16

Es gab eine Menge Arbeit, selbst für vier Chozen und zwei Roboter, und das lag daran, weil die Chozen nur wenig tun konnten.

Wir konnten allerdings Kain und Abel veranlassen, zwei Schlitten anzufertigen — einfache Kufengestelle — und uns an sie anzuschirren. Das erleichterte die Transportprobleme ganz erheblich.

Können Sie sich vorstellen, wie lange es dauert, über eine halbe Million tiefgekühlte Lunchpakete durch die Schleuse loszuwerden, die sich natürlich am anderen Ende des Schiffes befand, also fast einen Kilometer von dem Laderaum entfernt? Natürlich erlaubte ich nicht, daß George uns zuviel half, er sollte bei der Arbeit mit dem Virus bleiben.

Nach und nach gelang es uns, die Nijinski für unsere Erfordernisse herzurichten.

Und auch Marsha machte Fortschritte. Ich war bei ihr, als sie zum Abschluß ihrer Transformation zu einem Chozen-Weibchen erwachte. Ihr fehlten jetzt nur noch die Hörner mit den Membranen, die ihr das neue Sehen ermöglichen würden.

Sie fuhr aus dem Schlaf hoch und begann verwirrt um sich zu schlagen.

»Langsam, langsam!« warnte ich. »Am besten bleiben Sie liegen, bis Sie wieder sehen können.«

Sie wandte sich unsicher in meine Richtung. »Wer ist da?« fragte sie.

»Bar Holliday, und zum erstenmal mit der eigenen Stimme«, antwortete ich. »Sie haben das Schlimmste jetzt hinter sich.«

Ihr Gesicht drückte Angst aus. »Bin ich . . . sehe ich jetzt so aus wie Sie?« fragte sie stockend.

»Genaugenommen eher wie Eva«, sagte ich ihr. »Ich finde, Sie sehen blendend aus.«

Sie seufzte und ließ sich wieder ins Gras zurücksinken. »War es für Sie auch so?« fragte sie. »Ich meine, war es für Sie auch so schwer?«

»Natürlich«, sagte ich mitfühlend. »Es ist für jeden schwer, der nicht so geboren wurde, besonders, wenn man dazu gezwungen ist und keine andere Wahl hat. Und ich . . . ich wußte nicht einmal, was mit mir passierte und wie es passierte. Genausowenig wie George.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht glauben. Sie wirken so — selbstsicher, beherrscht. Ich weiß, wie Aufklärer sind, wir hatten zwei davon in meiner Kommune. Allerdings sahen wir sie nicht oft; sie waren wie Sie: psychisch stabil wie Maschinen, die mit jeder Situation fertig wurden. Das war der einzige Grund, warum ich Ihnen glaubte — Ihre Art, Ihre gelassene Sprache, die selbst der Computer durchklingen ließ, Ihre Symbiose mit Ihrem Schiff. Ich wußte gleich, daß Sie die Wahrheit sagen, einfach, weil es Ihre Art ist.«

»Unsinn«, sagte ich, »dieses Gerede von maschinenartiger Härte und Selbstsicherheit. Die anderen können Ihnen sagen, wie wenig ich davon habe. Es ist weiter nichts als ein Mythos.«

Sie schüttelte ungläubig den Kopf, dann hob sie ihn und lauschte.

»Ist George nicht hier?« fragte sie.

»Nein, er ist drüben auf der Nijinski und hilft den Kindern beim Zuschneiden und Auslegen der Grassoden«, sagte ich.

»Außer uns beiden ist niemand hier.«

»Dann hören Sie bitte zu«, sagte sie ernst. »Ich habe mich oft mit George unterhalten. Ich mag ihn. Er ist mir ähnlicher als Sie.

Wenn er nicht gewesen wäre, hätte ich Sie gebeten, mich aus der Schleuse in den Raum zu stoßen, wie Nadya. Ich habe ihn sogar einmal darum gebeten, aber er hat es mir ausgeredet.«

Das überraschte mich. Es paßte so gar nicht zu dem Bild, das ich mir von ihr machte. Und das mußte erst vor kurzer Zeit gewesen sein, denn erst im vorletzten Zyklus der Verwandlung war sie in der Lage, George zu hören.

Aber nein, fiel mir dann ein. Es gab schließlich Kain, der über die trennende Frequenzkluft hinweg den Dolmetscher hatte spielen können.

»Er hat mir über die Bombardierung von Patmos erzählt«, sagte sie leise. »Er hat mir von eurer Welt berichtet, von der Welt der Chozen, wie schön sie einmal war, wie freundlich ihre Bevölkerung. Und von seiner Tochter — Mara hieß sie, nicht wahr?«

Ich nickte, obgleich sie es nicht sehen konnte. »Evas Mutter.«

Sie seufzte. »Ja — und jetzt sind Sie hier. George hätte es nicht schaffen können, Bar, selbst wenn er sich mit diesem Schiff aus-gekannt und eine Verbindung zum Computer hätte herstellen können. Seiglein hätte ihn abgeknallt — er hätte jeden abgeknallt; nur ein trainierter Aufklärer konnte seine Absicht erkennen und ihr ausweichen.« Sie bewegte den Kopf, und ihre blinden Augen blickten mich an.

»Was haben Sie damals gefühlt, als Sie sahen, was er Ihrer Welt angetan hatte?« fragte sie ruhig.

»Der Schmerz ist noch genau so stark wie damals«, versicherte ich.

»Sie haben getobt und geschrien, habe ich gehört.«

»Und wie«, gab ich zu. »Was sagen Sie jetzt zu meiner Selbstbeherrschung?«

»George hat mir gesagt, daß er sich und euch drei töten wollte.

Er hat es nicht getan, weil er wußte, daß Sie es nicht zulassen würden.«

George? dachte ich erschüttert. Der zuverlässige, ruhige George? Der Mann, der mich damals beruhigt hatte, der meine rasende Wut zu einem dumpfen Schmerz reduziert hatte?

Hatte ich mir eigentlich irgendwann überlegt, was George durchgemacht haben mußte?

Ich fühlte mich plötzlich sehr, sehr klein, und ich sagte es Marsha.

»Das haben Sie nicht nötig!« erwiderte sie fast grob. »Was soll das? Sie haben ihn gerettet, Bar Holliday! Ihn und Ham und Eva.

Er ist ein großer Mann. Aber das sind Sie auch, auf Ihre Weise.

Die Tragödie wäre noch größer geworden, wenn auch das geopfert worden wäre.«

Ich schwieg. Mit ihrem letzten Satz war ich nicht einverstanden, aber mir fiel nichts ein, das ich ihr hätte erwidern können.

»Deshalb bin ich noch hier und verwandle mich in eine Kreatur wie ihr welche seid«, sagte sie nach einer langen Pause. »Deshalb spreche ich mit Ihnen und George, beobachte Sie, und die Kinder, diese unglaublichen Kinder, die Sie beide geboren haben. Ich weiß, daß Sie etwas vorhaben, Sie und George. Etwas Gewaltiges. Ich fühle es, auch wenn ich es nicht verstehen kann.

Ich möchte dabei sein, in der Gesellschaft großer Männer, die große Dinge tun, Bar Holliday. Wenn ich sie nicht verstehe, so will ich doch wenigstens Anteil an ihnen haben. Das ist viel großartiger, als eine Roboterexistenz zwischen der Kommune und Creativision auf einer Milchmannroute.«

Ich lächelte. Ich hatte mich also doch nicht geirrt, als ich glaubte, an dieser Frau das gewisse Etwas entdeckt zu haben.

»Große Gelegenheiten machen große Menschen und große Taten«, sagte ich zu Marsha. »George ist von unserer Welt geflohen, um ein Utopia zu finden, und endete dann konsequenterweise als harmloses grasfressendes Weidetier. Ich bin in unbekannte Räume vorgestoßen, das ist wahr, aber ich tat es im Auftrag Seigleins, nach den Anweisungen der Direktion, suchte nur nach Dingen, die sie haben wollten; ich habe mir zwar stets eingeredet, frei und ungebunden zu sein, während ich in Wirklichkeit nur Trophäen für Seiglein sammelte und versuchte, der Corporation zu gefallen. Sie sind genau so Teil dieses Systems wie wir. Glauben Sie mir. Wir sind alle, einer wie der andere, weiter nichts als . . . « Ich suchte nach dem passenden Wort.

»Revolutionäre«, hörte ich George sagen; er kam gerade die Treppe herab. »Das sind wir. Revolutionäre. Selbst wenn wir unsere Gestalt verändern, so macht uns das doch nicht wirklich anders — innen, wo es zählt, und kulturell. Nein, es ist die Revolution, die wir anstreben. Deshalb bin ich auch so engagiert. Die Menschheit ist seit langem reif für eine Revolution. Der Garten muß gründlich gejätet werden, soll er nicht am Unkraut ersticken.«

»Aber George!« rief ich verblüfft. »Wir sind keine Menschen mehr!«

Er kicherte. »Physisch manifestieren wir die Revolution, die Seiglein und die anderen fürchten, aber die sind Produkte ihres eigenen Systems. Die Menschen haben andere immer nach Äußerlichkeiten beurteilt. Menschen sind verfolgt worden wegen ihrer Hautfarbe, wegen ihrer Körpergröße, wegen geringfügigster Abweichungen von der Norm, ja sogar wegen ihres Haarschnitts. Nun, das haben wir beseitigt. Wir haben uns zu einer Rasse mit idealem Aussehen entwickelt und oft im Scherz behauptet, daß wir das Beste seien, was es gibt. Nein, die wirklichen Revolutionen kommen immer von innen heraus, aus dem Denken. Das ist die Revolution, die wir repräsentieren. Was wäre schon dabei, wenn wir alle Menschen der Galaxis in Chozen verwandeln würden? Welche sozialen Veränderungen würde das bewirken? Würden die Menschen dann einen Sinn in ihrem Leben sehen? Quatsch! Patmos war ein Analogon der menschlichen Gesellschaft. Es war. Jetzt nicht mehr. Nie wieder.« Ein inneres Feuer schien ihn zu verbrennen. »Wir werden sie stürzen!«

Marsha wandte mir ihr Gesicht zu. »Sehen Sie jetzt, was ich Ihnen sagen wollte?«

Ich nickte, konnte aber noch immer nicht ganz folgen. George hatte ein ganz bestimmtes Ziel vor Augen, aber ich konnte es nicht erkennen.

Doch ich wußte, daß er auf dem richtigen Weg war. George war immer auf dem richtigen Weg.

Die Zyklen kamen und gingen, und die Arbeit auf der Nijinski näherte sich ihrem Ende. Ihre Konstrukteure würden das Schiff nicht wiedererkannt haben. Genausowenig wie Marsha es konnte.

Sie hatte einige Schwierigkeiten, sich an ihr Leben als Chozen zu gewöhnen. Sie war nicht in dieser Gestalt geboren worden, wie Ham und Eva, und sie konnte sich nicht in der freien Natur an sie anpassen, wie George und ich es gekonnt hatten.

Die Gewöhnung an die Sehtechnik der Chozen dauerte mehrere Tage, und noch erheblich länger brauchte sie dazu, sie unbewußt und selbstverständlich anzuwenden. Auch das Bewegen erforderte nicht nur eine physische Leistung, sondern ein enormes Selbstvertrauen. Es war wie mein erster Alleinflug, als sie mich in ein Schiff gesteckt, mit dem Computer verbunden und mir gesagt hatte: >Jetzt fliege!<

Zwei von drei Rekruten schafften es auch nach jahrelangem Training nicht. Und von denen, die es schafften, entwickelte nur einer von zehn so viel Selbstvertrauen, um eigene Wege zu gehen, um sein Schiff in unbekannte Räume zu führen, außerhalb der Reichweite jeder menschlichen Hilfe. Und selbst von diesen besaß nur einer unter Tausenden das Selbstvertrauen, um Aufklärer zu werden wie ich.

Ich hatte es immer für Stolz gehalten, aber im Grunde genommen war es nichts weiter als Selbstvertrauen. Das Selbstvertrauen, den Weg zu neuen Konstellationen zu finden — und den Weg zurück. Das Selbstvertrauen — vielleicht auch nur die Dickköpfigkeit —, das sich weigerte, Niederlagen einzugestehen.

Marsha stolperte oft und fiel hin, verletzte sich häufig, bis sie sich ohne fremde Hilfe und einigermaßen sicher bewegen konnte. Sie hatte keine Freude daran, ein Chozen zu sein, aber sie akzeptierte es. Ich war stolz auf sie.

»Wir haben Glück gehabt«, sagte ich eines Tages zu George, »daß wir durch reinen Zufall eine wie sie erwischt haben.«

»Nein«, widersprach er. »Von ihrer Sorte gibt es viele, wahrscheinlich Millionen. Ich meine Menschen, die sich noch immer an neue Situationen anpassen können. Sie sterben langsam aus, werden durch nichtanpassungsfähige Nadyas ersetzt, die das selbständige Denken verlernt haben. Aber diejenigen, die noch diesen gewissen Funken besitzen, verdienen es, befreit zu Verden, auf einen neuen Weg geführt zu werden, von dessen Existenz sie nicht wissen können. Auf der alten Erde herrschten einst die Dinosaurier, gigantische Tiere, viele Tonnen schwer.

Sie waren unfähig, sich neuen Lebensbedingungen anzupassen, und darum starben sie aus. Jetzt sind wir an der Reihe. Der Vorstoß in den Raum hat diesen Prozeß verlangsamt, aufgeschoben und ein Ventil geschaffen, das den kreativen, anpassungsfähigen Funken am Leben erhalten hat, wenn auch nur latent. Ich wette, daß es auf jedem Schiff eine Marsha gibt — oder zumindest auf jedem zweiten. Das sind die Menschen, die wir retten müssen, Bar! Wir werden sie aus ihrem Dinosaurierdasein erlösen!«

Immer wieder kam der alte fromme Utopist auf dieses Thema zurück, während die Tage vergingen. Mir reichten seine prophetischen Ergüsse, und ich verbrachte immer mehr Zeit mit Marsha. Es entwickelte sich zwischen uns eine Affinität von der Art, die schwer zu beschreiben ist — emotional, geistig, auf keinen Fall war sie physisch. Die ist den Chozen unbekannt. Wir waren gern beisammen, mochten einander als Gesprächspartner.

Ich hatte eine Verbindung dieser Art noch nie kennengelernt.

Und sie auch nicht.

Ham und Eva wurden rasch erwachsen, aber sie hatten George und mich immer für sich gehabt und waren auf >die Neue< zunächst eifersüchtig. Es kostete einige Zeit und Mühe, um sie davon zu heilen.

Obwohl Eva meine Tochter war, identifizierte sie sich stärker mit George und seinen Interessen. Ich hatte den Eindruck, daß sie ihn förmlich anbetete, und wußte, daß ihm diese Verehrung peinlich war. Unter seiner Führung entwickelte sie sich zu einer kompetenten Biotechnikerin. George war ein guter Lehrer, und Eva hatte nicht Georges Handikap, bei seiner Ausbildung auf den Gebrauch von Händen und Augen angewiesen zu sein.

Es war Marsha selbst, die schließlich Hains hartnäckigeit Widerstand gegen sie brach und ihn in unsere kleine Gemeinschaft zurückbrachte. Sie lehrte ihn, die Nijinski zu fliegen.

Währenddessen war es uns mit der Hilfe der Roboter gelungen, die Nijinski auf das Ereignis vorzubereiten, das früher oder später eintreten mußte.

Wir hatten alle Laderäume, die für uns unbrauchbares Material enthielten, ausgeräumt und das Zeug außenbords geworfen.

Nachdem wir in allen Räumen die richtigen Temperatur- und Druckverhältnisse hergestellt und sie mit dem Bio-Monitor-System des Schiffes verbunden hatten, wurden sie mit Grassoden ausgelegt, in die wir ein paar Knollen aus unserem Garten pflanzten.

Das Virus entwickelte sofort eine hektische Tätigkeit. Schon nach wenigen Zyklen überwucherte unser Gras das andere, und wir hatten eine riesige Fläche neuen Weidelandes.

Mit Hilfe der Roboter legten wir jeden Quadratmeter des Schiffes mit Soden aus — mit Ausnahme der Treppen, Rampen und der Brücke natürlich. Innerhalb von vierzig Zyklen war die Nijinski zu einer eigenständigen Chozen-Biosphäre geworden.

Das Chozen-Gras schied so viel Sauerstoff aus, daß wir das Recycling-System abschalten konnten. Wir verbrauchten kaum den Sauerstoff, den die Pflanzen produzierten, und mußten der Luft Kohlendioxid hinzufügen, um sie atembar zu machen.

Was George betraf, so hatte seine Arbeit mit meiner Mithilfe durch den Computer und der von Kain und Abel durch ihre Augen und Tentakel große Fortschritte gemacht. »Ich glaube, daß ich das Virus jetzt ziemlich fest unter Kontrolle habe«, erklärte er mir eines Tages. »Ich kann Wachstum und Tätigkeit beschleunigen und verlangsamen, das Wachstum sogar völlig stoppen. Mit einer geringfügigen Modifikation habe ich es so weit mutiert, daß es nur noch Chozen- und Patmos-Material beeinflussen kann. Es war eigentlich recht einfach. Man brauchte nur etwas Geduld, um die Codegruppen auszusortieren. Ihr Computer hat mir dabei sehr geholfen. Ich habe ihm Moses' Logiksystem eingespeist, und das hat die Möglichkeiten natürlich sehr reduziert.

Ich könnte jetzt sogar die Sekretion herstellen, die Material selektiv zersetzt, wenn ich an den Computer angeschlossen werden kann, um von ihm die analytische Information zu erhalten, die das Virus über die molekulare Zusammensetzung von Materie meldet.«

»Dann können Sie alles tun, was Moses tun kann«, sagte ich ehrfürchtig.

»Nicht ganz.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe nicht den ursprünglichen Virusmutanten, mit dem er gearbeitet hat.

Ich glaube nicht, daß es uns jemals gelingen wird, den Zustand des originalen Organismus genau zu erkennen oder sogar zu kopieren. Und ohne diese Kenntnis ist es mir unmöglich, das derzeitige Muster zu verändern.«

Ich runzelte die Stirn. »Und? Was hat das zu bedeuten?«

»Es bedeutet«, sagte er, »daß ich mit dem Virus alles tun kann, wofür Moses es programmiert hat — aber da gibt es wahrscheinlich eine ganze Menge Dinge, von denen wir nicht die geringste Ahnung haben. Aber ich kann das Grundmuster nicht verändern. Ich kann Menschen in Chozen verwandeln, aber keine Chozen zu Menschen machen. Dasselbe gilt für Pflanzen.«

Marsha hatte unserem Gespräch fasziniert zugehört, und jetzt sagte sie, in einem Tonfall, der Trauer und Enttäuschung verriet:

»Also sind wir für immer Chozen.«

Eines Tages trat das Unvermeidbare ein. George rief mich zu sich.

»Was ist los, George?« sagte ich fröhlich. »Du machst ein so ernstes Gesicht.«

»Haben Sie nichts bemerkt?«

Ich blickte ihn fragend an. »Was meinen Sie damit?«

»Ham ist seit einigen Tagen etwas seltsam geworden, und ich habe ihn gefragt, was los sei. Er wußte es nicht, also habe ich mich etwas gründlicher mit der Sache befaßt. Wir sind auch etwas seltsam geworden, Bar. Sie haben nichts davon bemerkt, weil Sie sie lieben, und Liebende fühlen immer anders.«

»Marsha?« fragte ich verwirrt.

Er nickte. »Sie hat heute ein stärkeres Grün, Bar. Und die Färbung wird von Tag zu Tag kräftiger werden. Sie hat natürlich keine Ahnung davon. Und Eva — sie wird es wahrscheinlich auch nicht merken.«

Ich überlegte eine Sekunde lang. »Die Brutperiode!« sagte ich dann.

Er nickte. »Sie ist als Erwachsene zum Chozen geworden, genau wie Sie. Eva ist auch bald dran, das dürfen wir nicht vergessen. Wenn Ham auf Marsha anspricht, bedeutet das, daß sie beide physiologisch erwachsen sind.«

»Und?« sagte ich. »Das haben wir doch von Anfang an gewußt.

Das war doch der Grund, die Nijinski zu kapern und uns all diese Arbeit zu machen.«

»Wir sind drei Männer und nur zwei Frauen«, sagte er langsam. »Haben Sie schon einmal daran gedacht?«

Hatte ich nicht. Aber ich sah nicht ein, warum das so wichtig sein sollte.

»Sie haben die Brutperiode nicht auf der Ebene erlebt«, sagte George. »Sie wissen nicht, wie es ist, fast zum Wahnsinn getrieben zu werden, gegen alle anderen Männchen zu stehen, um Ihren Besitz des Weibchens zu verteidigen, auf das Sie zufällig ansprechen, nur weil sie, genau so zufällig, in Ihre Nähe gekommen ist. Es ist wirklich schlimm und kann Eifersucht und Bitterkeit verursachen. Einer von uns muß der Verlierer sein, und man fühlt sich elend, wenn man bei der Brutperiode verliert.«

»Was sollen wir tun?« fragte ich. »Bei der nächsten dürfte es keine Probleme mehr geben.«

Er nickte. »Ich habe jetzt alles ziemlich gut unter Kontrolle. Ich kann Signale senden, die so gut wie alles beeinflussen. Da Moses imstande war, die Zahl der Eier bei der letzten Brut auf Patmos zu beschränken, kann ich das auch. Mit Evas Hilfe habe ich dafür schon die nötigen Vorbereitungen getroffen.«

»Dann sind Sie auch in der Lage, die Brutperiode ganz zu verhindern«, sagte ich.

Er nickte. »Gewiß. Aber wir brauchen mehr Leute. Ich strebe einen Optimalzustand an, eine Bevölkerungszahl, die noch übersichtlich ist, aber für unsere Zwecke ausreicht. Wir sind jetzt zu fünft — können also jeder zwei Junge bekommen und die zehn gemeinsam aufziehen. Ich möchte mehr Hams und Evas, nicht die stumpfen Patmos-Tiere. Wir brauchen Zeit, um sie richtig zu erziehen.«

Ich stimmte ihm zu und fragte ihn nach seinem Plan.

»Wir werden es so einrichten, daß jede der beiden Frauen fünf Junge bekommt. Um dumme Eifersüchteleien zu verhindern, werde ich meinen eigenen Trieb unterdrücken. Mit Hilfe des Computers sollte mir das gelingen.«

»Ich bin dafür, daß Sie einer der beiden Väter sind«, wandte ich ein. »Wir brauchen mehr von Ihrer Art. Ham kann warten.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich will nicht, daß er wartet. Ich denke, es wird Zeit, daß er etwas Verantwortung übernimmt, und — Sie werden sich mit Marsha paaren, natürlich. Eva . . . sie ist Ihre Tochter, aber sie . . . sie erinnert mich sehr an Mara.«

»Sie ist Maras Kind«, sagte ich.

»Natürlich. Aber ich spreche nicht nur von ihrem Aussehen, sondern von ihrem Verstand, ihrem Benehmen, ihrer Wißbegier.

Persönlichkeit, mit einem Wort. Aber schließlich habe ich sie beide erzogen. Ich habe noch viel Zeit, Bar. Ich werde diese Brutperiode ausfallen lassen.«

Wir riefen Marsha von der Nijinski zurück. Zum erstenmal bemerkte ich, was George schon seit Tagen festgestellt hatte. Sie bekam dieselbe, intensive Grünfärbung, die ich an Mara gesehen hatte, als wir aufbrachen, um über die Berge zum Dorf zurückzukehren. Ich fühlte eine seltsame Unruhe in mir, die wahrscheinlich schon eine ganze Weile vorhanden gewesen war, mir aber erst jetzt bewußt wurde.

George nickte befriedigt. »Für mich sieht sie völlig normal aus«, sagte er. »Und für Sie?«

»Sie haben recht«, antwortete ich. »Jetzt fühle ich es.«

Er lächelte. »Gut. Jetzt werde ich mich um Ham und Eva kümmern. Ich möchte, daß Sie und Marsha in Laderaum A gehen und sich dort einschließen — bis es vorbei ist. Auf diese Weise vermeiden wir Probleme mit Ham.«

Ich nickte und ging zu Marsha hinüber.

»Was ist eigentlich los?« fragte sie mich. »Ihr beiden benehmt euch wie Verschwörer.«

Ich sagte es ihr. Natürlich hatten wir ihr schon vorher von der Brutperiode erzählt, aber da lag sie noch irgendwo in einer fernen Zukunft, hatte nichts mit dem >Jetzt< zu tun, und vor allem nichts mit uns. Wie alle Raumfahrer — und wie auch ich —, war Marsha bei Beginn ihrer Ausbildung sterilisiert worden. Aber das war nichts Besonderes. Die meisten Menschen ließen sich sterilisieren, doch bei Raumfahrern war das Pflicht. Eine Vorsichtsmaßnahme gegen Geburtsdefekte und Mutationen.

Zuerst lachte sie und weigerte sich, es zu glauben. »Wollen Sie mir wirklich einreden, daß ich in Hitze komme wie ein Tier? Und daß Sie das sehen können?«

Ich nickte. »Und Ham kann es ebenfalls sehen. Deshalb müssen wir uns irgendwie einschließen.«

Zwei Tage später, im Laderaum A, machte Marsha die Erfahrung, was für eine unwiderstehliche Naturgewalt der Bruttrieb der Chozen ist. Wie ich bereits sagte, wurde das Denken während des ganzen Rituals fast völlig ausgeschaltet, alles war programmiert. Sogar der gemeinsame Bau des Gewebehauses gehörte dazu, in diesem Fall wirklich nur ein Ritual, da wir es hier wirklich nicht brauchten. Es wurde trotzdem ein richtiges Kunst-werk. Nach der zehntägigen Wartezeit waren die Eier ausgereift.

Fünf Eier, wie George es programmiert hatte. Vier für ihren jetzt extrem geweiteten Beutel, eins für den meinen.

Nach dem langen Schlaf erwachten wir wie aus einem tiefen Koma, einem angenehmen, orgiastischen Koma, und Marsha schüttelte ungläubig den Kopf.

George hatte ihr erklärt, wie lange das Ritual dauern würde.

Die Virusmutationen, die diesen Zustand hervorriefen, paßten sich den beiden Partnern vollkommen an und brauchten diese Zeit, um die Eier zu schaffen und zu formen.

Marshas erste Worte waren: »Das ist unglaublich!«

Ich lächelte. »Alle zwei Jahre. Für dich. Für mich öfter, später zumindest.«

Sie nickte. »Eigentlich eine wunderbare Einrichtung.« Sie wandte sich um und blickte auf das Silbergespinst unseres Gewebehauses. »Weißt du, ich versuche mir immer eine Welt von Bäumen und Wiesen und Dörfern aus Gewebehäusern wie diesem vorzustellen, aber es gelingt mir nicht. Doch irgendwie spüre ich, Patmos muß herrlich gewesen sein.«

»Patmos könnte herrlich gewesen sein«, sagte ich leise, »wenn es nicht so vollständig unter der anmaßenden Kontrolle von Moses gestanden hätte, unter seinem missionarischen Eifer. Und das ist eins der Ziele, für das wir jetzt arbeiten. Wir wollen ein zweites Patmos schaffen, einen Ort, der so schön ist, wie es diese zerstörte Welt hätte sein können, aber das nur von uns selbst beherrscht wird.«

»Was geschieht nun mit den Eiern, den Jungen, meine ich?«

»Die Jungen wachsen und schlüpfen aus. Sie sorgen schon dafür, daß man sie nicht übersieht. Verlaß dich drauf.«

Später, als wir uns ausgeruht und gegessen hatten, um wieder zu Kräften zu kommen, zerstörten wir das Gewebe, mit dem wir die Tür des Laderaums festgelascht hatten, und gingen in mein Schiff zurück.

Es war beunruhigend gewesen, George das Kommando zu übertragen. Die Möglichkeit einer mechanischen Panne oder einer Entdeckung, so winzig sie auch sein mochte, war niemals ganz auszuschließen — und beide ausgebildete Piloten unseres Teams waren für zehn Tage ausgefallen.

Aber vorher hatte ich noch die Zeit gefunden, Ham die Technik des L-Sprungs zu erklären, und so waren wir während dieser Dekade nicht völlig hilflos.

George begrüßte uns fast überschwenglich, und die vielen Fragen von Eva — und die von einer leichten Eifersucht durchwach-senen Hams — waren sehr interessant. Auf jeden Fall wurden sie ausführlicher beantwortet als die Fragen, die zehn Zyklen später gestellt wurden, nachdem wir die beiden in Laderaum A eingeschlossen hatten.

Zwanzig Zyklen später erschienen in Marshas Beutel, kurz nacheinander, die Köpfe von vier Jungen, wenig später auch die Vorderläufe von Ada, April, Ann und Aud. Marsha hatte sich entschlossen, alle vier Namen mit dem ersten Buchstaben des Alphabets beginnen zu lassen, damit sie bei späteren Brüten die Generationen auseinanderhalten konnte. Ein recht praktisches System, sah ich ein.

Auch ich hatte eine Tochter — ich war nun einmal eine Ausnahme —, und ich taufte sie Mara.

Evas vier Nachkommen wurden von George nach gewohntem Muster benannt, wobei er jedoch zum erstenmal seine Vorliebe für einsilbige Namen mißachtete: Judith, Esther, Ruth und Maria.

Ham hatte einen Sohn, und George taufte ihn Matthäus.

Wir waren jetzt eine Familie und eine Rasse mit fünfzehn Angehörigen.

Die Zeit verging, und wir gaben uns alle Mühe, sie zu nutzen.

Ich hatte mir die Aufgabe gestellt, ein Schriftsystem zu entwickeln, das für uns brauchbar war. Zu Anfang wollte es gar nicht klappen, und wir mußten die Speicherkapazität des Computers auslasten, bis sie erschöpft war. Aber wir machten doch Fortschritte. Wenn ich besseres Material zur Verfügung gehabt hätte, wäre es viel leichter gewesen, aber nach einigem Überlegen gelang es uns, ein Verfahren zur Herstellung von Papier aus zerstoßenen Pflanzen zu entwickeln. Es war ziemlich grob und brach leicht, aber es war immerhin besser als nichts. Darauf konnte ich dann mein Buchstabensystem realisieren. Es bestand aus einem Code aus Löchern in verschiedenen Anordnungen, die mit einem Dorn oder einem anderen spitzen Instrument, das wir im Mund halten konnten, ins Papier gestochen wurden. Eine Art Blindenschrift, könnte man sagen, und wir lernten sie lesen.

Ich erzählte der neuen Generation mein Raumfahrergarn, und Marsha, die diese Lügengeschichten schon einige Male gehört hatte, übertraf sie manchmal mit eigenen.

Die Zeit verging, und unsere kleine Gruppe wurde zu einer eng verbundenen Zivilisation. Bei jeder der folgenden Brutperioden wurden die Jungen auf zwei Weibchen und ein Männchen beschränkt (mit Ausnahme von meinem Nachwuchs, den George auf zwei limitierte). Auf diese Weise hielten wir die Population in Grenzen und in einem vernünftigen Verhältnis. Durch diese sorgfältige Manipulation gelang es George, unsere Gesellschaft im Gleichgewicht zu halten.

Und George fielen immer wieder neue Namen ein.

Hin und wieder versiegelten wir die Nijinski, und ich unternahm mit meinem Schiff kurze Flüge in den Sektor der Menschen, machte Erkundungen, hörte den Funkverkehr ab und lief manchmal eine Relaisstation an, um unseren Wasservorrat zu ergänzen. Mit dem Kraftstoff hatten wir keine Probleme. Da die Nijinski relativ stationär blieb, verbrauchte sie auch kaum welchen. Immer wieder fühlten wir die Versuchung, noch einmal einen Frachter zu überfallen, aber man soll das Glück nicht herausfordern.

Die Zeit verging, und recht angenehmn.

Nach der fünften Brutperiode hatten wir 891 Weibchen und 445 Männchen, und damit war die Kapazität der Nijinski ausgelastet.

»Wir können uns keine weitere Brutperiode mehr leisten«, erklärte mir George eines Tages. »Wir haben die Grenze eigentlich bereits überschritten. Platz wäre noch etwas da, aber das Wasser wird allmählich knapp. Wir können nicht alles durch den Recycler jagen.«

Das stimmte. Es war eine schöne Zeit gewesen, aber unsere seltsame Rasse von raumgeborenen Pflanzenfressern, von denen nur drei jemals festen Boden unter den Hufen gehabt hatten, hatte jetzt den kritischen Punkt erreicht; wir mußten etwas unternehmen — oder untergehen.

Wir diskutierten lange über diese Frage, George, Marsha und ich. Die Leute waren zum Handeln bereit. Unsere Erzählungen und Berichte hatten ihr Verlangen nach einer eigenen Heimat angefacht, nach einem eigenen Planeten. Aber zwischen dem Entschluß zum Handeln und einem konkreten Plan liegt ein weiter Weg.

Marsha — Gott segne sie — hatte den richtigen Einfall.

»Hört mal!« sagte sie erregt. »Du, Bar, willst dich an Seiglein rächen, an der Corporation, an der Menschheit. Das hast du mir doch immer wieder erzählt. Jahrelang.« Sie wandte sich an George. »Und Sie — Sie wollen einen Kreuzzug gegen das System unternehmen. An mich aber hat keiner gedacht — an mich und alle anderen hier. Wir wollen ein Zuhause, nicht mehr. Ein Zuhause. Zum Teufel mit eurer Rache und euren Kreuzzügen!

Ihr beide führt euch auf wie kleine Kinder. Es wird langsam Zeit, daß ihr erwachsen werdet. Ihr tragt die Verantwortung für uns alle. Ihr müßt etwas tun, aber nicht, was euch gefällt, sondern was zum Besten aller ist.«

Wenn Marsha einmal loslegte, war sie nicht mehr zu bremsen.

Sie war der politische Organisator der Kolonie geworden, beinahe so etwas wie eine Herrscherin in vergangenen Zeiten.

»Okay, okay, Marsha«, sagte ich resignierend, als sie endlich fertig war. »Hast du einen Vorschlag?«

Sie lächelte triumphierend. »Erinnert ihr euch noch an die alten Creativision-Filme, die wir als Kinder gesehen haben?« Sie sah erst mich an, dann George.

»Er nicht«, sagte ich. »Das war lange nach seiner Zeit auf der Erde.«

»Natürlich. Aber du kennst sie, und du weißt, worauf ich hinaus will. Ich denke, es ist Zeit, das gute, alte Szenario von den Fremden aus dem Weltraum einmal in Wirklichkeit durchzuspielen.«

Ich grinste. Ihr Vorschlag gefiel mir immer besser, je länger ich über ihn nachdachte. Und diesen Plot kannte auch George — er war sicher genau so alt wie das Wissen des Menschen um die Existenz anderer Planeten, aber ich erklärte ihn trotzdem.

»Sie meint, daß fremde Monster aus dem Weltraum einen Planeten überfallen?«