17

Als ich ein kleiner Junge war, bildete das Erziehungsheim Nummer 31 der Seiglein Corporation meine ganze Welt, und den einzigen Ausbruch aus der Routine bot Creativision. Natürlich gab es in Seigleins Kinderzentrum nicht die neuesten Modelle, bei denen man die Plots selbst bestimmen und programmieren konnte, aber man hatte doch die Möglichkeit, sich in die Rolle des Helden zu versetzen und unvorstellbare Abenteuer zu erleben. See-Szenarios ließen einen seekrank werden, man haßte den Geruch von Tang und fürchtete sich vor der Tiefe der Meere.

Das war nicht das richtige für mich. Western konnten einem sehr reale, psychosomatisch hervorgerufene Sattelschwielen bescheren. Liebesgeschichten interessierten uns in dem Alter noch nicht.

Aber das Programm, das mich wirklich vom Stuhl riß, war ein Überfall von Aliens auf einen von Menschen bewohnten Planeten. Es gab endlose Variationen dieses Themas — genau wie von allen anderen, natürlich —, und ich verschlang jedes Programm, das Creativision uns bot. Am eindrucksvollsten aber war eins, das mir bis heute in lebhafter Erinnerung geblieben war.

Es war darauf angelegt, den Zuschauer das Gruseln zu lehren.

Die Monster, gewöhnlich Angehörige einer unheimlichen Zivilisation, kamen unbemerkt in Raumschiffen auf den Planeten und überfielen die nichtsahnenden Städte. Es handelte sich dabei immer um neubesiedelte Planeten, die gerade terraformt worden waren. Wahrscheinlich, weil es sicher erheblich schwieriger ist, Städte mit mehreren Millionen Einwohnern zu überfallen. Normalerweise nahmen die Monster sich deinen besten Freund als Geisel, oder alle deine Nachbarn, und dann schlichen sie umher, und stellten der Regierung ein Ultimatum, sich zu ergeben, wid-rigenfalls sie die ganze zivilisierte Welt zu vernichten drohten.

Irgend ein superwissenschaftliches Genie, meistens mit dem Firmenzeichen der Huang Corporation, wurde dann zum Retter der Menschheit, indem er einen neuartigen, unsichtbaren Todesstrahl erfand, mit dem er die Monster niedermähte oder vertrieb.

Nach so einem Programm hockten wir dann in den Schlafsälen beisammen und glaubten, in allen dunklen Ecken unheimliche, fremdartige Gestalten zu entdecken, wagten nicht mehr, das Licht zu löschen, und blickten ab und zu mißtrauisch zu Kameraden hinüber, die sich in letzter Zeit seltsam benommen hatten.

Jetzt saßen wir in meinem Schiff (es war sinnlos, die Nijinski und die ganze Kolonie zu riskieren), Marsha, George, ein Dutzend andere und ich, im Orbit um einen Planeten, der noch nicht ganz terraformt worden war, etwa fünfzig Jahre vor dem Stadium der großen Einwanderung und der vorfabrizierten Städte, und überlegten uns, wie wir diese Welt, die auf den Karten als St. Cyril verzeichnet war, einnehmen sollten.

Wir waren fünfzehn unheimliche, nichtmenschliche Kreaturen, bis auf drei in einer fremden, unnatürlichen Umwelt gezeugt, geboren und aufgewachsen, die nach einem Planeten griffen, den sie erobern wollten, und jetzt den Plan ein letztes Mal durchgingen und überprüften. Die fremden Invasoren waren bereit zum Zuschlagen, so wie wir das als Kinder fast täglich erwartet hatten, und der böse Genius hockte in seinem Raumschiff, das zu raffiniert und modern war, als daß man es hätte vernichten können.

Und hier war ich — ich, der böse Genius, der die Regie führte.

Es wurmte mich, daß ich nicht selbst an dem Überfall teilnehmen konnte; ich war angeblich zu wertvoll, um mein Leben zu riskieren, aber ich war der einzige von uns, der meinen Aufklärer fliegen konnte. Aber mit Georges Hilfe waren wir in der Lage, alles zu hören — und teilweise sogar zu sehen —, was dort unten passierte; genau so wie Moses alles verfolgen konnte, was auf Patmos vor sich gegangen war.

Marsha würde das Unternehmen vor Ort führen. Sie wußte mehr von Kolonialplaneten als jeder andere von uns, sie konnte den anderen sagen, was die seltsamen Strukturen der Menschen darstellten.

Ich war nervös — nicht nur über den Ausgang dieses Unternehmens, sondern vor allem ihretwegen. Dieser Planet war in seiner Entwicklung noch nicht sehr weit fortgeschritten; es konnten dort alle möglichen Gefahren lauern. Vielleicht hatten die Leute sogar Waffen.

Unser Kommunikationssystem war einmalig. Teilweise funktionierte es fast wie Telepathie, obwohl seine Basis bionisch war.

George konnte selektiv von jedem Mitglied des Kommandos Tonwellen empfangen, wie ein Radioempfänger die Signale eines Senders. Nachdem er die Frequenz der Trägerwelle subtrahiert hatte, konnten die verbleibenden Tonmuster innerhalb des normalen Frequenzbereichs der Chozen als Ton oder Bild wie-dergegeben werden. Es war ein unheimliches Gefühl — ich hatte an einigen der Tests teilgenommen. Es war, als ob man in dem Körper eines anderen steckte, über den man jedoch keinerlei Kontrolle besaß.

Wir, die im Schiff zurückbleiben sollten, konnten ebenfalls senden, allerdings nur auf dem normalen Frequenzband. Auch daran mußte man sich erst gewöhnen, da jedes Mitglied des Landekommandos jedes Wort hörte, das jeder von uns sprach. Wir hatten deshalb vereinbart, daß alle Kommunikation an Marsha gerichtet sein sollte — es sei denn, daß sich etwas Unvorhergesehenes ergab.

Die Aura des Landekommandos verriet, daß die Teilnehmer aufgeregt und erwartungsvoll waren — und verdammt nervös.

Marsha war noch ängstlicher als alle anderen, und das war ein gutes Zeichen, fand ich. Ein ängstlicher Führer ist ein vorsichtiger Führer.

Eigentlich war unsere Aufgabe ziemlich einfach: Wir mußten nur landen und wieder starten, wie damals bei der Nijinski; aber dies war kein Schiff — es war ein Planet! Einmal bestand die Gefahr, daß das Virus sich hier nicht adaptieren konnte — vielleicht gab es irgendeine Strahlung, oder eine Mutation der Pflanzen, die es abtöten oder inaktiv machen konnten. Und dann war da natürlich das Problem der Größe, denn obwohl es sich um einen ziemlich kleinen Planeten handelte, war seine Landefläche doch riesig. Moses hatte auf Patmos mit fünf winzigen Arealen begonnen; wird wußten nicht, wie lange er dazu gebraucht hatte, die Savannen in ihrer ganzen Ausdehnung für Chozen bewohnbar zu machen, aber George war sicher, daß es viele Jahre gedauert hatte. Vielleicht hatte das den Zeitplan der reproduktiven Zyklen beeinflußt. Aber wer wußte, was Moses sich dabei gedacht hatte?

Wir konnten nicht warten. Wir wollten für den Anfang nur ein kleines Fleckchen, und doch mußte es reichen, um den Prozeß zu demonstrieren.

Wir mußten gesehen werden.

Ich machte eine letzte gründliche Untersuchung des Planeten.

Starke Hitzeabstrahlungen waren in mehreren Gebieten festzu-stellen, etwas geringere in einem Quadranten weiter nördlich.

Die Probe informierte mich, daß es warm war, warm genug für das Virus, jedoch etwas kühler, als es für seine optimale Tätigkeit erforderlich war.

Der Ultraviolettbereich verriet das Vorhandensein einer kleinen Siedlung, wahrscheinlich ein Camp von Terraformern.

»Fertig!« rief ich, und dann schoß ich in steilem Winkel auf den Planeten hinab. Ich bremste erst im allerletzten Moment und setzte das Kommando ungefähr zwei Kilometer von dem Ort entfernt ab, an dem ich die Hitzestrahlung registriert hatte. Die Automatik stellte Druckausgleich her, und ich stieß das Schleusenluk auf. Der Aufklärer hatte mehrere Dutzend fünfzig Zentimeter langer Federbeine ausgefahren, die das Schiff waagrecht hielten.

Ein kühler Wind wehte durch die Schleuse herein. Ich drehte mich nach Kain um, der vor den Instrumenten hockte, um die Werte jederzeit ablesen zu können.

»Temperatur?« fragte ich.

»Sechzehn Grad Celsius.«

»Luftfeuchtigkeit?«

»Einundsiebzigkommasechs Prozent.«

Ich wandte mich an die Mitglieder des Kommandos — es waren dreizehn, eine Glückszahl.

»Sei vorsichtig«, sagte ich leise zu Marsha. Sie antwortete nicht.

»Los!« rief ich, und sie stürzten hinaus, hinaus in die Nacht dieser jungfräulichen Welt.

Sobald sie hinaus waren, schloß ich das Luk, aktivierte den Autosterilisator und schaltete dann auf vollen Schub. Es gab einen ziemlich harten Stoß, aber er war längst nicht so schlimm wie der zu Beginn eines L-Sprungs.

George und ich waren allein im Schiff.

»Ich gehe in einen Park-Orbit, George«, sagte ich, »in einen stationären Orbit, so daß wir immer über ihnen sind. Sie können sich jederzeit mit Ihnen in Verbindung setzen.«

George nickte. Wir würden gemeinsam erleben, was von unten kam, da die Daten durch den Computer liefen, und von dem Computer über mich.

Aber der Schlüssel befand sich in Georges Händen.

Wir standen vor dem Schaltbord des Empfängers, den wir nach Anweisung des Computers — dank seines Wissens um Schaltkreise — für unsere Zwecke umgerüstet hatten.

Ein Bild wurde zwischen den Instrumenten sichtbar — ein Bild aus Tonwellen, wie die Chozen sie sahen.

»Es funktioniert«, flüsterte ich.

George schwieg, erwartungsvoll, gespannt.

Marsha sah sich um. Eine Menge hoher Bäume, manche Stämme dreißig Meter hoch bis zum Ansatz der ersten Äste. Dichte Gehölze von hohen Bäumen, die den Himmel verdeckten und keinen Strahl Sonnenlicht bis auf den Boden vordringen ließen. Der Boden war kahl, bis auf den Bewuchs mit primitiven, moosartigen Pflanzen da und dort.

Sie blickte die Mitglieder des Kommandos an, neun Männer und drei Frauen, die sorgfältig für diesen Job ausgewählt worden waren. Jeder einzelne von ihnen hatte das Training oder die Persönlichkeit, die nach unserer Meinung für seine Aufgabe erforderlich waren. Aber wer konnte das so genau wissen? Wer konnte von jedem alles verlangen?

Das waren die Gedanken, die Marsha jetzt überfielen. Aber es war zu spät, um noch etwas ändern zu können.

»Hier entlang; schnell und leise«, sagte sie und ging zwischen den Bäumen hindurch. Sie folgten ihr. Sie hatten sich sehr schnell an die etwas unter Normal liegende Schwerkraft gewöhnt, die ihnen zum erstenmal in ihrem Leben die Freiheit gab, wirklich zu springen, fast zu fliegen. Um sie herum waren alle möglichen Geräusche, das lauteste war ein Summen, das fast wie Chorgesang klang. Es war ein konstanter Ton, dessen Höhe nur gelegentlich geringfügig schwankte.

Wahrscheinlich irgendein Insekt, sagte sich Marsha und ging weiter.

Sie blieb stehen und verursachte eine kleine Kollision, als etwas Kleines, Gelbes über die Lichtung huschte, die sie gerade erreichte, doch dann ging sie weiter. Dies war eine noch junge Welt, das wußte sie, eine Welt mit harmlosen kleinen Tieren, die summten, und anderen, die über den Boden huschten.

Wenige Minuten später erreichten sie den Waldrand.

Sie standen vor einem Hang, nicht sehr steil, aber sehr weiträumig; einer ansteigenden Fläche mit Hainen, wie man sie von der Erde kannte, und man hatte sogar eine Art Sprinklersystem für die Bewässerung installiert. Am unteren Teil des Hangs, nur ein paar hundert Meter vom Waldrand entfernt, war das Camp — fast schon eine kleine Stadt — mit Elektrizität; das Licht der Lampen nahm sie als dunkelrote Hitzewellen wahr.

Sie nahmen sich Zeit, alles genau zu beobachten und zu registrieren, sich mit der Umgebung vertraut zu machen. Der dunkle Nachthimmel war ihnen dabei keine Orientierungshilfe, doch die Lampen verbreiteten genügend Helligkeit für ihren Farbsinn.

»Die Menschen sind in dem Gebäude dort«, sagte Marsha bestimmt, »in dem großen Block rechts, daneben der Abstellraum für Bau- und Instandhaltungsroboter. Es ist durchaus möglich, daß wir irgendwo auf ein paar Roboter stoßen. Wenn es dazu kommt, vermeidet nach Möglichkeit eine Konfrontation, geht ihnen aus dem Weg. Euer Angstreflex wird im Notfall den Hochfrequenzton auslösen, der jeden Gegner lähmt, und dann kommen wir euch sofort zu Hilfe.«

Langsam, geduckt, gingen sie durch Plantagen von irgendwelchen Gemüsepflanzen, wurden hin und wieder von den Sprinklern besprüht, stießen aber nirgends auf Menschen oder Roboter.

Kurz bevor sie die Siedlung erreichten, gelangten sie an den Rand einer Lichtung, und Marshas Hufe schlugen hart auf festen, glatten Boden. Sie senkte den Kopf und machte einen raschen Sonar-Scan. Es dauerte jedoch ein paar Sekunden, bis sie erkannte, was es war.

»Eine Straße!« rief sie. »Bar! Kannst du die Straße ausmachen?

Wie lang ist sie? Wohin führt sie? Gibt es irgendwo an ihr einen Landeplatz für Shuttles?«

Ich ließ von den Sensoren einen Foto-Scan machen, aber ich konnte die Aufnahme natürlich nicht sehen.

»Kain?« rief ich den Robot. »Hast du gehört?«

»Die Straße ist nicht lang«, erklärte der Roboter. »Sie verzweigt sich zu einem Netz schmalerer Straßen und einer breiteren, die nach Südwesten führt.«

»Konzentriere dich nur auf die Hauptstraße«, sagte ich. »Gibt es irgendwo einen Landeplatz in der Nähe der Siedlung?«

»Ja«, sagte der Roboter. »Ich werde Ihnen die Koordinaten geben.«

Er tat es, und ich speicherte die Daten im Computer. Dann wandte ich mich wieder an Marsha und ihre Gruppe.

»Was hast du vor?« fragte ich.

»Straßen bedeuten Wagen und Laster«, erklärte sie. »Und eine Zufahrt zu den Wassertanks für die Bewässerung. Wir sollten vielleicht etwas mehr herausholen als nur eine moralische Befriedigung.«

Ich dachte kurz darüber nach und blickte George an.

Er hob die Schultern. »Paßt der Tank durch die Schleuse?« fragte er sachlich.

»Mal sehen. — Marsha! Sieh zu, daß du einen findest, der paßt, und bring ihn mit. Wenn nicht, mach nur einen hübschen Wirbel und hau ab, so schnell du kannst!«

Sie nickte, dann riß sie den Kopf nach rechts.

Ich hörte Motorengeräusch, das rasch näherzukommen schien.

»Deckung!« rief Marsha. »In die Büsche! Und kein Laut!«

Sie brauchten keine zweite Einladung. Marsha machte einen solchen Riesensatz rückwärts, daß sie wieder ein Stück vorwärts kriechen mußte, um die Straße einsehen zu können.

Ein Lastwagen kam die Straße entlang, ein kantiger Kastenwagen mit einem einzigen Scheinwerfer. Ein Dreirad. Marsha versuchte, den Fahrer zu erkennen. Aber es gab keinen Fahrer. Es war ein automatisches Fahrzeug.

Niemand bewegte sich, sie versuchten sogar, den Atem anzuhalten, als der Wagen heranrollte und nur wenige Meter entfernt vorbeifuhr. Er verschwand in der anderen Richtung.

»Okay«, sagte Marsha mit einem erleichterten Seufzer. »So was schlaucht die Nerven. Und jetzt weiter, Leute! Wir müssen in das Camp.«

Vorsichtig bewegten sie sich auf den Rand der synthetischen Siedlung zu. Viele Lampen brannten, erkannte Marsha an den Farben, die von einem grasbewachsenen, quadratischen Hauptplatz zurückgeworfen wurden. Aber es rührte sich nichts.

»Verdammt!« murmelte sie wütend. »Keine Lastwagen. Na schön.« Sie wandte sich an die Gruppe. »Kann einer von euch?«

Drei von ihnen konnten, und sie befahl ihnen, es auf dem grasbewachsenen Zentralplatz zu tun. Sie entleerten ihren Darm, wobei sie Milliarden Kulturen des Virus dort hinterließen.

Trotz des unzureichenden Lichts konnten sie deutlich erkennen, daß sich die Ränder der drei Haufen, die sie ins Gras gesetzt hatten, zusehends rosa verfärbten.

»Beobachtet die Haufen!« befahl George ihnen. Er schaltete sein Gerät ein und stimulierte über Funk die Vermehrungsrate der Viren auf ein Maximum.

Während er noch damit beschäftigt war, trat jemand aus einer der Hütten.

Wir hörten, wie eine Tür aufglitt. Wir sahen eine dunkle Gestalt herauskommen — ein Mensch wahrscheinlich, aber das war schwer zu sagen bei dem sackartigen Kittel, den sie trug. Sie summte leise vor sich hin und ging schräg über den Platz, den Kopf gesenkt, ohne auf den Weg zu achten.

»Achtung! An alle!« rief ich. »Kontakt!«

Die Gestalt — es mußte ein Mensch sein — wäre fast mit Marsha zusammengeprallt.

»Entschuldigung«, murmelte der Mann, ohne den Blick vom Boden zu heben.

Jetzt erst schien er zu merken, daß etwas anders war als sonst.

Er sah auf und blickte Marsha an.

Sein Mund klappte auf, und er stieß einen schrillen Angstschrei aus. Der Mann war zu Tode erschrocken.

Er hob beide Arme und wollte zurückweichen, blieb aber nach zwei, drei unsicheren Schritten reglos stehen. Und er schrie noch immer.

Marsha wurde ungeduldig und trat auf ihn zu. Er schrie noch gellender, dann warf er sich herum und rannte wie gehetzt zurück zu der Tür, aus der er gekommen war.

Ich hörte verschiedene Geräusche: Bewegung, Rufen; und dann flammten mehrere Scheinwerfer auf, die den Platz taghell erleuchteten.

»Weg von hier!« rief Marsha den anderen zu. »Wir treffen uns hinten an der Straße, wenn ihr alles erledigt habt!«

Sie stoben in alle Richtungen auseinander. Einer raste mit großen Sprüngen auf das Generator-Haus zu, ein zweiter zum Wasserwerk, die anderen zu den Punkten, die man ihnen zugeteilt hatte. Marsha blieb, wo sie war, und starrte in die grellen Lichter, die sie nicht sehen, sondern nur fühlen konnte.

»Okay, ihr Bastarde! Kommt heraus und kämpft!« schrie sie, obwohl sie wußte, daß die Menschen sie nicht hören konnten.

Drei Menschen handelten jedoch so, als ob sie sie gehört hätten. Einer von ihnen hielt etwas in der Hand, das wie ein großer Schraubenschlüssel aussah, die anderen hatten keine Waffen.

Der Mann mit dem Werkzeug schien der Anführer zu sein. Er ging langsam auf sie zu. Die anderen folgten ihm zögernd.

»He, was für ein Tierchen«, sagte der Mann leise. »Hübsches Tierchen. Was bist du, Tierchen? Komm zu Papa Njumo! Schön ruhig! Komm zu Papa Njumo . . . ! «

Er sprach immer weiter, mit einer ruhigen, besänftigenden Stimme, aber er hielt den Schraubenschlüssel fest in der Hand.

Marsha ließ ihn näher und näher herankommen und machte gleichzeitig einen Breitband-Scan, um sich vor Überraschungen zu schützen. Inzwischen waren weitere Menschen in den Türen erschienen, aber sie blieben dort stehen und unternahmen nichts.

»Jesus! Was, zum Teufel, ist das?« murmelte einer der beiden Männer nervös, die jetzt fünf Schritte von Marsha entfernt stehengeblieben waren und sie ängstlich anstarrten. »So was habe ich noch nie gesehen . . . Diese Augen . . . «

»Halt den Mund!« sagte Njumo scharf, ohne das breite Grin-sen zu verlieren, das wie angeklebt auf seinem Gesicht saß.

»Wenn ich nahe genug herankomme, knalle ich ihm das Ding auf die Bime.« Und dann wieder zu Marsha: »Braves Tierchen, sei ein liebes Tierchen, komm zu Papa!«

»Dieser Hundesohn!« rief Marsha wütend und schnellte sich mit den kräftigen Hinterläufen ab, direkt auf die drei Männer zu.

Sie hatte ihren Sprung so exakt kalkuliert, wie es nur einem Chozen möglich ist; mit den Vorderhufen stieß sie die beiden Männer hinter Njumo weg, ein harter Schlag der Hinterläufe zertrümmerte Njumos Rippen und vielleicht auch seinen Schädel.

Sie riß die beiden anderen Männer zu Boden. Chozen sind nicht gerade Leichtgewichte — Marsha wog gut drei Zentner —, und als sie über einen von ihnen hinwegrollte, schrie der Mann vor Schmerz auf. Sie sprang rasch wieder auf, weil plötzlich Hunderte von Baurbeitern aus den Häusern stürzten, aufgeregt durcheinanderschrien und kopflos hin und her liefen.

Ein rascher Scan sagte Marsha, daß die drei Männer, die sie angesprungen hatte, außer Gefecht waren. Sie fuhr herum und duckte sich zu einem zweiten Sprung.

»Paß auf!« warnte ich sie. »Die Burschen könnten gefährlich sein!«

»Zum Teufel mit ihnen!« sagte sie verächtlich. »Sie sind so klein, so empfindlich, so langsam! Ha! Ich werde ihnen zeigen, daß man sich nicht mit einer Chozen-Frau anlegen darf!«

Sie sprang auf die Gruppe von Männern zu. Sie wichen erschrocken zurück, entsetzt von der Plötzlichkeit des Angriffs und von seiner Schnelligkeit — Marsha landete aus mindestens fünfundzwanzig Metern Entfernung mitten zwischen ihnen.

Ich konnte mir vorstellen, wie sie sich fühlte. Zum erstenmal konnte sie ihre Kraft als Chozen in einem freien, weiten Raum erproben, bekam eine erste Vorstellung von dem Leben in einer Welt, für die wir geschaffen worden waren.

Sie riß eine Reihe von Männern und Frauen zu Boden, auf die sie wie ein fliegendes Monster herabstürzte. Drei oder vier brachen unter ihrem Aufprall zusammen, die anderen wurden von ihnen umgestoßen. Wie eine Reihe Dominos riß einer den anderen mit sich.

»Holt Laserbohrer!« schrie eine Stimme. »Nagelt das Biest fest!«

Marsha identifizierte den Schreier an der Gestik. Es war eine Frau, wahrscheinlich eine Vorarbeiterin. Sie sprang auf sie zu, die Vorderhufe vorgestreckt.

»Marsha!« schrie ich. »Mach, daß du wegkommst! Es reicht!«

Sie keuchte, aber mehr vor Erregung als vor Erschöpfung.

»Ich denke nicht daran!« rief sie. »Denen verpasse ich einen Denkzettel!«

Mit einem Satz erreichte sie eine offenstehende Tür und verschwand im Gebäude. Sie kannte sich darin aus, genau wie ich; sie waren alle gleich, ohne Ausnahme, überall.

Es gab keine Schlösser mehr in dieser perfekten Gesellschaft.

Marsha hüpfte den langen Korridor entlang, eine Treppe hinauf, und tippte mit dem linken Vorderhuf auf die kleine Druckplatte neben einer Apartmenttür. Sie glitt auf, und Marsha sprang hinein. Eine Frau war im Wohnzimmer. Völlig nackt lehnte sie am Fenster und blickte hinaus. Sie fuhr herum, als Marsha hereindonnerte, und schrie gellend auf. Marsha blieb stehen, ging dann langsam auf die hysterisch schreiende Frau zu. Die wich in eine Ecke des Zimmers zurück und blieb dort stehen, an die Wand gepreßt, wie eine in die Enge getriebene Maus. Marsha trat so nahe auf sie zu, daß sie den hastigen Atem der Frau in ihrem Gesicht spürte.

Trunken von dem Machtgefühl, das sie erfüllte, bedeckte sie Brüste und Unterleib der Frau mit einem Gewebefaden, dann trat sie ans Fenster. Der Platz war jetzt voller Menschen. Sie konnte sie hören, aber das Fenster blockierte die Sonarstrahlen. Es waren ausgerechnet versiegelte Doppelfenster.

»Marsha!« rief ich. »Nein!«

Sie drehte sich um und hämmerte mit ihren Hinterhufen gegen die Scheiben. Das Plastizin zersprang in Millionen winziger Splitter. Dann trat sie einen Schritt zurück und sprang durch das offene Fenster fast zehn Meter in die Tiefe.

»Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, würde ich es nicht glauben«, murmelte George fast ehrfürchtig.

Überall liefen jetzt aufgeregte Menschen hin und her. Plötzlich sah ich die Gefahr.

»Marsha!« schrie ich. »Roboter! Mach, daß du weg kommst!«

Es waren riesige Burschen. Bauroboter, an denen man nicht so leicht vorbeikam. Die hatten das Gebäude bereits umstellt, und die Menschen zogen sich hinter sie zurück. Marsha stand den mechanischen Giganten allein gegenüber.

Sie wich nicht zurück, aber sie hatte nun Angst, das spürte ich.

»Sie schneiden mir den Weg ab!« schrie sie fast hysterisch.

»Ich weiß nicht...«

»Warum kommt der Abwehrton nicht?« rief ich George zu.

George saß reglos. »Ich weiß nicht . . . es sei denn . . . Oh, mein Gott! Warum haben wir das nicht von Anfang an bemerkt!

Wir hatten es doch deutlich vor Augen! Es waren immer nur die Männchen! Nur die Männchen! Niemals Eva! Niemals die anderen!«

Er hatte recht!

»Achtung! Alle Männer! Sofort auf den Platz!« schrie ich.

»Marsha braucht Hilfe!«

»Schon unterwegs«, meldeten sich mehrere Stimmen, aber ein rascher Scan zeigte mir, daß sie noch ein gutes Stück entfernt waren.

Noch nie zuvor hatte ich mich so hilflos gefühlt. Niemand, dachte ich wütend, niemand besiegt Bar Holliday!

Die riesigen Roboter rückten langsam gegen Marsha vor. Sie wollten ein freies Schußfeld. Sie wollten Marsha töten, ohne die Gebäude zu treffen.

Sie war in Panik und blickte ängstlich von einer Seite zur anderen, wie eine Maus, die verzweifelt ein Schlupfloch sucht.

Plötzlich tauchten hinter der Reihe von Robotern vier weitere Gestalten auf, und wir durchschauten die Abwehraktion. Alle Bewegungen schienen in Zeitlupe abzulaufen.

George sprang erregt zurück. »Laser!« schrie er. »Sie schießen mit einem Laser auf sie, und wir können ihn nicht sehen!«

Marsha wirkte sekundenlang verwirrt. Dann sprang sie mit einem gewaltigen Satz direkt auf einen der Roboter los.

Der Laserstrahl folgte ihr. Wir sahen es daran, daß eine Sektion des riesigen Roboters, neben dem sie gelandet war, plötzlich absplitterte.

Der Mann im Kontrollraum, der diesen Roboter führte, war durch den Abwehrton der Chozen paralysiert und konnte nicht reagieren. Das gab Marsha die Gelegenheit, an ihm vorbei die Kette zu durchbrechen. Der Laserstrahl schoß wild hin und her.

Er traf einen der Bohrroboter, die zur Verstärkung herangezogen worden waren. Der Roboter zerbarst in Stücke, Maschinenteile wirbelten durch die Luft.

Ich sah Marsha stolpern, als ob sie getroffen worden wäre. Sie schrie auf und sank zusammen.

»Zum Teufel!« knurrte ich. »Ich gehe nach unten!«

Das Schiff schoß senkrecht auf den Planeten zu, und ich setzte es unmittelbar neben der Siedlung auf. Dann stieß ich das Schleusenluk auf und rief die anderen.

»Marsha ist verwundet!« rief einer von ihnen. »Und auch Shem!«

»Sie bleiben hier!« sagte ich, als George mir folgen wollte.

»Kain! Du kommst mit!«

Der Robot lief durch die Schleuse ins Freie. Ich folgte ihm, so rasch ich konnte.

Es war nicht weit bis zu dem Platz. Ich hatte keine Zeit, mich lange umzusehen — die Männchen konnten den Verteidigungston nicht unbeschränkt lange halten, er konnte jederzeit ver-stummen, und dann würden sie die Laser auf uns richten.

Kain hob zwei reglose Gestalten vom Boden auf und schleppte sie zum Schiff. Ich folgte ihm in die Schleuse.

»George! Holen Sie die Leute zurück! schrie ich. »Wir müssen los!«

Ich bereitete alles für einen Alarmstart vor und wartete nervös, während die Leute unseres Kommandos, einer nach dem anderen, eintröpfelten und in die Schleuse sprangen. Ich machte Druckausgleich und gab vollen Schub. Die Sensoren zeigten zwei riesige Roboter an, die rasch näherkamen, und ich wußte, daß ich nicht mehr viel Zeit hatte.

Erst als wir weit draußen im Raum waren, wagte ich,- erleichtert aufzuatmen, und hatte Zeit, mich um die beiden verletzten Chozen zu kümmern.

Einer, ein Männchen, war tot — der erste der neuen Rasse der Chozen, der gestorben war. Ein Vierter namens Shem; ein heller Junge mit einer großen technischen Begabung, erinnerte ich mich voll Trauer.

Marsha lebte noch. Gerade noch. Sie war bewußtlos. Ein Stück ihres linken Ohrs fehlte, mehrere Zähne waren ausgebrochen — und beide Hinterläufe waren abgeschnitten wie mit einem Fleischermesser, zusammen mit ihrem Schwanz.

Sie hatte viel Blut verloren und blutete noch immer, aber George befaßte sich mit ihr über den Computer, und er schien die Schlacht zu gewinnen, diese Schlacht, die sofort gewonnen werden mußte.

»Sie müßte eine Transfusion bekommen«, sagte George.

»Nein, drängen Sie sich nicht dazu, Bar. Ich weiß, daß Sie gerne Ihr Blut geben würden, um sie zu retten, aber wir haben keine Möglichkeit, eine Transfusion durchzuführen. Ich habe alles getan, was ich tun konnte. Jetzt können wir nur noch warten. Wenn sie es schafft . . . Nun, dann werden wir weitersehen.«

Ich biß mir auf die Lippe. »George«, sagte ich leise. »Angenommen . . . angenommen, sie schafft es — irgendwie . . . kann das Virus so viel regenerieren?«

Er schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Aber wenn irgend jemand es übersteht, dann sie. Sie hat Mut, und einen verdammten Dickschädel. Sie lebt schon aus lauter Trotz weiter. Und was die Regeneration betrifft... ich weiß nicht. Eine so schwere Verletzung hat es bei uns noch nie gegeben.«

Ich starrte sie an, entsetzt und völlig durcheinander. Ich wußte nicht, was ich tun sollte ohne Marsha, die mich immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt hatte, wenn ich mal durchdrehte. Sie war ein Teil von mir geworden, erkannte ich — schon seit geraumer Zeit. Ich hob den Kopf und sah den alten Mann unsicher an.

»George... was soll ich tun?« fragte ich mit gebrochener Stimme.

Er blickte mir in die Augen. »Den Plan zu Ende führen, natürlich. Es gibt noch 1332 andere Chozen, an die Sie denken müssen.«