DER
LÄNGSTE TAG

 

 

Das Wimbledon-Finale 2008 zwischen Rafa Nadal und Roger Federer war das längste in der 131jährigen Geschichte dieses Turniers und für viele das größte Tennismatch aller Zeiten. John McEnroe, der die Begegnung für das amerikanische Fernsehen kommentierte, fand es das beste Match, das er je gesehen hatte. Björn Borg, der als Zuschauer auf der Tribüne saß und der McEnroe im bis dahin bedeutendsten Wimbledon-Finale, an das man sich erinnern konnte, besiegt hatte, war ebenfalls der Ansicht, dass Nadal und Federer das beste Match der Geschichte bestritten hatten. Manche Vertreter der internationalen Sportpresse hielten es sogar für den besten sportlichen Wettkampf überhaupt. Die New York Times fand es so einmalig, dass es ihr einen eigenen Leitartikel wert war.

»Das Licht schwindet und obwohl jeder das kumulative Gewicht dessen spürt, was vorher war, müssen die Spieler dennoch in der Gegenwart spielen«, hieß es im Leitartikel der Times mit geradezu unheimlichem Scharfblick, »sie müssen die Vergangenheit beiseite schieben, um einen weiteren Aufschlag zu returnieren, während sämtliche Zuschauer sich fragen, wie sie es machen – nicht nur, sich den Schlag vorzustellen, sondern auch, im Geiste nicht vorzupreschen und sich Niederlage oder Sieg auszumalen. Ihr Verlangen verbirgt sich im Spiel. Aber unseres ist losgelassen und macht es schwer zu atmen – sogar schwer zuzusehen.«

Wenn schon dem Kommentator der Times das Atmen schwerfiel, ist es ein Wunder, dass Nadals Familie nicht kollektiv erstickt ist, weil sie alle den Atem anhielten. »Als es vorbei war, vergoss ich Freudentränen«, erzählte Sebastián Nadal, als dieser längste Tag seines Lebens vorüber war, »aber ich hatte auch das Gefühl, dass mir leichter wurde, so als ob eine schwere Last von meinen Schultern genommen wäre. Während des ganzen Matchs hatte mich die furchtbare Angst gequält, dass es wieder genauso wie 2007 sein würde, dass er wieder tränenüberströmt in der Dusche hocken würde und ich nichts tun könnte, um seinen Kummer zu mildern. Da draußen kämpfte Tyson gegen Holyfield, und ich fühlte mich, als ob ich mit ihnen im Ring stünde, so fertig, als hätte ich furchtbare Prügel bezogen. Leute sagten mir, während des Matchs hätte sich mein Gesicht so verändert, dass sie mich im Fernsehen nicht erkannt hätten. Es war die reine Folter, die ganze Zeit.«

Toni Nadal kannte Rafa als Tennisspieler besser als jeder andere, aber selbst er war verblüfft über die unglaubliche Unverwüstlichkeit, die sein Neffe an den Tag legte. »Wimbledon war immer unser Traum, aber im tiefsten Inneren hatte ich die Befürchtung, dass es ein unerreichbares Ziel sein könnte«, erklärte Toni. »Ich hatte ihn immer gedrängt, sich seine Ziele höher und höher zu stecken, aber ich hatte nicht ernsthaft geglaubt, dass er es so weit bringen könnte. Als er gewann, weinte ich zum ersten Mal auf einem Tennisplatz.«

Nadals Mutter Ana María sagte, das Match habe sie völlig aufgerieben. »Während des Matchs gab es Momente, in denen ich nur wollte, dass es aufhörte. Ich dachte: ›Lass es. Wieso bedeutet es so viel, ob du gewinnst oder verlierst?‹ Ständig fragte ich mich, wie er diese ganze Anspannung so gut wegstecken könne. Woher hat er das, mein eigener Sohn? Wie schafft er es, nicht zusammenzubrechen?«

Carlos Moyá ist überzeugt, dass er selbst einem solchen Druck nicht standgehalten hätte. »So gut wie jeder andere Spieler der Geschichte hätte das Match gegen Federer verloren, der mit solcher Courage und Brillanz spielte. Wenn du so nah dran warst und doch nicht gewonnen hast, wenn es zu einem fünften Satz kommt, was im Grunde heißt, das Match ganz von vorn anzufangen, nachdem der Sieg für dich schon zum Greifen nah war, müssen die Emotionen einfach mit dir durchgehen, wenn du ein normaler Spieler oder sogar ein normaler Champion bist. Du erinnerst dich an jede verpasste Chance, und diese Erinnerungen nagen an dir, fressen dein Spiel auf. Aber nicht so bei Rafa. Deshalb ist er kein gewöhnlicher Champion. Zu Beginn des fünften Satzes sprach alles für Federer, aber Rafa hat ihn dominiert, bezwungen, spielerisch übertroffen.«

Für Moyá war Nadal an diesem Tag eine Kreatur, die sich weigerte zu sterben. »In diesem Finale lernte Federer, wenn man Rafa schlagen will, muss man nicht einmal, zweimal, sondern viele, viele Male auf ihm herumtrampeln. Du glaubst, er ist am Ende, bei einem Ballwechsel, einem Spiel oder einem Satz, aber er kommt immer wieder. Ich glaube, deshalb kann er weiterhin sämtliche Rekorde brechen, und wenn er fit bleibt, ist er imstande, mehr Grand Slams zu gewinnen als jeder andere vor ihm.«

Federer – der noch drei Wochen lang Platz eins der Weltrangliste belegte, bis Nadal ihm diesen Rang abjagte – war erschüttert über die Niederlage. »Vermutlich meine schwerste Niederlage – bei Weitem; ich meine, es ist nicht viel härter als das hier gerade«, sagte Federer, der Mühe hatte, zusammenhängend zu reden. »Ich bin enttäuscht«, fügte er hinzu. »Und ich bin niedergeschmettert.«

Nachdem alles vorbei war, bestand Nadal fast entschuldigend darauf, dass Federer der beste Spieler der Geschichte sei und bleibe. »Er ist immer noch fünfmaliger Champion hier. Ich habe jetzt gerade mal einen.«

Nadals ehrenhafte Haltung nach dem Sieg mag den einen oder anderen veranlasst haben, sich zu fragen, ob er zwischen seinen Matchs Rhetorikkurse genommen habe. Das hat er nicht. Sein nobles Verhalten gegenüber Federer nach dem Match erwuchs aus der tief sitzenden Grundhaltung eines Menschen, den sein Vater als Kind dazu erzogen hatte, den Gegnern nach einem Fußballspiel zu gratulieren, wenn seine Mannschaft verloren hatte; sie erwuchs aus der lebenslangen Lektion – durch seinen Onkel Toni und seine Eltern –, die Bodenhaftung nicht zu verlieren und nie zu vergessen, dass seine Leistungen etwas Besonderes sein mochten, aber er nicht.

»Es war ein großartiger Moment, als wir die Wimbledon-Trophäe in seinen Händen sahen«, sagte Sebastián Nadal, »aber wenn man über alles nachdenkt, ist es nicht so viel außergewöhnlicher, als wenn sie deinem Kind nach dem Studium ein Diplom überreichen. Jede Familie hat ihre freudigen Momente. Am Tag, nachdem Rafael Wimbledon gewonnen hatte und sich die ganze Aufregung und der Medientrubel erst einmal gelegt hatte, empfand ich keine größere Befriedigung, als ich sehr wahrscheinlich an dem Tag verspüren werde, wenn meine Tochter ihr Studium erfolgreich abschließt. Denn was man für seine Kinder will, ist doch letzten Endes, dass sie glücklich sind und es ihnen gut geht.«

Auch Nadals Mutter Ana María weigerte sich, sich von den Leistungen ihres Sohnes mitreißen zu lassen. »Manchmal sagen Leute zu mir: ›Was hast du für ein Glück mit deinem Sohn!‹ Dann antworte ich: ›Ich habe mit meinen beiden Kindern Glück!‹ Der Tatsache, dass Rafa ein Superchampion ist, messe ich nicht viel Bedeutung bei, denn was mich im Leben am glücklichsten macht ist das Wissen darum, dass ich zwei Kinder habe, die gute Menschen sind. Sie sind verantwortungsbewusst, haben enge, gute Freunde, hängen an ihrer Familie, was ihnen beiden sehr wichtig ist, und haben uns nie Probleme gemacht. Das ist der wahre Triumph. Wenn alles vorbei ist, wird Rafael noch derselbe Mensch sein, mein Sohn – und das ist genug.«

Am Tag nach dem Wimbledon-Finale flog die ganze Familie zurück nach Mallorca und nahm sofort ihr normales Leben wieder auf. Feierten sie eine Party? »Nein«, sagte Sebastián Nadal. »Am Abend des Matchs gab es das offizielle Dinner, zu dem wir viel zu spät kamen, weil Rafael so viele Interviews geben musste, und das war’s. Wir sind nicht sonderlich feierfreudig. Ich erinnere mich an das Match und werde es immer in Erinnerung behalten, aber was nachher passierte? Nicht viel.«

Toni Nadal antwortete auf diese Frage ganz ähnlich wie sein Bruder: »Nein, nein. Ich bin nicht so fürs Feiern, wenn wir gewinnen. Es war natürlich eine enorme Befriedigung. Für die ganze Familie. Aber wir Mallorquiner sind nicht sonderlich feierfreudig.«

Zwei Dinge änderten sich jedoch nach Wimbledon: Nadal kaufte sich den Sportwagen, den er sich so wünschte. Trotz seiner Bedenken konnte sein Vater keine Einwände dagegen erheben. Und Nadal hatte eine neue Trophäe, die er neben die unzähligen anderen bereits gewonnenen Pokale stellen konnte. Als sein Patenonkel einige Zeit später bei Rafa zu Hause im Wohnzimmer saß, wo er seine umfangreiche Trophäensammlung aufgestellt hatte, fragte er ihn, welche ihm am liebsten sei. Ohne Zögern deutete Nadal auf seinen goldenen Wimbledon-Pokal und sagte: »Dieser.«