MORD IM
ORIENTEXPRESS
Die Eisbäder, die Massagen der bleiernen Beine, die Vitaminpräparate und das Radeln auf dem Ergometer trugen alle zum Wunder von Melbourne bei. Aber Joan Forcades wertet es nicht als Erfolg seiner Ratschläge, die er in der Krise gab, sondern sieht den körperlichen Aspekt von Rafa Nadals Erholung und Sieg bei den Australian Open lediglich als ein Element eines komplexen Bildes. »Wenn man das Geheimnis von Rafaels Erfolg verstehen will, muss man an den Mord im Orientexpress denken«, erklärt Nadals Fitnesstrainer.
Forcades ist weder anmaßend noch bewusst kryptisch. Sein Hinweis auf Agatha Christies Krimi ist sogar ungewöhnlich anschaulich für einen Mann, der ansonsten wie selbstverständlich Begriffe wie »holistisch«, »kognitiv«, »somatische Marker«, »asymmetrisch« und »emotiv-volitiv« verwendet. Ständig sieht er Zusammenhänge zwischen der Welt des Spitzensports und Shakespeare-Tragödien, deutscher Philosophie, Thomas von Aquin oder neuesten neurobiologischen Forschungen.
»Das entscheidende beim Mord im Orientexpress ist, dass ein Mann ermordet wurde, aber ein Dutzend Leute an dem Verbrechen beteiligt waren, wie der Detektiv Hercule Poirot herausfindet – alle Verdächtigen töteten ihn«, erklärt Forcades. »Das ist die Herangehensweise, die man übernehmen muss, wenn man Rafaels Sieg in Australien und sämtliche anderen Siege ergründen will, die er in seiner Karriere errungen hat. Wenn man sich nur auf den einen Aspekt konzentriert, wie er sich körperlich erholt hat, übersieht man eine wesentlich komplexere Geschichte.«
Forcades verbringt viel Zeit mit Nadal, wenn dieser zu Hause auf Mallorca ist, ansonsten hält er sich jedoch vom Trubel und der Dramatik der internationalen Tennistour fern. Durch seine Distanz und seine analytische Denkweise ist er in Nadals unmittelbarstem Umfeld am besten geeignet, die Rolle des Hercule Poirot zu spielen und das Geheimnis des Erfolgs dieses jungen Mannes zu ergründen, den er seit über zehn Jahren trainiert. Wenn er die Belege sichtet und die Puzzleteile zusammenfügt, lässt er sich von einem Grundgedanken leiten: Das Phänomen Nadal ist größer als die Summe seiner Teile. Für Forcades ist dies das eigentlich Faszinierende – und nicht die Details von Nadals Trainingsprogramm. Er findet es langweilig – und ärgerlich – zu erklären, warum Nadal keine Gewichte hebt, nicht läuft, sondern nur sehr kurze Sprints trainiert, warum er seine Knöchel und Sehnen durch Übung X oder Y stärkt, warum er seine Muskelkraft mit bestimmen Trainingsgeräten, Vibrationsgeräten oder Gymnastikbändern fördert, um fünf Stunden mit voller Kraft spielen oder die Schnellkraft seines linken Arms maximieren zu können. Wesentlich interessanter findet Forcades die geradezu manische Intensität, mit der Nadal sein Fitnesstraining an guten wie an schlechten Tag betreibt, mit kühler Zielstrebigkeit daran arbeitet und auf dem Tennisplatz in Siege verwandelt. Das Interessanteste ist jedoch die Frage, woher das alles kommt. Ja, er ist ein großartiger Tennisspieler, aber das allein erklärt noch nicht, wieso er so viele Grand Slams gewinnt. Es gibt viele Menschen, die mit dem Talent geboren werden, Tennis auf höchstem Niveau zu spielen, und manche seiner Konkurrenten, die er regelmäßig schlägt, besitzen sicher mehr angeborenes Talent.
»Bei der Frage, wer sein Talent nutzt und wer nicht, ist es wie beim Popcorn«, meint Forcades. »Manche Körner platzen, andere nicht. Wieso ist Rafas Korn so spektakulär geplatzt?«
Die Antwort ist nicht in erster Linie in den Beinen oder Armen zu suchen, sondern im Kopf, nach Forcades Ansicht »der empfindlichste Teil des Körpers« und der wichtigste, der über Sieg oder Niederlage im Spitzensport entscheidet, vor allem in einem Individualsport wie Tennis.
»Beim Tennis geht es darum, kritische Entscheidungen zu treffen, und zwar über längere Zeit hinweg eine kritische Entscheidung nach der anderen. Kein Ballwechsel ist wie der andere, ständig müssen in Sekundenbruchteilen Entscheidungen getroffen werden. Der Spieler, der imstande ist, nach einem Fehler nicht in der Erinnerung an diesen Fehler verhaftet zu bleiben, oder der mit einem großartigen Ball in einem Satz die Führung übernimmt und den Ansturm von Euphorie beherrschen und stetig weiterspielen kann, jeden Schlag für sich unabhängig, schnell und unter brutalem Zeitdruck einschätzen kann: Das ist der Spieler, der die anderen überragt und nicht einmal, nicht zweimal, sondern auf Dauer ein Champion wird. In diesen hektischen Entscheidungsprozessen einen kühlen Kopf zu bewahren ist entscheidend, und der kühle Kopf hängt vom emotionalen Wohlbefinden ab. Das ist die wichtigste Eigenschaft, die Rafael auszeichnet. Seine Aufmerksamkeit, die er über Stunden wach hält, ist nahezu übermenschlich. Sie ist der Schlüssel zu allem.«
Wenn Nadal siegte, lag es daran, dass sein Kopf, sein Körper und seine Gefühle, die untrennbar miteinander verknüpft sind, sich in Einklang oder »in vollkommener Synergie« befanden, wie Forcades es ausdrückt. Und der Grund dafür war die positive Wirkung seiner glücklichen Kindheit, seiner geordneten Jugend und seiner dauerhaften Beziehungen zu seiner gesamten Familie und seinem Team. Forcades nennt das den »sozio - affektiven« Faktor; übersetzt bedeutet das, dass Rafa sein Leben lang in der Geborgenheit eines bemerkenswert stabilen, erstaunlich konfliktfreien Umfelds gelebt hat – was unter Spitzensportlern ungewöhnlich ist. »Und in einer Umgebung, in der seine Eltern und sein Onkel Toni ihm von klein auf vermittelt haben, dass Talent ohne Bescheidenheit und harte Arbeit nie zur Blüte führt. Bescheidenheit bedeutet, seine Grenzen zu erkennen, und aus dieser Einsicht, nur aus dieser Einsicht erwächst der Antrieb, hart zu arbeiten, um sie zu überwinden. Deshalb arbeitet Rafael – ein Vorbild für Kinder überall auf der Welt – im Fitnessraum mit leidenschaftlicherem Engagement als jeder andere Tennisspieler, dem ich je begegnet bin. Denn trotz aller Erfolge ist er in jeder einzelnen Trainingsstunde mit größtem Ernst bestrebt, sein Spiel zu verbessern.«
Die »Kontinuität«, die Nadal in seinem Leben so schätzt, ist nach Forcades’ Ansicht ansonsten bei Spitzensportlern so gut wie nicht zu finden. Sein Trainer ist seit 20 Jahren bei ihm; sein Fitnesstrainer und sein Agent seit zehn Jahren; sein Physiotherapeut und sein Pressesprecher seit fünf Jahren; und seine Familie, die ohne Streitereien oder Eifersüchteleien geschlossen hinter ihm steht und nahezu ein Teil von ihm ist, umgibt ihn seit seiner Geburt. »Mit Erfolg, wie Rafael ihn hat, Erfolg, vom dem du weißt, dass er dich in die Geschichte eingehen lässt, ist schwer umzugehen. Er speist das Ego und kann dich in den Wahnsinn treiben. Da brauchst du die Stabilität einer Familie, die dich mit den Füßen fest auf dem Boden hält. In dieser Hinsicht hatte Rafael das besondere Glück, einen Onkel zu haben, der Erfolg, Geld und Ruhm in der Fußballwelt erlebt hatte. Manchmal fragen Menschen sich, ob Champions geboren oder gemacht werden. Miguel Ángels Beispiel hat ihn von klein auf gelehrt, dass beides nicht zu trennen ist; es stimmt beides. Denn wenn du mit gewissen Talenten geboren wirst, aber nicht trainierst und mit Leidenschaft an das herangehst, was du tust, wirst du es zu nichts bringen. Eine großartige Seite an Rafael ist, dass ihm der Wunsch, ständig zu lernen und sich weiter zu verbessern, im Blut steckt. Er weiß, dass niemand ein Gott ist und er schon gar nicht, aber seine Opferbereitschaft ist übermenschlich – das habe ich selbst Jahr für Jahr erlebt, so hoch er auch auf dem Olymp aufgestiegen sein mochte.«
Onkel Miguel Ángel, Onkel Toni, die bodenständigen Eltern, die Unterstützung der Großfamilie, die feste Freundin, das feste Team von Fachleuten, die zugleich Freunde sind, und auch der bescheidene, zurückhaltende mallorquinische Charakter ergeben, wie Forcades meint, zusammen mit Nadals Talent, Intelligenz und Antrieb eine Summe, die größer ist als ihre erkennbaren Einzelteile. »Rafaels engmaschiges emotionales Sicherungsnetz befreit seinen Geist und seinen Körper und ermöglicht es ihm, das Beste aus sich herauszuholen. Ohne dieses Netz besäße mein Fitnesstraining mit ihm nur einen Bruchteil seiner gegenwärtigen Effektivität. Ohne es wäre es unvorstellbar, dass er sich zu dem einzigartig fitten, starken Tennisspieler entwickelt hätte, der er ist und der die nötige mentale Klarheit besitzt, unter hohem Erwartungsdruck und extremer nervlicher Anspannung Augenblicksentscheidungen zu treffen, die über den Ausgang eines Grand-Slam-Finales entscheiden. Denn das Wesentliche ist, dass man nicht zwischen dem Menschen und dem Sportler trennen kann. Und zuerst kommt der Mensch. Rafa hatte Erfolg, weil er ein guter Mensch ist, hinter dem eine gute Familie steht.«