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DAS NORDUFER DER DONAU
Während der Polizeibeamte Remi dabei behilflich war, aus dem offenen Grab zu klettern, winkte sie Sam lachend zu und stapfte durch den aufgewühlten Garten zu ihm hinüber. »Es war in die Seitenwand eingraviert. Ich schicke die Bilder sofort an Selma und Albrecht.«
»Schlecht ist nur, dass Bakos Männer den Text wahrscheinlich schon vor Stunden gelesen haben.«
»Ich weiß«, sagte sie.
»Wenn er die Botschaft wirklich kennt«, ergriff Tibor Lazar das Wort, »dann dürfte sie keinen allzu großen Eindruck auf ihn gemacht haben, oder er hat sie nicht verstanden. Zurzeit sitzt er nämlich in seinem Büro in der Pillenfabrik und spielt den Unschuldigen.«
»Wenn er verhaftet wird«, sagte Sam, »dann kann er nichts beweisen, es sei denn, jemand anders hat seine Leute hier bei den Ausgrabungen gesehen. Und wenn er wirklich vor Gericht landet, dann blüht uns das ebenfalls. Aber er kann seine Sicherheitsmänner zur nächsten Station vorausschicken, wo immer die liegen mag.«
»Ich sollte mich lieber verabschieden«, sagte Tibor Lazar. »Ich bin jetzt für den Einsatz der Beobachtungsteams zuständig. Wenn die Botschaft übersetzt wurde, seien Sie so nett und geben mir Bescheid.« Lazar stieg in seinen Wagen und fuhr über den Schotterweg zur Schnellstraße hinauf.
Sam und Remi kehrten zu den offenen Gräbern zurück und betrachteten dabei die Verwüstung, die Bakos Männer hinterlassen hatten. Sie hatten ganz offensichtlich den Befehl gehabt, nur nach Gold zu suchen, und hatten alles andere einfach achtlos beiseitegeworfen. Daher lagen menschliche Knochen und fünfzehnhundert Jahre alte Stoffreste, Tongefäße, Werkzeuge und Waffen im Garten und auf den Rasenflächen des Anwesens verstreut.
Sams Telefon summte. »Hallo?«
»Hi, Sam. Hier ist Selma.«
»Was haben Sie erfahren?«
»Ich übergebe an Albrecht.«
»Hallo, Fargos«, meldete sich Albrecht. »Ich lese Ihnen Attilas Botschaft vor: ›Wir begruben unseren Vater Mundzuk am Fluss vor Talas. Er blickt nach Osten, wohin er unser Heer geführt hat. Sein Bruder Rua herrscht jetzt an seiner statt.‹«
»Wo ist Talas?«
»Talas war die älteste Stadt in Kasachstan. Ein Hunne namens Zhizhi Chanyu gründete sie. Sie ist im Jahr 36 vor Christus Schauplatz einer Schlacht gewesen. Außerdem war sie eine wichtige Station auf der Seidenstraße, die durch China, Indien, Persien und Byzanz verlief. 1209 wurde sie zerstört, heute aber steht dort eine moderne Stadt mit dem Namen Taras. Ihre Position lautet 42° 54’ Nord und 71° 22’ Ost, nördlich von Kirgisistan und östlich von Usbekistan.«
»Das klingt ja nicht gerade so, als wäre es schwierig zu finden«, sagte Remi. »Ich nehme an, wir können dorthin fliegen.«
»Eins dürfte Ihnen nicht entgangen sein: Während wir mit jedem Schatz, den er vergraben hat, in Attilas Leben zurückgehen, bewegen wir uns gleichzeitig weiter nach Osten. Kasachstan ist wahrscheinlich die Region, in der sich die Hunnen zu dem mächtigen Reitervolk entwickelten, als das sie später in die Geschichte eingegangen sind. Außerdem sind sie anscheinend von dort zu ihren Kriegszügen in die römische Welt aufgebrochen. Das Wort Kasach heißt so viel wie ›freier Geist‹ und gemeint ist damit ein Nomade der weiten Ebenen. Das Land besteht zu einem Drittel aus trockener Steppe, und die Entfernungen dort sind ganz enorm. Kasachstan hat eine größere Fläche als ganz Westeuropa. Selma wird sie über die Einzelheiten der Reise ins Bild setzen.«
»Hi, Sie beide. Ich habe in einer Maschine, die heute Abend vom Flughafen Liszt Ferenc in Budapest nach Moskau startet, Plätze für Sie reserviert. Von dort fliegen Sie weiter nach Astana in Kasachstan. Dort erhalten Sie Ihre Visa und Ihre Empfehlungsschreiben. Von Astana geht es dann weiter in die größte Stadt Kasachstans, Almaty, und von dort nach Taras.«
»Das ist ja die reinste Weltreise«, sagte Remi.
»Ich gebe zu, es dauert einige Zeit, aber nach all den Strapazen, die Sie beide hinter sich haben, haben Sie vielleicht Gelegenheit, sich auszuruhen. Zumindest können Sie im Flugzeug ein wenig Schlaf nachholen, bis Sie in Taras eintreffen.«
Einige Kilometer entfernt saß Arpad Bako in seinem Büro und raste vor Wut. Er hatte soeben erfahren, dass die Sorgfalt und Umsicht, die er an den Tag gelegt hatte, und das Risiko, das er eingegangen war, um die königlichen Gräber der Hunnen zu öffnen, vergeudet worden waren. Seine unfähigen und dummen Sicherheitsleute hatten zugelassen, dass nicht mehr als zwei Personen, ein amerikanisches Ehepaar, ihn um insgesamt fünfzehn Kisten Gold und Edelsteine erleichtert hatten, vieles davon waren erlesene Schmuckstücke, Kelche und Kruzifixe aus den ältesten Kirchen Europas. Der Rest bestand aus Objekten aus den römischen Garnisonen entlang der Donau. Das war die Beute, die die Hunnen aus dem gesamten Balkan zusammengetragen hatten. Einiges hatte sogar einen noch weiteren Weg hinter sich und musste erheblich älter sein. Wahrscheinlich hatte es die Arme, die Hälse und die Finger zentralasiatischer Krieger und ihrer Frauen geschmückt und war mitsamt ihren Nachkommen begraben worden, nachdem sie sich in Ungarn niedergelassen hatten.
Viele Jahre intensiver Studien und eine Menge Glück waren nötig gewesen, um diesen Schatz zu finden. Doch es war ihm gelungen. Und nun war er – ebenso wie in Frankreich – beraubt worden. Er konnte die Schuldigen noch nicht einmal zur Rechenschaft ziehen, weil er nicht berechtigt war, auf dem Gelände des Museums zu graben. Seine Männer waren sogar so dumm gewesen, auf die Fargos und das gestohlene Rettungsboot zu schießen, darum hatten sie ihre Waffen in den Fluss werfen müssen, ehe sie verhaftet wurden.
Das Telefon am anderen Ende klingelte kurz, dann ertönten einige Klicklaute und Trenngeräusche ähnlich wie Türen, die geöffnet und geschlossen wurden. Schließlich sagte eine melodiöse weibliche Stimme auf Ungarisch: »Die Büros der Poliakoff Company sind für heute geschlossen. Warten Sie auf das Signal, wenn Sie eine Nachricht hinterlassen wollen.« Bako wusste, dass die Maschine darauf programmiert war, auf eine ungarische Telefonnummer mit einer Nachricht auf Ungarisch zu antworten.
Er sagte: »Hier ist Arpad Bako. Ich bitte um Rückruf.« Dann beendete er das Gespräch, legte das Mobiltelefon auf die große, auf Hochglanz polierte Tischplatte aus Rosenholz und betrachtete es gespannt. Fast im gleichen Moment klingelte das Telefon, und er nahm es hoch. »Hallo, Sergei.«
»Ich war überrascht, deine Stimme zu hören, Arpad. Aber offenbar ist es üblich, dass mich fette, faule Plutokraten, wie du es bist, mitten in der Nacht anrufen.«
»Ideen kommen mir zugeflogen wie Vögel durch ein offenes Fenster. Wenn ich eine gute sehe, schnappe ich sie aus der Luft, ganz gleich um welche Uhrzeit.«
»Ich mag Ideen. Du kannst mir deine schildern. Diese Leitung ist verschlüsselt und abhörsicher.«
»Na schön«, sagte Bako. »Ich habe einen Schatz gefunden, der von Attila dem Hunnen versteckt wurde.«
»Einen Schatz«, sagte Poliakoff. »Reden wir jetzt in Metaphern?«
»Ich verwende das Wort Schatz genauso, wie Attila es verwendet hätte. Eine Kollektion von Münzen und Juwelen, Kunstwerken und Schmuckstücken aus Gold und wertvollen Edelsteinen. Sie liegen in einer Grabkammer.«
»Attilas?«
»Seines Vaters. Du bekommst ein Drittel, wenn du mir hilfst.«
»Ein Drittel von was?«
»Ein Drittel von allem, was wir finden«, sagte Bako. »Ich kann dir verraten, dass wir schon einige der Schätze aufgestöbert haben. Einer fand sich in Italien. Einer war in Frankreich und enthielt so viel Gold, dass ein Lastwagen nötig war, um ihn abzutransportieren. Ein kleinerer Schatz lag in den Wäldern Transsilvaniens und einer am Ufer der Donau. Der bestand aus zehn Kisten Gold und Edelsteinen.«
»Du hast all das Gold und den Schmuck? Schick mir mit der nächsten Lieferung Schmerztabletten Bilder von dir, wie du daneben stehst, und eine kleine Probe. Einen Ring, ein Halsband, irgendetwas. Ich erwarte morgen eine Lieferung per Luftfracht.«
»Ich kann dir eine Probe schicken. Aber nicht viel mehr. Während meine Hilfskräfte damit beschäftigt waren, in Frankreich zu suchen, haben einige Konkurrenten den Schatz in Italien gefunden. Diesen Schatz habe ich nie selbst zu Gesicht bekommen. Ich habe nur in den Zeitungen davon gelesen. Der Schatz in Frankreich wurde von unserem Freund Etienne Le Clerc ausgegraben. Er hat Fotos davon gemacht, aber diese Konkurrenten haben ihn aus seiner Lagerhalle gestohlen. Den Schatz an der Donau haben meine Männer heute ausgegraben und fotografiert. Der Schatz selbst befindet sich allerdings jetzt in den Händen der ungarischen Regierung.«
»Du weißt also, dass diese Schätze existieren«, fasste Poliakoff zusammen, »aber sie befinden sich nicht in deinem Besitz. Wer sind die Konkurrenten, die dir diese Schätze abgenommen haben?«
»Es ist ein amerikanisches Ehepaar namens Samuel und Remi Fargo. Sie sind reiche Schatzsucher, und sie haben in anderen Teilen der Welt auch schon einige legendäre Reichtümer gefunden, aber noch nie so etwas wie dies. Es gibt sicherlich nicht viele Schätze wie diesen. Attila ist von Asien über den Ural und die Wolga bis nach Frankreich gezogen und hat Städte ausgeraubt. Und ich habe herausbekommen, wo er die meisten dieser Reichtümer versteckt hat.«
Poliakoff wollte es nicht glauben. »Es sind nur zwei Personen – und eine davon ist eine Frau –, die dir und Le Clerc einen Millionenschatz gestohlen haben?«
»Milliardenschatz trifft es eher. Aber es sind nicht nur zwei Personen. Wenn Fargo Männer braucht, dann engagiert er sie. Wenn er sie nicht mehr braucht, verschwinden sie wie Rauch im Wind. Außerdem hilft ihm Albrecht Fischer, einer der besten Kenner des späten Römischen Reichs. Und wenn Fargo glaubt, dass er im Begriff ist, ausgetrickst zu werden, ruft er die nationale Polizei, damit sie den Schatz sichert.«
»Arpad, diese Geschichte darfst du niemandem erzählen«, warnte Poliakoff. »Wenn einer von den Leuten, mit denen wir unsere Geschäfte machen, davon Wind bekommt, dann halten sie dich für schwach. Sie stürzen sich wie ausgehungerte Wölfe auf dich und fressen dich auf.«
»Bist du nun an meinem Angebot interessiert oder nicht?«
»Oh, ich tue es für dich«, sagte Poliakoff. »Wo ist denn dein wundervoller Schatz zurzeit?«
»In einer Gruft in Taras vergraben. Das ist in Kasachstan. Ich schicke dir eine Landkarte.«
»Und wo sind die Fargos? Wissen sie schon, wo der Schatz ist?«
»Sie waren heute Nachmittag hier in Szeged, aber sie hatten mehrere Stunden Zeit, den nächsten Fundort in Erfahrung zu bringen. Ich bin sicher, dass sie so bald wie möglich abreisen werden.«
»Dann finde heraus, wie sie von Ungarn nach Kasachstan kommen wollen, und gib mir sofort Bescheid. Hast du Fotos von ihnen?«
»Meine Männer bewachen die Flughäfen und Bahnhöfe, und einige beschatten die Fargos. Die Fotos schicke ich dir sofort.«
»Ruf mich an, sobald du ihre Flugnummer und ihr Flugziel kennst. Jede Minute, jede Sekunde ist kostbar.« Poliakoff legte auf.
Von den obersten Stockwerken seines Anwesens außerhalb von Nischni Nowgorod konnte Sergei Poliakoff die Wolga sehen. Die Lichter der Stadt mit mehr als einer Million Einwohnern an ihren Ufern waren wie eine fremde Galaxis in der Ferne. Die Stadt war riesig und modern und hatte lange Zeit das Zentrum der russischen Raumfahrt beherbergt, aber hier in der Stille seines Anwesens konnte es einem so vorkommen, als schreibe man immer noch das Jahr 1850. Wenn er im Garten saß, lauschte er dem Wind und hörte keinen anderen Ton als das Zwitschern der Vögel, die gekommen waren, um sich an den Früchten seiner Johannisbeersträucher zu laben.
Draußen wartete ein aus Amerika importierter Hummer mit gepanzerten Türen und zwei von Poliakoffs Leibwächtern als Insassen. Als Nächstes kam der große schwarze Familien-Mercedes mit dunkel getönten Scheiben und danach der Nachfolger, ein weißer Cadillac Escalade. Wenn Poliakoffs Widersacher versuchen sollten, irgendwelchen Ärger zu machen, würden sie den gepanzerten Hummer mit seiner Wächterbesatzung oder den eleganten Mercedes angreifen, der aussah, als sei die Familie damit unterwegs. Die Männer auf dem Vordersitz des Escalade würden dagegen unbehelligt weiterfahren.
Sergei sah sie abfahren. Danach schloss sich die Haustür mit einem dumpfen Laut, gefolgt von einem mehrfachen Klicken, als die Stahlbolzen in ihre Sicherungsposition sprangen. Poliakoff passte gut zu Irena. Ihre Eltern hatten während der Herrschaft der Kommunisten zur intellektuellen Schicht gehört und wichtige Posten bekleidet. Im Gegensatz zu vielen anderen waren sie in der Folgezeit nicht in Ungnade gefallen.
Er griff nach seinem Mobiltelefon und klickte sich durch die Bilderserie von den goldenen Schmuckstücken, die Bako ihm geschickt hatte. Dann kam er zu den Bildern von den Fargos. Die Frau war nicht nur ausgesprochen attraktiv, sie war eine echte Schönheit, dachte er. Aus den Erfahrungen, die er mit Irena gemacht hatte, wusste er, dass einem das Zusammenleben mit einem solchen Schmuckstück durchaus den Tag versüßen konnte. In einer Kampfsituation war es jedoch nicht so von Vorteil. Ein Mann hatte damit zwar einen wertvollen Schatz, aber dieser Schatz machte ihn gleichzeitig auch zerbrechlich und verletzbar, indem er bewirkte, dass er seine Frau so sehr liebte, dass er sie niemals der Gefahr eines Kampfes aussetzen wollte.
Bako war im Grunde ein Kaufmann – habgierig bis aufs Blut, aber fürs Kämpfen hatte er nicht viel übrig. Er betrachtete seine Feinde als Konkurrenten. Und Le Clerc war im Grunde seines Herzens genauso. Ebenso wie Bako war er in der Lage, ein paar skrupellose Männer anzuheuern, um sich zu scharen und spezielle Aufträge ausführen zu lassen. Aber was er genau überwachte, waren die Berichte, die ihm seine Buchhalter vorlegten. Sie waren lediglich unehrliche Schreibtischtäter, keine harten Burschen auf der Jagd nach echtem Erfolg. Poliakoff war in einer weitaus härteren Welt als der ihren groß geworden. Er allein schien die Situation mit einem Blick richtig beurteilen zu können. Der Schatz war die Frau.