr ganzes Erbe verjubeln; er war fest davon überzeugt, seine geliebte Stieftochter könnte damit ausgezeichnet umgehen. Obwohl sie in allen angesehenen Fächern von Mathematik bis zu Englischer Literatur unterrichtet worden war, hatte er Sophia in eine seiner Geschäftsaktivitäten eingeweiht, die Beschaffung von Geldmitteln für die Spielfilmproduktion und die Finanzaufsicht der Vorproduktion, bis der Film im Kasten war und an die Kinos ausgegeben wurde. Bis zu Sophias zweiundzwanzigstem Lebensjahr, hatte Myron beschlossen, würde sie fit genug sein, selbst in Hollywood im Produzentenstuhl zu sitzen, wenn das ihren Neigungen entsprach.

Myron wusste, dass Carmine solche Pläne vermutete, aber sie hatten nie darüber gesprochen; Carmine war zu empfindsam, was Sophias Position anging, und Myron zu verschlossen. Wenn sein lieber Freund Carmine eine wirkliche Vorstellung von dem Umfang seines Vermögens hätte, wusste er, würde er nicht wollen, dass Sophia auch nur mit einem Zehntel davon belastet würde. Aber die Sophia, die Carmine kannte, war eine Nebelfigur; es war Myron, der sie zwischen ihrem zweiten und sechzehnten Lebensjahr als Vater aufgezogen hatte.

Außerdem war Myron immer noch gesund und rüstig und hegte die unbekümmerte Erwartung, noch viele Jahre zu leben. Deswegen erschien es ihm überflüssig, Carmine ins Vertrauen zu ziehen, während die Sechzehnjährige in einem liebevollen Zuhause und einer guten Schule ein zufriedenes Leben führte. Ihm fiel allerdings nicht auf, dass er, seines geliebten Kindes beraubt und unbeschreiblich einsam, reif für jemand Unternehmungslustigen war, der ihn pflückte.

Da er jederzeit in Carmines Haus willkommen war, nahm Myron sich jedes Mal, wenn er in New York war, ein paar Tage frei und besuchte das Haus an der East Circle. Dieser Besuch war allerdings eine Überraschung; der letzte Film, in dem nicht weniger als drei Topstars mitspielten, war noch in der Mache. Seine Ausrede war, das Geld säße in New York, aber Carmine glaubte ihm irgendwie nicht. Nein, Myron war hier, weil der Tod von Desmond Skeps Schlagzeilen gemacht hatte.

Als Carmine hereinkam, saß Myron in einem dicken Sessel im Wohnzimmer mit einem Glas Kentucky Bourbon mit Soda in der Hand und las die neueste Ausgabe des New’s Magazine.

Mit fünfzig war seine berühmte Fähigkeit, attraktive Frauen anzuziehen, eher ein Nebenprodukt seines Einflussreichtums als seines besonders guten Aussehens. Er war kahl genug, um seinen Rest Haare sehr kurz geschnitten zu halten; er hatte einen festen Mund und grüngraue Augen, von denen Sophia behauptete, sie blickten einem direkt in die Seele. Als er aufstand, um Carmine zu umarmen, stellte man fest, dass er ein recht kleiner, aber schlanker Mann war.

Nach der Umarmung fuchtelte er mit der Zeitschrift vor Carmines Nase herum. »Hast du das hier gelesen?«, fragte er.

»Nur kurz«, sagte Carmine und küsste seine Frau, die kam, um ihnen Gesellschaft zu leisten, ihren eigenen Gin Tonic in der Hand. Sophia folgte ihr und gab ihm ein Glas Bourbon genauso, wie er es gern hatte, mit Soda verdünnt.

»Du musst Karnowskis Artikel über die Roten lesen«, sagte Myron und sank wieder in seinen Sessel. »Es ist Jahre her, seit ich etwas so Gutes gelesen habe, besonders aus historischer Sicht. Er liefert detaillierte Beschreibungen jedes Mitgliedes des Zentralkomitees, das je das Amt des Generalsekretärs angestrebt hat, seit Stalins Tod, und sein Porträt von Stalin selbst ist absolut fesselnd. Ich würde wahnsinnig gern die Quellen kennen – da stehen Dinge drin, von denen ich noch nie etwas gehört habe.«

»Unter normalen Umständen hätte ich es schon verschlungen«, sagte Carmine reuevoll, »aber nicht im Moment. Zu viel zu tun.«

»Das habe ich gehört.«

»Kleine Klatschtante«, warnte Carmine und rollte die Augen Richtung Sophia. »Welche New Yorker Bank ärgert dich, Myron?«

»Keine, die du kennst.« Myron sah beklommen aus und zuckte dann die Schultern. »Ich vermute, ich kann es ebenso gut gleich erzählen«, sagte er verteidigend. »Ich werde mich von Sandra scheiden lassen.«

»Myron!«, sagte Desdemona aufgebracht. »Was um Himmels willen hat diese arme Kreatur dir getan, nach all den Jahren?«

»Eigentlich gar nichts. Ich habe nur ihren ganzen Unfug satt«, antwortete Myron.

»Was wird Sandra machen?«, fragte Desdemona und blickte zur Seite auf Sophia, die mit ausdruckslosem Gesicht vor einem Glas Leitungswasser saß, das sie nicht anrührte.

»Es wird ihr gutgehen, ehrlich. Ich habe zwanzig Millionen für sie festgelegt, aber auf eine Weise, das kein geldgieriger Kerl es sich grabschen kann, selbst nicht durch Heirat und Gütergemeinschaft. Sie bekommt die Hauswirtschafterin und die Putzfrau, also braucht sie sich nicht umzustellen.«

Sophia fand ihre Sprache wieder. »Aber, Daddy, warum?«

Carmine wusste, dass nicht er gemeint war, denn Sophia nannte beide Männer »Daddy«.

»Ich habe es dir doch schon gesagt, Liebes. Ich habe genug von ihr.«

»Das glaube ich dir nicht! Du hast doch schon seit Jahren genug von Sandra. Was ist anders?«

Nun kommt es, dachte Carmine und nippte an seinem Drink.

Myron hustete und sah verlegen aus. »Nun … ich habe eine Dame kennengelernt. Eine wirkliche Dame.«

»Ohhh!« Sophias Augen wurden rund, und dann blitzte in ihnen etwas Wildes, Besitzergreifendes auf; doch im nächsten Moment war es verschwunden und durch blanke Neugierde ersetzt worden. »Erzähl, Daddy, bitte!«

»Sie heißt Dr. Erica Davenport und ist die Leiterin der Rechtsabteilung bei Cornucopia. Sie wohnt direkt hier in Holloman. Wir kennen uns noch nicht sehr lange, aber ich dachte, wegen des Todes von ihrem Boss, Desmond Skeps, könnte sie etwas moralische Unterstützung gebrauchen. Als ich sie aus L. A. angerufen habe, klang sie mitgenommen. Sie hat mich nicht gebeten zu kommen, aber ich hätte es sowieso getan.«

Carmine schluckte. »Myron, das könnte Konflikte geben. Du hättest an der Westküste bleiben sollen«, sagte er.

»Aber Erica ist meine Freundin«, protestierte Myron.

»Und eine mögliche Verdächtige im Mordfall ihres Bosses. Ich kann nicht verhindern, dass du dich mit ihr triffst, Myron, aber sie kann unter keinen Umständen in die Nähe meines Hauses kommen.«

»Ach, verdammt«, sagte Myron.

»Du bist verliebt, deswegen willst du die Scheidung«, sagte Desdemona und sammelte die leeren Gläser zusammen.

»Meinst du?«

»Das tue ich. Noch ein Drink, dann essen wir. Lammkeule aus Neuseeland.«

Sie und Sophia gingen in die Küche. Carmine starrte seinen geliebten Freund an. »Myron, diese Komplikationen kann ich momentan überhaupt nicht gebrauchen.«

»Das tut mir leid, Carmine. Darüber habe ich gar nicht nachgedacht. Ich wollte nur an Ericas Seite sein.«

»Solange du Verständnis für die Einschränkungen hast.«

»Das tue ich, jetzt, nachdem du es erwähnt hast. Ich werde Erica morgen zum Mittagessen ausführen und ihr alles erklären.«

»Nein, wirst du nicht. Wie alle anderen Verdächtigen muss sie morgen im Cornucopia-Gebäude sein. Vielleicht bis tief in die Nacht. Ich schlage vor, du erklärst ihr die Sache am Telefon und hoffst, dass ich rechtzeitig mit ihr durch bin, damit du sie noch zum Abendessen ausführen kannst.«

»Scheiße!«

»Da hast du selbst schuld, Myron. Und erwarte nicht zu viel Mitleid von Sophia.«

»Kacke.«

»Dein Vokabular geht den Bach runter, alter Freund. Also, was ist so aufregend an diesem Artikel im New’s Magazine?

»Hast du gar nicht zugehört? Nur, dass es der beste Artikel über die Kommunisten seit Jahren ist, besonders über die Mitglieder des Zentralkomitees. Nur, falls du es vergessen hast, dieses Land befindet sich mitten im Kalten Krieg mit der Sowjetunion.«

»Nein, das hatte ich nicht vergessen. Aber momentan scheint sich die Stadt mitten in einem heißen Krieg gegen unbekannte Personen zu befinden. Und hier kommt unser zweiter Drink. Also, lass uns wieder über den Artikel im New’s Magazine reden.«

 

Da jeder in der Besprechung Anwesende wusste, wie wenig Fortschritte gemacht worden waren, war Carmine der Einzige, der nicht über die Einberufung des Meetings überrascht war. Delia Carstairs hatte eine ziemlich gute Vorstellung davon, was nicht gut lief, aber sie war dazu da, Protokoll zu führen, und nicht, Kommentare abzugeben.

»Wir packen es auf die falsche Art an«, sagte Carmine, nachdem John Silvestri die Besprechung eröffnet hatte. »Von heute an kehrt die Abteilung zur Normalität zurück. Larry, du und deine Jungs werdet Hollomans alltägliche Verbrechen übernehmen – wobei ich die Verbrechen meine, die nichts mit den zwölf Toten vom dritten April zu tun haben. Geht raus und lasst die Ganoven wissen, dass wir sie nicht übersehen haben. Du hast großartige Arbeit bei den drei Erschossenen und der Prostituierten geleistet, Larry, aber das ist Grund genug, einen Stopp einzulegen, denn ich werde unsere Manpower nicht damit verschwenden, Fährten zu verfolgen, die ins Nichts führen. Vielen Dank, Jungs, doch ich brauche euch nicht mehr.«

Bezeichnenderweise sahen Larry Pisano und seine Jungs überhaupt nicht verärgert aus. Eher erleichtert. Zurück zu Hollomans Routineverbrechen geschickt zu werden erhöhte ihre Erfolgschancen. Genau genommen war Larry so erpicht darauf, seine neue Aufgabe zu übernehmen, dass er aufstand, ohne aus der Besprechung entlassen worden zu sein.

»Dann brauchst du mich hier nicht mehr, oder, Carmine?«

»Richtig.«

Carmine wartete, bis die drei Männer gegangen waren. »Was ich jetzt sage, verlässt diesen Raum nicht, verstanden?«

»Natürlich nicht«, sagte Commissioner Silvestri. »Sind Sie zu irgendwelchen Schlussfolgerungen gelangt?«

»Ja, Sir, bin ich. Einige der elf Morde – von jetzt an ignorieren wir Jimmy Cartwright – wurden von jemandem von außerhalb durchgeführt. Die drei Erschießungen auf alle Fälle. Vielleicht auch Peter Nortons Vergiftung, Bianca Toledos Vergewaltigung, der Mord an Cathy Cartwright und das Ersticken von Beatrice Egmont. Jeder Mord wurde professionell durchgeführt, und ich schließe den Sexualmord ein.«

»Du sprichst über sieben Morde, Carmine«, sagte Patsy stirnrunzelnd.

»Ja.«

»Was ist mit Dee-Dee Hall?«

»Nein, ich glaube, sie war ein privater Mord. Genauso wie Evan Pugh und Desmond Skeps.«

»Du vergisst Dean Denbigh. Wie passt er ins Bild?«

»Ich bin noch nicht ganz sicher, Patsy. Mein Instinkt sagt mir, es ist ein Auftrag, aber wenn es das ist, warum betreibt er dann solchen umständlichen Aufwand mit dem Paket und dem Teebeutel? Vielleicht ist er ein Irrläufer.«

»Ich weigere mich, das zu glauben«, sagte Danny Marciano. »An jedem anderen Tag, aber nicht am dritten April. Sie haben Ihren Irrläufer mit Jimmy Cartwright aufgebraucht, Carmine.«

»Ich weiß.«

Ein Schweigen breitete sich aus, das so tief war, dass das Surren von Silvestris moderner Klimaanlage wie ein Brausen klang.

Silvestri brach die Stille. »Sie vermuten, es ist nur ein Mörder, Carmine.«

»Ja. Und wenn es stimmt, hat er einen großen Fehler damit begangen, alle Opfer am selben Tag zu erledigen. Das bedeutete, er musste die meisten in Auftrag geben. Aber wir haben es nicht mit einem Dummkopf zu tun, sondern mit einem Superhirn. Deswegen wusste er, dass er einen Fehler machte, was bedeutete, er hatte keine andere Wahl. Aus irgendeinem Grunde mussten sie alle an einem Tag sterben.« Carmines Gesicht sah grimmig und ermutigt aus, ein Ausdruck, den hier jeder kannte: Er freute sich auf die Jagd – und fürchtete sie gleichzeitig.

Silvestri schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie Sie das immer hinbekommen, Carmine, uns in die Richtung Ihres Denkens zu steuern, bevor wir wirklich wissen, worauf Sie hinauswollen. Nur ein einziger Mörder? Das ist doch irre!«

»Ich bin Ihrer Meinung, Sir, aber lassen wir es dabei. Ist es verrückter als zwölf Mörder an einem Tag in einer Stadt so klein wie Holloman? Eigentlich ist es für mich die einzige Antwort darauf, die einen Sinn ergibt. Wenn elf Leute auf so verschiedene Weise an einem Tag sterben, schreit das nicht geradezu nach einem einzigen Mörder? Massenmorde kommen vor, aber das sind meistens irgendwelche Psychos mit einem Maschinengewehr an einem belebten Ort oder ein Entführer, der ein Flugzeug zum Absturz bringt. Das hier ist etwas anderes.«

»Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte der Commissioner. »Reden Sie weiter.«

»Professionelle Killer anzuheuern bedeutet, das Superhirn – kein Wort, das ich mag – hat unbegrenzt Geld. Warum mir das Wort ›Superhirn‹ nicht gefällt? Weil er bei der letzten Gelegenheit sehr unvorsichtig war und sich selbst den Spitznamen Quasselstrippe bei Evan Pugh verdient hat. Deswegen haben wir keine Spuren von etwas gefunden, das Evan Pugh für seine Erpressung benutzt haben könnte. Der Inhalt der Erpressung ist einfach etwas, das die Quasselstrippe gesagt hat und alle anderen vergessen haben.«

»Das ist zu weit hergeholt«, meinte Danny Marciano.

»Es ist weit hergeholt, aber nicht zu weit hergeholt. Geben Sie mir einen besseren Grund für drei Erschießungen von außerhalb, Danny. Diese harmlosen Menschen waren für die Exekution handverlesen, von Männern, die Schalldämpfer benutzten und mit einer schnellen, unauffälligen Flucht vertraut waren. Viel zu anspruchsvoll für Holloman. Ein Fall, ja. Aber drei, alle zum selben Zeitpunkt? Ist noch nie passiert. Ich habe den Eindruck, dass der Kerl, der die Morde in Auftrag gegeben hat, uns als Provinzidioten auslacht.«

»Dann kennt er dich nicht, Carmine«, sagte Abe loyal.

»Oh, ich denke, das tut er, Abe. Das hier ist eine kleine Stadt, und ich komme viel rum.«

»Wie wollen Sie vorgehen?«, fragte Silvestri.

»Auf meine übliche Art, Sir. Ich nehme die elf Fälle wieder an mich, plus Abe und Corey. Entschuldigt, Jungs, aber ich komme ohne euch nicht aus. Wenn ich einen von euch losschicke, um Fragen zu stellen, kann ich sicher sein, dass es genauso gemacht wird, wie ich es auch tun würde. Das gilt auch für den Blick auf Indizien. Heute konzentrieren wir uns auf Desmond Skeps. Abe hat die Vorbereitungen getroffen, aber jetzt ziehen wir die Schlinge um Cornucopia enger.«

Carmine sah seinen Boss direkt an. »Sie werden eventuell deswegen Druck aus Hartford bekommen, wenn wir zu viele Fragen stellen. Oder vielleicht sogar aus Washington. Ich muss Sie auch darüber informieren, dass mein trotteliger Freund, Myron Mandelbaum, ganz bezaubert von Cornucopias Leiterin der Rechtsabteilung ist, einer Frau namens Erica Davenport. Ich habe ihn gewarnt, und er kann sie nicht zu mir nach Hause einladen, aber ich möchte nicht, dass Sie seinetwegen unter Beschuss geraten.«

Silvestri blieb ungerührt. »Was sind ein paar mehr Schüsse aus Hartford oder Washington, wenn ich in ein paar Minuten eine Pressekonferenz habe? Die Haie sind wegen dem Mord an Skeps im Blutrausch, also gedenke ich, ihnen ein paar Brocken von Skeps vorzuwerfen. Zwölf Morde? Was für zwölf Morde? Ich werde fest darauf beharren, dass wir für den Mord an Skeps keinen Tatverdächtigen haben, natürlich nicht. Deswegen ist das FBI hier. Wir suchen in New York und anderen Finanzhauptstädten. Genauso werde ich es durchziehen, eine Pressekonferenz nach der anderen. Die Haie von Holloman fernhalten.« Er winkte mit der Hand. »Geht jetzt. Ich muss nachdenken.«

Carmine ging, stirnrunzelnd. FBI? Was meinte Silvestri damit?