DER GEIST

ÜBERWINDET

DIE MATERIE

 

 

KAPITEL 7

Während im Centre Court in Wimbledon Stille herrscht, geht es im Arthur Ashe Stadium in New York, wo ich 2010 im Finale der US Open stand, sehr laut zu. Anderswo ist zwischen den Spielen Gelegenheit für eine Ruhepause, aber hier hört die Show niemals auf. Dröhnend laute Musik hämmert auf die Trommelfelle ein, auf der Großbildwand werden Preise gezogen und – mit atemloser Spannung – über Lautsprecher verkündet. Videowände zeigen Wiederholungen der letzten Ballwechsel auf dem Platz oder Aufnahmen des Publikums, die noch größeren Trubel hervorrufen: Pärchen, die sich küssen, strahlende Kinder, posierende Promis, jubelnde Tombolagewinner und ab und an streitende New Yorker. Der Lärm hört nie völlig auf, auch wenn er während eines Spiels zu einem leisen, aber konstanten Gemurmel abebbt. Theoretisch sollen die Zuschauer wie überall auf der Welt auf ihren Plätzen bleiben, bis ein Spiel abgeschlossen ist und die Spieler sich zu ihren Stühlen begeben. Aber das Arthur Ashe Stadium ist so riesig – es ist das größte Tennisstadion der Welt und bietet Platz für 23 000 Zuschauer –, dass nur die Leute in den unteren Sitzreihen dieser Aufforderung nachkommen. Weiter oben sind die Zuschauer nicht nur ständig in Bewegung, sondern scheinen auch zu meinen, die Regel, dass während der Ballwechsel Ruhe herrschen soll, existiere nur, um gebrochen zu werden. Ohnehin wird sie nicht sonderlich konsequent durchgesetzt, denn schließlich gibt es auch keine Regel gegen die Flugzeuge, die über das Stadion hinwegdonnern. Da die Tennisanlage im Flushing Meadows Park, auf der die US Open ausgetragen werden, genau in der Anflugschneise des Flughafens LaGuardia liegt, kann es vorkommen, dass mitten in einem wichtigen Ballwechsel oder unmittelbar vor einem nervösen zweiten Aufschlag plötzlich ein tieffliegender Passagierjet das Stadion mit seinem ohrenbetäubenden Lärm erfüllt.

Es ist wahrhaftig nicht Wimbledon.

Die Energie, die Respektlosigkeit und der ständige Trubel sind typisch für die US Open und heben es von den drei anderen Grand-Slam-Turnieren ab. Es ist Amerika pur, es ist New York pur, und ich liebe es. Der Lärm und die allgemeine Hektik stellen meine Konzentrationsfähigkeit zwar hart auf die Probe, aber darin bin ich gut. Im Großen und Ganzen schaffe ich es, mich in Flushing Meadows ebenso gut von meiner Umgebung abzuschotten wie im förmlichen Wimbledon. New York ist von Manacor so weit entfernt, wie man es sich nur vorstellen kann, aber mein Team sorgt dafür, dass ich mich überall ein bisschen zu Hause fühle, wohin ich auch fahre.

Das Großartige an dem Team, das mich auf der Tennistour begleitet, ist, dass meine Arbeit sich durch sie weniger nach Arbeit anfühlt. Bei ihnen finde ich Freundschaft, während die Alternative – wenn sie mir nicht so nahe stünden und nicht so loyal und umgänglich wären – ein nicht so angenehmes einsames Nomadenleben von Flughafen zu Flughafen, von einem anonymen Hotelzimmer zum anderen, von Spieler-Lounge zu Restaurants wäre, die immer alle irgendwie gleich aussehen und eine ähnliche Atmosphäre haben, wo immer auch auf der Welt ich gerade sein mag.

Jordi Robert, der in New York immer bei mir ist, arbeitet für Nike, meinem Hauptsponsor, aber vor allem ist er ein Freund. Ich hoffe, sein Unternehmen weiß ihn ebenso zu schätzen wie ich. Wenn ein Konkurrent von Nike mit einem besseren Angebot an mich herantrat, habe ich lange und eingehend über einen Wechsel nachgedacht, und das lag einzig und allein an meiner Beziehung zu Tuts. Er ist für die Firma Gold wert. Es gehört keineswegs zu seinen beruflichen Aufgaben, so enge Kontakte zu mir zu pflegen, aber er ist ein unverzichtbares Mitglied meines Teams geworden. Er begleitet mich zum Training, sitzt vor und nach den Matchs mit mir am Tisch beim Essen, unterhält sich mit mir in meinem Hotelzimmer, kommt in das Haus, das wir in Wimbledon mieten. Tuts ist etwa zehn Jahre älter als ich, aber nach seiner schicken Brille und seiner modischen, bunten Kleidung zu urteilen, könnte man meinen, ich sei der Ältere, denn ich kleide mich wesentlich konventioneller. Außer der persönlichen Note, die er meiner Beziehung zu Nike verleiht, schätze ich an Tuts besonders, dass er immer lächelt und gute Laune hat. Er ist herzlich, loyal und umgänglich. Er bringt mich dazu zu arbeiten, auch wenn ich manchmal, ehrlich gesagt, lieber etwas anderes täte. Aber vor allem ist er einfach ein unglaublich netter Kerl, der allein durch seine Anwesenheit die Atmosphäre von Vertrauen und Ruhe schafft, die ich brauche, um auf dem Tennisplatz mein Bestes zu geben.

Carlos Costa ist ebenso wie Tuts nicht bei mir angestellt. Er arbeitet für die große internationale Sportagentur IMG, ist aber schon an meiner Seite, seit ich 14 Jahre alt war. Carlos handelt die Verträge aus und nimmt die erste Einschätzung zu Sponsorenverträgen vor, die uns regelmäßig angeboten werden. Aber er ist auch ein wunderbarer Freund, an den ich mich mit uneingeschränktem Vertrauen wende, falls Probleme auftauchen. Sein Rat ist mir unendlich wichtig, zumal ich die Erfahrung gemacht habe, dass seine geschäftlichen Empfehlungen nicht in erster Linie von der Maßgabe geprägt sind, Geld zu verdienen, sondern von dem, was für mein Spiel das Beste ist. Ein solcher Agent ist nur schwer zu finden. Noch schwieriger ist ein Agent zu finden, der wie Carlos auf höchstem Niveau Tennis gespielt und es bis auf Platz 10 der Weltrangliste geschafft hat. Als sportlicher Mentor ergänzt er Toni hervorragend. Er ist technisch versiert und kennt die Qualitäten meiner Konkurrenten. Wenn die – gewöhnlich nützlichen – Spannungen, die Toni erzeugt, allzu ausgeprägt werden, versteht Carlos es, sie zu entschärfen. Wenn wir beispielsweise während der French Open in einem Hotelzimmer in Paris sind und es mit Toni plötzlich zu hitzig wird, schlägt Carlos vor: »Rafa, lass uns spazieren gehen.« Dann schlendern wir beide durch Paris, besprechen alles, rücken es ins rechte Licht, und ich kehre in erheblich besserer Verfassung ins Hotel zurück. Carlos bringt Ordnung und Stabilität in unser Team. Da er nicht zur Familie gehört, kann er Entscheidungen treffen, die stärker vom Kopf als vom Herzen bestimmt sind. Es wäre sicherlich gut, auch über meine Tenniskarriere hinaus berufliche Beziehungen zu ihm zu unterhalten. Sollte ich einmal eine Firma gründen, würde ich ihn gern mitnehmen. Das gilt auch für Tuts. Denn wir arbeiten gut zusammen, haben aber auch viel Spaß miteinander.

In New York wie auch anderswo macht der Umgang mit den Medien einen erheblichen Teil unserer Arbeit aus. Daher ist es für mich so wichtig, einen kompetenten Profi als Pressesprecher zu haben. Benito Pérez Barbadillo ist das kosmopolitischste Mitglied unseres Teams. Er spricht vier Sprachen fließend, was von großem Vorteil ist, da er in seinem Job mit Journalisten aus aller Welt umgehen muss. Außerdem hat er die – was mir durchaus klar ist – schwierige Aufgabe, für mich den Buhmann zu spielen, ständig Journalisten abzuweisen und mich gegen die unzähligen Interviewanfragen abzuschirmen. Würde ich auf sämtliche Anfragen eingehen, bliebe mir keine Zeit mehr für andere Dinge. Benito versteht ebenso gut wie Carlos Costa, dass ich nicht nur Zeit fürs Training brauche, sondern auch für ein ruhiges, geordnetes Leben, damit ich den nötigen Frieden für den abgeschirmten mentalen Raum habe, der für meinen Erfolg auf dem Tennisplatz unerlässlich ist. Wenn Benito nicht da ist, vermisse ich ihn. Er ist respektlos, schlagfertig und immer zu Scherzen aufgelegt. Zudem ist er immer über Politik und das allgemeine Weltgeschehen im Bilde: In der abgeschotteten Blase, in der unser Team lebt, ist er unsere Verbindung zur Außenwelt und zu den Medien und weiß genau, wie er uns Neuigkeiten in der richtigen Dosierung mit viel Humor und immer provokativen Ansichten vermitteln muss. Aber er nimmt sich nicht zu wichtig, und wir haben gelernt, alles, was er sagt, mit einer gewissen Vorsicht zu genießen, da er gern bewusst übertreibt. Er ist unser Hofnarr und heitert die Stimmung in einem Umfeld auf, in dem man leicht die richtige Perspektive verliert und manches zu ernst und verkrampft sieht.

Francis Roig, mein Co-Trainer, wirkt ähnlich beruhigend, wenn auch auf stillere Art. Wie Carlos Costa ist auch er ein ehemaliger Profitennisspieler, vermag meine Gegner klar einzuschätzen und ist ein enorm erfahrener Experte für die Feinheiten des Tennissports. Er besitzt großes Zutrauen in meine Fähigkeiten, vermittelt mir viel Selbstvertrauen und hat erheblich zu meinem Verständnis dieses Sports beigetragen. Wie Carlos ist auch er gelassen, umgänglich und ein Gewinn für mich und meine Entwicklung, seit er bei einer Südamerikatour von 2005 zu unserem Team stieß. Er ist an meiner Seite, wenn Toni nicht da ist, also bei etwa 40 Prozent der Matchs auf der Tour.

Ángel Ruiz Cotorro ist mein Arzt, seit ich 14 Jahre alt bin. Er behandelte mich bei den schweren Verletzungen, die ich hatte, und gab mir außer seinem kompetenten medizinischen Rat auch noch die nötige Sicherheit, um weiterzukämpfen, und half mir, an meine Genesung zu glauben. Er ist in großen und kleinen Notsituationen immer für mich da, wo ich auch gerade auf der Welt sein mag. Zudem hat er volles Verständnis für meine besonderen Bedürfnisse als Sportler, da er der führende Sportarzt des Spanischen Tennisverbands war und bereits spanische Spitzenspieler betreute, bevor wir uns kennenlernten. Bei vielen wichtigen Tennisturnieren gehört er unserem Team an, aber selbst, wenn er nicht da ist, ist er im Geiste bei mir. Das gilt ebenso für meinen Fitnesstrainer Joan Forcades, mit dem er sich fortwährend über meine Kondition austauscht, bevor er Titín, der immer bei mir ist, aus der Ferne Anweisungen gibt.

Wenn Titín nicht in meinem Team wäre, wäre ich verloren. Ich weiß nicht, wie sein Fehlen sich auf mein Spiel auswirken würde, aber meinem Wohlbefinden wäre es sicher abträglich. Er ist bei Turnieren immer an meiner Seite und ist der Erste, an den ich mich wende, wenn ich ein Problem habe. Als Physiotherapeut macht er seine Arbeit exzellent, aber mehr noch als seine fachliche Kompetenz schätze ich seine persönlichen Qualitäten. Es gibt viele Physiotherapeuten auf der Welt, aber wenn er weggehen sollte, wäre es nahezu unmöglich, die Lücke zu füllen, die der Wegfall seiner Freundschaft hinterlassen würde. Er ist nicht nur ein guter Mensch, sondern auch überaus ehrlich. Wenn er etwas zu sagen hat, tut er es geradeheraus.

Würde ich zu den zahlreichen Spielern gehören, die ständig die Mitarbeiter ihres Teams wechseln, hätte ich sportlich erheblich zu kämpfen. Die Hauptanforderungen an mein Team liegen auf der persönlichen Ebene, weil Tennis ein Sport ist, bei dem die emotionale Verfassung für den Erfolg so wichtig ist. Je besser man mit sich im Reinen ist, umso höher sind die Chancen, gut zu spielen. Ich rede häufig über die Bedeutung des »Durchhaltevermögens«, aber »Kontinuität« ist ein weiterer wichtiger Begriff in meinem Wortschatz. Ich ziehe es erst gar nicht in Betracht, die Mitarbeiter meines Teams auszuwechseln. Ich hatte immer das gleiche Team um mich, und hoffe, dass es so bleibt. Diesen Grundsatz hat Toni etabliert, der immer bei mir war, und ich möchte daran auch niemals etwas ändern.

Bei den US Open in New York folgen wir ebenfalls einer eingespielten Routine. Wir wohnen immer in Hotels in den gleichen Vierteln von Manhattan, in der Nähe des Central Park, fahren tagsüber nach Flushing Meadows und gehen abends in eines der vier bis fünf Restaurants, die man vom Hotel aus zu Fuß erreichen kann. Häufig essen wir japanisch, weil es kaum etwas Besseres gibt als den hochwertigen Fisch in guten japanischen Restaurants. Die übrige Zeit verbringen wir meist in meinem Hotelzimmer, plaudern, schauen uns Filme oder ein Fußballspiel an. Außerdem sehen Toni und ich uns viele Aufzeichnungen meiner Matchs nochmal genau an und ziehen Konsequenzen aus meinen Fehlern wie auch aus besseren Phasen meines Spiels. Es hebt die Moral zu sehen, wie ich einen großartigen Punkt oder einen unerreichbaren Vorhand-Drive gespielt habe, aber vor allem hilft es mir, die Feinheiten meines Spiels zu visualisieren und mir eine mentale Situation einzuprägen. Wenn ich auf den Platz gehe, kann ich auf diesen Eindruck zurückgreifen, um das fließende Gefühl der Kontrolle wiederzubekommen, das ich für einen guten Schlag brauche. Es ist schwer zu erklären, aber es funktioniert.

In Manhattan würde ich gern mehr umherschlendern, die Ausstrahlung des Ortes auf mich wirken lassen und mir Sehenswürdigkeiten ansehen. Aber wenn Passanten Sportstars sehen, halten sie sich meist nicht zurück. Daher ist es nach meiner Erfahrung ein Ding der Unmöglichkeit, sich wie ein ganz normaler Mensch zu benehmen und unerkannt über die Fifth Avenue zu spazieren. Es ist ebenso zwecklos, sich darüber zu beklagen, wie sich über Regenpausen beim Match zu ärgern. Es gehört zum Job, und man muss es hinnehmen. So begebe ich mich nur über die unmittelbare Umgebung meines Hotels hinaus, wenn einer meiner Sponsoren mich bittet, an einer Promotion-Veranstaltung in der City oder am Kai des Hudson River teilzunehmen, wo Nike einmal zu einem extravaganten Event an dem Pier einlud, an dem die Titanic angelegt hätte, wenn sie bei ihrer Jungfernfahrt in New York angekommen wäre. Zu solchen Veranstaltungen kommen alle mit, nicht nur Tuts, sondern auch Titín, Carlos, Benito und wer sonst gerade da ist. Was wir auch machen, wir machen es gemeinsam.

Bei den US Open 2010 war es in der ersten Woche unglaublich heiß, kühlte dann aber ab, und am Tag des Finales regnete es so stark, dass das Match um 24 Stunden verschoben werden musste. Das war nicht ungünstig für meinen Gegner Novak Djokovic, der ein erheblich härteres Halbfinale hinter sich hatte als ich, nämlich ein Match über fünf Sätze gegen Roger Federer. An seiner Stelle hätte ich mich über den zusätzlichen Ruhetag gefreut.

Wenn Djokovic stark und fit war, stand man einem herausragenden Gegner gegenüber. Unser Match hatte zwar nicht denselben Glanz wie ein weiterer Kampf Federer-Nadal, zumindest nicht für die Zuschauer, aber mich stellte es vor eine hinreichend große Herausforderung. Er ist ein vollendeter Spieler – nach Tonis Ansicht vollendeter als ich – ohne offenkundige Schwächen, und auf harten Belägen wie in Flushing Meadows hatte er mich öfter geschlagen als ich ihn. Seine größten Stärken sind sein Gespür für die richtige Positionierung auf dem Platz und seine Fähigkeit, den Ball frühzeitig im Aufstieg zu schlagen. Seine Rückhand ist ebenso gut wie seine Vorhand, und er sieht den Ball so scharf, dass er zeitsparend spielt, in den meisten Fällen ins Feld trifft und die Winkel für seinen Gegner einengt. Damit macht er sich das Spiel erheblich leichter.

Gegen Federer lautet die Regel, geduldig immer weiter Druck zu machen in dem Wissen, dass man ihn früher oder später hin zu einem Fehler drängt. Gegen Djokovic gibt es keinen eindeutigen taktischen Plan. Es geht schlicht darum, sein Bestes zu geben, mit einem Maximum an Intensität und Aggressivität zu spielen und die Kontrolle über den Ballwechsel zu behalten, denn sobald man zulässt, dass er die Oberhand gewinnt, ist er nicht mehr zu stoppen.

Mein Eindruck bestätigte sich, als ich mir im Fernsehen sein Halbfinale gegen Federer ansah, das Djokovic gewann, nachdem er zwei Matchbälle abgewehrt hatte. Nicht zum ersten Mal dachte ich: »Was für ein unglaublich zäher, talentierter Bursche!« Mir war klar, dass es schwer werden dürfte, ihn zu besiegen. Wenn ich mir Matchs von Spitzenspielern auf Video ansehe, habe ich oft den Eindruck, sie seien besser als ich. Bei den US Open von 2010 war ein solcher Gedanke nicht gerade nachvollziehbar angesichts der Tatsache, dass ich mittlerweile seit nahezu zwei Jahren die Nummer eins der Weltrangliste war. Zudem hatte ich beide Spieler häufiger besiegt als sie mich. Ich weiß nicht recht, ob die meisten Spitzensportler ihre Konkurrenten so sehen. Vermutlich ist es genau umgekehrt. In meinem Fall hat es wahrscheinlich viel mit Toni zu tun, der mich von Kind an darauf konditioniert hat, dass jedes Match ein zäher Kampf ist. Zudem bin ich mir keineswegs sicher, ob es immer die gesündeste Einstellung für ein Match ist, weil es zuweilen mein Selbstvertrauen bremst und bewirkt, dass ich weniger aggressiv spiele als ich könnte. Andererseits hat es die positive Auswirkung, dass ich jedem, gegen den ich spiele, mit Respekt begegne und nie selbstgefällig werde. Vielleicht ist das mit ein Grund, weshalb ich selten gegen Spieler verlieren, die ich aufgrund ihres Platzes auf der Weltrangliste besiegen sollte.

Aber vor dem Finale gegen Djokovic 2010 war ich nicht sonderlich nervös – jedenfalls nicht gemessen an der Herausforderung, die vor mir lag. Mit Sicherheit war ich weniger angespannt als vor dem Wimbledon-Finale von 2008. In den beiden Nächten vor dem Spiel schlief ich gut acht Stunden durch – wegen der Regenpause waren es zwei Nächte. An beiden Abenden schaute ich mir in meinem Hotelzimmer einen Spielfilm an und schlief sofort ein, ohne mich lange hin und her zu wälzen und mir das Schlimmste auszumalen. Zum Teil lag es daran, dass mich keine Erinnerungen an frühere Traumata verfolgten wie in Wimbledon, zum Teil an meiner größeren Erfahrung und Reife durch die Zahl der Grand-Slam-Finals, die ich gespielt hatte. Teilweise lag es also auch daran, dass meine Erwartungen nicht so hoch gesteckt waren. Seit frühester Jugend hatte ich mir ausgemalt, wie ich Wimbledon gewinnen würde, aber die US Open immer als allzu fernen Traum empfunden.

Das soll keineswegs heißen, dass ich mit einer pessimistischen Einstellung in das Match gegen Djokovic gegangen wäre. Ich hatte durchaus das Gefühl, gewinnen zu können, empfand einen möglichen Sieg aber als glückliches, unerwartetes Extra meiner Karriere, nicht als etwas, was ich unbedingt erreichen musste, wenn mich nicht für den Rest meines Lebens das Gefühl plagen sollte, versagt zu haben.

Die US Open schätzte ich schon immer als das Turnier ein, das für mich am schwierigsten zu gewinnen war. In Wimbledon hatte ich auch dann gut gespielt, wenn ich nicht gewann; bei den US Open sah man eigentlich nie mein bestes Spiel. Zweimal gelang es mir zwar, ins Halbfinale vorzudringen, ich fühlte mich aber beide Male auf dem Platz nie richtig wohl. Das hängt sehr mit dem ungewöhnlich schnellen Belag zusammen, aber auch mit den dort verwendeten Bällen, die weicher sind als üblich und verhindern, dass ich meinen Schlägen so viel Topspin und damit Höhe mitgeben kann, wie ich es sonst tue. Dieser Aspekt meines Spiels bereitet meinen Gegnern die größten Schwierigkeiten und verleiht mir ihnen gegenüber einen Vorteil. Ein weiterer Faktor spielt eine Rolle: Die US Open sind das letzte der vier Grand-Slam-Turniere nach einer langen, harten Sommersaison, und meist treffe ich körperlich und mental müde in New York ein.

Bei dem Turnier 2008, bei dem ich im Halbfinale gegen Andy Murray verlor, war ich noch ausgelaugter als sonst, und das lag nicht nur an der Nervenstärke, die ich in den Wimbledon-Sieg investiert hatte. Vielmehr war ich zwischen den beiden Wettkämpfen um die halbe Welt gereist, um an den Olympischen Sommerspielen in Beijing teilzunehmen, meine erste Erfahrung als aktiver Sportler bei diesem größten Sportereignis der Welt. Ich genoss es sehr und begriff dabei viel – vor allem, wie viel Glück ich habe.

Ich wohnte mit allen anderen Sportlern im Olympischen Dorf und erlebte wie beim Daviscup wieder einmal den Mannschaftsgeist, der mir als Kind beim Fußball so gefallen hatte. Mit meinen spanischen Mannschaftskameraden unter einem Dach zu wohnen, die spanischen Basketballspieler und Leichtathleten (von denen mich einige auf dem Flur oder in der gemeinsamen Waschküche, wo wir unsere Wäsche wuschen, ansprachen und um ein Autogramm baten, was mir ein bisschen peinlich war) kennenzulernen, sich mit ihnen anzufreunden und gemeinsam mit ihnen im Dress der spanischen Olympiamannschaft bei der Eröffnungsfeier ins Stadion einzuziehen – das alles waren unvergessliche Erlebnisse. Aber mein Gefühl, viel Glück zu haben, ging mit einer beträchtlichen Dosis Verärgerung einher.

Besser denn je begriff ich, wie privilegiert wir Profitennisspieler sind und wie ungerecht die schwierige Lage vieler anderer Olympioniken ist. Sie trainieren unglaublich hart, mindestens so hart wie wir, bekommen aber tendenziell eine weit geringere Gegenleistung als wir. Ein Tennisspieler, der auf Platz acht der Weltrangliste rangiert, erhält finanzielle Leistungen, soziale Privilegien und ein Maß an Anerkennung, von denen die Weltranglistenersten in der Leichtathletik, im Schwimmen und Turnen nur träumen können. Im Tenniszirkus wird das Jahr über alles für uns organisiert, und das Geld, das wir verdienen, ermöglicht es uns, für die Zukunft zu sparen. Diese Sportler trainieren mit der eisernen Disziplin von Mönchen über vier Jahre, um sich für den einen Wettkampf vorzubereiten, der alle anderen überragt, die Olympischen Spiele, aber die große Mehrheit von ihnen erhält, gemessen an den aufgewendeten Mühen, nur wenig Unterstützung. Es ist bewundernswert, dass sie sich mit derart hohen persönlichen Opfern so intensiv vorbereiten, nur wegen der Befriedigung, am Wettkampf teilzunehmen und wegen ihrer sportlichen Leidenschaft. Das ist von unbezahlbarem Wert, sollte aber nicht alles sein. Bei den enormen Einnahmen, die das Internationale Olympische Komitee mit den Olympischen Spielen – einem Ereignis, dessen Erfolg vom Engagement der Sportler abhängt – erzielt, sollte man erwarten, dass es diese Gelder ein bisschen gerechter verteilen könnte. Zum Glück bin ich nicht auf eine solche Bezahlung angewiesen, aber ein 400MeterAthlet oder ein Marathonläufer braucht viel finanzielle Unterstützung, um auf dem Niveau trainieren zu können, das für eine Teilnahme an den Olympischen Spielen und den Kampf um Medaillenplätze ausreicht. Mir ist durchaus bewusst, dass der Tennissport, zumindest über das Jahr gesehen, ein breiteres Publikum anspricht, aber ich finde es ungerecht, dass man sich nicht stärker bemüht, diesen unglaublich engagierten Sportlern bessere Lebensverhältnisse und Trainingsbedingungen zu ermöglichen.

Diese Überlegungen kamen mir allerdings erst nach den Spielen. Meine Zeit in Beijing war nicht geprägt von solchen Gedanken. Vielmehr hat sich mir vor allem die Kameradschaft unter den Sportlern und die Chance eingeprägt, etwas über so viele verschiedene Sportarten zu erfahren und zu erleben, wie viel wir alle gemeinsam haben. Allein schon die Teilnahme und der Zugang zu einer Welt, die kennenzulernen ich nie gedacht hätte, war erhebend genug. Als ich dann auch noch Gold im Herreneinzel gewann, nachdem ich Djokovic im Halbfinale und den Chilenen Fernando Gonzalez im Finale geschlagen hatte und dann auf dem Siegertreppchen stand, die Nationalhymne hörte und sah, wie die spanische Flagge gehisst wurde, das war einer der stolzesten Momente in meinem Leben. Die meisten bringen die Olympischen Spiele nicht mit Tennis in Verbindung. Als ich aufwuchs, tat ich es jedenfalls nicht. Erst 1988 wurde Tennis nach 64 Jahren wieder als Wettbewerb bei den Olympischen Sommerspielen ausgetragen. Bei Tennisspielern rangiert die olympische Goldmedaille mittlerweile jedoch gleich nach einem Grand-Slam-Sieg.

Das erste Grand-Slam-Turnier des Jahres sind die Australian Open in Melbourne. Es ist ein angenehmes Turnier, nicht so laut wie die US Open, lockerer als Wimbledon und nicht so großartig wie Paris – auch wenn man mich in einer Hotelsuite unterbringt, in der ich beinahe Hallenfußball spielen könnte. Das Essen in Melbourne gefällt mir. Unten im Hotel gibt es ein hervorragendes japanisches Restaurant. Auch die fünfminütige Fahrt durch die üppig grüne Parklandschaft zum Melbourne Park, wo der Wettbewerb stattfindet, genieße ich. Allerdings ist es heiß, wenn man geradewegs aus dem europäischen Winter kommt. Meist reise ich eine Woche vor dem Turnier an, um mich an die 10-stündige Zeitverschiebung gegenüber Spanien zu gewöhnen. In meinem Fall wird diese Anpassung durch die Tatsache erschwert, dass der Januar ein wichtiger Monat im spanischen Fußballkalender ist und ich zu nachtschlafender Zeit aufstehen muss, um Real Madrid spielen zu sehen. Wenn Real sehr früh spielt, stelle ich mir den Wecker, schaue, wie das Spiel läuft, und entscheide, ob ich aufstehe oder im Bett bleibe. Liegt Real eine halbe Stunde vor Spielende 3:0 in Führung, drehe ich mich noch einmal um und schlafe weiter. Steht es 0:0, ist die Spannung für mich zu groß, und ich muss aufbleiben und mir das Spiel bis zum Ende ansehen. Sollte ich aber an diesem Tag selbst einen Wettkampf haben, stehe ich nicht in aller Herrgottsfrühe auf, so wichtig das Fußballspiel auch sein mag. Die Arbeit geht vor.

Zu Beginn der Australian Open 2009 hatte ich das Gefühl, dass meine Siegchancen ebenso gut waren wie ein halbes Jahr zuvor in Wimbledon. Mit anderen Worten, ich war bestens motiviert. Der Bodenbelag war hart, aber weniger schwierig für meine Spielweise als in Flushing Meadows. Der Ball springt höher als bei den US Open, fliegt also nicht so schnell und nimmt meinen Topspin gut an. Allerdings hatte ich nicht mit einem Halbfinale gerechnet, wie ich es dann gegen meinen Freund und Landsmann, den Spanier Fernando Verdasco, bestreiten musste. Letztlich gewann ich, musste aber so hart darum kämpfen, dass ich schließlich körperlich völlig ausgelaugt war. In den anderthalb Tagen, die mir zur Vorbereitung auf das Endspiel gegen Federer blieben, war ich im tiefsten Inneren überzeugt, absolut keine Chance auf einen Sieg zu haben. Das einzige Mal, dass ich mich vor einem Grand-Slam-Finale so gefühlt hatte, war 2006 in Wimbledon. Damals lag es aber daran, dass ich ganz tief in mir nicht an die Möglichkeit eines Sieges geglaubt hatte. Vor dem Endspiel in Australien 2009 rebellierte mein Körper und bettelte um Ruhe. Es kam mir jedoch gar nicht in den Sinn, das Match aufzugeben – bei einem Grand-Slam-Finale kommt das nicht infrage, wenn man nicht gerade kurz vor dem Zusammenbruch steht –, aber ich rechnete mit einer Niederlage von 6:1, 6:2, 6:2 und versuchte, mich mental darauf einzustellen.

Das Halbfinale gegen Verdasco war das längste Match in der Geschichte der Australian Open. In jeder Phase war es unglaublich knapp, er spielte spektakulär und schlug einen ungewöhnlich hohen Prozentsatz an Gewinnschlägen. Aber irgendwie hielt ich dagegen, war zwar in der Defensive, machte aber nur wenige Fehler, und nach 5 Stunden und 14 Minuten gewann ich 6:7, 6:4, 7:6, 6:7, 6:4. Auf dem Platz war es so heiß, dass wir beide uns in den Pausen zwischen den Spielen schnell Kühlpackungen auf Nacken und Schultern legten. Im letzten Spiel, kurz vor dem letzten Punkt, füllten sich meine Augen mit Tränen. Ich weinte nicht, weil ich eine Niederlage oder auch den Sieg vor mir sah, sondern als Reaktion auf die quälende Anspannung. Den vierten Satz hatte ich im Tiebreak verloren, und das hätte sich in einem so knappen Spiel unter solchen Bedingungen verheerend ausgewirkt, wenn ich nicht auf die letzten Reserven an mentaler Stärke hätte zurückgreifen können, die ich im Laufe von 15 Jahren ständiger Wettkämpfe gesammelt hatte. So konnte ich diesen Rückschlag verwinden und mit der Überzeugung in den fünften Satz gehen, dass es immer noch in mir steckte, zu gewinnen.

Diese Chance bot sich endlich, als ich 5:4 und 40:0 bei Verdascos Aufschlag in Führung lag. Drei Matchbälle hätten eigentlich die Entscheidung bringen müssen, aber so war es nicht. Ich vergab sowohl den ersten als auch den zweiten Matchball. An diesem Punkt wurde mir alles zu viel und ich brach zusammen; mein Schutzschild bröckelte, und der Kämpfer Rafael Nadal, den die Tennisfans zu kennen glauben, offenbarte sich als verletzlicher Mensch. Der Einzige, der das nicht erkannte, war Verdasco, oder aber er war in noch schlechterer Verfassung als ich. Denn auch ihm setzten seine Nerven zu. In einem Augenblick unglaublichen Glücks für mich (und furchtbaren Pechs für ihn) machte er einen Doppelfehler und schenkte mir den Sieg, ohne dass ich auch nur einen Ball hätte schlagen müssen. Körperlich und nervlich völlig erschöpft, ließen wir uns beide auf den Rücken fallen, aber ich raffte mich als Erster wieder auf, taumelte vor, stieg über das Netz, umarmte Fernando und sagte ihm, dass keiner von uns beiden es verdient hatte, dieses Match zu verlieren. Toni war nicht entgangen, dass ich im letzten Spiel nur noch ein zitterndes Wrack war, und später erklärte er, wenn Verdasco dieser Doppelfehler nicht unterlaufen wäre, hätte er das Halbfinale vermutlich gewonnen. Ich neige dazu, ihm zuzustimmen.

Das Match endete um 1 Uhr nachts, und ich ging erst um 5 Uhr früh schlafen. Vorher musste ich zu der unvermeidlichen Pressekonferenz nach dem Match und anschließend einigen Journalisten Interviews geben. Ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten und sagte Gott-weiß-was. Als ich endlich in meinem Hotelzimmer war, ließ ich mir etwas zu essen bringen. Der Schlaf musste warten. Ich aß, um meine leeren Batterien aufzufüllen, und überließ mich dann Titín, der die Aufgabe hatte, meinen geschundenen Körper wieder zum Leben zu erwecken und auf das Match gegen Federer vorzubereiten. Als Tuts mich nach dem Match gegen Verdasco völlig ausgelaugt in der Umkleidekabine sah, war sein erster Gedanke: »Mein Gott! Da hat Titín die Arbeit seines Lebens vor sich!« Er hatte Recht.

Glücklicherweise war Titín ruhig und gefasst wie üblich. Er tat, was er in schwierigen Situationen immer machte: Er zog Joan Forcades zu Rate, den er auf Mallorca erreichte. Forcades und Titín sind Freunde und Verbündete, die es als gemeinsame Aufgabe ansehen, sich um meinen Körper zu kümmern, Verletzungen zu vermeiden, meine Fitness zu maximieren und die rechtzeitige Erholung meines geschundenen Körpers für mein nächstes Match zu unterstützen. In diesem Augenblick war ich erschöpfter, als ich es je zuvor in meinem Leben erlebt hatte. Die Herausforderung, vor die wir alle drei uns gestellt sahen, erforderte meiner Ansicht nach ein Wunder. Aber Joan ließ sich nicht entmutigen.

Er kennt mich, seit ich neun oder zehn Jahre alt war, und setzt mehr Vertrauen in mich als ich selbst. In seinem Beruf ist er fantastisch und ein überaus wichtiges Mitglied meines Teams, arbeitet aber mehr als die anderen im Hintergrund. Früher begleitete er mich auf meinen Reisen, tut das aber mittlerweile nur noch selten und bleibt lieber auf Mallorca, abseits vom Ruhm und Medienrummel. Er ist ein besonderer Mensch, der seine Arbeit – als Lehrer in einer Schule auf Mallorca – liebt und nicht des Geldes wegen für mich arbeitet, sondern weil es ihm Spaß macht und weil ihm an mir soviel wie an einem Familienmitglied liegt.

Ich lauschte seinem Gespräch mit Titín. Sie waren sich einig, dass viel Eis und Massagen nötig waren, um den Kreislauf wieder in Schwung zu bringen. Joan, der die Lage mit Dr. Cotorro analysiert hatte, bestand darauf, dass ich eine ausreichende Dosis an Proteinen und Vitaminen nehmen sollte, fand aber vor allem Bewegung wichtig. Er empfahl, ich sollte am nächsten Tag die Muskeln mit Stretching-Übungen anregen, ein bisschen auf dem Fahrrad und anschließend auf dem Tennisplatz trainieren. Joan war optimistisch und erinnerte Titín, dass wir uns vor Saisonbeginn auf solche Situationen vorbereitet hatten, als wir morgens drei bis vier Stunden und nachmittags noch einmal eineinhalb Stunden hart trainiert hatten. »Das Wichtigste ist, dass wir seinen Körper wieder in Aktion bringen«, erklärte Joan.

Ich hörte es und verstand seine Überlegungen, aber damals, um drei Uhr morgens australischer Zeit, war ich lediglich imstande, reglos auf einer Liege zu liegen und mich passiv Titíns therapeutischen Fähigkeiten zu überlassen. Nachdem er das Gespräch mit Joan beendet hatte, füllte er als Erstes eine Wanne mit Eis, in die ich mich setzen musste, um den Kreislauf in meinen schmerzenden Oberschenkeln in Schwung zu bringen. Es folgten Massagen, zunächst mit einem Eisbeutel, anschließend mit einem Stück Seife. Am Tag vor einem Endspiel trainiere ich gewöhnlich morgens. Dieses Mal verschlief ich jedoch den ganzen Vormittag, wachte erst am frühen Nachmittag auf und stellte entsetzt fest, dass ich mich steifer fühlte als am Tag zuvor. Dennoch stieg ich aufs Fahrrad, trat auf Titíns Anweisung behutsam in die Pedale, um den Kreislauf anzuregen, und ging anschließend mit Carlos Costa auf den Tennisplatz. Ich hielt nur zwanzig Minuten durch. Carlos sah, dass ich nicht mehr konnte. »Es hat keinen Zweck. Du kannst dich ja gar nicht bewegen«, sagte er. »Wir müssen aufhören.« Benommen vor Schwindel, völlig ausgelaugt und mit bleiernen Waden humpelte ich vom Platz und fuhr zurück ins Hotel, geradewegs ins Eisbad. Titín machte Überstunden, um mich auf das Finale am folgenden Tag vorzubereiten, aber in diesem Moment war ich von meinem Zusammenbruch auf dem Platz so niedergeschlagen, dass ich das Gefühl hatte, keine Macht der Welt oder des Himmels könnte diese Aufgabe bewältigen.

An diesem Abend ging ich in finsterster Stimmung schlafen und wachte am folgenden Morgen kaum weniger steif auf. Als ich um 17 Uhr, zweieinhalb Stunden vor Beginn des Matchs, zu meiner letzten Trainingseinheit auf den Übungsplatz ging, fühlte ich mich kaum besser. Wieder war mir schwindelig und meine Beinmuskeln waren schwer und verhärtet – und zwar so stark, dass ich plötzlich in einem Bein Wadenkrämpfe bekam. Toni war da, und nachdem ich eine halbe Stunde lang mühsam versucht hatte, einen gewissen Rhythmus aufzubauen, erklärte ich ihm, dass ich nicht mehr könnte. Ich muss wohl furchtbar ausgesehen haben, denn er sagte: »O. k. Hören wir auf. Gehen wir zurück in die Umkleidekabine.« Und dort zeigte Toni sich der Lage gewachsen.

Die Stärke meines Onkels lag schon immer in den Worten, mit denen er mich motivierte. Gern und oft versucht er mir in Erinnerung zu bringen, dass unser wichtigstes Training in meinen Kindertagen nicht auf dem Platz stattfand, sondern während der Autofahrten zu und von den Spielen im 50 Kilometer entfernten Palma, bei denen wir unser Vorgehen planten oder analysierten, was wir falsch gemacht hatten. Ich erinnere mich, dass er mit Beispielen aus dem Fußball und von Real Madrid meine Aufmerksamkeit erregte und mir seine Vorstellungen klar machte. Und Toni hat Recht. Seine Ausführungen versetzten mich in die Lage, auf dem Tennisplatz selbst zu denken und zu kämpfen. Er zitiert gern einen spanischen Schriftsteller, der sagte, Menschen, die Kriege anfingen, seien immer Poeten. Nun ja, eine gewisse Art von Poesie setzte er nun auch bei mir in diesem anscheinend hoffnungslosen Moment ein, als der Kampf noch nicht einmal begonnen hatte, aber in meiner Vorstellung bereits verloren war.

»Hör zu«, sagte er, »jetzt ist es 17.30 Uhr, und wenn du um 19.30 Uhr auf den Platz gehst, wirst du dich kein bisschen besser fühlen, das versichere ich dir. Wahrscheinlich fühlst du dich noch schlechter. Es liegt also bei dir, ob du die Schmerzen und die Erschöpfung überwindest und den nötigen Willen aufbringst, um zu gewinnen.« Ich antwortete: »Toni, es tut mir leid, ich sehe es einfach nicht. Ich kann nicht.« »Sag nicht, du kannst nicht«, meinte er. »Denn jemand, der tief genug gräbt, findet immer die nötige Motivation für alles. Im Krieg tun Leute Dinge, die unmöglich scheinen. Stelle dir nur mal vor, im Stadion säße ein Kerl hinter dir, würde eine Waffe auf dich richten und sagen, wenn du nicht immer weiter läufst, würde er dich erschießen. Ich wette, dann würdest du laufen. Also komm! Es liegt bei dir, die Motivation zu finden, um zu gewinnen. Das ist deine große Chance. So schlecht du dich jetzt auch fühlen magst, du wirst wahrscheinlich nie wieder so gute Chancen haben wie heute, die Australian Open zu gewinnen. Und wenn auch nur eine winzige Chance besteht, dass du dieses Match gewinnst, na ja, dann musst du aus diesem Quentchen eben auch noch das Letzte herausholen.« Toni sah, dass ich zögerte, dass ich zuhörte, und drängte weiter: »Denk an Barack Obamas Satz: ›Yes, we can!‹ Sag ihn dir bei jedem Aufschlagwechsel, denn weißt du was? Die Wahrheit ist, dass du es kannst. Was du nie zulassen darfst, ist, aus mangelndem Willen zu verlieren. Du kannst verlieren, weil dein Gegner besser spielt, aber du darfst nicht verlieren, weil du nicht dein Bestes gegeben hast. Das wäre eine Sünde. Aber das wirst du nicht tun, das weiß ich. Denn du gibst immer dein Bestes, und heute wird keine Ausnahme sein. Du kannst es, Rafael! Du kannst es wirklich!«

Ich hörte zu. Es war die aufrüttelndste Predigt, die Toni mir je gehalten hatte. Ob mein Körper sonderlich viel darum geben würde, war eine andere Frage. Aber an diesem Punkt kam Joan Forcades wieder ins Spiel. Titín stand mit ihm über Skype ständig in Kontakt. Joan, der die Angewohnheit hat, seine Ausführungen mit schwierigem Fachjargon zu würzen, unterstrich die Notwendigkeit, das Match »ergonomisch« zu spielen. Damit meinte er, ich sollte meine Spielweise meiner körperlichen Verfassung anpassen, mein Tempo stärker als sonst zügeln, meine Kraftreserven für die kritischeren Ballwechsel aufheben und nicht um jeden Punkt kämpfen, als sei es mein letzter. Zudem sollte ich versuchen, die Ballwechsel wegen der Risiken kürzer zu halten.

Mit diesem Plan bewaffnet, nahm ich meine übliche kalte Dusche und fühlte mich danach besser. Mit wachsendem Selbstvertrauen absolvierte ich meine gewohnten Vorbereitungsrituale in der Umkleidekabine. Und als ich auf den Platz ging, humpelte ich nicht mehr. Die Schmerzen waren noch da, und während des Einschlagens mit Federer fühlte ich mich ein bisschen schwerfällig. Mein linker Fuß – das Kahnbein – machte mir allerdings wieder zu schaffen. Aber das hatte ich früher schon erlebt und hoffte, dass das Adrenalin und meine Konzentrationsfähigkeit wieder die Oberhand über den Schmerz gewinnen würden. Noch immer fragte ich mich, ob mein Körper durchhalten würde, aber das Gute war, dass ich mich insgesamt frischer fühlte als zwei Stunden zuvor und wesentlich besser als beim Aufwachen am Vortag, nachdem ich den ganzen Morgen verschlafen hatte. Das Wichtigste aber war, dass meine destruktive Stimmung verschwunden war. Ich hatte den Willen zu gewinnen und den Glauben, dass ich es schaffen konnte, wiedergefunden. Schlagartig war die Herausforderung, meiner heiklen Lage Herr zu werden, nichts mehr, was es zu fürchten galt, sondern etwas, worauf ich hinarbeiten konnte. Tonis Predigt, Titíns Arbeit und Joans Rat hatten Wunder bewirkt.

Sobald das Match begann, traten meine Beschwerden in den Hintergrund, und zwar so weit, dass ich gleich im ersten Spiel ein Break gegen Federer schaffte. Ihm gelang zwar ein Rebreak, aber zu meiner großen Erleichterung stellte ich im Laufe des Matchs fest, dass ich nicht atemlos keuchte und meine Waden zwar noch schwer waren, aber keine Anzeichen der befürchteten Muskelkrämpfe zu spüren waren. Sie stellten sich auch nicht ein, als das Match sich über fünf Sätze hinzog. Schmerz findet letztlich im Kopf statt, sagt Titín. Wenn man den Kopf kontrollieren kann, kontrolliert man den Körper. Den vierten Satz verlor ich wie bereits gegen Verdasco, nachdem ich 2:1 in Führung gegangen war, aber ich kämpfte mich zurück, in meiner Entschlossenheit bestärkt und belebt durch meine Verwunderung und Freude darüber, dass ich es so weit gebracht hatte, ohne zusammenzubrechen. Als ich im fünften Satz 2:0 in Führung lag, drehte ich mich zu Toni, Carlos, Tuts uns Titín um und sagte gerade laut genug, dass sie es hören konnten, auf Mallorquinisch: »Ich werde gewinnen.« Und genau das tat ich. Toni hatte Recht behalten. Ja, ich konnte es. Ich gewann 7:5, 3:6, 7:6, 3:6, 6:2 und war Australian Open Champion. Zu meiner Verwunderung war ich wieder lebendig geworden und hatte meinen dritten der vier Grand-Slam-Titel gewonnen, den sechsten insgesamt.

Nach dem Match war Roger Federer mental so fertig, wie ich es körperlich vor dem Match war. An seiner Stelle wäre es mir ebenso ergangen. Er hatte einen schlechten letzten Satz gespielt, und ich hatte durch meinen Sieg über ihn meine Stellung als Nummer eins der Weltrangliste gefestigt. Aber alle, die nach dieser Niederlage anfingen, ihn abzuschreiben, und das taten einige, sollten sich irren. Er hatte noch einiges Feuer in sich. Bei diesem Match hatte er die Chance gehabt, Pete Sampras’ Rekord von 14 Grand-Slam-Titeln zu brechen, und war zumindest vorerst gescheitert. Für mich war er jedoch nach wie vor der beste Tennisspieler aller Zeiten, und das erklärte ich auch in meinen Interviews. In den folgenden beiden Jahren stellte er es unter Beweis, als er seiner Sammlung weitere wichtige Trophäen hinzufügte und Sampras’ Rekord brach.

Für mich war dieser Sieg eine wichtige Lektion – eine Lektion, die Toni mir jahrelang eingetrichtert hatte, von der ich aber nun erst begriff, wie sehr sie der Wahrheit entsprach. Ich lernte, dass man immer dranbleiben muss, so gering die Siegchancen auch sein mögen, man muss bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gehen und sein Glück versuchen. An jenem Tag in Melbourne sah ich klarer denn je, dass der Schlüssel zu diesem Sport im Kopf liegt, und wenn der Kopf klar und stark ist, kann man nahezu jedes Hindernis überwinden, auch Schmerz. Der Geist kann über die Materie triumphieren.

Eineinhalb Jahre später, vor dem Finale der US Open 2010, musste nicht ich, sondern mein Gegner Novak Djokovic die Schmerzgrenze überwinden. Er befand sich genau in der Situation, die ich vor dem Finale der Australian Open erlebt hatte. In Flushing Meadows war ich derjenige, der relativ frisch war und es bis ins Finale geschafft hatte, ohne einen Satz abzugeben, während Djokovic gerade ein Halbfinale über fünf Sätze gegen Federer hinter sich hatte, in dem er zwei Matchbälle abgewehrt hatte, bevor er gewann. Aber er hatte mehr Glück als ich in Melbourne. Die Verschiebung des Matchs um einen Tag wegen Regens war ein Segen für ihn, und als wir am Montag, dem 13. September, zum ersten Mal auf den Platz gingen, waren wir körperlich in ähnlicher Verfassung.

Die Atmosphäre in meinem Team war nicht so angespannt wie vor dem Wimbledon-Finale von 2008. Meine Eltern waren da, meine Schwester Maribel und diesmal auch meine Freundin María Francisca, und zwischen Training und Wettkämpfen in Flushing Meadows wagten wir uns ein oder zwei Mal – dem Ansturm der Leute trotzend – hinaus in die Geschäfte auf der Fifth Avenue, in unsere Lieblingsrestaurants und sogar in eine Broadway Show. (Wir hätten auch in einem Hotel in Flushing Meadows wohnen können, um dem Verkehr auf der Fahrt ins Tenniszentrum zu entgehen, aber bei den US Open anzutreten und nicht in Manhattan zu wohnen, hätte bedeutet, viel Spaß zu versäumen.) Anders als in Wimbledon schlief ich vor dem Finale gegen Djokovic ebenso gut wie während der zwei Turnierwochen und konnte sogar recht offen über das Match reden. Es war kein Tabu wie in Wimbledon. Mich plagten keine Erinnerungen an einen Zusammenbruch und Tränen in der Dusche. Über eines redeten wir allerdings nicht. Ohne dass ich es hätte ausdrücklich sagen müssen, war allen instinktiv klar, dass wir das eine, woran jeder, auch ich, dachte, nicht erwähnen würden: Wenn ich Djokovic besiegen sollte, würde ich das schaffen, was man in Amerika den Golden Slam nennt. Ich wäre der siebte Spieler, der jemals alle vier großen Tennisturniere gewonnen hätte, und mit 24 Jahren der jüngste, dem dies seit Beginn der »Open Era« 1968 gelungen wäre, als Profispielern erstmals die Teilnahme an Grand-Slam-Turnieren erlaubt wurde. Seitdem war es nur Rod Laver, Andre Agassi und Roger Federer gelungen, alle vier Turniere zu gewinnen. Die US Open zu gewinnen, die für mich das schwierigste der großen Turniere waren, wäre an sich schon bemerkenswert genug, dies aber zu schaffen, nachdem ich bereits Wimbledon, Paris und die Australian Open gewonnen hatte, wäre die Krönung meiner Karriere – und das war uns allen klar.

Aber niemand erwähnte dieses Thema in meiner Gegenwart, und die anderen sprachen nicht einmal untereinander darüber, wie sie mir später erzählten. Es war symptomatisch für die Einigkeit, die unter uns herrschte, und für die Geschlossenheit, die zwischen meiner Familie, meinem Team und mir bestand, dass jeder Einzelne für sich zu dem Schluss gekommen war, seine Gedanken für sich zu behalten. Sie spürten, dass es das ganze Unternehmen gefährdet sein könnte, wenn darüber geredet würde. Wir werden wohl nie erfahren, ob unsere stillschweigende Übereinkunft zu schweigen sinnvoll oder notwendig war, aber jeder in meiner Umgebung verstand, dass meine mentale Verfassung vor einem so wichtigen Match angespannt und anfällig war und sie mich extrem behutsam und vorsichtig behandeln mussten. Deshalb müssen Toni, Titín, Carlos, Benito und Tuts für mich nicht nur Fachleute, sondern auch Freunde sein, deshalb brauche ich ein Team um mich, das sich nicht nur kompetent um meine Bedürfnisse kümmert, sondern auch sensibel für mein Befinden ist. Deshalb möchte ich auch meine Familie um mich haben. Und deshalb muss ich meine Rituale in der Umkleidekabine immer in derselben Reihenfolge absolvieren und in jeder Pause zwischen den Spielen aus meinen beiden Wasserflaschen trinken. Es ist wie ein großes Kartenhaus: Wenn nicht jedes Teil exakt an seinem Platz ist, kann alles in sich zusammenstürzen.