33. KAPITEL
“Runter, Angie!” Ihr Vater rannte, als wären ihm Flügel gewachsen, aber Rick war näher bei Zoe und reagierte bereits. Er hechtete zu ihr, warf sie auf den Boden und rollte mit ihr zusammen in eine Schneewehe neben der Auffahrt.
Das “Ratatata” einer automatischen Waffe durchbrach die Stille, als eine Kugelsalve ihren Vater in den Rücken traf. Seine Arme flogen zur Seite, seine Beine knickten ein, mit dem Gesicht zuerst schlug er auf den Asphalt auf und blieb reglos liegen. Die Limousine bog mit quietschenden Reifen auf die Hauptstraße ab und verschwand.
“Daddy!” Zoe kämpfte sich aus Ricks Armen und stolperte auf die Füße. Sie ließ sich neben ihrem Vater auf die Knie sinken, hielt die Hände hilflos über ihm ausgestreckt, als hätte sie Angst, ihn zu berühren. Die Rückseite seiner Jacke war durchlöchert und unter ihm breitete sich langsam eine dunkelrote Blutlache aus.
Einige Nachbarn kamen aus ihren Häusern gerannt. Wie aus weiter Ferne hörte Zoe, wie jemand rief: “Oh mein Gott, hier wurde geschossen. Ruft 9-1-1!”
Zoe beugte sich über die leblose Gestalt, ihre Haare streiften Rays Gesicht. “Dad, bitte, sprich mit mir!” Sein Kopf war zur Seite gesunken, die Augen standen weit offen. Diese Augen, die sie noch vor ein paar Minuten voller Stolz und Freude angeschaut hatten, starrten sie nun ausdruckslos an.
Rick hockte sich neben sie. “Zoe.”
“Verdammt, tu doch etwas!”, weinte sie und blickte Rick hilfesuchend an. “Lass ihn hier nicht so liegen.”
“Es ist zu spät, Baby. Er ist von uns gegangen.”
“Nein!” Sie drehte sich wieder um, schaute in das stumme Gesicht, weigerte sich zu glauben, dass ihr Vater tot war. Mit einem herzergreifenden Schluchzer sank sie über ihm zusammen und hörte nicht auf zu weinen, bis sie von zwei starken Armen zurückgezogen wurde.
Tränen der Trauer und der Wut rannen ihr über die Wangen. “Sie haben ihn getötet, Rick. Diese Bastarde haben ihn umgebracht.”
“Es tut mir so leid, Baby.”
“Wie konnte das passieren? Wir waren doch so vorsichtig.”
Sie versuchte erneut, sich aus seinen Armen zu befreien, doch er ließ sie nicht los. In der Ferne hörte sie Sirenen heulen. Nachbarn standen in ihren Vorgärten, begierig darauf, einen Blick auf das zu erhaschen, was von der Presse als “Mafia-Mord” tituliert werden würde.
“Er starb bei dem Versuch, mir das Leben zu retten.”
Bevor Rick antworten konnte, hielten eine Ambulanz und zwei Streifenwagen mitten auf der Straße vor dem Haus. Männer und Frauen in Uniform stürmten heraus, und zwei Männer in weißen Kitteln eilten mit einer Trage über die Auffahrt. Sie knieten sich neben Ray und stellten schnell fest, dass jede Hilfe zu spät kam.
Nachdem sie ihn in einen Leichensack gepackt hatten, kam eine Frau in Polizeiuniform auf Zoe und Rick zu. “Ich bin Officer Lorraine Shamong.” Sie blickte von einem zum anderen. “Sind Sie beide mit dem Opfer verwandt?”
Es war nicht mehr notwendig, die Wahrheit zu verheimlichen. “Ich bin seine Tochter”, sagte Zoe. “Und das hier ist Rick Vaughn, mein Exmann.”
“Waren Sie beide Zeugen des Vorfalls?”
Sie nickten.
Officer Shamong legte ihre Hand mitfühlend auf Zoes Arm. “Ich muss Ihnen leider ein paar Fragen stellen. Ist es in Ordnung, wenn wir dafür kurz hineingehen?”
Anstatt ihr zu antworten, folgte Zoe mit ihrem Blick der Trage, die die beiden Rettungssanitäter zum Krankenwagen schoben. “Wo bringen sie ihn hin?”
“In die Gerichtsmedizin von Monmouth Borough.”
“Komm”, sagte Rick sanft. “Lass uns ins Haus gehen.”
Als Zoe ihm widerspruchslos hinterherkam, starrte sie auf ihre Hände. Ihr war nicht aufgefallen, dass sie noch immer die Zeichnung ihres Vaters festhielt.
Ein Detective aus dem Morddezernat war vom Spring-Lake-Polizeirevier gerufen worden, um die Untersuchung für Officer Shamong zu übernehmen. Die Vernehmung war anstrengend und für Zoe emotional erschöpfend gewesen. Jedes noch so kleine und für Zoe teilweise scheinbar unwichtige Detail war der junge engagierte Detective Wiley wieder und wieder durchgegangen. Um ihre Geschichte zu überprüfen, hatte er das FBI angerufen. Ein Agent namens Gordon Sully hatte sich geweigert, am Telefon irgendeinen Kommentar abzugeben, würde aber mit dem nächsten Flug aus San Diego kommen.
Man würde eine Autopsie vornehmen und Rays Leichnam danach zur Bestattung freigeben.
Seinen Leichnam. Trotz allem, was Zoe mit angesehen hatte, war es für sie immer noch schwer zu glauben, dass ihr Vater tot war. Kurz zuvor war er doch noch so lebendig gewesen, so voller Freude und Begeisterung. Sie hatten Pläne geschmiedet, hatten gerade begonnen zu lernen, wieder Vater und Tochter zu sein. Wie konnte aus ihm in so kurzer Zeit ein Leichnam geworden sein?
Rick nahm sie mit nach Hause. Nicht in ihr Loft, sondern in seine Wohnung am Central Park West. Ein uniformierter Portier mit goldenen Epauletten an den Schultern öffnete eilig die Tür und fragte: “Kann ich Ihnen mit irgendetwas helfen, Mr. Vaughn?”
“Im Moment nicht, Carl, danke.”
Die Fahrstuhltüren glitten leise zu, und Zoe und Rick waren auf dem Weg nach oben, ganz hinauf in den neunundzwanzigsten Stock.
“Setz dich, Zoe.” Als wäre sie eine Anziehpuppe, half Rick ihr vorsichtig auf das dunkelbraune Sofa, auf dem Berge von Kissen vor einer geschwungenen Rückenlehne lagen. “Ich muss nur kurz einen Anruf tätigen.”
Während er mit Lenny sprach, ließ Zoe ihren Blick durch den Raum schweifen. Sie hatte sich oft gefragt, wo Rick nach der Scheidung hingezogen war. Sie hatten damals beschlossen, dass Zoe das Apartment in der Greene Street behalten und Rick sich etwas Neues in der Nähe des Clubs suchen würde. Gentleman bis zum Schluss, hatte er sogar angeboten, die monatlichen Raten für das Apartment weiter zu bezahlen, da sie als Kinderbuchillustratorin sicher nicht in der Lage sein würde, allein dafür aufzukommen. Anstatt einfach zu sagen: “Nein, danke, ich schaffe das schon!”, hatte sie sich sehr erwachsen verhalten und ihm gesagt, er solle sich gefälligst um seinen eigenen Kram kümmern. Aber er hatte recht. Sechs Monate nach der Scheidung war ihr klar, dass sie die Raten nicht allein aufbringen konnte. Also hatte sie das Studio verkauft und sich eine kleine Wohnung in Chelsea gemietet.
Er hatte es nicht schlecht getroffen. Das Rosenthal war eines der besten Grand-Luxe-Apartmenthäuser der Stadt. Neben dem Vierundzwanzig-Stunden-Wachdienst, dem Fitnessstudio und einem Kinoraum bot das Gebäude aus jedem Apartment einen unverbauten Blick auf den Central Park.
Die Einrichtung war dezent und geschmackvoll – ein Sofa mit passenden Sesseln, orientalische Teppiche auf glänzendem Parkett und strategisch verteilte Lampen, die für die richtigen Lichtakzente sorgten. An den Wänden hingen einige Bilder von William Wegman, für den Ricks Bruder geschwärmt hatte. Und von ihrem Platz aus konnte sie einen Blick auf einen Esstisch mit sechs Stühlen erhaschen.
Ob er oft Besuch hatte? fragte sie sich. Schöne, elegante Frauen vielleicht? Er hatte es immer geliebt, in der Küche herumzuwerkeln und exotische Gerichte zu kochen, die er auf seinen Reisen während der Zeit bei den Marines kennengelernt hatte.
Endlich legte Rick auf. Er sah nicht glücklich aus. “Lenny hat in meinem Büro eine Wanze gefunden. Deshalb hat das Telefonat so lange gedauert – ich wollte, dass er nachschaut.”
“Eine Wanze? Jemand hat ein Abhörgerät in deinem Büro installiert? Warum?”
“Weil, wer auch immer den Auftrag erteilt hat – und ich nehme an, dass es Frank Scolini war –, wusste, dass du und ich zusammengearbeitet haben. Darum habe ich Lenny aus Spring Lake angerufen und gebeten, mein Büro genauestens zu untersuchen. Ich nehme an, dass dein Loft auch verwanzt ist, und ich möchte, dass Lenny sich morgen früh darum kümmert, wenn es dir recht ist.”
“Ja, natürlich.” Sie erinnerte sich daran, dass Lenny beim Nachrichtendienst der Marines gearbeitet hatte. “Wieso sind sie misstrauisch geworden?”, fragte sie. “Wir waren so vorsichtig. Ray war so vorsichtig.”
“Es muss irgendwo eine undichte Stelle gegeben haben. Irgendjemand, dem dein Vater vertraut hat, es aber besser nicht hätte tun sollen.”
“Lou?”
Er schüttelte den Kopf. “Nein, so wie dein Vater über ihn gesprochen hat, kann es nicht Lou sein.”
“Wir müssen es ihm sagen. O Gott, ich weiß nicht, wie ich ihm das beibringen soll.”
“Damit hat es keine Eile. Lou erwartet Ray nicht vor Sonntag zurück, und es wird noch ein paar Stunden dauern, bis es in den Nachrichten kommt.” Er setzte sich neben sie. “Wir werden uns gleich morgen früh mit ihm treffen. Im Moment brauchst du erst einmal ein bisschen Schlaf.”
Sie dachte an das Bild, das sie verfolgen würde, sobald sie die Augen schließen würde. “Ich bin nicht müde.”
“Dann werde ich uns mal schnell etwas zu essen machen.” Er zog sie auf die Füße. “Komm mit. Du hast meine Kochkünste immer geliebt, erinnerst du dich?”
Sie war auch nicht hungrig, doch sie folgte ihm in die glänzend weiße Küche und schaute zu, wie er den Kühlschrank öffnete.
“Falls du planst, eines deiner türkischen oder Thai-Gerichte zu kochen, muss ich dich warnen. Das wird meinem Magen im Moment nicht bekommen.”
“Keine Angst. Ich mache uns nur ein einfaches Käseomelett aus den guten alten USA.” Er nahm einen Karton mit Eiern, ein Stück Butter, Schnittlauch und geriebenen Käse aus dem Kühlschrank. Mit geübter Hand zerschlug er die Eier und ließ sie in eine Schüssel gleiten. “Warum versuchst du nicht, dich ein wenig zu entspannen? Ich weiß, dass das viel verlangt ist, aber wir haben alles getan, was im Moment möglich ist.”
“Ich bekomme diese Szene aus Spring Lake einfach nicht aus dem Kopf.”
“Das erwartet auch niemand von dir. Ich habe selbst Schwierigkeiten, das Ganze zu verarbeiten.”
“Die Waffe war auf mich gerichtet, Rick. Sie wollten mich erschießen.”
“Ja, ich nehme an, dass das der Plan war. Dich vor Rays Augen zu erschießen, um anschließend ihn zu töten.”
“Er hätte sich in Sicherheit bringen können. Der Schuppen war nur wenige Meter von ihm entfernt, er hätte sich dahinter verstecken können. Stattdessen ist er losgelaufen, um mein Leben zu retten.”
“Hast du etwas anderes von ihm erwartet?”
“Nein. Nicht, nachdem ich gesehen habe, wie sehr er mich liebt. Eine Stunde war zwar nicht sehr lang, aber lang genug. Ich fühle mich, als hätte ich ihn mein ganzes Leben lang gekannt.”
“Ich bin sicher, dass er das Gleiche fühlte.”
Sie hörte, wie die Eier zischend in die heiße Butter glitten. Mit einem Schneebesen rührte Rick die Masse, bis sie anfing zu stocken. Dann fügte er eine großzügige Portion Käse, ein wenig klein geschnittenen Schnittlauch, Salz und Pfeffer hinzu. Eine Seite des Omeletts rollte er über die andere und wartete noch einige Sekunden, bis er das fertige Gericht auf einem Teller anrichtete.
“Hier.” Er reichte ihr eine Gabel.
“Das ist viel zu viel.”
“Kein Problem.” Er holte eine weitere Gabel aus einer Schublade. “Dann teilen wir es uns.”
Sich mit ihm das Essen zu teilen, erinnerte Zoe an alte Zeiten, wenn sie spät in der Nacht vom Club nach Hause gekommen waren. Zu aufgedreht, um gleich ins Bett zu gehen, hatte Rick sie in die Küche ihres kleinen Apartments gezogen und schnell was zusammengerührt.
Sie nahm einen Bissen vom Omelett, das hervorragend schmeckte. “Ich hatte noch gar keine Gelegenheit, dir zu danken.”
“Wofür?”
“Dafür, dass du die Angelegenheiten mit der Polizei geregelt hast, dafür, dass du dich um mich gekümmert hast, für mich da warst. Ich weiß nicht, was ich ohne dich getan hätte.”
“Du musst niemals alleine mit einer so schwierigen Situation fertig werden, Zoe. Nicht, solange ich lebe. Ich habe dir das schon gesagt, als wir uns getrennt haben. Vielleicht nicht mit so vielen Worten, aber du wusstest es trotzdem, oder?”
“Dass ich immer auf dich zählen kann?” Sie nickte. “Ja, das wusste ich.”
“Gut. So, und jetzt iss in Ruhe auf, und dann zeige ich dir dein Zimmer.”
“Ich soll hier schlafen?”
“Weißt du einen sichereren Platz?”
“Ich bin nicht länger in Gefahr, Rick. Waren wir uns nicht einig, dass der einzige Grund, warum Scolini mich umbringen wollte, Rache an meinem Vater war?”
“Ich würde mich trotzdem besser fühlen, wenn du für ein paar Tage bei mir bleiben würdest. Morgen veranlasse ich, dass ein Teil deiner Kleidung und dein Zeichentisch hierher gebracht werden. Mach dir keine Sorgen”, fügte er hinzu, bevor sie überhaupt die Chance hatte, zu protestieren. “Du hast hier die gleiche Privatsphäre wie zu Hause. Ich gehe meist morgens um zehn und komme nicht vor Mitternacht zurück. Du wirst gar nicht merken, dass ich auch hier wohne.” Er schenkte ihr das gleiche charmante Lächeln, dem sie schon früher nicht hatte widerstehen können. “Du siehst also, es gibt keinen Grund, mein Angebot abzulehnen.”
Eine Sache, die sich an Rick definitiv nicht geändert hatte, war seine Art, die Dinge in die Hand zu nehmen. Nicht, dass sie sich je darüber beschwert hatte. Auch wenn sie sich als eine entscheidungsfreudige Frau betrachtete, hatte sie nichts dagegen, wenn ein Mann ab und zu die Zügel in die Hand nahm.
Sie stellte den Teller ins Spülbecken. “In diesem Fall: Zeig mir den Weg.”
Das Gästezimmer war klein, aber einladend, mit alten Möbeln und einem großen Messingbett mit einer dicken gelben Tagesdecke. Auf einer Kommode standen ein Fernseher mit DVD-Player und eine große Auswahl an Filmen.
Er stellte ihre Reisetasche, die sie ursprünglich für das Wochenende in Spring Lake gepackt hatte, auf den Boden. “Schlaf, so lange du magst.” An der Tür drehte er sich noch einmal um. “Und sag Bescheid, wenn du etwas brauchst. Mein Zimmer ist gleich am Ende des Flurs.”