17
FLUGHAFEN CHARLES DE GAULLE, PARIS
»Der traurigste Schatz von allen ist der dritte. Er liegt im Grab meines Bruders Bleda, der auserwählt war, auf dem Mureş bei Apulum zu sterben.«
»Ich habe keine Ahnung, wo das ist«, sagte Remi zu Albrecht Fischer und Selma Wondrash.
»Das ist durchaus verständlich, aber ich zweifle nicht daran, dass Bako Bescheid weiß, sobald er die Botschaft auf dem Schild liest«, sagte Fischer. »Apulum ist der römische Name der Stadt, die die Römer zur Hauptstadt Dakiens gemacht haben. Letzteres war eine Provinz des römischen Reichs von der Zeit Kaiser Hadrians bis zum Jahr 271 nach Christus. Dakien ist die erste römische Provinz gewesen, die während der Verkleinerung des Imperiums aufgegeben wurde. Die Stadt dürfte den Menschen in Mitteleuropa zur Zeit Attilas vertraut gewesen sein, daher wird auch jeder sie kennen, der sich eingehender mit Attila beschäftigt. Und natürlich ist der Mureş der Fluss, der in Bakos Heimatstadt Szeged in die Theiß mündet. Apulum trägt mittlerweile den Namen Alba Iulia und liegt in Transsilvanien, also einem Teil Rumäniens.«
»Wir müssen so oder so versuchen, ihm zuvorzukommen«, sagte Sam. »Da wir noch Zeit haben, ehe wir in unsere Maschine nach Bukarest einsteigen müssen, können Sie uns erzählen, was Sie über Bledas Grab wissen.«
»Attila nennt es eine traurige Geschichte, und die ist es wirklich«, berichtete Albrecht Fischer. »Im Jahr 434 wurden Attila und Bleda zu Herrschern über die Hunnen bestimmt, als der letzte König, ihr Onkel Rua, starb. Dass die Königswürde geteilt wird, kam in der Geschichte nur äußerst selten vor, und dieser Fall mag als Beweis dafür betrachtet werden, dass der jüngere Bruder, Attila, eine herausragende Persönlichkeit war – ein großer Kämpfer, ein bedeutender Führer und dazu auch noch ungemein charismatisch. Die beiden Brüder herrschten etwa zehn Jahre lang mit großem Erfolg. Sie handelten in völliger Übereinkunft miteinander, als wären sie eine Person mit zwei Augenpaaren und der Fähigkeit, an zwei Orten gleichzeitig zu sein. Unter ihrer Herrschaft wurden die Hunnen stärker und im Zuge ihrer kriegerischen Unternehmungen reicher und gefürchteter. Dann, in den Jahren 444 und 445, gab es eine kurze Periode des Friedens. Wie andere Könige in Friedenszeiten beschäftigten sich die Brüder in dieser Zeit mit der Jagd und anderen Vergnügungen. Im Jahr 445 ritten Bleda und Attila nach Osten in die transsilvanischen Wälder, um Bären und Hirsche zu jagen. Was in diesen Wäldern tatsächlich geschah, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Es wird aber angenommen, dass Attila die Gelegenheit nutzte, um einen Jagdunfall zu inszenieren, bei dem sein Bruder ums Leben kam, so dass er alleiniger Herrscher sein konnte. Ich habe immer die andere Version vorgezogen, und die Inschrift in dem Schild scheint mir Recht zu geben.«
»Und wie lautet die andere Version?«
»Dass der Jagdausflug ein Versuch des älteren Bruders Bleda war, Attila in die Wildnis zu locken, wo nur noch ihre engsten Vertrauten zugegen waren, und ihn dort zu töten. Der Versuch misslang jedoch, Attila wehrte sich und tötete Bleda.«
»Was spricht für diese Version?«
»Einige Erkenntnisse der Geschwisterpsychologie. Das ältere Geschwister – vor allem ein männlicher Erbe – ist von Geburt an ein kleiner König und wird von allen verwöhnt. Wenn das jüngere Geschwister geboren wird, verliert der Erstgeborene seinen bevorzugten Platz an der Mutterbrust und fühlt sich in jeder Hinsicht bedroht. Es ist immer der Ältere, der sich zurückgesetzt fühlt, der Neid empfindet und sich von seinem eigenen Bruder, seiner Familie und der Gesellschaft betrogen betrachtet, nämlich um seine rechtmäßige Position. Daher ist er naturgemäß der aggressivere von beiden. Der jüngere Bruder ist gewöhnlich der ahnungslose Störenfried, der leicht überrumpelt werden kann. Was diesen Fall jedoch von allen anderen unterschied, war, dass Attila gar nicht so arglos oder leicht zu überrumpeln war. Wäre es nämlich so gewesen, würde es gar nicht zu dem passen, was wir über ihn wissen. Er war der geborene Kämpfer, hatte als Geisel am Hof des Kaisers in Rom gelebt und konnte wahrscheinlich eine Verschwörung bereits einhundert Meilen gegen den Wind wittern.«
»Welcher Beweis für diese Deutung ist in der Inschrift enthalten?«, fragte Remi.
»Er sagte, Bleda wurde ›auserwählt‹ zu sterben. Er starb also nicht einfach. Sondern das Schicksal oder Gott haben einen der Brüder dem anderen vorgezogen, ihn begünstigt. Das legt die Vermutung nahe, dass es beide hätte treffen können – wie bei einem Zweikampf. Außerdem ist dies bis zu diesem Zeitpunkt einer der traurigsten Todesfälle in Attilas Leben. Er hatte bereits seine Mutter, seinen Vater, seinen Onkel und, soweit wir wissen, zwei Ehefrauen verloren. Was Bledas Tod aber noch viel schlimmer erscheinen ließ, war die Tatsache, dass er Attila praktisch zwang, ihn zu töten.«
»Es ist grässlich«, sagte Remi, »aber je länger ich darüber nachdenke, desto wahrscheinlicher kommt es mir vor.« In diesem Moment wurden die Passagiere aufgefordert, sich an Bord der Maschine nach Bukarest zu begeben. »Danke, Albrecht. Wir melden uns wieder, sobald wir gelandet sind.« Eilig wählte sie Tibor Lazars Nummer.
»Ja?«
»Wir sind’s – Remi und Sam«, antwortete sie. »Die Adresse in Frankreich, die Sie uns gegeben haben, war korrekt. Alles hat geklappt. Wir haben den Schatz den französischen Behörden zur Aufbewahrung übergeben. Unser nächstes Ziel liegt in Transsilvanien irgendwo auf dem Mureş in der Nähe von Alba Iulia. Wir sind schon dorthin unterwegs. Aber Bako hat die Inschrift ebenfalls. Können Sie vielleicht …«
»Wir beobachten sie rund um die Uhr«, unterbrach Tibor Lazar sie. »Wir wissen jederzeit ganz genau, was sie vorhaben und wohin sie wollen.«
»Danke, Tibor. Unser Flug wird bereits aufgerufen. Wir melden uns dann aus Bukarest.« Sie schaltete das Mobiltelefon aus, und sie und Sam schlossen sich der Menschenschlange an, die durch die zusammenfaltbare Gangway zur Maschine schlenderte.
Das Flugzeug rumpelte die Rollbahn hinunter und erhob sich in die Luft. Als es seine Reisehöhe erreichte, den Steigflug beendete und die Leuchtschrift »Bitte anschnallen« erlosch, klappte Remi die Armlehne zwischen sich und Sam hoch, lehnte den Kopf an seine Schulter und schlief sofort ein. Die ununterbrochene Hetzjagd von einem Land ins andere, die nächtliche, körperlich so schwere Arbeit und die Suche bei Tageslicht hatten sie erschöpft. Wenig später fielen auch Sam die Augen zu.
Sie wachten auf, als der Pilot den Anflug auf Bukarest ankündigte. Nachdem sie die rumänischen Zollformalitäten erledigt hatten, übernahmen sie ihren Mietwagen. Während sie nach Alba Iulia fuhren, las Remi einen historischen Abriss über Attila und seinen Bruder Bleda, den sie auf dem Flughafen in Paris auf ihr Mobiltelefon heruntergeladen hatte.
»Hier heißt es, dass sich in Bledas Gefolge ein berühmter maurischer Zwerg namens Zerco befunden hat. Bleda war derart von ihm angetan, dass er eine spezielle Mini-Rüstung für ihn anfertigen ließ, damit er ihn bei all seinen Kriegszügen begleiten konnte.«
»Ich glaube, an Zercos Stelle hätte ich liebend gern auf diese Ehre verzichtet«, sagte Sam. »Es muss für ihn gewesen sein, als zöge er in einen Kampf gegen vier Meter große und tausend Pfund schwere Riesen.«
»Ich nehme an, sich der Gunst und des Schutzes eines Königs erfreuen zu dürfen, war ein solches Risiko sicherlich wert.«
Sam schwieg einen Moment lang und überlegte. »Wird an irgendeiner Stelle erwähnt, was Zerco tat, nachdem Bleda getötet wurde?«
»Nein«, antwortete Remi. »Aber das will nicht viel heißen. Dies ist nur ein Reiseführer und keine wissenschaftliche historische Abhandlung.«
Sie fuhren ohne Zwischenstopp direkt zu ihrem Hotel in Alba Iulia. Nachdem sie in dem Hotel eingecheckt hatten, rief Sam Tibor Lazar auf seinem Mobiltelefon an.
»Ja?«
»Wir sind jetzt in Alba Iulia«, berichtete Sam. »Gibt es irgendwelche Neuigkeiten?«
»Ja, aber sie sind ausnahmslos schlecht«, antwortete Tibor Lazar. »Bako ist noch zu Hause. Er arbeitet in diesem Moment im Büro seiner Fabrik. Aber seine fünf bevorzugten Sicherheitsleute haben gepackt und sind gestern nach Rumänien aufgebrochen. Mein Bruder und zwei Vettern folgen ihnen, und soweit man feststellen kann, werden sie zu Ihnen unterwegs sein.«
»Danke für diese Aufmunterung«, sagte Sam sarkastisch.
»Sie fahren in zwei Autos, beides sind amerikanische SUVs, beide neu, beide schwarz mit getönten Fenstern. Sie sind heute Morgen schon sehr früh gestartet, also dürften sie längst dort sein. Sollten Sie sie sehen, achten Sie lieber darauf, von ihnen nicht gesehen zu werden.«
»Danke, Tibor. Wir schauen uns sorgfältig um, ehe wir irgendetwas unternehmen.«
»Viel Glück.« Lazar trennte die Verbindung.
Remi hatte einen Vorschlag. »Wir können uns einen zentralen Platz in der Stadt suchen und dort nach ihnen Ausschau halten.«
»Diesmal nicht. Sie wissen, dass wir Gelegenheit hatten, die Inschrift auf dem Schild zu lesen, ehe sie sie zu Gesicht bekamen, und sie werden sich bestimmt beeilen hierherzukommen. Sie müssen von den Leuten der Compagnie Le Clerc benachrichtigt worden sein und sind gewiss innerhalb einer Stunde aufgebrochen. Wenn Bako nicht bei ihnen ist, kommen sie bestimmt nicht wegen eines guten Hotels oder Restaurants ins Stadtzentrum. Ich denke, sie suchen das Grab, selbst wenn sie deswegen gezwungen wären, im Wald auf dem nackten Erdboden zu schlafen.«
Sie kehrten zu ihrem Wagen zurück, fuhren zum Mureş und folgten der Straße, die an ihm entlangführte. Dabei hielten sie Ausschau nach einem Hinweis, der auf ein unzerstörtes Stück alten Mauerwerks hindeutete. Sie fuhren zwei Stunden lang in diese Richtung, dann kehrten sie um und nahmen sich die andere Flussrichtung vor. Wenig später klingelte Sams Mobiltelefon.
»Hallo?«
»Sam, ich bin’s noch mal – Tibor. Bako ist eben nach Hause zurückgekehrt und mit zwei Männern herausgekommen. Bekleidet waren sie, als wollten sie auf Safari gehen. Dann kam ein dritter Mann mit einem Lastwagen vorgefahren. Ich denke, das könnte bedeuten, dass Bako von seinen Männern den Anruf erhalten hat, sie hätten die Grabkammer gefunden. Ich folge ihnen in einigem Abstand mit einem Wagen und habe auch schon einen zweiten Wagen bereitstellen lassen, der mich bei Bedarf ablöst, damit sie mich nicht bemerken.«
»Dies ist schon die zweite Gruft, bei der sie uns zuvorgekommen sind«, stellte Sam fest.
»Bisher haben Sie aber beide Schätze gesichert, und vielleicht gelingt es diesmal wieder«, sagte Tibor. »Auch dieser kann immer noch zu einem Museum geschickt und davor bewahrt werden, in Bakos Bank zu Goldbarren eingeschmolzen zu werden.«
»Wir versuchen wenigstens das zu erreichen.«
»Ich rufe als Nächstes meinen Bruder an, um zu erfahren, was Bakos Männer gefunden haben.«
»Ich warte auf Ihre Nachricht«, sagte Sam, beendete das Gespräch und sagte zu Remi: »Während wir warten, können wir auch gleich zu Mittag essen.« Sie fahren ins Zentrum von Alba Iulia und entschieden sich für ein Café, aus dem sie die Kathedrale aus dem zwölften Jahrhundert und zwei der sieben Tore in der Stadtmauer sehen konnten. Den ältesten Bauten der Stadt mit ihren runden Fensterbögen und den gedrungenen mehrstöckigen Türmen war ihre römische Herkunft deutlich anzusehen. Sam legte das Mobiltelefon auf den Tisch.
Sie bestellten Rosól, ein Eintopfgericht mit Entenfleisch und Gemüse, tranken dazu einen roten Bǎbeascǎ Neagrǎ und hatten soeben erst mit einer Portion Backlava zum Dessert begonnen, als Sams Telefon wieder klingelte. Sie sahen einander an, dann auf das Telefon. Sam hob es schließlich hoch. »Hallo, Tibor.«
»Sie befinden sich in einem Wald östlich der Stadt, und es sieht so aus, als hätten sie ein tiefes Loch gegraben. Dann haben sie die Arbeit aber unterbrochen. Offenbar warten sie mit dem Betreten der Gruft auf Bakos Ankunft. Ich vermute, er möchte diesmal der Erste sein.«
»Wo befindet sich Bako zurzeit?«
»Er ist noch immer knapp fünfzig Kilometer entfernt, und wir fahren am Mureş entlang. Mein Bruder und meine Cousins beobachten die Leute an der Grabkammer, aber sie können nicht viel tun. Es ist zu spät, um Bako daran zu hindern, als Erster dort einzutreffen.«
Sam dachte kurz nach. »Na schön. Dann sollten wir unsere Truppen von dem Schatz abziehen.«
»Davon abziehen?«
»Ja. Beschreiben Sie mir den Fundort, und dann holen Sie alle Leute zurück nach Ungarn. Remi und ich sehen uns mal an, was wir tun können.«
»Und was haben Sie vor?«
»Wenn es zu spät ist, Bako daran zu hindern, den Schatz zu finden, dann versuchen wir wenigstens, ihn davon abzuhalten, ihn nach Hause mitzunehmen.«
»Wie?«
»Ich denke mir unterwegs irgendetwas aus.«
»Ihnen wird sicher etwas einfallen. Ich habe viele Freunde, aber nicht einer hat einen Verstand wie Sie – eine Maschine, die eine verrückte Idee nach der anderen ausbrütet.«
»Er hat dich durchschaut«, stellte Remi fest.
»Vielen Dank, Tibor. Bitte holen Sie Ihren Bruder und Ihren Vetter nach Szeged zurück. Und achten Sie darauf, dass jeder von Ihnen auf einer anderen, nicht allzu direkten Route nach Hause fährt.«
»Ich rufe Sie an, um Ihnen den genauen Ort zu nennen.«
»Danke.« Sam sah Remi an.
»Wir meinen beide, dass es gute verrückte Ideen sind.« Sie küsste ihn auf die Wange.
Das Telefon klingelte so frühzeitig, dass Sam und Remi beinahe erschraken. Sam schaltete es ein, und Tibor Lazars Stimme sagte: »Ich bin jetzt dicht dran und kann erkennen, wo Bako angehalten hat. Der Punkt ist fünf Kilometer von der östlichen Stadtmauer von Alba Iulia entfernt. Es ist eine dicht bewaldete Gegend am Anfang eines Wanderwegs. Dort gibt es einen Park-und Picknickplatz. Da stehen auch die beiden schwarzen SUVs und der Lastwagen.«
»Gut«, sagte Sam. »Wir sind schon unterwegs.«
»Sind Sie ganz sicher, dass ich nicht bleiben soll?«
»Absolut. Haben Sie Ihre Vettern nach Hause geschickt?«
»Ja.«
»Hervorragend. Dann machen Sie sich jetzt am besten auch auf den Weg zur Grenze, aber nehmen Sie eine andere Route.«
»Wie Sie meinen. Dann fahre ich gleich los.«
»Viel Glück.«
»Das Gleiche wünsche ich Ihnen auch. Sie werden es brauchen.«
Sam und Remi rollten an der Stelle vorbei, die Tibor Lazar beschrieben hatte, und fuhren weiter. Sie fanden einen zweiten Parkplatz und einen markierten Weg, von dem sie annahmen, es sei das andere Ende des von Lazar genannten Wanderwegs. Sie wendeten und fuhren an den geparkten Fahrzeugen vorbei zur ungarischen Grenze.
Sie passierten Alba Iulia und gelangten ein paar Kilometer weiter in eine bergigere Region. Die Schnellstraße wurde schmaler, gewundener und seitlich von nahezu senkrechten Wänden aus Fels, Bäumen, dichtem Gestrüpp und Schlingpflanzen begrenzt. Sam fuhr weiter und suchte die geeignete Stelle zum Anhalten.
Schließlich glaubte er, das Passende gefunden zu haben. Es war ein etwa einen halben Kilometer langer Straßenabschnitt, der in einer S-Kurve verlief, dann anstieg und hinter einer Kuppe verschwand. In den Bergen Transsilvaniens standen die unberührtesten Wälder ganz Europas, daher waren sie dicht und nahezu undurchdringlich. Sam stoppte, dann fuhr er mit hoher Geschwindigkeit rückwärts bis zu einer Straßenbucht, die ein Ausweichen bei Gegenverkehr ermöglichte, schaltete den Motor aus und öffnete den Kofferraum.
Remi stieg aus und holte die beiden Spaten, das Kletterseil und ein Stemmeisen heraus. Als sie auch nach den Nachtsichtbrillen greifen wollte, meinte Sam: »Die Brillen können wir hierlassen.«
»Gut. Das heißt also, dass wir bis zum Einbruch der Dunkelheit fertig sind.«
»Wenn ich es mir genau überlege, ist es vielleicht doch besser, wenn wir sie mitnehmen.« Er nahm einen Spaten, das Stemmeisen und das Seil und begann die Wand an der Straßenseite zu dem felsigen Steilhang darüber hinaufzuklettern. Remi ergriff den zweiten Spaten und kletterte neben ihm her.
»Während wir uns sportlich betätigen«, sagte sie, »kannst du mir mal dabei helfen, einen passenden Titel für meine Memoiren zu finden. Wie gefällt dir zum Beispiel Remi: Eine Amerikanerin in den Kerkern Transsilvaniens? Oder wird damit zu viel verraten? Vielleicht reicht auch Remi: Frau hinter Gittern völlig aus.«
»Wie wäre es mit Frau im Glück: Mein Leben mit Sam Fargo?«
Sie lachte, dann verstärkte sie ihre Bemühungen, ihn zu überholen. Während sie sich höher und höher arbeiteten, erkannte sie, dass die Felsvorsprünge und die Krümmung der Straße es unmöglich machten, ihren Wagen zu sehen, der irgendwo unter ihnen parkte. Allerdings bedeutete es gleichzeitig, dass sie von der Straße nicht zu sehen waren. Jeder, der von dort unten nach oben schaute, sähe nur die Felswand.
Nach weiteren Minuten konzentrierten Kletterns erreichten sie die Bergkuppe, und Sam ging suchend ein paar hundert Meter daran entlang. Dann legte er los, mit dem Spaten zu graben.
»Ich hoffe, dass ich auf diese Art und Weise den Felsbrocken da locker kriege. Wenn er den Berghang hinabrollt, wie schwere runde Objekte es gewöhnlich tun, erzeugen wir einen ganz hübschen Erdrutsch, blockieren Bakos Straße nach Ungarn und können fröhlich unserer Wege ziehen.«
»Fröhlich? Bist du sicher?«
»Wenn es funktioniert, können wir uns freuen. Vorher müssen wir uns nur noch ein wenig anstrengen, schuften wie die Wilden und eine Menge Glück haben.« Er konzentrierte sich wieder darauf, Erdreich und Geröll wegzuschaufeln, die den anderthalb Meter hohen Felsbrocken etwa dreißig Meter über der Straße am Felshang festhielten. Remi ging auf die andere Seite des Felsbrockens und begann ebenfalls zu schaufeln.
Dann kam der Moment, als der Felsklotz auf dem Steilhang völlig frei zu liegen schien. Sie hatten ihn zur Hälfte ausgegraben, da sahen sie, dass der Untergrund unter seiner Basis ausgehöhlt war. Sam ging zu einem Schössling und suchte einen abgestorbenen, etwa drei Meter langen und etwa fünf Zentimeter dicken Ast aus. Dann rollte er einen kleineren Felsbrocken als Auflage für einen Hebel vor den Findling.
»Okay, Remi. Geh auf der Kuppe so weit, bis du sehen kannst, was sich unten auf der Straße tut. Wenn alles frei ist, dann gib mir ein Zeichen, dass ich den Felsen auf die Reise schicken kann.«
»Bin schon unterwegs.« Sie trottete unterhalb des Gipfelgrats entlang, blieb gelegentlich kurz stehen, um über einen Spalt zwischen den Steinen oder über ein Hindernis zu springen. Schließlich wartete sie in einiger Entfernung von Sam, hob einen Arm und winkte.
Er legte seinen Hebel auf den kleinen Felsen und schob ihn horizontal unter den Findling. Sam stand drei Meter von dem Felsen entfernt, so dass er die gesamte Länge des Hebels einsetzen konnte. Er drückte abermals dagegen, und dann ertönte hinter dem Felsbrocken – gerade als er sich zu rühren begann – ein Knirschen.
Der erste Versuch, den Felsklotz aus seiner stabilen Lage zu hebeln, schlug also fehl, daher setzte Sam sein Werkzeug erneut an. Er schaute hoch und sah, wie Remi ihm hektisch winkte. Er hielt inne.
Tief unter ihnen quälte sich ein Autobus die steile Straße hinauf. Der Fahrer schaltete mehrmals herunter, während sich sein Fahrzeug dem höchsten Punkt der Straße entgegenschleppte. Nach einer Minute winkte Remi abermals. Sam stemmte sich mit der Schulter gegen den Hebel und streckte beide Beine. Der Felsbrocken federte vor, federte zurück, und dann rollte er aus seinem Bett heraus. Zuerst bewegte er sich qualvoll langsam und rutschte lediglich, weil die oberste Erdschicht zu weich war, um zuzulassen, dass er hätte rollen können. Der Felsbrocken pflügte durchs Erdreich und durch die Vegetation. Er gelangte zu einem etwa zwei Meter tiefen Steilabbruch. Als er auf die nächste Ansammlung von Felsen aufschlug, schien er den Vorsprung zu zerschlagen, auf dem sie lagen, und schleuderte sie über die Kante. Der Felsbrocken überholte das lose Geröll, aber er hatte so viel Material von dem Berghang losgerissen, dass sich zuerst nur eine Lawine aus großen Steinen und Geröll und dann auch eine ganze Erdschicht mit ausgewachsenen Bäumen in die Tiefe ergoss. Die Bäume hielten sich aufrecht, bis Steine und Erde ihre Wurzeln bremsten und sie umrissen. Dazu erklang ein dumpfes Poltern von Tonnen abrutschenden Gesteins und berstender Baumstämme – dann herrschte nahezu absolute Stille.
Sam blickte nach unten. Der Erdrutsch bedeckte die Straße von Steilwand zu Steilwand. Etwa zehn Sekunden lang regneten noch kleine Steine, loses Geröll und Sand auf den Haufen herab, dann war es wirklich totenstill.
Sam schnappte sich Spaten, Seil und Stemmeisen und trottete am Bergkamm entlang zu Remi zurück. Ohne zu reden, benutzten sie beim Abstieg ihre Spaten, um ein Abstürzen und einen zweiten Erdrutsch zu vermeiden. Als sie die Straße erreichten, rannten sie zu ihrem Wagen, warfen ihr Werkzeug in den Kofferraum, wendeten und fuhren zurück in Richtung Alba Iulia. Remi kam es so vor, als sähen sie plötzlich erheblich mehr Personenwagen und Laster auf der Straße als vorher. Der Verkehr kam ihnen jetzt entgegen. Es dauerte etwa eine Viertelstunde, bis Sam zu anderen Fahrzeugen aufgeholt hatte, die in die gleiche Richtung fuhren wie sie.
»Ich hoffe, dass die Vettern alle rausgekommen sind, ehe wir die Straße gesperrt haben«, sagte Remi.
»Ganz bestimmt«, meinte Sam. »Wir haben Tibor genug Zeit gelassen. Was wir jetzt brauchen, sind Name und die Telefonnummer einer Institution oder Behörde, die den Antiquitätenschmuggel in Rumänien kontrolliert.«
»Ich rufe Selma an«, entschied Remi.
»Hi, Remi«, sagte Selma. »Tibor hat mir schon erzählt, Sie hätten sich entschlossen, allein weiterzumachen.«
»Die Gegenseite ist uns an Bledas Grab zuvorgekommen. Sam hat mir erklärt – wahrscheinlich auf Grund unserer Erfahrungen in Frankreich –, dass das Auffinden eines Schatzes, seine sichere Bergung und sein Abtransport drei völlig verschiedene Dinge sind. Wir erweitern jetzt unsere Möglichkeiten, indem wir auch noch die Rolle von Verrätern übernehmen. An wen können wir uns in Rumänien wenden, um zu melden, dass Bako Antiquitäten nach Ungarn schmuggelt?«
»Das sollten wir lieber Albrecht überlassen, der sich eines Mittelsmannes bedienen kann«, sagte Selma. »Die staatliche Polizei in Rumänien wird von dem sogenannten Generaldirektorat in Bukarest aus geleitet. Dort rufen wir an und melden, wir hätten einen Fall für Interpol, woraufhin sie die Grenzpolizei in Marsch setzen. Ich kann den Anruf von unserem Computer ausführen lassen, der das Signal über so viele Zwischenstationen schickt, dass wir gar nicht mehr damit in Verbindung gebracht werden können.«
»Danke, Selma.«
»Gern geschehen. Bako wird einige Schwierigkeiten bekommen, wenn sie ihn erwischen. Ein im Jahr 2000 beschlossenes Gesetz verlangt nämlich, dass sämtliche Antiquitäten, die in Rumänien gefunden werden, von den zuständigen Regierungsbehörden klassifiziert und registriert werden müssen. Und sie betrachten jede Antiquität als ›bewegliches Kulturgut‹.«
»Wir melden uns, sobald wir weitere offene Fragen geklärt haben.«
»Ist es noch nicht vorbei?«
»Ich fürchte nein. Vorher müssen wir zumindest einen Blick in die Schatzkammer werfen.«
Sie fuhren wieder durch Alba Iulia, vorbei an dem Waldgebiet, wo sie Bakos Fahrzeuge gefunden hatten. Auf dem nächsten Parkplatz stellten sie ihren Wagen ab und gingen durch den Wald zurück. Als sie sich dem Fundort näherten, hörten sie eine Stimme, die etwas auf Ungarisch rief, das wie eine Reihe von Befehlen klang. Sie schlichen näher heran, hielten sich hinter den Büschen in Deckung, bis sie Bako auf dem Rand der Gruft sitzen sahen. Seine Beine baumelten in der dunklen Öffnung. Vier Männer hielten ein Seil, das unter seinen Achselhöhlen um seine Brust geschlungen war. Ein fünfter Mann beeilte sich gerade, ihm eine Taschenlampe zu reichen.
Bako rutschte nach vorn und schwebte in die Kammer hinab. Sam und Remi konnten an den Bewegungen des Seils erkennen, dass er sich hin und her drehte und offenbar versuchte, mit der Taschenlampe jeden Winkel und jede Nische gleichzeitig auszuleuchten. Zwei Mal sah es so aus, als würden seine Männer, erschöpft vom Graben und Bewegen der Steine, die die Gruft bedeckt hatten, das Seil mit seinem Gewicht nicht mehr halten können und ihn fallen lassen.
Schließlich hatte er den Grund der Kammer erreicht. Die Männer entspannten sich und massierten ihre schmerzenden Muskeln, während das Seil schlaff wurde. Aus der Gruft drang ein Ruf nach oben. Die Männer zogen das leere Gurtgeschirr hoch, und einer der Sicherheitsleute schlüpfte hinein und wurde in die Gruft hinabgelassen. Abermals wurde das Seil schlaff, und die Männer knieten neben der Öffnung, um der Unterhaltung ihrer Chefs zu lauschen. Bestürzt sahen sie einander an.
»Irgendetwas scheint nicht in Ordnung zu sein«, flüsterte Remi.
Ein weiterer lauter Ruf erklang in der Gruft, und die Männer zogen mit offensichtlicher Eile ihren Kollegen ans Tageslicht. Er redete kurz mit ihnen, dann ließen sie eine Kamera in die Kammer hinab. Mehrmals erhellte ein Lichtblitz den dunklen Einlass und die Bäume ringsum. Als sie Bako heraufgezogen hatten, ging er mit stampfenden Schritten auf und ab und murmelte wütend vor sich hin. Plötzlich hob er den Kopf und gab seinen Männern einige Befehle.
Die Wachleute luden die technische Ausrüstung in den Lastwagen, holten jedoch nicht allzu viele Artefakte aus der Kammer an die Erdoberfläche. Sam und Remi erkannten ein paar Waffen, Textilien und mehrere Tongefäße. Eine heftige Unterhaltung auf Ungarisch begleitete diese Aktivitäten, und Bako, sein Sicherheitschef sowie zwei andere Wachleute stiegen in eins der beiden SUVs.
»Sie packen keines der Artefakte in Bakos Wagen«, stellte Remi verblüfft fest.
Dann kam einer der Wachmänner herüber, öffnete die Heckklappe von Bakos SUV und hob den Teppich und die Platte hoch, die das Reserverad und den Wagenheber bedeckten. Er legte ein Schwert in einer Scheide, einen Gürtel mit einem Dolch und einen gewölbten Eisenhelm in die Mulde. Dann platzierte er Abdeckplatte und Teppich wieder an Ort und Stelle und schloss die Heckklappe.
»Gott sei Dank«, flüsterte sie. »Wenigstens hat er sich jetzt eines Vergehens schuldig gemacht.«
Das SUV setzte zurück, dann wendete es und fuhr am Mureş entlang auf die blockierte Straße zu.
Zwei Männer waren zurückgelassen worden, um alle Spuren zu beseitigen und das andere SUV und den Lastwagen wieder nach Ungarn zu fahren. Remi und Sam zogen sich durch die Büsche zurück und begaben sich zu Fuß wieder zu ihrem Wagen. Damit fuhren sie zum Parkplatz, ließen ihr Radio so laut plärren, dass die Männer es unmöglich überhören konnten. Sie schlugen die Türen zu und gingen den Weg hinauf, wobei sie sich lautstark unterhielten und sich nicht die geringste Mühe gaben, leise zu sein.
Als sie die Gruft erreichten, waren die beiden Männer verschwunden. Sie hatten den Einlass hastig mit Buschwerk und Baumästen bedeckt. Während Sam und Remi näher kamen, hörten sie, wie die beiden Fahrzeuge gestartet wurden und sich entfernten. Sam holte das Seil hervor, das er mitgenommen hatte, und ließ Remi eilig in die Gruft hinab.
Ihre Füße hatten den Boden kaum berührt, als sie nach oben rief: »Ich kann erkennen, was nicht in Ordnung ist. Komm schnell runter.«
Sam ließ sie nicht lange warten, und gemeinsam untersuchten sie den unterirdischen Raum. Das Skelett Bledas lag auf einer leicht erhöhten Bahre, die wie ein niedriges Bett aussah. In einer Ecke war auch das nur einen Meter große Skelett Zercos, des Zwergs, zu erkennen. Beide hatten eingeschlagene Schädel. Offensichtlich waren sie von einer schweren Waffe getroffen worden. Die einzigen Schätze in der Gruft waren verrottete Kleidung, Pferdezaumzeug aus Leder und Sättel.
»Albrecht hatte also recht«, sagte Remi. »Bleda wollte Attila tatsächlich loswerden und hat verloren.«
»So sieht es jedenfalls aus«, pflichtete Sam ihr bei. »Von einem Schatz keine Spur. Hier sind nur Bledas persönliche Dinge. Und sein Freund Zerco. Wenn Bleda bei einem Unfall ums Leben gekommen wäre, hätte Attila Zerco sicherlich nicht getötet.«
»Wir sollten lieber die Inschrift suchen«, sagte Remi. Sie untersuchte jede Wand, und Sam scharrte mit den Füßen auf dem Boden in der Hoffnung, dort das Gesuchte zu finden. Doch er sah nichts dergleichen.
Von Zeit zu Zeit lauschte Sam, ob er draußen irgendwelche verdächtigen Geräusche hören konnte. Dabei blickte er instinktiv nach oben und entdeckte die Inschrift. Die Worte waren in die steinerne Decke über ihren Köpfen eingraviert. Er tippte Remi gegen den Arm und deutete dorthin. »Es ist fast so, als hätte er gewollt, dass Bleda es sieht.«
Remi schoss drei Fotos mit ihrem Mobiltelefon, und Sam begriff, weshalb sie die Lichtblitze gesehen hatten. Auch Bako hatte seine Fotos gemacht. Er hatte die Kamera nach oben halten müssen.
Sie kletterten an ihrem Seil aus der Gruft und gingen schnellstens zu ihrem Mietwagen. Kurz nachdem sie gestartet waren, kamen ihnen das SUV und der Lastwagen entgegen, die zu der immer noch offenen Gruft unterwegs waren. Die Männer, die die Wagen lenkten, wollten sicherlich nachsehen, ob sie ihr Werk ungestört vollenden konnten.
Während Sam fuhr, schickte Remi die Fotos an Albrecht Fischer und Selma in La Jolla. Sie waren eine halbe Stunde in Richtung Bukarest gefahren, als Remis Telefon klingelte.
»Hallo?«
»Remi – hier ist Albrecht.«
»Haben Sie die Bilder bekommen?«
»Haben wir.«
»Haben Sie gesehen, wie Bleda bestattet worden ist?«
»Ja.«
»Ich würde sagen, dass Ihre Theorie eine überzeugende Bestätigung erhalten hat. Es war kein Unfall. Es hätte doch keinen Grund gegeben, Zerco zu töten, wenn Bleda wirklich einen Unfall gehabt hätte.«
»Das ist sicher richtig. Aber damit wissen wir noch immer nicht, welcher der beiden Brüder der Aggressor war.«
»Gibt es Neuigkeiten von Bako?«
»Einige hoffnungsvolle Anzeichen. Tibor rief gerade an und meldete, dass zwei von Bakos Anwälten in eine Maschine nach Bukarest gestiegen sind. Es könnte bedeuten, dass er verhaftet wurde. Aber wegen der Entwendung einiger antiker Artefakte werden sie ihn sicher nicht sehr lange festhalten.«
»Und was ist mit der Inschrift, die ich Ihnen geschickt habe?«
»Deshalb rufe ich eigentlich an. Sie lautet ›Der Tod meines Bruders war der traurigste Tag meines Lebens. Der schlimmste Tag davor war der Tag, an dem wir gemeinsam die Knochen unserer Vorfahren bargen.‹«
»Wir müssen schnellstens nach Ungarn zurückkehren«, sagte Remi. »Bako hat die Inschrift gelesen und ist ebenfalls in diese Richtung aufgebrochen. Ich denke, wir sollten das Gleiche tun. Wenn wir uns nicht beeilen, kommt uns Bako vielleicht noch einmal zuvor.«