17. KAPITEL

Zoe rannte Joe entgegen, als er den Laden betrat. “Ich war noch nie glücklicher, dein Gesicht zu sehen.” Er blickte sie besorgt an. “Officer Sharkey sagte, dass die Schüsse dir gegolten haben. Stimmt das?”

“Das hat einer der Zeugen behauptet, aber es wimmelte hier nur so vor Menschen, die ihre Weihnachtseinkäufe erledigen wollten. Der Schütze hätte es auf jeden abgesehen haben können.”

“Lass mich kurz mit Sharkey sprechen. Welcher von den beiden ist er?”

Zoe zeigte ihm den Officer und beobachtete dann aus der Entfernung, wie die beiden mit gesenkter Stimme miteinander sprachen. Von Zeit zu Zeit deutete der Officer auf das gegenüberliegende Gebäude, und Joe folgte mit seinem Blick und nickte. Sie war so froh, dass er da war. Nicht nur, weil er gleich die Kontrolle über eine Situation übernommen hatte, die ihr vollkommen fremd war, sondern weil er in dem ganzen Chaos so ruhig wie ein Fels in der Brandung wirkte.

Nach gut fünf Minuten hatten die beiden Männer ihre Unterhaltung beendet, und Officer Sharkey wandte sich an die fünf Zeugen. “Okay, Sie können jetzt gehen, aber Sie müssen morgen Vormittag noch einmal ins Erste Polizeirevier am Ericsson Place kommen und eine offizielle Aussage machen. Weiß jemand nicht, wo das ist?”

Nur der Verkäufer hob den Arm. Zoe wollte gerade ebenfalls ihre Hand heben, als Joe sie zurückhielt. “Ich begleite dich.”

Er wartete, bis sie an seinem Auto angekommen waren, ein unauffälliger Ford Crown Victoria, der am Ende der Straße stand, bevor er wieder sprach. “Was hattest du um diese Uhrzeit hier verloren? Ich dachte, dass du zu Hause wärst und auf mich warten würdest.”

“E.J.s Sekretärin hat mich wegen Lolas Anhänger angerufen.”

“Welcher Anhänger?”

Erst in diesem Moment fiel ihr auf, dass sie noch gar keine Gelegenheit gehabt hatte, ihm von ihren neuesten Entdeckungen zu erzählen. “Lola hatte einen Anhänger an ihrem Armband”, begann sie, als sie im Auto saßen. “In der Nacht, als ich sie gefunden habe, fehlte dieser Anhänger jedoch.”

“Und woher wusstest du dann von ihm?”

Sie berichtete ihm, dass Rick seine Meinung geändert hatte, und erzählte von dem Video, das er ihr überlassen hatte. “Da habe ich entschieden, eine Zeichnung von dem Armband zu machen und sie im Herald zu veröffentlichen. Ein Pfandleiher in der Worth Street hatte den Anhänger vor Kurzem gekauft und sofort die Zeitung angerufen, als er ihn erkannte. Und so war ich eben bei ihm und habe mit ihm gesprochen.”

Joe fuhr in eine kleine Seitenstraße und suchte nach einem Parkplatz. “Also wenn der Heckenschütze es tatsächlich auf dich abgesehen hatte, dann hat er gewusst, dass du bei dem Pfandleiher warst.”

Bis jetzt hatte sie keinen Grund gesehen, warum der Schütze es auf sie abgesehen haben sollte. Aber Joes Argumentation ließ die Sache in einem anderen Licht erscheinen. “Ich nehme es an.”

“Wie viele Menschen wussten, dass du zu dem Laden gehen wolltest?”

“Nicht viele. Maureen von der Zeitung. Sie ist die Sekretärin von E.J. Und Rudy Goldberg. Das ist der Pfandleiher. Er wusste, dass ich komme, weil ich Maureen gebeten hatte, ihn anzurufen, damit er auf mich wartet. Aber warum würde er …”

“Wer noch?”

“Ich denke, das waren alle.”

“Dein Chef wusste nichts davon?”

“E.J.?” Sie überlegte einen Augenblick. “Ich weiß nicht. Vielleicht.” Bei dem Gedanken daran, wie der Verleger mit einem Gewehr in der Hand auf dem Hausdach stand, musste sie leise lachen.

“Du findest das lustig?” Joe sah nicht sonderlich amüsiert aus. “Jemand beobachtet dich, Zoe. Jemand, der jeden deiner Schritte zu kennen scheint.”

“Nun übertreibst du aber.”

“Tu ich das? Er wusste, dass du zu Rudy Goldberg gehen wolltest und von da aus wieder nach Hause. Wie erklärst du dir das?”

“Gar nicht”, gab sie bissig zurück. “Ich bin hier nicht der Detective, okay? Das bist du.”

Ihre angespannten Nerven schienen langsam, aber sicher zu reißen. Zoe war nie leicht zu ängstigen gewesen, hatte sich auch nie unnötig viele Gedanken gemacht. Diese Aufgabe überließ sie gerne ihrer Mutter, die eine leidenschaftliche Sorgenmacherin war. Aber dass auf sie geschossen worden war, war ein neues Gefühl. Und der Gedanke, dass, wer immer es auch getan hatte, es noch einmal versuchen würde, reichte aus, um ihr Selbstvertrauen zu erschüttern.

“Es tut mir leid, Joe. Ich wollte nicht so zickig sein.”

Er wusste immer genau, was in ihr vorging, und so schenkte er ihr jetzt einen verzeihenden Blick. “Ich hab ja angefangen.” Er lenkte den Wagen in eine gerade frei gewordene Parklücke. “Bist du sicher, dass du noch essen gehen möchtest? Wenn nicht, können wir uns auch was holen und zurück in deine Wohnung fahren.”

Sie dachte an die Zwölf-Stunden-Schicht, die vor ihm lag, und daran, wie er ihr sofort zu Hilfe geeilt war. Er beschwerte sich niemals, bat sie nie um einen Gefallen. Er hatte recht, ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, jetzt in einem voll besetzten Lokal zu sitzen. Sie wollte nach Hause, wo sie sich sicher fühlte. Doch Joe hatte sich bestimmt auf diesen Abend gefreut, und sie wollte ihn nicht enttäuschen.

“Versuchen Sie sich aus Ihrer Einladung zu einem formidablen Dinner herauszuwinden, Detective Santos?”

Er lachte. “Die Antwort hätte ich mir ja denken können.”

Einen Augenblick später betraten sie das Tarantella, ein kleines, gut besuchtes Restaurant mitten in Little Italy. Zoe wartete, bis sie an ihrem Tisch waren, bevor sie fragte: “Meinst du, dass sie ihn kriegen? Den Heckenschützen, meine ich?”

Auch wenn Joes Miene düster blieb, nickte er. “Sie werden sehr wahrscheinlich ein paar Tage brauchen, aber sie kriegen ihn. Irgendjemand muss ihn gut genug gesehen haben, um ihn beschreiben zu können. Man sieht schließlich nicht jeden Tag einen Mann mit einem Gewehr eine Feuertreppe hinunterkommen, selbst in New York nicht.”

“Ich hoffe, dass du recht hast.” Aber sie dachte an die beiden Maryland Sniper, die vor ein paar Jahren Washington D. C. in Angst und Schrecken versetzt hatten, und an die widersprüchlichen Beschreibungen der beiden, die die Polizei von den Zeugen erhalten hatte. New York hatte in den letzten Jahren viele Tragödien erlebt, und der Gedanke an einen frei herumlaufenden Heckenschützen, noch dazu mitten in der geschäftigsten Jahreszeit, ließ Zoe das Blut in den Adern gefrieren.

“Zoe?”

Sie tunkte ein Stück Ciabatta in einen kleinen Topf mit Olivenöl. “Hm?”

“Ich habe nachgedacht.”

“Oh, oh.”

“Wir müssen darüber reden, was gerade passiert ist.”

“Ich weiß, was los war.”

“Genau. Ein Heckenschütze hat mitten auf einen mit Menschen gefüllten Gehsteig zwei Schüsse abgegeben und nicht eine einzige Person getroffen.”

“Wir hatten Glück.”

Eine Kellnerin brachte ihnen die Getränke – ein Glas Rufino für Zoe und Mineralwasser für Joe, der vor Dienstantritt niemals Alkohol trank.

Als die Kellnerin gegangen war, lehnte er sich vor. “Ich möchte dir eine Frage stellen: Was haben alle Heckenschützen gemeinsam?”

“Den Wunsch, Kontrolle über andere Personen auszuüben?”

“Davon mal abgesehen.”

“Ich weiß es nicht.”

“Sie sind hervorragende Schützen.”

“Was willst du damit sagen?”

“Nichts, was der mit der Untersuchung des Falls beauftragte Detective nicht bestätigen würde. Unser Schütze hatte gar nicht die Absicht, jemanden zu treffen.”

“Was wollte er dann?”

“Dir Angst einjagen?”

Sie setzte ihr Glas ab. “Glaubst du, dass er der Mörder von Lola ist?”

“Man sollte auf jeden Fall darüber nachdenken. Genau wie über die Möglichkeit, dass du für ihn zu einer Bedrohung geworden bist.”

“Willst du mir jetzt auch Angst machen?”

“Ja, und ich hoffe, dass es funktioniert, Zoe. Denn nächstes Mal hast du vielleicht nicht so viel Glück.”

“Nächstes Mal? Du hast doch gesagt, dass die Polizei ihn schnappen wird.”

“Aber falls sie es nicht schaffen: Hast du verstanden, was ich dir sagen wollte?”

“Ja. Irgendjemand, sehr wahrscheinlich Lolas Mörder, will, dass ich mich zurückziehe. Was heute passiert ist, war nur eine Warnung.”

“Kluges Mädchen.”

“Trotzdem werde ich nicht aufhören.”

Joes Gesicht lief vor Ärger rot an. “Warum nicht?”, stieß er mühsam beherrscht hervor.

“Weil ich wütend bin. Ich mag es nicht, wenn man mir hinterherspioniert. Und ich mag es nicht, wenn mir Angst eingejagt wird. Dieser Sniper – wer auch immer er ist – hat eine Grenze überschritten. Er hat sein Talent als guter Schütze ausgenutzt, um mich zu terrorisieren, aber ich werde bei seinem kleinen Spiel nicht mitmachen.”

Joe blieb unbeeindruckt. “Soll ich das auf deinen Grabstein schreiben lassen? Oder hättest du es lieber in der Grabrede?”

“Lach nur. Irgendwann wird mich jemand ernst nehmen und Lolas Verschwinden untersuchen, und vorher werde ich nicht aufgeben.”

Für einen Moment schwieg Joe. Als sei er zu einer Entscheidung gekommen, nickte er langsam. “Also gut. Ich werde jemanden darauf ansetzen, Lolas Verschwinden zu untersuchen.”

“Das kannst du?”

Statt zu antworten, blickte er auf seine Uhr. Dann nickte er, griff in seine Tasche und zog ein paar Geldscheine heraus. “Komm. Wenn wir uns beeilen, erreichen wir ihn noch, bevor er nach Hause geht.”

“Wen?”

“Einen Freund von mir auf dem Neunten Revier.” Er legte das Geld auf den Tisch, entschuldigte sich bei der Kellnerin, die gerade kam, um ihre Bestellung aufzunehmen, und zog Zoe mit sich.