18
TRANSSILVANIEN
»Wenn wir rechtzeitig dort sind, können wir ihn vielleicht überlisten«, sagte Sam. »Bako sollte dann noch immer in Rumänien sein, wo er sich gegen die Anschuldigung, verbotenerweise kulturell bedeutsame Artefakte an sich genommen zu haben, verteidigen muss.«
»Aber er hat die Inschrift gesehen, also könnte er seine Sicherheitsleute abkommandieren, damit sie mit der Ausgrabung anfangen«, gab Remi zu bedenken.
»Versuch, Tibor zu erreichen, und frag ihn, ob ihm irgendwelche ungewöhnlichen Aktivitäten bei Bakos Männern aufgefallen sind.«
»Und bitte ihn, uns einen Helikopter zu organisieren.«
»Das wird ihm gefallen«, meinte Remi, während sie seinen Kurzwahlcode in ihr Telefon eingab. »Hallo, Tibor?«
»Hallo, Remi. Wird es mir leidtun, dass ich dieses Gespräch angenommen habe?«
»Wahrscheinlich, aber nur für kurze Zeit. Alles, was wir im Augenblick brauchen, ist, dass Sie Bakos Männer überwachen lassen – und zwar alle, nicht nur die gefährlichsten fünf. Und wir bräuchten einen Hubschrauber.«
»Einen Hubschrauber?«
»Ja. Bitte sagen Sie mir, dass Sie einen entsprechenden Vetter haben.«
»Ich habe einen Freund. Wo soll er Sie abholen?«
»Hat er eine Fluglizenz für Rumänien?«
»Ja.«
»Dann kann er uns auf dem Timişoara-Flughafen aufgabeln. Das ist der nächste Airport. Und bitten Sie ihn, zwei Ferngläser mitzubringen.«
»Ich rufe ihn gleich an.«
»Danke, Tibor.« Sie beendete das Gespräch, dann sah sie auf dem Display ihres Mobiltelefons ein Symbol. »Selma hat uns eine E-Mail geschickt.«
»Lies vor.«
»Okay. Hör zu: ›Der nächste Schatz wurde im Jahr 441 am Nordufer der Donau vergraben. Der Fluss war die Grenze zwischen dem Gebiet, das unter oströmischer Herrschaft stand, und dem Land der Hunnen. Die Hunnen hatten sich für zwei Jahre – von 438 bis 440 – aus der Region zurückgezogen. Die Römer – oder zumindest die überoptimistischen – hatten geglaubt, dass sie für immer weggezogen waren.‹«
»Das muss einer der entsetzlichsten Fehlschlüsse der Geschichte gewesen sein.«
»Viel schlimmer ging es eigentlich nicht mehr«, fuhr Remi fort. »›Die Hunnen waren nach Osten gegangen, um den Armeniern im Krieg gegen die Sassaniden beizustehen. Als sie im Jahr 440 in ihre Stützpunkte und Befestigungen nördlich der Donau zurückkehrten, mussten sie feststellen, dass der Bischof von Marga während ihrer Abwesenheit die Donau überquert und einige Königsgräber der Hunnen geplündert hatte.‹«
»Ein Bischof hat so etwas getan?«
»Die Kirche muss damals echte Personalprobleme gehabt haben. Wie dem auch sei, die Hunnen kamen zurück und waren gar nicht glücklich. Attila und Bleda forderten, dass der oströmische Kaiser in Konstantinopel den Bischof an sie ausliefern solle. Der Bischof war ein ziemlich gerissener Zeitgenosse. Er erkannte sofort, dass der Kaiser ihn, ohne zu zögern, den Hunnen übergeben würde. Daher ging er selbst zu den Hunnen und verriet die Stadt an sie. Die Hunnen zerstörten die Stadt. Danach eroberten sie sämtliche illyrischen Städte entlang der Donau sowie Belgrad und Sofia.«
»Dass sie wütend waren, kann ich Ihnen nicht mal übel nehmen, aber was war mit dem Bischof?«
»Ich habe keine Ahnung. Vielleicht haben sie ihn am Leben gelassen. Vielleicht haben sie ihn getötet, vielleicht auch beides«, sagte sie und grinste. »›Sie bestatteten die sterblichen Überreste ihrer Angehörigen aufs Neue. Es wird vermutet, dass sie als Grabbeigaben die vom Bischof gestohlenen Artefakte benutzt haben sowie einiges von der Beute, die sie bei der Zerstörung der anderen Städte gemacht hatten.‹«
»Es wird nicht erwähnt, wer in den königlichen Gräbern lag«, fügte Remi hinzu. »Aber in seiner Botschaft nannte Attila sie Ahnen oder Vorfahren.«
»Und was geschah nach der Wiederbestattung?«
»Die Hunnen waren offenbar nicht besänftigt worden. Im Jahr 443 plünderten sie Plovdiv und Sofia abermals und zogen dann weiter. Sie kamen bis nach Konstantinopel, wo ihnen Kaiser Theodosius eintausendneunhundertdreiundsechzig Kilogramm Gold zahlen musste, damit sie wieder abzogen, und den jährlichen Tribut, den er an sie zahlte, auf zweitausendeinhundert Pfund Gold erhöhen musste.«
»Ich hoffe, dass Bako weiter darauf wartet, aus dem Gefängnis freizukommen, und nichts tun kann.«
Sam und Remi kamen nach Timişoara und fanden es dort wunderschön. Die aus der Zeit der Habsburger stammende Architektur erinnerte sie an Wien. Hinweisschilder leiteten sie zum Traian Vuia International Airport, wo sie ihren Mietwagen der in Bukarest ansässigen Agentur zurückgeben konnten. Dann fragten sie sich zum Hubschrauberlandeplatz durch.
Der Helikopter stand schon auf seinem Start-und Landeplatz, und ein Mann in mittlerem Alter mit sandfarbenem Schnurrbart, sandfarbenem Haar und mit einer sandfarbenen Lederjacke bekleidet, erwartete sie am Flugsteig. »Mr. und Mrs. Fargo?«, fragte er.
»Ja«, sagte Sam. Trotz des Lächelns, das der Mann ihm zeigte, verwarf Sam nicht von vornherein die Möglichkeit, dass der Fremde von Arpad Bako geschickt worden war. Bako hatte wahrscheinlich längst eine Menge Leute abkommandiert, die ihn suchen sollen. Aber er konnte nicht gewusst oder geahnt haben, dass sie einen Hubschrauber mieten wollten. Sam wartete darauf, dass der Mann irgendetwas sagte, das ihn von seinen lauteren Absichten überzeugte.
»Tibor meinte, Sie hätten es eilig, daher bin ich sofort gekommen. Ich bin Emil.«
»Sie sprechen aber ein perfektes Englisch«, sagte Remi.
»Englisch ist schließlich die allgemeine Fliegersprache«, sagte Emil. »Wenn ein Pilot Schwede ist und der Fluglotse in Bhutan aus demselben schwedischen Dorf stammt, dann unterhalten sie sich per Funk auf Englisch. Tibor und ich haben zusammen Englisch studiert, um uns für eine Pilotenausbildung zu qualifizieren.«
»Tibor ist Pilot?«, staunte Remi.
»Und viel besser als ich. Er hat bei einer Fluglinie gearbeitet. Erst vor zwei Jahren hat er sich zur Ruhe gesetzt und seinen Taxidienst gestartet.«
»Ich frage mich, warum er das nie erwähnt hat.«
Emil lachte verhalten. »Tibor ist einer von den Menschen, die alles über einen wissen wollen, es aber für vergeudete Zeit halten, von sich selbst zu erzählen.« Er öffnete die Seitentür seines Helikopters. »Sie sitzen dort.« Er deutete auf zwei Paar Kopfhörer. »Sie dürfen zuhören, aber nicht reden, bis ich es Ihnen gestatte. Okay?«
»In Ordnung«, sagte Sam. Er und Remi nahmen die ihnen zugewiesenen Plätze ein, schnallten sich an und setzten die Kopfhörer auf.
Emil sprach mit dem Kontrollturm, nannte seinen Kurs und startete sofort die Rotoren. Während die Maschine die Rotoren immer schneller kreisen ließ, nahm der Lärm zu, dann stieg der Helikopter auf, legte sich leicht nach vorn und ließ den Flughafen mit seinem Rollbahnlabyrinth hinter sich. Emil flog nach Südwesten und ließ die Maschine stetig steigen. Nach einiger Zeit erreichte er eine vorgeschriebene Höhe, balancierte die Maschine aus und flog in dieser Höhe mit mäßiger Geschwindigkeit weiter. Als er aber knapp vier Kilometer vom Flughafen entfernt war, ging er wieder in den Steigflug. »Jetzt sind wir in sicherer Entfernung von den Flugwegen der Linienmaschinen. Und außerdem dürfen Sie sprechen.«
»Können Sie Kurs auf die Nordseite des Flusses nehmen und an seinem Ufer entlangfliegen?«, fragte Remi. »Wir suchen eine Stelle, wo jemand gräbt.«
»Gräbt?«
»Ja«, sagte Sam. »Wahrscheinlich ist es eine Gruppe von fünf oder sechs Männern, die mit Spaten oder Schaufeln Löcher graben. Wenn wir sie früh genug finden, ertappen wir sie vielleicht dabei, wie sie den Boden mit elektronischen Geräten absuchen. Wir würden sie uns gern genauer ansehen, ohne jedoch den Eindruck zu vermitteln, wir wären besonders an ihnen interessiert.«
»Da fällt mir etwas ein«, sagte Emil. »Tibor meinte, sie bräuchten Ferngläser.« Er öffnete ein Ablagefach, zog zwei Ferngläser an ihren Tragriemen heraus und reichte sie den Fargos nach hinten
»Danke, Emil«, sagte Remi. »Wir sind wirklich sehr froh, dass Sie so kurzfristig verfügbar waren.«
»Das bin ich auch«, sagte er. »Ich bekomme meist keine besonders interessanten Aufträge. Oftmals bringe ich Touristen zu Sehenswürdigkeiten, die sie am Vortag von ebener Erde aus betrachtet haben. Ab und zu fliege ich auch mal einen Geschäftsmann, der schnell in Budapest oder irgendwo anders sein muss.«
»Hoffen wir, dass dies hier nicht allzu interessant wird.«
Nach kurzer Zeit meldete Emil: »Wir sind jetzt dicht vor der ungarischen Grenze.« Er deutete nach unten auf den Fluss. »Ab jetzt folgen wir dem Verlauf der Donau.«
Die Donau war breit und wand sich majestätisch an den Erhebungen in der Landschaft vorbei. Auf dem Fluss herrschte reger Boots-und Schiffsverkehr. In dichter besiedelten Gebieten reichten die hohen Gebäude bis an das Flussufer heran. »Der Fluss markiert eine internationale Grenze, aber wir sind in Ungarn, wenn wir auf die nördliche Seite wechseln.«
»Bleiben Sie wenn möglich über Land«, bat Sam. »Wir suchen nach alten Gräbern. Dabei vermuten wir, dass sie wahrscheinlich auf höher gelegenem Grund und in einiger Entfernung vom Fluss angelegt wurden, damit sie bei Hochwasser nicht ausgewaschen werden.«
»Ich verstehe«, sagte Emil. Sie flogen von Osten nach Westen an der Donau entlang. Wenn sie auf eine Gegend stießen, die aussah, als sei dort gegraben worden, oder wenn in deren Nähe Lastwagen und Erdräummaschinen parkten, baten Sam und Remi ihren Piloten, für einen Moment darüber in der Luft stehen zu bleiben, damit sie sich einen besseren Überblick verschaffen konnten.
Sie kamen an einem Gelände vorbei, das aus ihrer Perspektive einen seltsamen Eindruck machte, und gingen in den Schwebeflug. Etwa einhundert Meter nördlich des Flusses stand ein altmodisches Gebäude mit buttergelber Fassade und einem französischen Garten, der von einem dichten Netz von Wegen durchzogen wurde. Auf den Rasenflächen, den Blumenbeeten und den Wegen waren mindestens ein Dutzend Männer mit Schaufeln zu sehen, die damit beschäftigt waren, unterschiedlich große Erdgruben auszuheben. Ein weiteres Dutzend Männer ging mit Metalldetektoren kreuz und quer über das Gelände, während zwei andere Männer Magnetometer auf Rädern wie Rasenmäher vor sich her schoben.
Emil überflog das Anwesen ein zweites Mal, und was Remi und Sam jetzt sahen, traf sie wie ein Schock. Bakos Männer hatten bereits mehrere Gräber gefunden und geöffnet. Große Steine lagen neben offenen Gruben, und daneben im Gras verstreut waren menschliche Skelette und Haufen von Metallteilen zu erkennen, die in Kisten eingepackt wurden. Sam holte sein Mobiltelefon hervor.
»Hallo?«
»Albrecht«, sagte Sam. »Wir haben schlechte Nachrichten. Ich weiß nicht, wie Bako es diesmal geschafft hat, aber meine Verzögerungstaktik hatte keinerlei Erfolg. Er befindet sich mit zwanzig bis dreißig Mann auf einem Anwesen nördlich der Donau. Dort öffnen sie gerade Gräber und plündern sie. Bis jetzt sind vier oder fünf offen.«
»Dann müssen wir uns beeilen«, sagte Albrecht Fischer. »Ich benachrichtige unsere Freunde an der Universität in Szeged und veranlasse die Behörden, dass sie sofort tätig werden und die Arbeiten stoppen. Können Sie mir die genaue Position nennen?«
»Das kann unser Freund Emil ganz sicher tun.«
»Sagen Sie ihnen, dass es das Anwesen von Graf Vrathy am südlichen Ende von Szeged ist. Mittlerweile ist in dem Haus ein Museum untergebracht. Wahrscheinlich ist es um diese Uhrzeit geschlossen, und sie werden wohl den Wachmann überwältigt haben.«
»Ich hab’s«, meldete Albrecht. »Tausend Dank.« Er legte auf.
Sam wählte eine weitere Telefonnummer. »Tibor, wir sind mit Emil im Helikopter unterwegs.«
»Ich müsste taub sein, würde ich die Rotoren nicht hören.«
»Bakos Männer haben die Königsgräber der Hunnen am Nordufer der Donau auf dem Vrathy-Anwesen gefunden. Was können Sie mir über Bako und die Gruppe erzählen, die er nach Rumänien mitgenommen hat.«
»Sie sind noch nicht aus Transsilvanien zurückgekehrt.«
»Es scheint, als ersetze er Qualität durch Quantität, indem er zwanzig bis dreißig Männer aus seinem Betrieb als Gräber einsetzt. Wir müssen sie daran hindern, den Schatz zu verstecken.«
»Sam!«, sagte Remi laut.
»Warten Sie einen Moment, Tibor.« Er wandte sich an Remi. »Was ist los?«
»Sie haben ein großes Boot am Ufer vertäut.«
»Tibor? Sie wollen den Schatz in ein Boot laden. Von hier oben sieht es wie eine Fünfzig-Fuß-Jacht aus. Sie graben nach wie vor, darum wird es wohl noch eine ganze Weile dauern. Aber wir müssen von jetzt an immer wissen, wo sich die Jacht gerade befindet.«
»Ich schicke Männer oberhalb und unterhalb des Vrathy-Anwesens an den Fluss, um zu beobachten, wohin das Boot verschwindet.«
»Gut. Danke. Und Remi und ich werden die Ausrüstung brauchen, die wir auf dem Boot auf der Theiß zurückgelassen haben. Wir brauchen unsere Tauchgeräte, das Werkzeug und einen Kastenwagen.«
»Ich rufe meinen Vetter an.«
»Und bitten Sie ihn, dafür zu sorgen, dass die Pressluftflaschen gefüllt werden.«
»Ich melde mich, wenn wir so weit sind.«
Sam, Remi und Emil kehrten in den Luftraum über dem Anwesen zurück und flogen dann weiter, als transportierten sie etwas auf einer Route, die sie nur zufällig das Anwesen hatte überqueren lassen. Nach etwa anderthalb Stunden war das Boot beladen, und die Männer mit Schaufeln und anderem technischem Gerät waren in die Lastwagen gestiegen und hatten ihren Arbeitsplatz verlassen.
Sam beugte sich vor, um mit ihrem Piloten zu sprechen. »Emil«, sagte er, »Sie haben einen ganz großartigen Job gemacht. Möglich, dass wir Ihre Dienste noch einmal in Anspruch nehmen müssen. Kennen Sie einen Ort im Umkreis von drei Kilometern, an dem Sie uns ungesehen absetzen können?«
»Ja«, antwortete der Angesprochene. »Nicht weit von der Universität gibt es einen geeigneten Landeplatz. Dort kann ich Sie aussteigen lassen.«
Er überquerte mit ihnen die Stadt und landete den Hubschrauber dann auf einem großen X am Ende eines Parkplatzes. »Da wären wir«, meinte er.
»Was schulden wir Ihnen?«, fragte Sam.
»Nichts. Tibor hat mich im Voraus für den Tag bezahlt.«
Sam reichte ihm fünfhundert Dollar. »Dann betrachten Sie dies bitte als kleines Dankgeschenk unsererseits.«
Emil revanchierte sich mit seiner Visitenkarte. »Ich weiß, dass Sie kein Ungarisch verstehen«, sagte er zu Sam, »aber Sie können ja die Telefonnummer lesen. Rufen Sie einfach an, wann Sie wollen, tagsüber oder nachts. Wenn ich Ihnen nicht helfen kann, finde ich sicherlich jemanden, der es kann.« Sie wechselten einen Händedruck, Sam und Remi stiegen aus, und der Helikopter stieg auf und entfernte sich.
»Weißt du«, sagte Remi nachdenklich. »Ich frage mich immer wieder, was mit diesem Bischof geschehen ist, der sich das erste Mal an diesen Gräbern vergriffen und sie ausgeraubt hat.«
»Ich denke, sein Ruf, besonders clever zu sein, war wohl ein wenig übertrieben.«
»Du glaubst, dass Attila und Bleda ihn getötet haben?«
»Für seine Leute war er ein Verräter. Für die Hunnen war er ein Grabräuber. Es würde mich sehr überraschen zu erfahren, dass er im Bett gestorben ist.«
»Mal sehen, ob die gleichen Dinge Bako ebenfalls Unglück bringen.«
Sams Telefon summte. »Hallo?«
»Ich bin’s – Tibor. Wo sind Sie gerade?«
»Auf dem Helipad der Universität in Szeged.«
»Bleiben Sie dort.«
Fünf Minuten später erschien ein weißer Kastenwagen in der Einfahrt des Parkplatzes und rollte zügig auf sie zu. Als er anhielt, stiegen Sam und Remi zu Tibor Lazar ins Führerhaus.
Er begrüßte sie und sagte: »Meine Cousins melden, dass die Jacht ein Stück vom Ufer entfernt vor Anker liegt. Bakos Männer haben fünfzehn Holzkisten gefüllt und ins Rettungsboot geladen. Dann haben sie die Kisten zur Jacht gebracht und auf dem Deck aufgestapelt. Also nehmen wir an, dass sie Vorbereitungen treffen, um die Artefakte auf dem Wasserweg abzutransportieren. Die Donau fließt durch Deutschland, Österreich, Ungarn und Rumänien ins Schwarze Meer. Außerdem hat sie zahlreiche Zuflüsse. Sie können wer weiß wohin verschwinden, ohne irgendwo einen Fuß auf Land setzen zu müssen.«
»Ist die Polizei schon eingetroffen?«
»Offenbar noch nicht.«
»Na schön«, sagte Sam. »Mal sehen, ob wir Bako die Laune verderben können.«
Tibor Lazar schlug Sam kräftig auf die Schulter. »Ich bin froh, dass ich Sie beide kennengelernt habe. Seit ich ein Kind war, hat mich niemand so oft zum Lachen gebracht.«
Sam massierte seine Schulter. »Okay. Bringen wir den Lastwagen zu einer Stelle, von wo aus wir die Jacht sehen können.«
Tibor fuhr mit ihnen zu der Straße, die parallel zur Donau verlief, und bog auf ihr nach Osten ab. Nach ein paar Minuten machte die Straße einen leichten Schwenk landeinwärts, um einer Reihe alter Anwesen am Flussufer auszuweichen. Als sie wieder zum Fluss zurückführte, deutete Tibor aufs Wasser. »Dort ist sie. Sehen Sie sie?«
»Das Boot mit der hohen Kommandobrücke?«
»Genau das.« Die Jacht war zwanzig Meter lang und verfügte über ein Rettungsboot aus Aluminium, das an Davits über dem Heck hing.
»Okay«, sagte Sam. »Remi und ich müssen unsere Tauchausrüstung anlegen.«
»Hinten im Lastwagen sitzen zwei Neffen von mir. Ich hole Sie heraus, damit Sie sich dort umziehen können.« Er stoppte den Lkw am Straßenrand, öffnete die Hecktür und ließ die jungen Männer aussteigen, so dass Sam und Remi eine geräumige Umkleidekabine hatten, in der sie ungestört in ihre Nasstauchanzüge schlüpfen und ihre Tauchgeräte einsatzbereit machen konnten.
Sam testete die Unterwasserlampe und überprüfte das Werkzeug, das er bestellt hatte. Dann verstaute er alles in einem Tragnetz, das er an seinem Gürtel befestigte. »Wir lassen uns mit der Strömung zum Boot treiben. Dort angekommen, musst du die Lampe halten, damit ich sehen kann, woran ich arbeite. Ich versuche, mich zu beeilen.«
Remi musterte ihn argwöhnisch. »Willst du mir nicht verraten, woran du arbeitest?«
»Ich weiß doch, wie sehr du Überraschungen liebst. Aber steig auf keinen Fall auf. Bleib so tief du kannst.«
Tibor Lazars Neffen halfen Sam und Remi, auf einem schmalen Weg zum Wasser hinunterzugehen. Der Weg verlief auf der anderen Seite des Lastwagens, wo sie von der Jacht aus nicht zu sehen waren. Sie schlüpften in ihre Schwimmflossen und wateten rückwärts in die dunklen Fluten der Donau. Sobald das Wasser tief genug war, gingen sie auf Tauchstation.
Die große weiße Jacht lag mindestens einhundert Meter vom Ufer entfernt und ankerte am Rand des Kanals, auf dem größere Boote und kleine Frachter unterwegs waren. Sam und Remi nahmen Kurs auf die Jacht, blieben aber tief im trüben Wasser und überprüften ihre Fortschritte, indem sie den Lichtstrahl ihrer Lampe gelegentlich auf das Flussbett richteten und den Bereich ausleuchteten.
Schließlich fand Remi die Ankerkette etwa dort, wo sie sie auch erwartet hatten. Sie erschien als eine gerade diagonale Linie, die sich von einem Punkt stromaufwärts zu dem dunklen Schatten an der silbrig glänzenden Wasseroberfläche spannte.
Sam gab Remi mit der Hand ein Zeichen und stieg langsam zum Bootsrumpf auf, ohne ihn jedoch zu berühren. Er ließ sich am Kiel entlang zum Heck treiben und betrachtete den Propeller, der an seiner Welle aus dem unteren Teil des Hecks herausragte.
Remi griff nach seinem Arm, und Sam sah im Licht der Lampe, die sie in der Hand hielt, wie sie den Kopf schüttelte. Er konnte durch die Glasscheibe der Tauchmaske die Besorgnis in ihren Augen erkennen. Er legte eine Hand auf ihre Schulter, tätschelte sie leicht, nahm dann ihre Hand und richtete die Lampe auf den Propeller. Sie wussten beide, dass Sam innerhalb von Sekundenbruchteilen zerhackt würde, wenn den Männern im Boot gerade jetzt einfallen sollte, den Motor zu starten.
Sam ging methodisch an die Sache heran. Zuerst suchte er den Kurbelkeil und zog ihn mit einer Nadelzange aus der Gewindespindel. Mit der Zange entfernte er den Sicherungsring, verstaute die Zange dann im Netz an seinem Gürtel und verkeilte einen Schraubenschlüssel zwischen zwei Propellerflügeln und dem Bootsheck, damit sich der Propeller nicht drehen konnte, während er die Schraubenmutter mit einem verstellbaren Schraubenschlüssel abdrehte. Er stemmte einen Fuß gegen den Bootsrumpf und zog den Bronzepropeller von der Welle, dann schwamm er damit ein Stück in den tieferen Kanal, ehe er den Propeller einfach fallen ließ, so dass er in der Tiefe verschwand.
Nun kehrte er zum Heck der Jacht zurück und tauchte vorsichtig wieder auf. Er zog die Schwimmflossen aus, legte Pressluftflaschen und Maske ab, hängte alles an die Propellerachse und stieg dann über die Heckleiter an Bord.
Als er das Achterdeck gerade betreten wollte, gewahrte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung zu seiner Linken. Er wirbelte herum und sah schräg hinter sich einen Mann, der mit etwas ausholte, das wie ein Stück Stahlrohr aussah. Sam warf sich dem Mann entgegen, so dass der Schlag über ihn hinwegging, versetzte ihm einen Kinnhaken und nahm ihn in einen Würgegriff, bis der andere das Bewusstsein verlor. Sam fand eine Leine, fesselte seinen Gegner damit, zerriss sein Hemd und stopfte es ihm als Knebel in den Mund.
Sam sah, dass die Kisten auf dem Achterdeck mit einer Plane bedeckt waren. Er zog die Plane weg und hievte zehn Kisten ins Rettungsboot am Heck der Jacht. Sie waren schwer, und es kostete ihn eine Stunde mühsamer Arbeit. Dann warf Sam die Bugleine ins Wasser und öffnete an den Davits zwei Sperrriegel, um das Boot in den Fluss hinabzulassen. Das Rettungsboot gab ein unerwartet lautes Knirschen von sich, als es mit gelinder Wucht auf dem Wasser aufschlug. Hinter Sam erklang das Geräusch rennender Füße, dann ein lauter Ruf: »Stashu?«
Sam sprang vom Heck ins Wasser, schnappte sich seine Pressluftflaschen, seine Tauchmaske und die Schwimmflossen von der Propellerachse, legte alles an und blies die Tauchmaske aus, während er versank.
Remi hatte die lose Bugleine gesehen und aufgefangen. Nun reichte sie Sam das Ende, und gemeinsam zogen sie daran. Während sie und Sam wieder auf Tauchstation gingen, schleppten sie das Rettungsboot hinter sich her. Gleichzeitig drehte sich Sam mehrmals zu der Jacht um und vergewisserte sich, dass kein Mannschaftsangehöriger auf die Idee kam, ins Wasser zu springen, um sie zu verfolgen.
Zuerst waren gedämpfte Schüsse von der Jacht zu hören, aber nach jedem dumpfen Knall hörten sie ein kurzes Plätschern, wenn eine Kugel ins Wasser drang und nach einer kurzen Strecke von höchstens anderthalb Metern – begleitet von einem Wasserwirbel und einer kleinen Wolke Luftblasen – gebremst wurde, um in der Dunkelheit unter ihnen zu verschwinden.
Als Nächstes hörten Sam und Remi, wie der Motor gestartet wurde, und wussten gleichzeitig, dass die Propellerwelle ohne Widerstand rotierte. Ohne den Propeller war der Motor nicht mehr als eine Lärmquelle. Anfangs durchschaute der Steuermann die Situation nicht, sondern gab Vollgas, während die Mannschaft am Bug den Anker mit einer Winde hochzog.
Sobald sich der Anker aus dem Schlick auf dem Grund des Flusses befreit hatte, begann die Jacht stromabwärts zu treiben, da sie nicht gegen die Strömung ankämpfen oder in irgendeiner Weise gesteuert werden konnte. Trotzdem wurde der Anker an Bord gehievt, und das Boot entfernte sich immer weiter von Sam, Remi und dem Rettungsboot. Irgendwann stoppte der Motor, aber da war die Jacht schon so weit abgetrieben, dass Sam und Remi ihn bei dem Lärm anderer Bootsmotoren über ihnen auf der Donau nicht mehr identifizieren konnten. Sam vermutete, dass sie wahrscheinlich wieder Anker werfen würden, aber mittlerweile war die Jacht so weit abgetrieben, dass sie im trüben Wasser gar nicht mehr zu erkennen war.
Sam und Remi gelangten ans Ufer und zogen das Rettungsboot auf die schlammige Böschung. Fast im selben Moment tauchten die beiden stämmigen Neffen neben ihnen auf, holten die Kisten aus dem Boot und luden sie in den Lastwagen. Sam und Tibor Lazar halfen ihnen. Die Kisten wogen dank ihres wertvollen Inhalts ungewöhnlich viel, aber die zehn Kisten waren innerhalb weniger Minuten umgeladen. Sam und Remi schwangen sich auf die Ladefläche, die beiden jungen Männer stiegen zu Tibor Lazar ins Führerhaus, und der Lastwagen startete schwankend zu seiner Fahrt in die große pulsierende Stadt.
Während Remi ihre Ausrüstung ablegte und sich aus dem Nasstauchanzug schälte, um in ihre Straßenkleidung zu schlüpfen, sagte sie: »Noch sind wir hier nicht fertig, solltest du wissen. Wir müssen erst noch Attilas Botschaft suchen. Sie dürfte sich in einem der Gräber befinden.«
»Hoffen wir lieber, dass wir zurzeit von Albrecht Fischers Kollegen und nicht von Arpad Bako erwartet werden.«