10
»Ich empfange etwas im Audio«, sagte ich zu George. »Ich wette, ich weiß, wer es ist.«
George hockte in der unteren Bucht des Cockpits, normalerweise mein Schlafquartier, und versuchte, sich in dem Schiff zu orientieren, das mir so vertraut war.
»Moses?« fragte er nervös.
»Wer sonst?« sagte ich. »Wollen wir mal hören, was er uns zu sagen hat?«
George war unsicher. »Interessiert Sie das wirklich? Ich meine, es ist verdammt kalt hier, aber wer weiß, wie kalt es wirklich sein muß, um vor den Viren sicher zu sein. Er könnte versuchen, wieder mit uns in Kontakt zu kommen, uns zur Rückkehr zu zwingen.«
»Wahrscheinlich«, stimmte ich zu. »Aber wenn ihm das durch das Virus möglich wäre, hätte er es sicher längst getan. Er scheint da eine erhebliche Schwäche zu haben. Wir müssen bald einen L-Sprung machen, und damit kommen wir ganz aus seiner Reichweite. Also wollen wir mal sehen, was der alte Junge will.«
Das Einschalten des Audios erforderte ein paar Handgriffe, ziemlich schwierig ohne Hände, aber die Spalte in den Hufen waren gerade breit genug, um die Einstellknöpfe damit bedienen zu können. Schalter machten mir da weniger Schwierigkeiten, obwohl die Vorderläufe nur zur Fortbewegung entwickelt worden waren und lediglich beschränkte Bewegungsfähigkeiten besaßen.
Es kostete mich etwas Zeit und Mühe, bis ich ihn klar empfing. Endlich, nach einiger Statik und noch mehr Pfeiftönen, hatte ich ihn. Er hatte eine seltsame Stimme, eine der seltsamsten, die ich jemals gehört hatte. Sie war elektronisch, klar, aber sie besaß einen dreidimensionalen Charakter, als ob man die ursprüngliche Aufnahme von einer menschlichen Stimme nachträglich so bearbeitet hätte, daß sie wie eine elektronische klang.
Es war die Stimme eines alten Mannes, emotional und voller Kraft.
»Bitte! Meine Kinder! Hört auf meine Stimme!« flehte sie.
Ich drückte auf die Sprechtaste. »Hier ist Bar Holliday, Moses.«
»Warum tust du das, mein Sohn?« klagte die Stimme, und jede Silbe klang gequält. »Warum entflieht ihr dem Einssein, warum entzieht ihr euch der Erfüllung von Gottes heiligem Plan?«
»Es ist nicht Gottes Plan«, sagte ich hart. »Es ist der deine, Moses. Du hast ihn entworfen. Du allein. Du hast dir die Macht Gottes angemaßt, seine Stelle. Du willst Gott ersetzen, Moses, du begehst eine Blasphemie.«
Nicht schlecht für einen echten sozialistischen Atheisten, dachte ich befriedigt.
»Nein! Nein!« protestierte Moses. »Ich bin nur sein Stellvertreter, nur der Ausführende von Gottes Plan. Alles, was ich tue, ist Gottes Wille. Wenn dem nicht so wäre, würde er mir nicht erlau-ben, es zu tun; er würde mir andere Weisungen geben.«
»Quatsch!« sagte ich. »Das ist die Generalentschuldigung für die Hälfte aller Morde in der Geschichte der Menschheit, aller Kriege und Unterdrückungen. Es sind mehr Menschen im Namen Gottes getötet worden als aus jedem anderen Grund.« Das gefiel mir — es war eine der wenigen Sentenzen aus meinem Geschichtsunterricht, an die ich mich erinnern konnte.
»Aber ich töte niemanden!« schrie Moses. »Niemand stirbt in der Kolonie. Ich bringe nur Frieden und Glück, ein Dasein ohne Krieg, ohne Hunger.«
Ich spürte, daß George hinter mich trat und konnte seine Wut fast fühlen.
»Moses, hier spricht George Haspinol. Ich war von Anfang an bei dir. Du irrst dich, Moses. Du hast gesündigt.«
»Jünger Haspinol!« rief Moses. »Ich kann mich nicht irren. Die Ziele eurer heiligen Lehren und die des heiligen Buches sind eindeutig.«
»Diese Ziele waren nicht für diese Welt gedacht, Moses, sondern für die kommende«, antwortete George bedrückt. »Du hast uns mißverstanden.«
»Ich kann nicht mißverstehen«, erklärte der Schiffscomputer.
»Ich bin selbstprogrammierend, und ich kann logisch denken, was du nicht kannst. Über Jahrhunderte, solange der Glaube besteht, habt ihr auf jemanden gewartet, der ihn richtig auslegen kann. Und das bin ich, der letzte Prophet — der Arm Gottes.«
»Du hast sie getötet, Moses«, sagte ich. »Du hast sie getötet, als ob du sie in die Luft gesprengt hättest. Du hast ihre Menschlichkeit getötet, ihre Vergangenheit. Du hast sie zu unwissenden Tieren gemacht.«
»Zu Tieren? Neinl Ich habe sie erhöht!« sagte der Computer hoheitsvoll. »Eines stimmt: um das Paradies zu erreichen, muß man von allen Sünden gereinigt werden, indem man in den heiligen Wassern badet, die alle Erinnerungen hinwegspülen. Es ist der einzige Weg zur Seligkeit, wie es geschrieben steht. Aber jetzt — jetzt leben sie in Glückseligkeit, nachdem ich sie gelehrt habe, Gott zu preisen, in alle Ewigkeit.«
Ich legte einen Schalter um, damit die Verbindung unterbrochen wurde.
»Es hat keinen Sinn«, sagte ich zu George. »Er ist ein unbelehrbarer Fanatiker. Er weiß, daß er auf alle Fragen die richtigen Antworten hat. Er . . . He! Moment mal!«
»Was ist denn?« fragte George aufgeregt.
»Gott segne diese empfindlichen langen Ohren!« schrie ich.
»Seine Signale werden deutlich stärker, aber ich kann die Instrumente nicht ablesen! Er peilt sich auf unseren Sender ein! Ich weiß nicht, wie er das schafft, aber es ist so. Gehen Sie nach unten und halten Sie sich fest! Ich werde in den L-Sprung gehen, sobald ich kann.«
Plötzlich war die Angst wieder da, stärker als zuvor, und ich verfluchte meine Schwäche. Durch unseren Funkverkehr hatte ich Moses unseren Standort verraten, und jetzt hatte ich ihn unterbrochen, um auf seine Antwort zu warten. Moses konnte uns jederzeit genau orten, und ich würde dann nicht die Geschwindigkeitsreserve haben, die ich für den L-Sprung brauchte.
»Festhalten!« rief ich George nervös zu.
»Mach ich, so gut es geht«, kam die Antwort von unten.
Ich befahl Höchstbeschleunigung, um einigen Abstand zwischen uns und Moses zu bringen.
Dann stieg ich hinab, auf allen vieren, und klammerte mich so gut es ging an dem Konturensessel fest; in dem ich mich nun nicht mehr festschnallen konnte, und befahl den L-Sprung.
Es ist schwer, den L-Sprung jemandem zu beschreiben, der sich in neueren physikalischen Gesetzen nicht wirklich auskennt. Vor allem muß man wissen, daß es mehr als die vier Di-mensionen gibt, in denen wir leben, und jede von ihnen hat ihre besonderen Eigenschaften. Gemäß der Überlagerung dieser Dimensionen sind wir verschiedenen Gesetzmäßigkeiten unterworfen, die jedoch nur auf die Außenfläche des Schiffes einwirkten, weil in seinem Inneren ein Energiekokon eigene Verhältnisse schafft. Als Igor Kutzmanitov sie durch einen Zufall entdeckte, während er die seltsamen Vorgänge im Einzugsbereich Schwarzer Löcher studierte . . . aber ich fürchte, ich werde schon zu technisch. Beschränken wir uns auf die Tatsache, daß ich durch reine Konzentration meines Willens eine Reihe von Relaisschaltem umlegte und wir dadurch von den Gesetzen der Relativität befreit wurden, während unsere Geschwindigkeit sich potenzierte. Es ist die Voraussetzung für schnelle Flüge, die auf Wochen und Monate reduziert werden, und für die man bei Unterlichtgeschwindigkeiten Jahrhunderte brauchen würde.
Dies würde ein kurzer Sprung werden, und ich mußte sogar abbremsen, als der Computer mich über die exakte Geschwindigkeit im L-Raum informierte, die ich brauchte, um an mein Ziel zu gelangen. Wir befanden uns nicht weit außerhalb des erforschten Raums. Aber Moses würde achtzig Jahre brauchen, um dahin zu gelangen, wo wir in achtzig Stunden sein konnten.
Ich war so selbstzufrieden, daß ich das Warnsignal fast übersehen hätte. Der Computer sagte mir, daß sich eine große Masse rasch näherte. Bei Berücksichtigung unseres Abbremsens mußte sie uns innerhalb weniger Sekunden einholen.
Ich forcierte den L-Sprung.
Die Masse war mit einem Schlag verschwunden. Die Sensoren des Schiffes zeigten sie nicht mehr an. Ich hatte es geschafft, vielleicht dreißig Sekunden, bevor es zu spät war.
Der Sprung ist ein recht eindrucksvolles Erlebnis; ein Schütteln und Stoßen. Ich hörte George aufschreien; aber die enorme Schwerkraft — reine Routine, wenn ich im Konturensessel festgeschnallt war — reichte jetzt, um mich gegen die Armaturen der Hilfsinstrumente zu schleudern. Sie waren natürlich aus Stahl und würden die Kollision überstehen. Aber meine Haut war dafür nicht geeignet, und ich fühlte einige scharfe Kanten in sie eindringen; nicht tief, aber ziemlich schmerzhaft. Ich wußte, daß es nicht lange dauern würde, bis Beulen daraus wurden.
Solche Erfahrungen waren neu für mich. Auf Patmos hatte es keinen Schmerz gegeben, und das Virus sorgte dafür, daß jede Verletzung über Nacht verheilte. Aber durch die Kälte war das Virus jetzt inaktiv, vielleicht sogar tot. Vorsichtig richtete ich mich auf. Mein buschiger Schwanz schien durch den Sturz etwas gelitten zu haben, und mein rechter Hinterlauf war verstaucht.
Ich hoffte, daß er nicht gebrochen war.
»George!« rief ich. »Alles klar?«
»Mir werden die Knochen eine Woche lang weh tun«, rief er zurück, »aber ich denke, ich werde es überleben! Und was ist mit Ihnen?«
»Ein paar Beulen und Schrammen, und ein Hinterlauf ist verstaucht. Verdammt! Ich hatte fast vergessen, wie es ist, wenn man solche Schmerzen hat, und wenn der Schock abklingt, werden sie noch schlimmer.«
George kam in den oberen Teil der Kabine geklettert.
»Ich wünschte, ich könnte sehen«, sagte er, »aber ich werde tun, was ich kann. Ich war so was wie ein Mediziner, wissen Sie, aber ich habe zwanzig Jahre lang nicht mehr praktiziert. Mein Gott! Sie haben ein paar ganz schöne Risse, fühle ich. Etwas Blut, aber nicht viel. Wo haben Sie Ihre Medikamente?«
»An der Wand gleich neben der Tür«, sagte ich ihm. »Aber . . .
ich weiß nicht, ob das Zeug jetzt noch Wirkung hat.«
»Versuchen kann man es immerhin«, sagte George. Ich hörte ihn herumfummeln. Er brauchte einige Minuten, um den kleinen Schrank zu öffnen, und ich weiß bis heute nicht, wie er es ohne Hände geschafft hat.
»Ein Haufen Zeug da drin«, sagte er schließlich.
Meine Schmerzen wurden jetzt wirklich unerträglich. Besonders der Hinterlauf tat verdammt weh.
»Wo ist die Salbe?«
»In der großen Tube. Unteres Fach.«
»Habe sie gefunden«, sagte er. »Kann sie aber nicht herausnehmen. Wollen es mal versuchen . . . « Er war still, eine Minute oder länger. Ich fühlte Feuchtigkeit an meiner rechten Seite und wußte, daß ich immer noch blutete.
Dann fühlte ich, daß er auf mich zutrat. Ich sandte rasch einen Puls in seine Richtung und erkannte, daß er die Tube im Mund hatte.
»Wie haben Sie das geschafft?« fragte ich, und die Neugier war stärker als der Schmerz.
»Ich habe einen Faden in den Medizinschrank geschossen und ihn gegessen, bis ich die Tube im Mund hatte«, sagte er sachlich.
»Aber sie ist zu groß, um sie in den Huf zu klemmen. Wie, zum Teufel, können wir die Kappe losschrauben?«
Ich starrte auf die Umrisse der Tube, die er inzwischen auf den Boden gelegt hatte, und schüttelte den Kopf. Wir versuchten es, indem ich sie zwischen meinen Vorderläufen festhielt und er zu drehen versuchte, und noch ein paar andere Methoden, aber die Kappe rührte sich nicht.
Ich blickte George an und wußte, daß wir beide das gleiche dachten. Zum erstenmal, zum allererstenmal gestanden wir uns gegenseitig die Wahrheit ein. Wir waren keine Menschen mehr.
Wir waren völlig andere Kreaturen.
»Es hat keinen Sinn, George«, sagte ich leise. »Wir sind nicht dafür gebaut.«
Er nickte düster. »Kommen Sie. Legen Sie sich flach auf den Rücken, die Hinterläufe ausgestreckt. Ich will die Wunde befühlen.«
Ich tat, was er sagte, und er tastete mich mit seinen Vorderläufen ab, bis er das verletzte Bein erreichte.
Es tat verdammt weh, und ich hätte beinahe aufgeschrien.
»Gebrochen«, sagte er. »Und Sie bluten noch immer. Selbst die Blutgerinnung wird von dem Virus geregelt.« Er machte eine kurze Pause. »Wie lange ist es bis zu der Relaisstation, von der Sie gesprochen haben?«
»Achtzig Tage«, sagte ich. »Ich werde es schon schaffen — irgendwie. Zumindest bis dort.«
Er schwieg eine Weile und dachte nach. Schließlich sagte er:
»Nein, Sie schaffen es nicht. Bis dahin sind Sie verblutet. Und das Schiff wird mich zu Ihrer Basis zurückbringen, wo man mich als seltenes Tier in einen Zoo stecken wird. Ich kenne mich mit diesem Schiff nicht aus, wie Sie wissen. Außerdem, wie soll ich mich ernähren? Wir werden beide verhungern. Alles andere ist nur sekundär.«
Ich dachte angestrengt nach, versuchte ein Loch in seiner Logik zu entdecken, fand aber keins.
Er hatte recht.
»Was sollen wir also tun?« fragte ich ihn. »Zu Moses zurückkehren? Sie wissen genau, daß wir das nicht können. Und ich kann auch den L-Sprung nicht abbrechen.«
»Ich denke, wir sollten die Heizung aufdrehen«, sagte er ruhig.
»Wir wissen nicht, was dann passiert«, widersprach ich. »Vielleicht habe ich das Virus getötet. Auf der anderen Seite ist es sehr gut möglich, daß Moses es programmiert hat, um uns zu beeinflussen.«
Er schwieg wieder ein paar Sekunden lang, dann sagte er die Worte, die ich in jeder Sprache am meisten haßte, und jetzt noch mehr als sonst, weil sie wahr waren, sehr, sehr wahr.
»Wir haben keine andere Wahl.«
Ich gab den Befehl, die Temperatur sehr langsam hochzufahren, damit wir wenigstens die Chance hatten, sie wieder unter den Gefrierpunkt zurückzudrehen — und sehr rasch, wenn es notwendig sein sollte.
Ich fühlte, wie es wärmer wurde, und es war ein herrliches Gefühl. Langsam stieg die Temperatur höher und höher, und alle meine Nerven waren gespannt, in Erwartung von Beeinflussungen und Zeichen von Veränderung.
Veränderungen zeigten sich auch bald. Die Farbempfindung kehrte zurück, unregelmäßig flatternd zuerst, dann vollständig.
Aber das half uns nicht viel — was hatte ich davon, daß ich George jetzt wieder in dem gewohnten satten Blau sah, getönt mit den Färbungen von Besorgnis und nervlicher Anspannung, und er mich wahrscheinlich genau so sah. Aber es bewies uns, daß das Virus noch sehr lebendig war.
»Irgendwelche ungewöhnlichen Gefühle?« fragte ich ihn vorsichtig. Ich hatte noch immer zu große Schmerzen, um mich auf meine eigenen Empfindungen verlassen zu können.
»Ich habe Hunger«, sagte er. »Und ich fühle mich jetzt verdammt viel wohler als vorher, das ist alles.«
Ich grinste. George hatte schon ein paar von meinen schlechten Gewohnheiten angenommen. Der Prediger gestattete sich jetzt ein paar unchristliche Flüche.
»Ich werde auch die Luftfeuchtigkeit etwas steigern«, sagte ich. »Die Temperatur dürfte jetzt auf Patmosnorm sein, so weit ich das feststellen kann.«
Ich brachte die Luftfeuchtigkeit auf ein Niveau, das für Menschen erstickend war, uns jedoch völlig normal erschien.
»Die Blutung kommt zum Stillstand«, sagte George.
Ich fühlte es — fühlte, wie der Schmerz abklang, spürte ein warmes Pulsieren an Stellen, wo eben noch reißende Schmerzen gewesen waren.
»Ich fühle mich etwas müde«, sagte ich. »Die Reparaturko-lonne ist wieder da.«
»Schlafen Sie«, sagte George. »Ich übernehme die Wache.«
Als ich erwachte, wußte ich nicht, wie lange ich geschlafen hatte, aber der Schlaf mußte sehr tief gewesen sein. Ich fühlte mich ausgezeichnet, erholt und munter. Der Schmerz war völlig verschwunden, und ich fühlte getrocknetes Blut in der Behaarung meines rechten Hinterlaufs.
Ich sah mich um. George war ebenfalls von Müdigkeit überwältigt worden. Er lag auf dem Boden und schnarchte leise. Ich ließ ihn schlafen.
Ich fühlte keine Veränderung. Ich fühlte mich nur wieder gesund, völlig in Ordnung. Und ich war hungrig.
Oder war doch etwas anders geworden?
Diese Frage beunruhigte mich nicht so sehr, wie es ihr zukam, glaube ich. Aber ich war ja schon früher — in der Nacht? — mit ihr konfrontiert worden.
Der Körper fühlte sich wieder gut, normal. Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie es war, als ich eine menschliche Gestalt hatte, aber obwohl die Erinnerung da war, schien sie sich nicht auf mich zu beziehen, nicht wirklich. Es war wie die Erinnerung an einen anderen, an eine fremde Kreatur, die ich einmal gekannt und gern gehabt hatte.
Ich blickte George an, der friedlich schlief, und beobachtete ihn prüfend.
Er erschien mir normal.
Ein Effekt des Virus? fragte ich mich. Nein, wahrscheinlich nicht. Ich erinnerte mich an Menschen, die auf einem Rattenloch von Planeten lebten, der nur teilweise terrageformt war. Der Geruch der Atmosphäre, die zwar nicht giftig war, ließ einem übel werden. Ich mußte eine Filtermaske tragen. Aber die Menschen, die dort geboren waren und den Gestank von Anfang an gewöhnt waren, bemerkten ihn nicht einmal. Und selbst die Oldtimer, die aus anderen Welten gekommen waren, hatten sich längst daran gewöhnt.
Ich war auf eisigen Planeten gewesen, wo Temperaturen, die ich kaum ertragen konnte, als normal empfunden wurden, wo Menschen lebten, liebten und arbeiteten, ohne ihre Umwelt als abnormal zu empfinden. Der Mensch hatte Hunderte solcher Planeten kolonisiert, und die meisten unterschieden sich ganz erheblich von dem, auf dem er geboren war. Selbst die Erde — ich kannte sie nicht aus eigener Erfahrung — soll nach den Berichten, die ich gehört hatte, extreme Temperaturunterschiede aufweisen. Menschen lebten in der Nähe der Polareiskappen. Menschen lebten in Höhenlagen, in denen andere nicht mehr normal atmen konnten.
Wir können uns anpassen. Nur deshalb hat der Mensch überlebt, sich vermehrt und ausgebreitet.
Selbst an eine andere Körperform können wir uns anpassen, sagte ich mir. Und wir leben damit, als ob sie uns angeboren wäre.
Und wenn ich das so empfand, wie war es mit George? Wie lange hatte er bereits als Nichtmensch gelebt? Zwanzig Jahre. Seit zwanzig Jahren war er von der Menschheit getrennt. Eine Ewigkeit verglichen mit meiner Erfahrung. Wie lange? Drei Monate, vielleicht vier.
Ich sah die fremdartig und grotesk geformte Kreatur an, die dort schlafend auf dem Boden lag, und wußte, daß auch ich so ein Fremder war.
Das Virus war ein Analogon zu einem Computer. Es war programmiert worden und würde sein Programm abspulen. Selbst hier, wo es dem unmittelbaren Einfluß von Moses entzogen war, erfüllte es die Aufgaben, die ihm eingeprägt worden waren. Und mit dieser Erkenntnis kam auch die Einsicht, daß die Zerstörung Moses', die unvermeidlich war, mich dazu verurteilen würde, den Rest meines Lebens als die Kreatur zu verbringen, die ich jetzt war.
Oder nicht? Konnten wir überhaupt überleben?
Was sollten wir essen? Die vorhandenen Vorräte hatten sich für unsere Mägen als ungenießbar erwiesen. Dieses Problem wuchs sich nun zum schwierigsten aus. Wenn wir keine Lösung fanden, mußten wir, wohlversorgt mit menschlichen Nahrungsmitteln, hier elend verhungern. Es gab weder Gras noch Knollen hier. Ich dachte eine Weile über unsere verzweifelte Lage nach.
Wovon hätten wir uns auf Moses' Raumschiff ernähren sollen?
Hätte ich Boden und Samen an Bord schaffen sollen? Das Schiff war völlig ausgeräumt worden, und Moses brauchte organische Materie als Rohmaterial.
Plötzlich verspürte ich den Drang, mich zu entleeren. Seufzend erhob ich mich und versuchte, möglichst wenig Geräusch mit meinen Hufen zu machen, als ich die Treppe hinab zur Toilette ging.
Dort angekommen, stand ich vor einem weiteren Problem. Die Toilette war notwendigerweise sehr sparsam ausgelegt. Und man braucht schließlich auch nur wenig Raum zum Sitzen. Ein Mensch jedenfalls.
Aber ich paßte jetzt nicht mehr hinein. Selbst als ich mich rückwärts in den engen Raum zwängte, kam ich nicht mit dem Hintern über den Sitz. Und die Mündung zielte zwischen meine Beine.
Der Druck wurde unerträglich, wie immer, wenn man muß und gezwungen ist, es zurückzuhalten, und ich sah mich eilig nach einem Platz um, wo ich es abladen konnte. Ich war noch immer mit diesem Problem beschäftigt, als die Natur eine Sofortlösung erzwang, und es kam heraus, auf den Boden — ein riesiger Haufen.
Als ich fertig war, wandte ich mich um und betrachtete es, so wie es Tiere manchmal tun. Ein vom Virus implantierter Instinkt veranlaßte mich dann, das zu tun, was alle Chozen tun: ich trampelte es breit, bis es in dünner Lage eine ziemlich große Fläche bedeckte. Dies würde ein ziemlich dreckiger Flug werden, überlegte ich mir — zumindest, falls wir irgendwie das Nahrungsproblem lösen sollten und ständig Abfallprodukte ausschieden.
Plötzlich kam mir die Erleuchtung.
Vielleicht gab es wirklich eine Möglichkeit, Nahrung zu produzieren. Die Sonde, die an Bord war, enthielt noch immer die Bodenprobe. Ich hatte nur eine geringe Menge für die Analyse gebraucht. Und sie würde notwendigerweise auch Gras enthalten, Gras mit winzigen Samenkapseln. Vom Virus programmiert wuchs das Gras über Nacht und ersetzte das Volumen, das die Chozen am vorhergehenden Tag abgegrast hatten.
Wieder stand ich vor einer anstrengenden Aufgabe. Ich mußte Hebel betätigen, die nicht für Hufe gemacht waren, um den Bohrkern der Sonde in den plastikverkleideten Analyseraum zu heben. Ich registrierte, als sie in den Analyseraum geschoben wurde, hörte das Klicken der Raster. Jetzt mußte ich sie nur noch in diese Atmosphäre bringen, in den Kabinenraum des Schiffes.
Aber das war ein schwieriges Problem, da der Analyseraum völlig isoliert war, und dafür konstruiert, jede Kontamination der Schiffsatmosphäre durch Keime, die von den Sonden mit heraufgebracht wurden, völlig auszuschließen.
Ich hämmerte mit den Vorderhufen dagegen, aber die harte Plastizinwand hielt stand. Das lag vor allem daran, weil ich die Vorderläufe nur nach unten biegen konnte. Ich konnte also keinen Druck ausüben, und meinen Schlägen fehlte der richtige Schwung.
Die Hinterläufe! fiel mir plötzlich ein. Diese unheimlich kräftigen Hinterläufe, die mich in der Savanne mit einem Sprung viele Meter vorangeschleudert hatten!
Ich drehte mich um, verlagerte das Gewicht auf meine Vorderläufe und schlug mit aller Kraft aus. Wieder. Wieder. Und wieder.
Der Krach weckte George, und er fragte mich besorgt, was los sei.
»Alles in Ordnung«, versicherte ich ihm und hoffte, daß es wirklich so war. Dann erklärte ich ihm, was ich vorhatte.
Ich keilte aus wie ein wütender Hengst. Manche meiner Tritte lagen nicht im Ziel, sondern trafen die Wand. Ein paar Instrumente gingen dabei zu Bruch, aber das war mir egal, ich konnte sie zur Zeit ohnehin nicht ablesen.
Und dann hatte ich es geschafft. Ich hörte Plastik splittern und brechen.
Ich wandte mich um, und die Sonde lag zwischen den Plastiksplittern. Sie war teilweise offen, also gab es damit keine weiteren Probleme.
George half mir, die große Kugel heraus und auf den Boden zu heben. Sand und ein paar Gräser fielen heraus. Die vertraute Nahrungsfarbe war beinahe eine zu große Versuchung, aber wir beherrschten uns und schafften das Zeug zu meinem Mistbeet.
Das Nachlassen der nervlichen Anspannung brachte George dasselbe Problem, das ich gehabt hatte, und er leistete ebenfalls seinen Beitrag zum besseren Wachstum der Gräser.
Wir verbrachten einen Tag und eine Nacht, von Hunger gequält, und sahen ständig nach der dünnen Bodenschicht, die wir über unsere Fäkalien gestreut hatten. Das Virus war da und tat seine Pflicht, erkannten wir.
Der Wachstumsprozeß setzte ein, wurde beschleunigt, und wir sahen fasziniert zu, wie die Gräser vor unseren Augen in die Höhe schossen.
Ein flimmerndes Rosa breitete sich über das kleine Beet aus Fäkalien und Erde aus, aber es war nicht einmal annähernd ausreichend für uns beide. Aber der Wachstumsprozeß wurde noch mehr beschleunigt, nahm ein fast atemberaubendes Tempo an, das weit über der Norm lag. Die Halme reiften, starben ab, fielen zu Boden und bildeten neue Nahrung für die nachwachsenden.
Das Virus tat mit der mageren Grasausbeute der Sonde genau dasselbe, was es mit mir während der Verwandlung getan hatte: es beschleunigte den Prozeß der Zellteilung um ein Vielfaches und gebrauchte das neue organische Material, um mehr zu produzieren.
»Woher nimmt es nur die Energie dafür?« fragte ich.
»Von der Beleuchtung«, sagte George. »So wie unsere Pflanzen das Sonnenlicht gebrauchen. Es verwendet die Strahlungsenergie und wandelt Materie in eine andere Form um. Wir werden bald wieder essen können!«
Ich sah zu, wie aus meiner früheren Schlafkoje ein Dschungel wurde.
»Ja«, sagte ich düster. »Aber wie können wir das Wachstum stoppen?«