3. KAPITEL

Zoe beruhigte sich erst wieder, als sie zehn Minuten später ihr Loft betrat und die Tür hinter sich schloss. Diesen tröstlichen Effekt hatte ihre Wohnung immer auf sie. Egal, in welcher Stimmung sie sich befand oder in welches Desaster sie geriet – zur Lösung aller Alltagsprobleme konnte sie sich stets auf die warme Behaglichkeit ihres gemütlichen Zuhauses verlassen.

In Manhattan ein Apartment zu finden, das sie sich leisten konnte, war nicht einfach gewesen. Die Mieten in der Stadt waren in den letzten zehn Jahren explosionsartig angestiegen, besonders in SoHo, das inzwischen zu einer der beliebtesten Adressen in New York City geworden war. Aber als ihre beste Freundin Lizzy ihr von der Bonbonfabrik erzählt hatte, deren Besitzer zurück nach Brooklyn ziehen wollte, hatte Zoe den Sprung vom Mieter zum Eigentümer gewagt, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern.

Sie konnte gar nicht mehr zählen, wie viele Wochenenden sie und Lizzy hier gearbeitet hatten – abreißen, neu aufbauen, verputzen, streichen, bis das einhundertachtzig Quadratmeter große Loft mit seinen roten Backsteinwänden sich in die warme behagliche Oase verwandelt hatte, in der Zoe nun stand. Meine Wohnung ist ein perfektes Spiegelbild meiner Persönlichkeit, dachte sie. Der großzügige Platz war geschickt in verschiedene Bereiche aufgeteilt. Kurz hinter dem kleinen Eingangsflur lag die offene Küche mit der großen Kochinsel in der Mitte. Der Wohn-Ess-Bereich war noch größer und explodierte förmlich vor Farben – bequeme Sessel in sonnigem Gelb, ein roter Lacktisch auf dem Perserteppich und Grünpflanzen auf jedem freien Platz. Eine Reihe Holzrahmenfenster, die bis zum Boden reichten, ließen so viel Licht herein, dass ein Künstler nur davon träumen konnte. Ihr Atelier, das aus einem Zeichentisch, einem Hocker und einem Tisch bestand, nahm eine weitere sonnige Ecke des Lofts ein, während ein dreiteiliger orientalischer Paravent, den ein Cousin von Lizzy handbemalt hatte, ihr Bett und das Badezimmer abschirmte.

Das Pièce de Resistance, wie sie es gerne nannte, und das Erste, was dem Betrachter ins Auge fiel, wenn er ihre Wohnung betrat, war eine riesige bunte Zeichnung von Kitty Floyd, die an der dem Eingang gegenüberliegenden Wand hing. Mit ihrem feuerroten Haar, den langen Wimpern und dem glänzend roten Mund gehörte die Comic-Privatdetektivin genauso zu der Wohnung wie Zoe selbst.

Auf einem Beistelltisch hatte sie alte Familienfotos arrangiert – ihre Großeltern mütterlicher- und väterlicherseits, alle schon lange tot, ihre Mutter, die mit vierundfünfzig Jahren immer noch wunderschön aussah, und ihr verstorbener Vater, ein Versicherungsvertreter, der bei einem Autounfall starb, als er von einem Kunden zurück nach Hause fuhr. Sie war erst drei, als es passierte, und so konnte sich Zoe nicht mehr an ihn erinnern, genauso wenig wie an den Umzug mit ihrer Mutter von Philadelphia nach New York direkt danach. Aber der Mann, den sie wundervolle drei Jahre lang Daddy genannt hatte, nahm noch immer einen besonderen Platz in ihrem Herzen ein.

Ihre Mutter war sich bewusst, dass Zoe ihren Vater vermisste, und so hatte sie die Erinnerung an Henry mit vielen Fotos und Geschichten stets lebendig gehalten. Als Moderedakteurin bei Trends konnte sie ihre Arbeitszeit selbst einteilen und achtete darauf, dass sie Zoe jeden Morgen zur Schule bringen konnte und immer da war, wenn sie nachmittags wieder nach Hause kam. Einmal hatte sie sogar einen Heiratsantrag abgelehnt, weil Zoe, damals sieben, mit aller Deutlichkeit klar gemacht hatte: “Ich will ihn hier nicht haben. Er ist nicht mein Daddy.”

Später, als Zoe ahnte, dass ihre Mutter sich sicher auch nach einem Mann in ihrem Leben sehnte, hatte sie das Thema Hochzeit noch einmal aufgebracht. Aber Catherine hatte die Bedenken ihrer Tochter mit einem Lachen fortgewischt. “Mein Leben ist perfekt so, wie es ist, Liebling”, hatte sie zu Zoe gesagt. “Also hör auf, dir Sorgen zu machen.”

Die Gedanken daran hoben Zoes Laune. Sie fühlte sich jetzt besser und schlüpfte aus ihrem Mantel. Als sie ihn an die Garderobe hängte, unterdrückte sie den Drang, den ruinierten Absatz noch einmal herauszuholen und einen genaueren Blick darauf zu werfen. Noch mehr Ärger konnte sie jetzt wirklich nicht gebrauchen. Wenn sie Glück hatte, würde Lizzys Onkel, der Schuhmacher, ihn retten können.

Auf Socken ging sie hinüber zum Kühlschrank und nahm sich eine Flasche Wasser heraus, bevor sie sich mit einem zufriedenen Seufzer in einen der Sessel im Wohnzimmer fallen ließ. Die Füße auf den Couchtisch gelegt, freute sie sich darüber, dass sie sich keine Gedanken über neugierige Nachbarn machen musste. Das Gebäude gegenüber war zwar hell erleuchtet, aber um diese Tageszeit arbeitete niemand mehr in den Büros.

Bevor sie einen Schluck Wasser trinken konnte, klingelte ihr Telefon.

“Zoe, ich bin‘s, E.J. Die Frau, die du beschrieben hast, ist keine unserer Angestellten. Maureen hatte die beiden neuen Schreibkräfte zur Feier eingeladen, aber beide hatten wegen anderer Verabredungen abgesagt.”

Zoe freute sich für E.J. Er hatte hart dafür gearbeitet, den Herald zu einer erfolgreichen Zeitung zu machen, und trotz der Millionen, die er aus seinem Privatvermögen immer wieder eingebracht hatte, war er zweimal nur knapp dem Konkurs entkommen. Es war nur zu verständlich, dass er sich jetzt, wo der Herald langsam richtiges Geld einbrachte, Sorgen über mögliche Negativschlagzeilen machte.

“Das sind doch fabelhafte Neuigkeiten, E.J.”

“Wir sprechen dann am Montag, Kleines. Schlaf dich erst einmal aus.”

Nachdem sie aufgelegt hatte, wanderten Zoes Gedanken zurück zu den Ereignissen der letzten Stunden. Sie stimmte den beiden Beamten nur ungern zu, aber es konnte tatsächlich sein, dass die Frau einfach eine Weihnachtsfeier besucht hatte, so wie Zoe. Und es konnte ebenso sein, dass sie zu viel getrunken hatte, wie so viele. Doch damit endeten ihre Zugeständnisse an die Geschichte. So sehr sie sich anstrengte, sie konnte sich nicht vorstellen, dass diese Frau sich entschlossen hatte, in einer dreckigen Seitenstraße ihren Rausch auszuschlafen. Sie hatte ganz und gar nicht ausgesehen wie jemand, der so etwas tat. Irgendwer hatte ihr in der Gasse aufgelauert und sie getötet. Oder sie war aus einem Fenster gestoßen worden. Aber aus welchem? Die ersten zehn Stockwerke gehörten dem Herald, die anderen sechs waren an drei andere Firmen vermietet, die aber wie immer pünktlich um fünf Uhr Feierabend gemacht hatten.

Vollkommen konzentriert schürzte sie die Lippen, stand auf und ging hinüber zu ihrem Zeichenbrett. Der letzte Fall von Kitty Floyd war gerade fertig, und Zoe arbeitete bereits an der nächsten Serie, die den Fans am Montag vorgestellt werden würde. Außer ein paar letzten Korrekturen hier und da waren die vier ersten Bilder fertig, um zur Zeitung geschickt zu werden.

Vor etwas mehr als einem Jahr hatte Zoe Kitty Floyd erfunden und gehofft, dass der Comic einen festen Platz in einer Zeitung erhalten würde, damit sie ihren schlecht bezahlten Job als Kinderbuchillustratorin aufgeben konnte. Unglücklicherweise waren die Zeitungen nicht gerade versessen darauf gewesen, einer unbekannten Cartoonistin einen festen Vertrag zu geben, egal, wie talentiert sie auch sein mochte. Nur ein Herausgeber, E.J. Greenfield vom New York Herald, war von Kitty Floyd so begeistert gewesen, dass er es mit Zoe hatte versuchen wollen.

Zwölf Monate später hatte sich die unerschrockene Privatdetektivin, die in New York lebte und arbeitete, zum Liebling aller fünf Stadtbezirke gemausert. Und auch wenn die anderen Verlage noch nicht vor Zoes Tür Schlange standen, war sie glücklich darüber, endlich das tun zu können, was ihr am meisten Spaß machte – Kitty Floyd in brenzlige Situationen zu bringen.

Zoe nahm sich nicht die Zeit, sich erst hinzusetzen, sondern griff direkt zu ihrem Stift. Sie nahm den Rapidograph – ihren feinen Tuschefüller, den sie einem Pinsel jederzeit vorzog – in die Hand und begann sofort, das Gesicht der toten Frau zu zeichnen. Sie benötigte einige Minuten und drei Versuche, um es richtig hinzubekommen, aber als die Zeichnung schließlich fertig war, wies sie eine erstaunliche Ähnlichkeit mit der Frau in der Seitenstraße auf. Unter die Zeichnung schrieb sie: “Der New York Herald benötigt Ihre Hilfe, um diese Frau zu finden. Wenn Sie Informationen über sie haben, rufen Sie uns bitte unter folgender Nummer an: 555-71 00.”

Zufrieden nahm sie das Telefon und wählte E.J.s Handynummer. Im Hintergrund hörte sie jemanden eine Wegbeschreibung murmeln und vermutete, dass der Verleger gerade in seiner Limousine unterwegs war, um einige der Gäste nach Hause zu bringen.

“Ich habe eine Zeichnung der mysteriösen Frau gemacht”, sagte sie aufgeregt. “Wenn du einverstanden bist, würde ich sie gerne in die morgige Ausgabe bringen. Wir haben noch ausreichend Zeit, sie an Sal in der Setzerei zu schicken, ich brauche nur noch deine Zustimmung.”

Keine Antwort. Wenn sie nicht das Geplapper im Hintergrund gehört hätte, wäre Zoe sicher gewesen, dass die Leitung unterbrochen worden war.

“E.J., hast du mich gehört?”

“Ja. Tut mir leid, Zoe, ich war kurz abgelenkt.”

“Soll ich es noch einmal wiederholen …”

“Nein, nein, ich habe dich verstanden.”

“Und, was denkst du? Habe ich dein Okay?”

“Ja, natürlich. Das ist eine hervorragende Idee. Ich rufe Sal an und sage ihm, dass deine Zeichnung kommt.”

Als der Samstagmorgen anbrach, hatte der Schnee sich in grauen Matsch verwandelt, der Himmel über Manhattan war wolkenlos blau, und die Sonne schien durch jedes Fenster in Zoes Loft hinein. Wenn das Thermometer nicht Temperaturen unter dem Gefrierpunkt angezeigt hätte, hätte Zoe denken können, dass der Frühling vor der Tür stand.

In ihrem blau gestreiften Nachthemd tapste sie barfuß zur Tür, um ihre Ausgabe des Herald zu holen. Sie musste nicht weit blättern, um ihre Zeichnung zu finden. Sal, der Produktionschef, hatte sie gleich auf die erste Seite gesetzt – sehr wahrscheinlich hatte E.J. ihn darum gebeten. Mit ein bisschen Glück würde jemand die Frau erkennen, bevor der Tag zu Ende ging.

Kurz nach zwölf Uhr mittags rief Lisa, die Wochenendtelefonistin beim Herald, an, um Zoe mitzuteilen, dass sie bisher sieben Anrufe bezüglich der Zeichnung erhalten habe. Leider kamen sie ausschließlich von Spinnern, die sich einen Spaß aus der Sache machen wollten.

Zoe hatte schon beinahe die Hoffnung aufgegeben, als Lisa um kurz nach vier erneut anrief: Ein Mann namens Buddy Barbarino habe sich gemeldet, um zu sagen, dass er der Agent dieser Frau sei.

Zoe nahm sich Stift und Zettel von ihrem Schreibtisch. “Gib mir mal seine Nummer, Lisa.”

Sie schrieb sie auf, bedankte sich und wählte kurz darauf Barbarinos Nummer. “Mr. Barbarino?”, fragte sie, als sich die Stimme am anderen Ende mit einem faulen “Buddy hier!” meldete. “Ich bin Zoe Foster. Ich habe gehört, dass Sie mit der Frau bekannt sind, deren Zeichnung heute im Herald erschienen ist?”

“Ja. Sie heißt Lola Malone. Ich bin ihr Agent.”

Lola Malone. Wieso kam ihr der Name so bekannt vor? “Ist sie eine Schauspielerin?”

“Nachtclubsängerin.”

“Ich verstehe.” Zoe versuchte immer noch, den Namen mit einem Gesicht in Verbindung zu bringen.

“Was soll die ganze Aufregung überhaupt?”, fragte Buddy Barbarino. “Wieso ist Lolas Bild auf der Titelseite des New York Herald?”

Plötzlich erinnerte Zoe sich! Ungefähr vor einer Woche hatte Sylvia, die von Montag bis Freitag in der Telefonzentrale arbeitete, ihr einen Stapel mit Anrufnotizen übergeben. Eine Notiz war von Lola Malone. Weil die Frau jedoch keinen Grund für ihren Anruf hinterlassen hatte, hatte Zoe sie nicht zurückgerufen, auch nicht die anderen beiden Male, die noch folgten.

“Ich würde gerne mit Ihnen sprechen, Mr. Barbarino”, sagte sie, ohne auf seine Frage einzugehen. “Wo können wir uns treffen?”

“Lassen Sie mich kurz überlegen … Ich komme gerade von einer Verhandlung in der Seventh Avenue und habe den ganzen Tag noch nichts gegessen. Ich wollte auf einen Bissen in das Carnegie Deli gehen. Können Sie da hinkommen? Ich habe ein grünes Jackett an.”

“Ich bin schon unterwegs.”