6. Kapitel

Die Wadmans saßen beim Mittagessen, für das Janet keinen rechten Appetit aufbrachte, als Gilly und Elmer an der hinteren Tür klopften, um sich Berts Hacke und Schaufel auszuleihen.

»Wofür braucht ihr das denn?«, fragte Bert. »Jetzt erzählt mir nicht, ihr grabt nach dem verborgenen Schatz.«

Der junge Bain wurde puterrot. Gilly lachte. »Nee, dafür ist doch Marion zuständig. Sie hängt gerade am Telefon und versucht Mama zu überreden, nach dem Begräbnis herzukommen und ihr zu helfen, dieses idiotische Patent von Großonkel Charles zu suchen. Ich wünschte wirklich, Marion würde sie aufs Dach locken und runterschubsen.«

»Aber, Gilly«, sagte Elmer zu jedermanns Überraschung, »so redet man doch nicht vor einem Kind.«

»Tut mir leid«, antwortete sie sanft, »ich sollte meine schlechten Scherze wirklich lassen. Oder, Bobby?«

Gilly trug alte Leinenschuhe und statt ihrer sonstigen flittchenhaften Aufmachung ein steifes, gestärktes Hauskleid aus Baumwolle, das ihrer Großtante gehört hatte. Ihr Gesicht war bar jeden Make-ups, und ihr Haar hatte sie zusammengebunden. Janet hatte nicht gewusst, dass Gilly so hübsch aussehen konnte.

»Großmutter kommt sowieso nicht«, meldete sich das Kind zu Wort. »Sie sagt, sie setzt keinen Fuß ins Herrenhaus, solange Elmer drin ist. Du gehst doch aber nicht weg, oder, Elmer?«

»Der arme Elmer kriegt es von allen Seiten ab«, lachte Gilly. »Mama verwünscht ihn durchs Telefon, und Marion zählt jeden Bissen, den er zu sich nimmt – ich wette, mittlerweile bereut er, dass er eingezogen ist, nicht wahr, Elmer?«

Gilly strich mit ihrer schmalen Hand über den Ärmel des jungen Riesen und lächelte zu ihm hoch. Elmer sah ganz und gar nicht aus, als würde er etwas bereuen.

»Elmer dachte, wenn ihr uns die Sachen für ein paar Stunden leiht, könnten wir einen Zaun für die Hunde bauen«, erklärte sie. »Er hat eine Rolle Maschendraht in der Scheune gefunden.«

Elmer rang einige Zeit mit seinem Adamsapfel, dann grummelte er: »Wenn die frei rumlaufen, hält so’n bekloppter Yankee die am Ende noch für Wild und knallt sie ab.«

Bert kicherte und ging los, um das Werkzeug zu holen. Janet holte gerade die Keksdose für Bobby, als noch ein Besucher auftauchte: Fred Olson.

»Wie geht’s, Leute? Was treibst du denn hier, Elmer? Hab gehört, du bist ins Herrenhaus gezogen.«

Elmer stammelte irgendwas von »Pas Idee.«

»Wie kommt’s, dass du nicht bei der Arbeit bist?«

»Ferien.«

»Immer noch Vorarbeiter im Sägewerk?«

»Ja.«

»Machst eine Million da, auch wenn’s nur ’ne Million Zahnstocher sind, was?«

»Elmer geht schon seinen Weg«, sagte Gilly angriffslustig.

»Hab nie das Gegenteil behauptet. Leg dir bloß was auf die hohe Kante, Junge. Der alte Bain wird’s bestimmt irgendwie hinkriegen, seine Brieftasche mit ins Grab zu nehmen. Hast du eine Ahnung, was dieses Patent wert ist?«

»Nö.«

»Hat er gesagt, wofür es ist?«

»Er hat gesagt, das werd ich schon merken, wenn ich’s sehe.«

»Wie?«

»Keine Ahnung. Hab’s ja noch nicht gesehen.«

Der Marshall grunzte. »Gilly, wie wär’s – erzählen Sie mir doch mal ausführlich, was letzte Nacht passiert ist.«

»Was meinen Sie?«

»Das Feuer natürlich. Was sonst?«

»Nun ja, da war auch noch diese kleine Sache mit meinem Vater, falls ich Sie erinnern darf.« Sie schluckte schwer. »Tut mir leid, Fred, ich wollte nicht aggressiv sein. Also. Ich war mit Mama unten bei Ben Potts. Normalerweise hat er gar nicht bis abends geöffnet, aber es kamen immer noch neue Leute … kurz gesagt: wir kamen erst nach zehn los. Zu dem Zeitpunkt war ich völlig fertig mit der Welt, und meine Mutter ebenfalls, glaube ich. Wie auch immer, sie ging sofort nach Hause, genau wie ich. Ich hab noch kurz einen Blick in Bobbys Zimmer geworfen, dann bin ich ins Bett gefallen.

Ich war schon eingeschlafen, als plötzlich die Hunde Alarm schlugen. Ich dachte, Schnitzi würde ihre Babys kriegen, und bin sofort aufgesprungen. Dann hab ich ein lautes Krachen gehört, es roch verbrannt, und mir wurde klar, dass es im vorderen Zimmer brannte. Ich bin zu Bobby gerannt, hab ihn aufgeweckt, ihn und die Hunde aus dem Haus geschafft – und dann bin ich, glaube ich, noch mal reingelaufen, um ein paar Kleider zusammenzuraffen. Ich glaube, Bobby ist mit hinterher, aber ich hab ihn angeschrien, draußen zu bleiben und die Hunde vom Haus fern zu halten. Er ist ein guter Junge«, fügte sie trotzig hinzu.

»Und was ist dann passiert?«, fragte Olson.

»Um die Wahrheit zu sagen, Fred – an viel kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß, dass da irgendwelche Leute waren, die uns zuriefen, wir sollten von den Wänden wegbleiben, und da war ein ohrenbetäubender Knall; wahrscheinlich ist in dem Moment mein Auto in die Luft gegangen. Die Hunde hörten nicht auf zu bellen, und ich glaube, ich konnte an nichts anderes denken als an Schnitzi und ihre Babys. Dann war ich plötzlich klatschnass gespritzt, von dem Wasserschlauch, und das kalte Wasser hat mich wieder zu Verstand gebracht. Ich entdeckte Bert bei den Feuerwehrmännern und fragte ihn, ob er uns zu Tante Aggies Haus fahren könne. Ich … ich glaube, ich hatte vergessen, dass es sie gar nicht mehr gab. Wie auch immer, Marion war so gastfreundlich, wie man nur sein kann, und Schnitzi hat ihre Babys gekriegt, und es geht ihnen gut. Oh Gott, Bert, ich hoffe, sie hat deine Autositze nicht völlig versaut?«

»Mach dir keine Gedanken, die sind aus Plastik«, versicherte Wadman.

»Haben Sie irgendeine Ahnung, wie es zu dem Brand kommen konnte, Gilly?«, beharrte der Marshall.

»Wie ich gestern schon sagte: Das Einzige, was ich mir vorstellen kann ist, dass jemand einen Zigarettenstummel in den Strauch neben der Hautür geworfen hat.«

Olson schüttelte den Kopf. »Das glaub ich nicht, Gilly. Ich meine, ich hätt gesehen, wie der riesige Strauch in Flammen aufging, als wir auf das Haus zurannten. Erinnerst du dich, Bert?«

»Jetzt, wo du’s sagst – natürlich, ich erinnere mich, es war ein riesiger Feuerball, rasend schnell runtergebrannt ist der. Ich dachte, es wäre der Tank vom Auto, aber das ging später hoch, kurz bevor Gilly mich ansprach. Der Knall klingt mir noch in den Ohren. Also hatte der Strauch nichts damit zu tun. Das Feuer war ja schon in vollem Gange, als wir es vom Versammlungsraum aus gesehen haben.«

»Dann weiß ich auch nicht weiter«, sagte Gilly. »Alles, was ich mit Sicherheit weiß, ist, dass es im vorderen Zimmer begonnen hat. Nämlich: wenn nicht, dann stünden wir jetzt nicht hier.«

»Und Sie haben keine brennende Zigarette im Wohnzimmer gelassen?«

»Ich kann mir Zigaretten nicht leisten, sogar wenn ich wollte – was nicht der Fall ist. Ich bin immer sehr vorsichtig gewesen. Schließlich war das Haus eine Holzkiste.«

Ihre Stimme zitterte. »Ich bin sicher, den ganzen Abend lang hat niemand einen Fuß in das vordere Zimmer gesetzt. Bobby ist nach dem Essen sofort ins Bett gegangen, und wie ich schon sagte, ich war mit Mama drüben bei Ben.«

»Warum ist Ihre Mutter eigentlich nicht rübergekommen, als es brannte? Ich hab sie nicht gesehen, und auch niemand sonst, den ich gefragt habe.«

»Das war die einzige glückliche Fügung in dieser Nacht. Heute Morgen am Telefon hat sie mir erzählt, dass sie drei Aspirin genommen hatte, als sie nach Hause gekommen war, und sie hat geschlafen wie eine Tote, bis ich sie aufgeweckt habe, um ihr zu sagen, dass Bobby und ich im Herrenhaus sind. Wenn sie das mit dem Feuer gemerkt hätte, wär sie sofort angerannt gekommen, um mich in ihre Gruft zu zerren, solang ich zu betäubt war, um mich zu wehren. Jetzt kann sie nicht mehr sagen als: ›Tja, Liebes, vielleicht ist es das Beste so.‹«

»Vielleicht ist es das«, sagte Janet.

Dieser Aspekt der Sache interessierte Olson nicht.

»Raucht der Junge?«, bellte er.

»Nicht vor mir. Ich nehme an, er hat’s ein-, zweimal probiert, wie jeder Junge in seinem Alter.«

»Bobby, hast du letzte Nacht zu Hause geraucht oder mit Streichhölzern rumgespielt, nachdem deine Mutter weggegangen war?«

Der Junge schüttelte den Kopf.

»Ich hab doch schon gesagt: Er hat die ganze Zeit geschlafen«, protestierte Gilly.

Der Marshall grunzte. »Und du hattest auch keine Kumpels eingeladen?«

»Nein. Ich habe die ganze Zeit geschlafen«, wiederholte der Junge hartnäckig.

»Gilly, Sie haben gesagt, Leute wären vorbeigekommen. Kam auch jemand vorbei, bevor Sie das Haus verlassen haben?«

»Nur Mama, um sicherzugehen, dass ich mitkomme.«

»Wie lange ist sie geblieben?«

»Nur ein paar Minuten.«

»Und was hat sie in der Zeit gemacht?«

»Herumgestanden und gemault, ich soll mir das Make-up aus dem Gesicht waschen und mich beeilen.«

»Und sonst ist Ihnen niemand aufgefallen, der vor dem Haus herumgelungert hat?«

»Ich weiß nicht … ich nehme an, der ein oder andere wird da gewesen sein, sind ja immer Leute da auf der Straße. Aber die meisten waren doch drüben bei dem Treffen der Owls, oder?«

»Fast alle waren da«, sagte Olson mit stolzer Stimme. »Wie kommt’s eigentlich, dass du den Owls nie beigetreten bist, Elmer?«

»Hat mich nie einer gefragt.«

Der Marshall errötete leicht. »Kann ja keiner riechen, dass du auf eine handgeschriebene Hochglanzeinladung wartest. Wo warst du gestern Abend, wo wir schon mal dabei sind?«

»Bowlen.«

»Wo?«

»Drüben beim Fort.«

»Mit wem?«

»Keinem.«

»Jemand gesehen, den du kanntest?«

»Nein. Bloß ’n Haufen Yankees.«

»Wann bist du da angekommen?«

»Halb neun, ungefähr.«

»Und wie lange bist du geblieben?«

»Lang genug, um vier Kugeln zu schieben und ’ne Kanne von dem Spülwasser zu trinken, das die da drüben Bier nennen. Bis elf rum, glaube ich.«

»Und wo warst du vorher?«

»Zu Hause. Hab die Fassade gestrichen.«

»Irgendwelche Beweise dafür?«

»Geh und guck dir das Haus an.«

Langsam fing Fred an, Janet leid zu tun. Was sollte ein Land-Marshall, der von raffinierter Polizeiarbeit nichts verstand, in einer solchen Situation denn machen? Fred wusste, dass Gillys Haus nicht zufällig abgebrannt war. Entweder hatte sie das Feuer selbst gelegt – und damit Selbst- und Kindsmord riskiert – oder jemand anderes, wahrscheinlich mit der Absicht, sie und Bobby umzubringen. Dem lieben Gott und zwei kleinen bellenden Dackeln war es zu verdanken, dass sie jetzt nicht Dr. Druffitt Gesellschaft leisteten.

»Fred«, platzte sie heraus, »Sie müssen unbedingt …«

»Danke«, unterbrach er laut, »aber ich muss los. Molly wartet mit dem Abendessen.«

Dieser alte, dicke Trottel! Ein kaltblütiger Mörder und Brandstifter lief frei herum, aber alles, woran er dachte, war seine Wampe. Und warum schnitt er die ganze Zeit irgendwelche Grimassen in ihre Richtung, wenn gerade keiner hinsah? Sie brachte ihn zur Tür. »Janet«, zischelte er, »können Sie heute Nachmittag in den Laden kommen? Wir müssen reden.«

Das lehrte sie, nicht zu früh zu urteilen. »Das ist aber süß von Molly«, sagte sie laut. »Und bitte sag ihr, wie sehr Annabelle sich über die entzückenden Karten vom Frauenkreis gefreut hat. Sie wird der Frau des Pfarrers schreiben, sobald sie sich ein bisschen besser fühlt. Übrigens, vielleicht komme ich bald mal vorbei. Der Griff von unserer alten gusseisernen Pfanne ist lose und ich dachte, vielleicht kannst du ihn wieder festmachen.«

»Warum gibst du sie ihm nicht gleich mit und sparst dir den Weg?«, fragte Bert, ganz großer Bruder.

»Weil ich sie irgendwo hingelegt habe, damit ich sie nicht aus Versehen benutze und dein Essen auf dem Boden landet«, log sie, »und ich kann mich gerade nicht erinnern, wo ich sie hingetan habe. Es hat doch keinen Sinn, dass Fred sein Dinner verpasst, während ich suche, oder? Setz dich hin und iss dein eigenes. Wird sowieso schon eiskalt geworden sein.«

Gilly verstand den Wink und manövrierte ihre beiden Männer zurück zum Herrenhaus. Sie gaben ein niedliches Trio ab, fand Janet, die kleine Frau, der große Mann und der elfenhafte Bobby, der zwischen den beiden herumsprang. Sie hoffte nur, dass keiner der drei sich angewöhnt hatte, Leute zu ermorden, oder mit jemandem verwandt war, der das tat. Man konnte so unschuldig sein wie ein neugeborenes Kind und dennoch als Komplize benutzt und auch als solcher behandelt werden, wenn der Fall vor Gericht kam.

Aber was, wenn das nie passieren würde? Was, wenn man den Killer niemals stellte? Was, wenn er oder sie oder vielleicht mehrere Täter einfach unbehelligt weiter in Pitcherville vor sich hin lebten? Wäre dann irgendjemand hier noch sicher? Würde nicht nur der Mörder sich noch sicher fühlen, würde er nicht glauben, er könne jeden Beliebigen einfach um die Ecke bringen, wenn er gerade Lust dazu hätte?

Janet stieß vor Nervosität den Teekessel um, und ein Schwall kochenden Wassers ergoß sich über ihre Hand.

»Um Himmels willen, pass doch auf!«

Bert griff nach dem Arm seiner Schwester und sah entsetzt auf die Blasen, die sich auf der Haut bildeten.

»Lass los, Bert. Das tut weh.«

Es tat mehr als weh. Ihr war ganz schlecht vor Schmerzen. Ihre Knie wurden weich. Janet ging vorsichtig zu dem Schaukelstuhl am Fenster und setzte sich hin.

»Im Medizinschrank ist eine Salbe.«

Das war, was sie sagen wollte, aber sie hatte einige Schwierigkeiten, die Worte zu formen. Das Nächste, was sie mitbekam, war, dass Bert ihr immer wieder ein nasses Geschirrtuch ins Gesicht klatschte. Sie versuchte, seine Hand abzuwehren. »Hör auf! Was soll das?«

»Du wärst fast ohnmächtig geworden. Himmel noch mal, warum hat der Doktor ausgerechnet jetzt sterben müssen!«

»Es geht mir gut. Es war nur der Schock.«

Es waren zu viele Schocks in zu kurzer Zeit, aber wie sollte sie ihm das jetzt erklären? Bert kramte im Erste-Hilfe-Kasten herum, brachte Salbe und Verbandszeug, versuchte, die Salbe auf die Verbrennung zu schmieren und sie zu verbinden, und all das tat er nicht besonders geschickt.

»Ich hol besser Gilly zurück.«

»Weshalb? Was soll sie schon tun?«

»Woher soll ich das wissen?« Er schwitzte und schimpfte, verärgert über seine eigene Hilflosigkeit. »Sie ist immerhin die Tochter eines Arztes, oder etwa nicht? Sie muss doch wissen, was in einem Notfall zu tun ist!«

»Beruhige dich, Bert. An einer verbrühten Hand stirbt man nicht. Iss endlich und geh zurück an die Arbeit.«

»Du glaubst doch wohl nicht, dass ich dich den ganzen Nachmittag über hier allein lasse? Was, wenn du wieder ohnmächtig wirst? Du könntest hinfallen und dir den Kopf einschlagen, wie Dr. Druffitt.«

Das hätte er besser nicht gesagt. Janet fühlte eine Welle von Übelkeit in sich aufsteigen – und dann wieder das Klatschen des nassen Geschirrtuchs in ihrem Gesicht. Bert hob sie aus dem Schaukelstuhl, trug sie ins vordere Zimmer und ließ sie aufs Sofa fallen.

»So. Jetzt bleibst du hier und rührst dich nicht vom Fleck. Ich gehe nach nebenan und hole Gilly oder Marion.«

»Bitte nicht. Die haben schon mehr am Hals, als sie bewältigen können. Gillys Schwierigkeiten und den Wirbel, den Elmers Vater wegen des Patents veranstaltet …«

»Dann bitte ich eben Sam, diese Fewter herzuholen, die wir hier hatten, als Annabelle krank war. Sie ist besser als niemand.«

»Allerdings nicht viel besser«, schniefte seine Schwester. »Aber gut, wenn du dich dann besser fühlst. Frag Dot, ob sie die Nacht über bleiben kann. Ich brauche Hilfe beim An- und Ausziehen, mit dieser verbundenen Hand. Und bitte, ruf Fred Olson an und sag ihm, warum ich heute Nachmittag nicht kommen kann.«

»Aber das ist doch völlig egal …«

»Bert, ich will unbedingt, dass du es Fred sagst!«

»Gut, gut, reg dich bloß nicht auf. Und schone dich um Himmels willen, bis die Hand wieder verheilt ist. Eine kranke Frau in der Familie reicht mir.«

Nachdem er gegangen war und sie die Augen schließen konnte, ohne auf der Stelle wiederbelebt zu werden, lag Janet still auf dem Sofa und versuchte, sich auszuruhen und nachzudenken. In gewisser Weise war auch sie ein Opfer. Wenn sie sich wegen der Morde nicht so aufgeregt hätte, hätte sie diesen Unfall nicht gehabt. So war das mit diesen Dingen, wie Unkraut wucherten sie über den ganzen Garten. Wenn man das Unkraut nicht mitsamt der Wurzel ausriss, erstickte es all die guten Pflanzen, bis nichts außer Unkraut mehr übrig blieb.

Dot kam. Sie half Janet in ihr Zimmer und ihre Kleider auszuziehen. In dem bequemen Nachthemd, zwischen sauberen Laken und mit einer Dosis Aspirin im Körper fühlte sie sich schon viel besser. Weil sie letzte Nacht so wenig geschlafen hatte, döste sie ein und verschlief einen guten Teil des Nachmittags. Am frühen Abend zog sie sich den Bademantel an und ging hinunter. Bert protestierte.

»Um Himmels willen, Bert, hör auf, so herumzuglucken!«, sagte sie. »Ich hab heute noch nichts gegessen, ich habe Hunger.«

»Dot kann dir doch auf dem Tablett etwas hochbringen.«

»Nein, danke.« Am Nachmittag hatte Dot bereits versucht, ein Tablett nach oben zu balancieren, und Tee und Kekse waren als unerfreulicher Matsch oben angekommen.

»Na gut. Wenn du meinst.« Er bot ihr sogar einen Stuhl an. »Vielleicht tut dir eine warme Mahlzeit gut.«

Zum Glück hatte sie einen Eintopf vorbereitet, bevor sie sich verletzt hatte. Dot brauchte ihn nur aufzuwärmen und ein bisschen Grünzeug für den Salat zu putzen. Bert musste sich schon wieder mit dem Essen beeilen, weil die Owls irgendein Ritual in der Leichenhalle abhalten wollten. Dank Janets Ungeschicklichkeit musste er mit seinem gefiederten Helm und seinem guten grauen Anzug statt der vollständigen Insignien vorlieb nehmen.

»Hoffentlich kann Elmer Bain morgen früh zur Reinigung fahren und Berts Owls-Kostüm abholen, damit er es zur Beerdigung anziehen kann«, bemerkte Janet zu Dot, nachdem ihr Bruder gegangen war. »Elmer ist ein ziemlich freundlicher Mensch, nicht wahr? Ich hatte bisher noch nicht die Gelegenheit, ihn kennen zu lernen.«

»Er ist nicht übel, soweit ich weiß«, stimmte Dot mit vollem Mund zu. »Bisschen still. Diese Bains sind mit allem geizig, sogar mit Worten. Hey, das schmeckt gut! Muss ich Sam erzählen.«

»Tu das«, sagte Janet. »Elmer schlägt nicht nach seinem Vater, was?«

»Nee, nach seiner Mutter. Miz Bain war ’ne nette Frau, obwohl sie eine MacDermott war. Gott, nein, danke. Noch ein Bissen, und ich platze.« Dot legte mit sichtbarem Bedauern ihre Gabel nieder. »Sam sagt immer, ihr macht das beste Essen in der ganzen Stadt. Wenn ich jetzt bei Miz Druffitt wär, könnt ich mich glücklich schätzen, wenn sie mir ein Sandwich mit Ei servieren täte, und sie würd jedes einzelne Körnchen Zucker zählen, das ich mir in den Tee tu.«

Es würde eine ganze Weile dauern, die alle zu zählen, dachte Janet, bei den Mengen Zucker, die Dot in ihren Tee schaufelte. Wie diese Frau es hinbekam, so dünn zu bleiben, war ein Mysterium. Dot war gebaut wie Elizabeth Druffitt und Marion Emery, fiel Janet auf. Wenn sie weniger Make-up benutzen und mehr auf ihre Kleidung und ihre Haare achten würde, könnte sie glatt als eine weitere Kusine durchgehen.

Dot plauderte weiter. »Miz Treadway, die gab einem immer was zu essen, so viel man wollte – aber Miz Druffitt, ich kann Ihnen sagen, in der ihrem Mülleimer würd eine Ameise verhungern! Sie hat so viel Zeugs in ihrem Haus, auf dem Dachboden stehen Kisten gestapelt bis zum First, und Schränke voller Kleider, die sie vor dreißig Jahren oder so gekauft haben muss, die hängen da einfach so nutzlos rum.«

Es war in der Tat eine Schande, musste Janet zugeben, die guten Sachen einfach da rumhängen zu lassen, wenn es genug arme Seelen gab – Dot zum Beispiel, zweifelsohne – die sich freuen würden, sie aufzutragen. Trotzdem behagte es ihr nicht, mit Dot hier herumzusitzen und über eine Frau zu lästern, deren Ehemann am nächsten Tag beerdigt werden sollte. Allerdings merkte sie, dass es viel einfacher war, Dot ins Reden zu bringen, als ihren Redefluss zu stoppen.

»Es ist wirklich kein Spaß, für sie zu arbeiten. Sie zieht weiße Handschuhe an und fährt damit über die Möbel, um zu sehen, ob ich auch alles richtig sauber gemacht hab. Mir kann’s ja egal sein, wenn sie sich ihre besten Handschuhe unbedingt verdrecken will … der Doktor wollte mal eine von den ausländischen Hausmädchen engagieren, wissen Sie, aber davon wollte sie nichts hören. Weil, die hätte schließlich Kost und Logis kriegen müssen. ›Und außerdem‹, hat sie gesagt, ›ist sie womöglich hübsch, und dann gibt’s Gerede.‹«

»Und natürlich wollte Mrs. Druffitt nicht ins Gerede kommen«, sagte Janet. Niemand in Pitcherville wollte das; aber viele gaben trotzdem reichlich Anlass dazu.

»Oh nein, Miz Druffitt hasst Gerede«, antwortete Dot, ohne die Ironie zu bemerken, was Janet auch nicht erwartet hatte. »Deswegen will sie auch unbedingt, dass Gilly nach Hause kommt. ›Was sollen die Leute denken, wenn du lebst wie eine Mittellose, obwohl du so ein hübsches Zuhause hast?‹, fängt sie immer an. Gilly wird dann immer sauer und sagt: ›Wen zur Hölle kümmert es, was die Leute denken?‹, also könnte ihre Ma sich die Puste auch sparen.«

Dot beschloss, ein Stück Kuchen ginge noch. »Sobald Miz Treadway tot war, redete Miz Druffitt auf Gilly ein, dass sie doch ins Herrenhaus ziehen sollte, aber auch das hat Gilly nie gewollt. Kann ich ihr nicht verdenken. Ist’s nicht ein bisschen einsam, hier oben festzusitzen, wo’s nichts zu erleben gibt und keinen, mit dem man mal plaudern kann? Im Ort unten ist wenigstens immer was los – und wenn’s nur Fred Olson ist, der wem einen platten Reifen flickt.«

Das erinnerte Janet an die Verabredung, die sie so unbedingt hatte einhalten wollen. »Ich hoffe, Sam hat Fred meine Nachricht überbracht«, sagte sie besorgt. »Ich wollte ihn eigentlich heute Nachmittag treffen.«

Dots Augen wurden groß. »Warum?«

Gütiger Himmel, welche Ausrede hatte sie noch mal erfunden? Janet zermarterte sich das Hirn. »Oh, nur eine alte Pfanne, die er hoffentlich reparieren kann. Sie gehörte der Großmutter meiner Schwägerin.«

Dot aß den letzten Bissen ihres Kuchens. »Ich glaub ja kaum, dass Fred bis nach der Beerdigung viel Zeit hat. Morgen ist er den ganzen Tag mit dem Owls zugange. Sie machen einen Trauermarsch, den ganzen Weg zum Friedhof.«

»Ja, ich weiß, und Berts Kostüm muss noch aus der Reinigung geholt werden. Eigentlich will ich Elmer nicht darum bitten; ich kenne ihn doch kaum. Ob vielleicht Sam ihn morgen früh schnell abholen könnte?«

»Wüsste nicht, wie das gehen soll. Sobald er hier bei Ihnen fertig ist, muss er sich rausputzen und Ben Potts helfen.«

»Dann muss es eben Elmer sein. Ich kann unmöglich einhändig den ganzen Weg fahren, und Bert wird keine Zeit haben. Ob er jetzt wohl im Herrenhaus ist?«

Dot warf einen geschulten Blick über den Rand der Gardine. »Ja. Auf jeden Fall steht sein Auto im Hof. Ich hab geglaubt, er wär in der Leichenhalle, mit den ganzen anderen.«

»Warum sollte er?«, sagte Janet. »Die Bains und die Druffitts stehen sich doch nicht besonders nahe, oder?«

»Das könn’ Sie laut sagen! Als Elmer Gilly gefragt hat, ob sie mit ihm zum High-School-Ball kommt, da hätten Sie hören sollen, was los war! Ich dachte, Miz Druffitt kriegt ’nen Herzanfall. Ihre Tochter wird sich nie im Leben mit einem Bain zeigen, hat sie gesagt. Also ist Elmer auf’n hohes Ross geklettert und hat gesagt, wenn er nicht gut genug für sie ist, würd er sie eben gar nix mehr fragen.«

»Wie kommt es, dass du das alles gehört hast?«

»Och, ich hab’s eben gehört«, sagte Dot vage. »Und dann ist Gilly abgehauen und hat diesen miesen Bascom geheiratet, und wenn sie sich damit nicht ins eigene Fleisch geschnitten hat, fress ich einen Besen.«

»Gilly hat eine schwere Zeit gehabt«, seufzte Janet.

»Erzählen Sie mir nichts von schweren Zeiten. Ich hab kein Verständnis für Leute, die nicht wissen, was gut für sie ist.«

Dot klang so exakt wie Marion Emery, dass Janet blinzeln musste. Vielleicht gab es einen privaten Grund, warum Mrs. Treadway und Mrs. Druffitt trotz aller Klagen Dots schlampige Arbeit tolerierten. Vielleicht war der Grund auch gar nicht so privat, vielleicht war es ein uraltes Gerücht, dass der jungen Janet Wadman nur niemand erzählt hatte. Aber was machte das für einen Unterschied?

»Soll ich rübergehen und Elmer fragen, ob er den Rock abholt?«, bot Dot an, die darauf brannte, etwas zu tun – jetzt, wo sie alles verspeist hatte, was in Sichtweite gewesen war.

»Ja, das wäre nett.« Janet hatte erst mal genug von Dot Fewter. »Das Geschirr kannst du waschen, wenn du wiederkommst«, fügte sie kühl hinzu, »ich gehe ins Bett.«