18. Kapitel

»Was für ein Augenzeuge?«, donnerte Bain.

»Oh, ein paar Überraschungen sparen wir uns für die Verhandlung auf.«

»Was für eine Verhandlung?«

Einem Mountie ist es verboten, den Verdächtigen zu bedrohen. Rhys begnügte sich damit, nachdenklich seinen roten Schnurrbart zu kratzen und eine seiner dunkelbraunen Augenbrauen zu heben. »Nun, Mr. Bain, vielleicht sollten wir Ihre Aussage noch einmal gemeinsam durchgehen. Sie sagten, Sie seien am Nachmittag der Beerdigung zum Herrenhaus gefahren. Natürlich wussten Sie, dass Marion Emery eine Kusine der Druffitts und Gilly Bascom deren Tochter ist – es war völlig außer Frage, dass sie in der Kirche sein würden. Sam Neddick, Ihr Freund, hatte Ihnen wahrscheinlich erzählt, dass Bert Wadman mit den Owls im Trauerzug marschieren würde und dass er selbst dem Bestattungsunternehmer zur Hand gehen würde. Möchten Sie diese Tatsachen irgendwie kommentieren?«

Nein, das wollte Bain nicht.

»Sehr gut. Ich darf Ihr Schweigen wohl als Zustimmung werten. Also – weil Ihr Sohn ein Auto hat und die Damen, bei denen er zurzeit wohnt, nicht, konnte man vernünftigerweise annehmen, dass er sie runter in die Stadt fahren und an der Beerdigung teilnehmen würde, damit er sie danach wieder zurückfahren könnte. Tatsächlich hat Elmer Gilly, ihren Sohn und Marion in die Stadt gefahren und ist dann zurückgekommen, um Janet Wadman und Dot Fewter zu holen. Wenn Sie wirklich eine wichtige private Sache mit ihm zu besprechen gehabt hätten, hätten Sie ihn ohne weiteres anrufen und bitten können, zurück zum Herrenhaus zu kommen, während die anderen weg waren. Das ist doch eine Telefonleitung da oben, oder?«

Bain antwortete nicht.

»Folglich müssen wir annehmen, dass Sie mitnichten eine Unterredung mit Ihrem Sohn planten, sondern Ihnen das widerrechtliche Betreten des Herrenhauses vorschwebte. Ihr Sohn kam früher nach Hause, weil sich einer seiner Fahrgäste nicht wohl fühlte, und hat Sie auf frischer Tat ertappt. Die friedliche Unterhaltung, die Sie erwähnten, war in Wirklichkeit ein lautstarker Streit. Haben wir das jetzt richtiggestellt?«

Anscheinend hatten sie das. Unter seinen wild wuchernden grauen Stoppeln bekam Bains Gesicht die Farbe eines alten Backsteins. »Dieser undankbare Bastard! Ist auf seinen eigenen Vater losgegangen wie ’ne Wildsau.«

»Worüber haben Sie sich gestritten – abgesehen davon, dass er Sie an einem Ort erwischt hat, an dem Sie nicht hätten sein dürfen?«

»Ach, das hat Ihr toller Augenzeuge also nicht weitergetratscht?«, höhnte der Bösewicht.

»Ich möchte, dass Sie es mir selbst sagen. Es sieht besser für Sie aus, wenn Sie kooperieren. Sie verstehen schon.«

Bain schluckte. »Also gut, wie Sie wollen. Es gibt nichts, wofür ich mich schämen muss. Ich hab nach einem Patent gesucht, das mein eigener, rechtmäßiger Besitz ist.«

»Warum ist es Ihr rechtmäßiger Besitz?«

»Weil ich und Charles Treadway ein Geschäft gemacht hatten, und ich kann’s beweisen. Wir hatten ausgemacht, dass seine Frau das Patent behält, solange sie lebt. Seit sie tot ist, gehört’s mir, und ich hab versucht, es mir zu holen. Marion Emery hat mich hingehalten und behauptet, sie könnt’s nicht finden. Ich bin sauer geworden und hab beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, das ist alles. Sie könn’ einem Mann nicht vorwerfen, dass er sich holt, was ihm zusteht.«

»Aber Sie haben das Patent nicht mitgenommen?«

»Nein, hab ich nicht.«

»Hätten Sie das denn, wenn Elmer Ihre Suche nicht unterbrochen hätte?«

»Sie können mich nicht für Sachen verantwortlich machen, die ich vielleicht getan hätte! Ich hätt Sie herbestellen können, damit Marion es rausrückt. Sie sind doch zuständig für Recht und Ordnung, oder?«

»Richtig, Mr. Bain. Sie haben einen ziemlichen Wirbel um dieses Patent gemacht, nicht wahr?«

»Ein Mann hat das Recht auf sein Eigentum!«

»Ihre Vehemenz überrascht mich – angesichts der liberalen Ansichten, die Sie an den Tag legen, wenn es um das widerrechtliche Betreten fremden Eigentums geht. Wann haben Sie erfahren, dass das Patent gefunden wurde?«

Ein verschlagenes Grinsen huschte über seine unschönen Züge. »Ich weiß es ja immer noch nicht, genau genommen.«

»Was meinen Sie mit ›genau genommen‹?«

»Wenn irgendwer denkt, man könnte mich über’n Tisch ziehen …«

»Spielen Sie auf Marion Emery an oder auf Elizabeth Druffitt?«

Bain zog die Schultern hoch und schwieg.

»Welche der beiden Frauen«, fragte Rhys sanft, »glaubten Sie, gestern Nacht getötet zu haben?«

Das war offensichtlich eine Frage, mit der Bain nicht gerechnet hatte. »Warten Sie mal«, stammelte er. »Moment mal! Worauf wollen Sie hinaus?«

»Als ich hier ankam, habe ich Ihnen gesagt, dass Dot Fewter ermordet worden ist«, erinnerte ihn der Mountie. »Sie haben mich weder gefragt, wann sie umgebracht worden ist, noch wie, noch wo. Ich nehme an, Sie haben mich nicht gefragt, weil Sie all das bereits wissen.«

»Sie haben doch gesagt, ich soll keine Fragen stellen! Ich … warum sollte ich das fragen? Schließlich geht’s mich nichts an!«

»Das ist eine reichlich distanzierte Haltung für einen Mann in Ihrer Lage, nicht wahr? Na gut, obwohl Sie mich immer noch nicht gefragt haben … ich erzähle es Ihnen. Miss Fewter wurde kurz nach Mitternacht vor dem Haus der Treadways ermordet. Sie wurde mit einem Stein erschlagen. Sie trug ein Kleid, das bis gestern Nachmittag noch Elizabeth Druffitt gehört hatte. Weil Mrs. Druffitt in dem Ruf stand, niemals etwas zu verschenken und weil Miss Fewter eine frappierende Ähnlichkeit mit Mrs. Druffitt und mit Miss Emery hatte, wird vermutet, dass der Mörder sie wegen des Kleides für eine der beiden gehalten und Miss Fewter irrtümlich erschlagen hat. Aufgrund der Tatsache, dass Sie schon einmal beim unbefugten Betreten des Herrenhauses ertappt worden sind und Sie eine ungeheuer grimmige Entschlossenheit an den Tag legen, wenn es um Ihr Patent geht, müsste Ihnen eigentlich klar sein, in welche Lage Sie das bringt.«

»Nein, das ist mir verdammt noch mal überhaupt nicht klar«, knurrte Bain.

»Dann lassen Sie uns die Situation noch ein wenig genauer betrachten. Sie sind seit Dr. Druffitts Tod mindestens zweimal im Haus der Druffitts gewesen. Ist das korrekt?«

»Nur zweimal«, murmelte Bain.

»Danke. Beide Male war Marion Emery anwesend, wie natürlich auch Elizabeth Druffitt. Als Sie nach Ihrem zweiten Besuch dort das Haus verließen, sahen Sie aus – so beschrieb es ein Zeuge – wie eine Katze, die gerade den Kanarienvogel verspeist hat. Gerade eben haben Sie angedeutet, dass jemand versuchen könnte, Sie über den Tisch zu ziehen, und Sie sagten das im Zusammenhang mit dem Patent, deswegen dürfen wir annehmen, dass die Person, auf die Sie sich beziehen, entweder Marion Emery oder Mrs. Druffitt ist – oder beide, falls sie zusammenarbeiten. Können Sie mir so weit folgen?«

Der Adamsapfel in Bains dürrer Kehle hüpfte ein paar Mal auf und ab.

»Gut«, sagte Rhys, »Sie sehen ja, wie hübsch alles zusammenpasst. Ein Staatsanwalt könnte nun den Schluss ziehen, dass Sie nach Ihrem erfolglosen Einbruch in das Herrenhaus und in der Überzeugung, dass Sie jemand über den Tisch ziehen will, im Schutz der Dunkelheit einen zweiten Einbruch versuchen wollten. Vielleicht wussten Sie, dass Ihr Sohn Gilly Bascom an diesem Abend ausführen wollte.«

»Nie im Leben!«

»Wie auch immer, ein vernünftiger Mann wie Sie würde warten, bis alle entweder ausgegangen oder im Bett wären. Deswegen wären Sie sehr erschrocken gewesen, wenn Sie auf dem Rasen eine Frau gesehen hätten, die genauso aussah wie eine von den beiden, die sich gegen Sie verschworen haben. Sie wären wütend geworden, wie Sie bei Ihrem letzten Besuch wütend geworden waren. Vielleicht hätten Sie gefürchtet, erneut bei einem Einbruch ertappt zu werden. In jedem Fall wäre es zwar bösartig, aber nicht unnatürlich gewesen, die Frau mit der erstbesten Waffe niederzustrecken. Der Stein hat sie am Kopf getroffen. Sie war eine große Frau, aber Sie sind größer. Würden Sie wohl so gut sein, uns eine Menge Unannehmlichkeiten zu ersparen und ein Geständnis abzulegen?«

»Nein! Niemals! Sie haben überhaupt nichts gegen mich in der Hand. Das ist alles Spekulation! Ich war genau hier, in meinem eigenen Bett.«

»Können Sie das beweisen?«

Eine in die Enge getriebene Ratte versucht stets zu kämpfen. Bains Augen wurden so gelb wie seine Zähne. »Wenn Sie hergekommen sind, um mir was anzuhängen, warum haben Sie dann erst nach Elmer gefragt?«

»Weil Elmer nirgends zu finden ist, und es ist möglich, dass er verschwunden ist, um dem Zeugenstand zu entgehen. Obwohl Sie beide sich wirklich überworfen und sich nicht nur zur Unterhaltung der Nachbarschaft angebrüllt haben, möchte er vielleicht trotzdem nicht in einem Mordprozess gegen seinen eigenen Vater aussagen. Ich muss sagen, ich habe Elmer als einen guten Kerl kennen gelernt, im Großen und Ganzen.«

»Ein Scheiß ist der«, schnaubte Bain. Danach sagte er für eine ganze Weile nichts mehr. Rhys wartete wie eine Katze vor dem Mauseloch. Am Ende machte sich die Ratte davon, und die Maus kam zum Vorschein. »Sie meinen, ich hätte die Frau getötet, um an das Patent ranzukommen, oder?«

»Ich habe aufgrund der Beweislage eine Hypothese angeboten.«

»Dann nimm deine verdammte Hypothese und steck sie dir sonstwohin, Mountie! Deine Beweislage ist einen Dreck wert, denn das Patent ist genauso einen Dreck wert!«

Bain dachte, er hätte eine Bombe platzen lassen, aber sie entpuppte sich als Blindgänger. Rhys nickte nur.

»Das ist mir bekannt. Ich habe Kontakt zu dem Patentbüro aufgenommen. Die Rechte an dem Patent sind vor ein paar Jahren ausgelaufen, und es war sowieso eine lächerliche Erfindung. Miss Emery hat sie mir gezeigt. Mir fällt nur eine Sache ein, die man mit diesem Patent machen kann: ein gewieftes Ablenkungsmanöver veranstalten.«

»Häh?«

»Oh ja, Mr. Bain. Sie sind hinter diesen Papieren her gewesen, weil Sie ein vorausschauender Mann sind. Als Elmer Sie im Herrenhaus erwischt hat, haben Sie gar nicht nach dem Patent gesucht. Sie haben es vielmehr dort hingebracht, und zwar an einen Platz, wo man es auf jeden Fall finden musste, nicht wahr? Precious Bane – ich wusste gar nicht, dass Sie Sinn für Humor haben. Aber da waren Sie ein bisschen zu schlau. Es hat eine volle Stunde gedauert, bis es jemand gefunden hat.«

Sosehr er sich auch bemühte – Bain konnte das hämische Grinsen nicht verbergen, das über seine Lippen zuckte und so gut wie ein Geständnis war. Rhys war sich sicher, dass Bain in der Falle saß, und fuhr fort.

»All Ihre Drohungen und Beschimpfungen haben ihren Zweck erfüllt. Sie haben es geschafft, Marion Emery und Elizabeth Druffitt davon zu überzeugen, dass das Patent äußerst wertvoll sein muss. Ihr Plan war, sich Stück für Stück vorzuarbeiten, bis die beiden Sie dazu zwingen würden, sie auszuzahlen. Nach viel Geschrei und Protest würden Sie sich schließlich von einer beträchtlichen Summe trennen. Miss Emery würde Ihnen ihre Rechte an dem Patent überschreiben, und Mrs. Druffitt würde ihre Tochter zwingen, es ihr gleichzutun – wobei man Gilly gar nicht groß zwingen müsste. Die Damen würden sich in Sicherheit wiegen – bis Sie ihnen mit einer gerichtlichen Verfügung zu Leibe rücken und die Eigentumsurkunde einfordern würden. Dann käme heraus, dass sie nicht nur die Rechte an dem Patent, sondern auch ihre Anteile am Grundstück von Mrs. Treadway verkauft hätten.«

»Das ist totaler Blödsinn!«

»Nein, ist es nicht, Mr. Bain. Sie wussten, dass Mrs. Druffitt und Miss Emery – wie auch alle anderen – Treadway Enterprises Ltd. für einen Witz halten; dabei ist es in Wirklichkeit laut den amtlichen Unterlagen ein rechtlich noch existentes Unternehmen. Meines Wissens waren Sie und Charles Treadway Partner. Sie haben fünfhundert Dollar investiert – die Sie sich bestimmt irgendwo wieder geholt haben, da bin ich sicher – und Treadway, der viel Enthusiasmus hatte, aber zu dem Zeitpunkt bereits wenig Geld, brachte als Kapital sein Haus und Land ein. Das ist korrekt, oder?«

Bain konnte schlecht das Gegenteil behaupten, also schwieg er.

»Ihr Partner wollte diesen Einsatz ohne Zweifel wieder auslösen, sobald sein Traum von Reichtum wahr geworden wäre, aber er starb – und zwar durch einen, wie wir aus Mangel an Beweisen annehmen müssen, sehr ungewöhnlichen Unfall. Was sagen Sie dazu, dass seine Frau auf genau die gleiche Art und Weise starb?«

»Gar nichts sag ich dazu!«, spuckte Bain.

»Sie haben ihr diese Partnerschaft nie erklärt, nicht wahr? Als Treadway starb, ging sein Anteil an dem Unternehmen an seine Frau über, aber ihr schien nicht klar gewesen zu sein, was das bedeutete. Mir wurde erzählt, dass sie einmal mit einem Bauunternehmer verhandelt hat, weil sie einen Teil ihres Landes verkaufen wollte. Sie hätte gar nicht verkaufen können, ohne Sie in das Geschäft einzubeziehen – und ich wette, Sie konnten es kaum abwarten, ihr gegenüber damit aufzutrumpfen. Wie auch immer, der Handel ist geplatzt, also mussten Sie sich einen anderen ausdenken. Wie viel haben Sie für das Patent gezahlt?«

»Nichts.«

»Ich verstehe. Sie hatten Ihren Fisch am Haken und dachten, Sie könnten die Angel noch etwas im Wasser baumeln lassen. Zu dumm. Ich würde niemanden lieber wegen Betrugs hochnehmen als Sie. Was hatten Sie mit dem Grundstück vor, Mr. Bain? Sie wissen ja, es eignet sich weder für Bebauung noch für Landwirtschaft.«

Bain sagte nichts.

»Macht nichts«, sagte Rhys. »Lassen Sie mich raten. Sie haben bestimmt an Tourismus gedacht. Mit dieser neuen Straße und der derzeitigen Nachfrage nach Campingplätzen hätte es durchaus als solcher dienen können – abgesehen davon, dass die Urlauber über Bert Wadmans Grundstück gehen müssten, um zu Ihrem See zu kommen, was Bert niemals erlaubt hätte.«

Bains Vorliebe für juristische Spitzfindigkeiten war stärker als seine Vorsicht. »Er hätte mich nicht aufhalten können! Es gibt ein Wegerecht.«

»So so – das gibt es also?« Rhys nickte, zutiefst zufrieden mit dem Ergebnis seines Feldzugs. »Ich danke Ihnen, Mr. Bain. Und sollten Sie noch mehr brillante Ideen haben, wie zum Beispiel ohne meine Erlaubnis die Gegend zu verlassen, dann setzen Sie sie besser nicht um.«