»Gehen Sie raus«, zischte Ben, öffnete mit einem Fuß die Lifttür und schubste Sturzberg von hinten. Sturzberg verließ irritiert den Fahrstuhl.

»Da bist du ja, mein großer Bäcker«, lachte die joviale Stimme. Ben zog sich in den Fond des Fahrstuhls zurück und stemmte sich wieder an den Haltestangen hoch. Kaum hatte Sturzberg den Fahrstuhl verlassen, war die Beleuchtung wieder erloschen.

»Mit dem Fahrstuhl kannst du nicht runterfahren, Bäcker. Hörst du? Dazu brauchst du einen Schlüssel. Aber den kriegst du nicht.« Der Mann lachte amüsiert. Die Schritte entfernten sich. Ben hörte noch das Gestammel von Sturzberg: »Ich bin Bäcker, ich muss in die Backstube. Nach Niamey. Das Volk ist hungrig.«

Als sich Sturzbergs Stimme im Flur verloren hatte, öffnete Ben die Tür und betrat das dritte Stockwerk der Klinik. Die geschlossene Abteilung. Der hufeisenförmig angelegte Flur führte in zwei Richtungen. Ben entschloss sich, Sturzberg zu folgen. Die Wände waren mit einer Schwindel erregenden blauen Dispersionsfarbe angestrichen. Es roch nach Moder und Maschinenöl. Ben schlich unsicher den Flur entlang. An einer Stelle war die blaue Wand von der Kniehöhe an abwärts sprenkelartig benetzt, als habe hier jemand uriniert. Ein Fetzen Stoff lag unterhalb der fleckigen Stelle auf dem Fußboden. Ben hob ihn auf, roch daran. Ingrid hatte oft rot getragen. Der rote Fetzen war feucht, säuerlicher Schweiß. Das war nicht Ingrid. Aber wie konnte er wissen, was in der Zwischenzeit mit Ingrid passiert war? Der Flur endete nach einer kurzen Schlaufe vor einer breiten Tür, die mit »Interview« beschriftet war. Auf der rechten Seite führten Stufen in einen anderen Raum hinauf. Keine Geräusche. Ben stieg die drei Stufen hoch und betrat eine abgedunkelte kleine Kammer mit tief hängender Decke. Ein breites Fenster gab den Blick in den Interviewsaal frei. Ein großer Raum mit mehreren Türen. An den Wänden Regale mit technischem Gerät. Sturzberg vor einem riesengroßen Stadtplan. Einen Stab in der Hand. Er schien seinem Bewacher einen Weg zu erklären. Routiniert und ungewohnt selbstsicher. Ben setzte sich an das Regiepult vor dem Fenster und überflog ratlos die Armaturen, die denen eines Tonstudios glichen. Ein kleiner grüner Kasten ragte aus der Metallumrandung. Darauf war ein Mikrofon montiert. Zwei Lämpchen, vier Druckknöpfe. Ben betätigte den linken Knopf.

»Ich bin der Befreier von Niamey«, hörte er Sturzberg sagen, »hier werde ich meine Brötchen backen.« Sturzberg zeigte mit seinem Bambusstock auf irgendein Gebäude, das auf dem Stadtplan eingetragen war.

»Guten Abend, Herr Truger.. Am Ende der Treppe stand Professor Sayka. Er hielt einen weißen Becher in der Hand. Kaffee. »Nehmen Sie auch einen?«, fragte er freundlich.

»Ich hatte plötzlich das Gefühl, Ingrid sei zurückgekehrt«, sagte Ben, nachdem er in Saykas Büro Platz genommen hatte. Sayka schlürfte gelassen Kaffee. Er hatte sich hinter seinem Schreibtisch verschanzt und gemütlich im breiten Ledersessel zurückgelehnt.

»Interessant«, kommentierte Sayka. Er nahm einen Schluck Kaffee, »das kann zwischen Geschwistern schon mal vorkommen.« Sayka schaute Ben offen ins Gesicht. Er war siegessicher. Er spielte.

»War bloß so eine Idee von mir«, gestand Ben. Er überlegte bereits konzentriert, wie er es das nächste Mal anstellen könnte. Um mit dem Lift ins Parterre runterzufahren, hatte Sayka einen Schlüssel benutzt. Man kam ohne Schlüssel rauf, aber nicht wieder runter.

»Kommt das öfter vor, dass Sie ‘Ideen’ haben, ‘Vorstellungen’«, fragte Sayka neugierig. Ben spürte, worauf er hinauswollte. Er behandelte ihn so, wie er vermutlich seine Patienten behandelte. Er unterhielt sich nicht mit ihm, er analysierte ihn. Er wollte Ben krank reden.

»Na ja«, lächelte Sayka versöhnlich, »lassen wir das.« Er stand auf und verschwand im Hinterzimmer. Die Tür fiel ins Schloss. Ein Piepston. Ein zweiter. Der Telefonapparat auf Saykas Pult. Vermutlich telefonierte der Professor an einem Zweitgerät im Nebenzimmer. Bei jeder Zahl, die er wählte, piepste der Apparat auf dem Pult. Natürlich hätte Ben am liebsten den Hörer abgenommen, um zu erfahren, was Sayka im Schilde führte. Der Professor war nicht wütend, er schien nicht enttäuscht, er hielt es nicht mal für nötig, den skurrilen Vorgang im Interviewsaal zu erklären, nein, er tat so, als habe Ben bloß einen schnellen Blick in irgendeinen beliebigen Klinikraum geworfen. Wollte er ihm damit suggerieren, dass hier nichts Außergewöhnliches passierte, dass nur ein Laie wie Ben aus Unkenntnis erschauern konnte? Aber Ingrids Bruder konnte kein Laie mehr sein. Dafür hatte er schon zu viel gesehen. Zu viel versucht. Für Ingrid. Ben nahm den Hörer leise ab. Er hielt den Atem an.

»Ich halte ihn solange auf«, hörte er Saykas Stimme. Mit wem sprach er? Er hörte, wie der Hörer aufgelegt wurde. Das Gespräch hatte kaum eine Minute gedauert. Auch Ben legte auf und hastete zur Tür, die auf den Eingangsflur führte. Notfalls wollte er losrennen, bis zum Taxi. Er riss die Tür auf und stieß mit einem groß gewachsenen Pfleger zusammen, der wie eingegossen in der grauen Türzarge stand.

»Der Professor muss jeden Augenblick zurück sein«, sagte er höflich und machte keine Anstalten, Ben vorbeizulassen.

»Ich habe Ihnen ein Taxi bestellt.« Professor Sayka hatte sein Büro wieder betreten.

»Das wäre nicht nötig gewesen«, stotterte Ben. Er überlegte fieberhaft, ob er sich gewaltsam einen Weg ins Freie verschaffen sollte. Unschlüssig ging er auf Sayka zu und warf einen Blick zum Fenster. Sollte er einfach den Flügel aufreißen und hinausspringen?

»Mein Taxi steht vor der Tür«, sagte Ben. Er versuchte, gelassen zu wirken. Aber seine Stimme bebte. Sayka setzte sich wieder in seinen Sessel. Verschmitzt triumphierend wie ein Schachspieler vor dem entscheidenden Zug. Er forderte Ben mit einer legeren Handbewegung auf, wieder Platz zu nehmen. Ben blieb stehen.

»Ich bin mit dem Taxi gekommen. Der Fahrer wartet draußen.« Ein Hauch von Irritation trübte Saykas Gelassenheit. Seine Augen wurden kalt wie Stahlkugeln. Wie auf ein verabredetes Zeichen hin ging der Pfleger zum Fenster rüber und schaute auf die Straße hinaus. Nacht. Drei Uhr. »Die Straße ist leer, ich habe Ihr Taxi fortfahren hören, vor einer halben Stunde ungefähr.«

»Er wartet vorne am Waldrand. Er wartet ganz bestimmt.« Ben bewegte sich langsam zur Tür, noch zwei Meter. Doch als Sayka weitersprach, blieb er wie gelähmt stehen, er konnte nicht mehr weiter.

»Wissen Sie, Herr Truger, wenn ich ganz ehrlich sein darf, Ihr Verhalten hat mich doch ein wenig enttäuscht. Ihre Schwester war schließlich freiwillig bei uns. Wir haben sie kostenlos aufgenommen.«

Ben wollte weiter, bis zur Tür, aber seine Beine versagten den Dienst, es schien, als würden sie nur noch auf Sayka hören. Es war die Angst vor Sayka. Der Pfleger stand wieder im Türrahmen. Die Zeit schien stillzustehen. Sayka, der Kaffeebecher, das Fenster, der Telefonapparat, Ben, der Pfleger. Das Aufheulen einer Autohupe. Ein Lächeln huschte über Bens Gesicht. Aber da gab es plötzlich noch ein zweites Geräusch, das von der Straße her zu ihnen hineinperlte. Autoreifen, die von einem eiligen Fahrer über den schwarzen Asphalt geschürft wurden. Und der zweite Wagen hielt ganz in der Nähe. Dort, wo auch das Taxi stand. Wenn es noch da war.

Der Fahrer von Wagen 43 beobachtete im Rückspiegel, wie hinter ihm ein Mann aus einem blauen Buick ausstieg. Er trug einen schwarzen Regenschirm in der Hand. Nervös griff der Taxifahrer zum Funkmikrofon.

»Hallo, Zentrale, bitte kommen.«

Er lehnte sich brüsk über den Beifahrersitz und blockierte alle Türverriegelungen. Der Fahrer des blauen Buick stand jetzt am Heck des Taxis. Die Zentrale meldete sich nicht.

»Danke«, mogelte der Taxifahrer laut, so dass es auch der Unbekannte hören musste, »ich bleibe vor der Klinik.« Jetzt stand der Fremde neben dem Fahrerfenster. Er beugte sich tief hinunter und klopfte ans Fenster, das nur einen Spaltbreit offen war.

»Hier dürfen Sie nicht halten«, sagte er.

»Ich warte auf einen Fahrgast!«, schrie der Taxifahrer.

»Ihr Fahrgast ist ein Freund von mir«, antwortete der Fremde.

»Ihr Freund hat noch nicht bezahlt!«, schrie der Taxifahrer zurück und versuchte, seiner Stimme einen erbosten Unterton zu geben. Der Unbekannte fuhr mit der rechten Hand nach hinten und holte ein Portemonnaie hervor. Den Schirm hatte er unter dem linken Arm eingeklemmt, wie ein Gewehr. Er zog ein paar Scheine aus der Brieftasche und tat so, als wolle er ihm die Scheine geben. Aber der Fahrer hatte das Fenster jetzt ganz geschlossen. Der Unbekannte klopfte nochmals an die Scheibe und bewegte den Zeigefinger auf und ab, um den Fahrer zum Öffnen des Fensters aufzufordern. Doch es blieb zu. Der Taxifahrer verwarf unschuldig die Hände: »Ich habe soeben mit der Zentrale telefoniert. Die wollen, dass ich hier bleibe, kann man nichts machen.«

»Wie bitte?«, fauchte der Unbekannte gereizt. Er nahm den Schirm in beide Hände: »Können Sie nicht mal das Fenster runterkurbeln? Haben Sie Angst?« Offensichtlich wollte er ihn bei seiner Manneswürde packen.

»Ich habe einen steifen Nacken«, flapste der Taxifahrer, »rheumatischer Schiefhals.«

Der Unbekannte schlug mit der Schirmspitze gegen das Seitenfenster und schrie: »Verschwinden Sie endlich, hauen Sie ab!« Der Fahrer von Wagen 43 wunderte sich über den unverhältnismäßigen Einsatz des Fremden, der angeblich ein Freund seines Fahrgastes war und diesen lediglich persönlich heimfahren wollte. Er roch förmlich die Gefahr, die von diesem Fremden ausging, und wenn er seinen Fahrgast wollte, dann drohte auch diesem Gefahr. Der Taxifahrer erschauerte. Was er hier erlebte, war keine Story, wie er sie täglich während der Wartezeiten las, nein, das war Realität. Der Unbekannte stieß die Schirmspitze nochmals kräftig in das Seitenfenster. Der Fahrer startete blitzschnell den Motor, die hinteren Räder drehten durch, die Motorhaube bäumte sich kurz auf, der Wagen schoss davon. Zufrieden blickte Victor Schneider dem Taxi nach und schlenderte mit dem schwarzen Schirm zum Hauptportal. Doch genau dort machte der Taxifahrer eine Vollbremsung. Der Wagen legte sich quer vor die Treppe des Hauptportals. Victor Schneider rannte wütend auf den schwarzen Mercedes zu. Der Taxifahrer hämmerte wild auf der Hupe herum, und als Victor Schneider den schwarzen Schirm auf die Frontscheibe niedersausen ließ, brüllte der Fahrer von Wagen 43 so laut er konnte: »Kommt nicht infrage. Bei uns hat alles seine Ordnung! Wenn Ihr Freund nicht bald rauskommt aus dieser verdammten Klinik, ruf ich die Polizei! Die Taxizentrale ist informiert! Und jetzt machen Sie, dass Sie wegkommen! «

Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, fuhr er einen halben Meter nach vorn. Victor Schneider konnte gerade noch zur Seite springen. Und als er stehen blieb und seinen bulgarischen Regenschirm durchlud, sauste das Taxi rückwärts auf ihn zu.

Plötzlich hörte das wilde Hupen auf, die Reifen quietschten nicht mehr, Stille. Ben erschrak. Und Sayka fand sein Lächeln wieder. Schritte im Flur. Der Pfleger gab die Tür frei. Victor Schneider betrat das Büro von Professor Sayka. Mit offenen Armen ging er auf Ben zu. »Ben, was höre ich da für Geschichten. Sie sind übermüdet. Sie brauchen Schlaf.«

Wollten sie ihn einschläfern, wie sie Ingrid eingeschläfert hatten? Ingrid, von der keiner wusste, ob sie jemals wieder aufgewacht war? Und Victor war ihr Komplize? Victor packte Ben freundschaftlich an den Schultern.

»Sie haben Recht, Victor, ich werde ins Hotel zurückgehen«, antwortete Ben. Victor war womöglich seine einzige Rettung.

»Wollen Sie über den See schwimmen?«, lachte Victor, »ich fahre Sie selbstverständlich nach Luzern zurück.« Ben nickte zaghaft, prüfte mit einem verstohlenen Blick die Reaktion des Professors. Langsam schritt er zur Tür. Sayka würde ihn nicht aufhalten, niemand würde ihn aufhalten. Ben ging weiter, den Flur entlang, begleitet von Victor. Er öffnete das schwere Hauptportal. Sofort hielt er Ausschau nach Wagen 43. Stille. Vor Ben lag die nackte Straße, die sich in der Dunkelheit der Nacht auflöste. Victor Schneider zeigte zum Waldrand hinüber. »Mein Wagen steht dort drüben.«

Ben hatte ihn nicht gesehen. Er schritt die Treppen hinunter. Mit jeder Stufe hatte er das Gefühl, tiefer in den tödlichen Sumpf hineinzusinken. War Victor sein Henker? Ben blieb auf der untersten Stufe stehen und schaute Victor offen ins Gesicht. Er spürte seinen Atem, den Scotch, der noch an den Lippen klebte. Victor schwieg, erwiderte den Blick, stellte keine Fragen, versuchte aber auch keine zu beantworten. Er schaute bloß, und es war nichts in Victors Augen, das ihn verraten, ihn gebrandmarkt hätte. Keine Spur von Grausamkeit wie in den Augen von Sayka. Ein offenes Lächeln huschte über seine Lippen. Victor war ein fairer Mensch, loyal, verlässlich, absolut integer. Was warf er ihm denn vor? Warum hatte er ihn nie auf die Probe gestellt? Wieso hatte er ihn nie auf die Pässe angesprochen? Aber vermutlich hätte ihm Victor eine spontane und plausible Erklärung gegeben, die ihn verblüfft hätte. Motoren heulten auf. Der Wald schien sich zu entzünden. Scheinwerfer entflammten. Aus einem schmalen Waldpfad schoss Wagen 43 hervor, gefolgt von drei weiteren Taxis. Der Fahrer bremste brüsk vor dem Hauptportal, warf sich über den Beifahrersitz und stieß die Tür auf.

»Erklären Sie's ihm«, sagte Victor leise.

»Ist Tom Ihr Chef?«, fragte Ben und dachte an das erste Zusammentreffen mit Tom und Victor im »Black Penny«.

»Warum fragen Sie?« Victor schien ehrlich erstaunt.

»Einfach so«, antwortete Ben mit einem Lächeln, das Bedauern und fast ein bisschen Wehmut ausstrahlte. Ben setzte sich ins Taxi. Langsam rollten die Wagen die dunkle Straße hinunter und verschwanden hinter der ersten Biegung.

Hank Locklin sang »Send me the pillow that you dream on«, als die Wagen in der Morgendämmerung beinahe lautlos die menschenleere Seestraße entlangfuhren. Der Taxifahrer meldete der Zentrale, dass jetzt alles in Ordnung sei. »Wir fahren nach Luzern zurück.«

»Danke«, sagte Ben nach einer Weile. Sie hatten bereits das Städtchen Küssnacht durchfahren.

»Philip Marlowe hätte genauso gehandelt«, grinste der Fahrer, als habe er noch nicht ganz begriffen, dass er womöglich sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um einem Fremden zu helfen. Ben verstand die Anspielung nicht.

»Ich habe über Raymond Chandler promoviert«, erklärte der Fahrer. Als Ben ihn erstaunt ansah, fügte er bei, die Kundschaft werde immer anspruchsvoller. Neben Ben saß kein Taxifahrer mehr, kein Funktionsträger, der zum Fahrzeug gehörte, wie der Mercedes-Stern auf der Motorhaube, sondern ein Mensch, der sich das Leben vermutlich auch ein bisschen anders vorgestellt hatte. Ben zog den Schlüsselbund aus seiner Tasche. Er hatte ihn dem Pfleger beim Zusammenprall heimlich entwendet. Ben drehte den Schlüsselbund nachdenklich in den Fingern. Stockend begann er dem Fahrer seine Geschichte zu erzählen, während The Drifters »Saturday night at the movies« sangen. Der Fahrer drehte am Knopf des Autoradios. Die melancholischen Schnulzen, die aus dem Äther stiegen, klangen wie die alkoholgeschwängerten Gefühlsregungen eines Moderators, der seit Stunden irgendwo in einem Radiostudio saß und sich einsam dem Trübsinn hingab. Vier Uhr früh. Hotel Astoria. Der Fahrer hatte keine einzige Frage gestellt. Er hatte soeben eine Geschichte gehört, die nicht mehr verändert werden konnte, eine Geschichte, die längst zu Ende geschrieben war.

»Was bin ich Ihnen schuldig?«, fragte Ben und nahm seine Brieftasche hervor. Der Fahrer reichte Ben die Hand. Der Taxameter stand auf null. Sein Name war Leo.

Zimmer 307. Ingrids Einkaufstüten waren verschwunden. Der Kleiderschrank leer. Keine Spuren. Nichts deutete darauf hin, dass Ingrid mal in diesem Hotelzimmer gelebt hatte. Sogar das Badezimmerkästchen war geleert worden. Im Zahnglas stand nur noch eine Zahnbürste. Unter dem Waschbecken eine Zigarette. Mary Long. Ingrids Schweizer Marke. Sie wechselte in jedem Land die Marke. Ben zündete die Zigarette an und sog den Rauch tief in die Lunge ein. Bis ihm richtig schwindlig wurde. Aber Ingrid kam ihm nicht näher. Ben stand allein da mit Ingrids »Mary Long«.

»Die Tür ist in Ordnung«, sagte Kriminalkommissar Sutter, als er drei Stunden später im Astoria-Hotel eintraf. Er hatte die Tür zu Zimmer 307 gründlich untersucht. »Hatte Ihre Schwester einen Schlüssel?«

»Natürlich«, antwortete Ben verärgert. Er wusste genau, worauf Sutter hinauswollte. Der Kommissar durchstreifte die Wohnung, aber sein Interesse galt vor allem Ben.

»Und Sie vermissen gar nichts? Außer dem persönlichen Eigentum Ihrer Schwester?«

»Nein, das hab ich Ihnen doch bereits am Telefon gesagt.«

»Hatten Sie Streit?«

»Nein«, schrie Ben, »wir hatten keinen Streit!«

»Sie haben nie miteinander gestritten?«

»Natürlich haben wir das. Aber in den letzten Tagen bestimmt nicht.«

»Das war ja auch nicht möglich. Ihre Schwester war in dieser Klinik.« Sutter öffnete keine Schubladen mehr, er schien sich nur noch für Ben zu interessieren. Und mehr noch. Er hatte eine ganz bestimmte Theorie. Er suchte bloß nach Anhaltspunkten, um diese zu bestätigen. Schließlich lehnte er sich gegen den Fenstersims und verschränkte die Arme.

»Hören Sie mal, Herr Truger, Sie bringen Ihre Schwester in eine Klinik, ein paar Tage später verschwindet sie von dort, das ist ihr gutes Recht, sie ist volljährig und nicht von Amts wegen eingeliefert worden. Jetzt ist sie wütend, holt ihre Sachen ab und verschwindet ..«

»So was würde sie nie tun!«, schrie Ben zutiefst getroffen. »Aber das können Sie ja nicht wissen«, fügte er gereizt hinzu.

Sutter presste die Lippen zusammen und schaute Ben eindringlich an, als wollte er ihm behutsam mitteilen, dass er sich auf dem falschen Dampfer bewegte.

»Ich bin überzeugt, dass sie in dieser Klinik festgehalten wird.«

»Das ist eine schwere Anschuldigung, Herr Truger.« Jetzt wollte er Ben einschüchtern, aber die Angst, Ingrid nie wieder zu sehen, war größer.

»Wie kann ich erreichen, dass diese Klinik durchsucht wird?«

Sutter holte tief Luft, und seine Bronchien pfiffen, als sich die teerverklebte Lunge wieder entleerte. Er musterte Ben entnervt, als habe dieser schon wieder einen Elfmeter verschossen. Er wollte die Unterhaltung beenden, das sah man ihm an.

»Woran litt denn Ihre Schwester?«, fragte Sutter. Er fragte sehr leise, als würde er etwas Unerlaubtes fragen. Und er fragte, um Ben auf die Sprünge zu helfen.

»Sie hatte Probleme«, antwortete Ben vorsichtig. Sutter nickte langsam mit dem Kopf, als würde er allmählich verstehen. »Litt Ihre Schwester unter ... Wahnvorstellungen?«

Peter Sturzberg lachte zufrieden. Sutter nahm das Sturzberg-Foto in die Hand und schaute es kurz an. Es löste bei ihm Heiterkeit aus. Peter Sturzbergs Lachen auf dem Foto war ansteckend. Sutter setzte sich hinter seine Xerox-Maschine und steckte sich einen Bleistift in den Mund.

»Das ist eine Kopie«, ergänzte Ben. Er hatte wieder Hoffnung geschöpft. Sutter hatte ihn immerhin mit ins Kommissariat genommen. Jetzt nahm er ein Formular aus der Schublade und spannte es hinter dem breiten Maschinenwagen ein.

»Wann haben Sie Herrn Sturzberg zum letzten Mal gesehen?« Skepsis und Mitleid waren einem sachlichen Gesprächston gewichen. Sutter schien die Geschichte von Ben allmählich ernst zu nehmen.

»In der Stiftung Temporis. Er hat sich um eine Anstellung im Ausland beworben. Er wollte nach Niamey. Das war am elften, an einem Montagnachmittag um 16 Uhr.« Ben wollte präzise sein, Sutter beweisen, dass er durchaus bei Verstand war. Und sollte jener seine Angaben bezweifeln, so hatte er sich fest vorgenommen, sich nicht mehr aus der Ruhe bringen zu lassen.

»Und seitdem haben Sie ihn nicht wiedergesehen?«

»Richtig«, antwortete Ben. Sutter nahm den Bleistift aus dem Mund.

»Gut. Sie kennen diesen Peter Sturzberg nicht und finden es seltsam, wenn Sie einen wildfremden Menschen nicht wiedersehen. Richtig?«

Und schon geriet Ben wieder ins Straucheln. Sutter hatte seine Meinung nicht geändert. Bloß die Strategie. Er hatte ihm eine Falle gestellt. Behutsam bei der Hand genommen. Und aufs Glatteis geführt.

»Ich habe Sturzberg nach dem elften nochmals gesehen. In der Klinik von Professor Sayka. Er war völlig verstört. Er behauptete, er sei Bäcker.«

»Dann ist er ja gar nicht verschwunden«, lachte Sutter auf und beugte sich tief über den Tisch, näher zu Ben, als wollte er jetzt augenblicklich von ihm hören, dass er Fantasien nachjagte.

»Natürlich ist er nicht verschwunden«, antwortete Ben trocken, »das heißt, doch, er ist verschwunden, er wird in dieser Klinik gegen seinen Willen festgehalten. Am elften war er noch völlig normal«, ereiferte sich Ben und knallte Sutter das Foto von Sturzberg auf die Xerox-Maschine. »Als ich ihn in der Klinik wiedertraf, war er ganz verändert, ein hirnloses Stück Fleisch. Er behauptete Bäcker zu sein, dabei ist er Lehrer, 'Befreier von Niamey' nannte er sich, er war völlig verwirrt.«

»Und das finden Sie merkwürdig, dass ein offensichtlich verwirrter Mensch in einer Klinik untergebracht wird? Das ist doch nichts Ungewöhnliches, Herr Truger, es gibt viele Menschen, die morgens aufwachen, und ihre Umgebung stellt fest, dass ihr Betriebssystem ausgefallen ist.«

Ben spürte den kalten Schweiß zwischen seinen Schulterblättern. Fassungslos starrte er Sutter an, der unbeweglich hinter seinem Schreibtisch saß.

»Herr Truger«, sprach er weiter, und jetzt sprach er wieder wie ein Psychiater, der seinem Patienten erklären muss, dass es keine grünen Männchen gibt, die ihn nachts verfolgen. »Herr Truger, waren Sie schon mal in einer psychiatrischen Klinik?«

»Natürlich«, antwortete Ben verbissen und wandte sich demonstrativ von Sutter ab. Doch im selben Augenblick wurde ihm bewusst, was er da soeben gesagt hatte. Erschrocken fuhr er herum, sprang auf und stemmte sich mit beiden Armen auf Sutters Pult.

»Ich besuche oft meine Schwester, wenn sie in einer Klinik ist. Das ist sehr wichtig für sie. Was haben Sie daran auszusetzen?«

»Nichts«, antwortete Sutter ruhig und riss das Formular aus der Maschine heraus. »Herr Truger, darf ich mal Ihren Ausweis sehen?«

Zimmer 307. Ben blieb vor der Tür stehen und horchte. War Ingrid zurückgekehrt? Er wollte sich ins Zimmer stürzen, in Ingrids Arme. Und wenn Ingrid nicht da war? Ben schlich leise den Flur zurück. Hinter der Treppenbrüstung hielt er Ausschau nach dem Hotelburschen. Er saß hinter dem Rezeptionstresen und sortierte Post. Ben machte mit einem kurzen Pfeifen auf sich aufmerksam. Der Hotelbursche schaute zu ihm hoch. Ben winkte ihn herbei. Wenn jetzt einer Zimmer 307 verlassen wollte, Ben und der Hotelbursche würden ihn aufhalten. Und Ben hatte einen Zeugen. Vor dem Zimmer blieben sie stehen. Der Hotelbursche schaute Ben fragend an. Er erwartete irgendeine Beanstandung. Aber Ben zeigte bloß auf die Tür, überließ ihm den Vortritt. Der Hotelbursche zuckte mit den Schultern und betrat unbekümmert das Zimmer. Wenn der Aschenbecher nicht geleert worden war, so war das schließlich nicht sein Vergehen. Das Zimmer war leer. Kein Wasserrohrbruch, keine eingeschlagene Fensterscheibe, und das Bett war auch ordentlich bezogen.

»Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte er.

»Da ist jemand im Zimmer«, flüsterte Ben. Mit einem kräftigen Tritt schlug er die Badezimmertür auf.

Die Tür krachte gegen den Heizkörper und schnellte wieder zurück.

»Niemand da«, grinste der Hotelbursche, »außer uns.«

Ben riss den Kleiderschrank auf, fuhr blitzschnell herum, als wolle er den Kerl nicht übersehen, der womöglich hinter seinem Rücken aus dem Zimmer schlich. Ben warf sich auf den Boden, doch unter dem Bett war bloß eine zentimeterdicke Staubschicht.

»Wollen Sie eine Schlaftablette?«, fragte der Hotelbursche höflich und hilfsbereit. Aber Ben suchte bloß das Lachen in seinem Gesicht, und als er es nicht fand, war er dennoch überzeugt davon, dass er sich über ihn lustig machte und bei der nächsten Gelegenheit das ganze Hotelpersonal auf seine Kosten unterhalten würde.

»Die Rechnung«, schrie Ben wütend, »die Koffer hole ich in den nächsten Tagen ab!«

»Wie Sie meinen«, antwortete der Hotelbursche unbeeindruckt. Er verbeugte sich knapp vor Ben und verließ das Zimmer.

Ben verband Noras Augen mit einem schwarzen Tuch. Er setzte sie in das Bob-Forster-Sofa hinter der linken Leuchtsäule.

»Ich steige jetzt zum Publikum hinunter und sehe mich ein bisschen um. Wenn ich den Gegenstand eins nicht sofort finde, mache ich ein bisschen Konversation. So. Ich hab's gefunden.«

Ben stand mit leeren Händen da und schaute auf den Dachgarten hinaus. Das Intermezzo mit dem Hotelburschen hatte er Nora verschwiegen. Er hatte einfach geklingelt und gefragt, ob sie mit ihm die Mentalnummer üben wolle. Ben spreizte die leere Hand. Nora hob langsam ihre Hände und berührte mit den Fingerspitzen ihre Stirn. In dieser Mentalnummer verfügte sie über telepathische Kräfte. »Es ist rund ... es ist klein ... sehr klein, ich höre ein Geräusch, ich sehe eine Uhr. Eine Uhr.«

»Applaus«, antwortete Ben und spazierte im Zimmer umher. Noras Schauspielerei gefiel ihm. Ben hob wieder die leere Hand in die Luft. »Gegenstand zwei. Bitte, Mademoiselle de Rougemont.«

»Das ist nicht sehr wertvoll, es fühlt sich gut an, eine Hülle. In der Hülle sehe ich ... Papier, jawohl Papier, oh, aber dieses Papier ist sehr wertvoll, das ist Geld, Sie halten eine Brieftasche in der Hand.«

»Applaus«, flüsterte Ben, als er vor ihr niederkniete und Nora langsam zu sich herunterzog.

Ein heiteres Raunen schwappte zur schwach beleuchteten Bühne rüber. Das »Black Penny« war heute sehr gut besucht. Nora saß mit verbundenen Augen auf der Bühne. Sie war noch viel besser als am Nachmittag.

»Das ist sehr schwierig«. Gelächter im Publikum.

»Ich sehe eine große Fläche.« Ein Mann lachte schallend auf und kippte dabei seinen Wein vom Tisch. Auch Gottlieb schien zufrieden.

»Nirgends ein Baum«, fuhr Nora unter dem auflodernden Gelächter des Publikums fort, »da wächst kein Gras.« Es war schon spät, und der eine oder andere hatte bereits zu viel getrunken und grölte seine Heiterkeit lauthals durch das Lokal. Ben grinste von einem Ohr zum andern. Er stand direkt hinter Tom. Und sein Mittelfinger zeigte auf Toms Glatze.

»Ich sehe eine auf Hochglanz polierte Fläche, ein Ei? - Nein, wenn schon, ein Straußenei. Nicht besonders hübsch. Oh«, erschrak Nora, »ich muss um Verzeihung bitten, das ist ja die Glatze eines Herrn.« Das Publikum spendete tosenden Applaus. Die Stimmung war besser als je zuvor. Nur Tom machte ein recht unfreundliches Gesicht. Er sann auf Rache. Er schaute nicht mal Victor an, der locker neben ihm saß und kräftig applaudierte. Ben verteilte nun kleine Karten und dazu passende Kuverts unter den Gästen.

»Und nun, meine verehrten Damen und Herren, werden wir das weltberühmte Medium Mademoiselle de Rougemont nochmals auf die Probe stellen. Schreiben Sie irgendein Wort, aber nur ein einziges Wort auf Ihre Karte. Stecken Sie die Karte sorgfältig in Ihr Kuvert, verschließen Sie es, und geben Sie es mir zurück.« Als Ben an Toms Tisch vorbeiging und links und rechts Karten verteilte, suchte Victor den Blickkontakt. Ben hatte das Gefühl, dass Victor ihm etwas mitteilen wollte, dass er sich bei ihm entschuldigen wollte, dass er sich erklären wollte, dass er seine Freundschaft wollte. Versöhnlich reichte Ben Victor eine Karte. Als Ben auf die Bühne zurückging, entriss Tom Victor die Karte. Einen Kugelschreiber hielt Tom bereits in der Hand. Victor entschuldigte sich höflich und verließ den Tisch. Das Verhältnis zwischen den beiden war gespannt. Victor schlängelte sich zwischen den gut besetzten Tischen zur Bar durch. Sie war nur schwach besucht. Nora fehlte. Victor setzte sich an die Bar, direkt neben Korge. Auf dem Schachbrett entstand gerade eine hübsche Miniatur, ein sprühendes Feuerwerk von Dualfesselungen. Die vollständig genutzte weiße Läuferschräge öffnete einen virtuosen Schnittpunkt mit Selbstschädigungsmechanismus. Korge schaute von seinem Brett hoch und warf einen Blick auf die Bühne. Ben war gerade dabei, die vom Publikum beschrifteten Karten wieder einzusammeln.

»Ihr Mc Syme ist ja ziemlich keck«, kommentierte Victor.

»Wieso«, fragte Korge kühl, »sollte er Angst haben vor Ihrem Freund?« Korge beugte sich wieder über sein Schachbrett. Victor nahm die Portweinflasche neben Korges Glas. Er wollte nachschenken. Korge fuhr mit dem Turm dazwischen und hob den Flaschenhals wieder hoch. »Was wollen Sie von mir«, brummte Korge, »nachschenken kann ich selber.«

»Ich will mit Ihnen plaudern«, log Victor.

»Das können Sie woanders billiger haben.«

Victor bestellte einen Scotch.

»Sind Sie deswegen hier?« grinste Korge und legte das Foto von Sturzberg, das er seinerzeit in der Artistengarderobe von Ben bekommen hatte, auf den Tresen. Gierig beobachtete er Victors Reaktion.

»Woher haben Sie das?«, fragte Victor kühl, ohne das Foto anzufassen.

»Ich hab's gekauft«, antwortete Korge, als sei dies das Selbstverständlichste auf der Welt. »Für ziemlich viel Geld. Aber wenn Sie mir ein Angebot machen ...«

Korge hatte mit dem Schachspiel aufgehört. Jetzt versuchte er zu pokern. Victor nahm das Foto in die Hand, schaute sich die Rückseite an. Und zerriss das Foto in ganz kleine Stücke. »Das ist eine Kopie«, sagte Victor verächtlich und griff nach dem Scotch, den Miriam lieblos auf den Tresen stellte.

Ben warf alle eingesammelten Kuverts in einen Sektkühler und ging damit auf die Bühne zurück.

»Mademoiselle de Rougemont«, sagte Ben in bewährter Entertainermanier, so viel Lockerheit hätte man ihm gar nicht zugetraut, »sagen Sie uns bitte, was auf der Karte steht, die in diesem Kuvert verborgen ist.«

Nora schien sich anzustrengen. Wie mit Ben verabredet, suchte sie den Blickkontakt mit Tom, der eisern und unbeweglich an seinem Tisch saß.

»Bluebird!«, rief Nora, laut und deutlich, so dass es Tom und Victor deutlich hören konnten. Victor zuckte zusammen und reckte sofort den Kopf, um zu sehen, wie Tom reagierte. Aber Tom schien nicht zu reagieren. Er saß immer noch unbeweglich da, aber so, als habe er soeben seinen Henker gesehen. Tom wusste, dass es jetzt nicht mehr allein Victors Angelegenheit war. Es ging auch um seinen Kopf. Es ging um Sattler und Simon. Im Fadenkreuz stand auch Professor Sayka. Es ging um Bluebird.

Ben öffnete gelassen das Kuvert, in dem die Karte stecken musste, auf die jemand »Bluebird« geschrieben hatte. Auf der Karte stand aber das Wort »Lokomotive«.

»Bravo!«, rief Ben und tat so, als würde er das Wort von der Karte ablesen.

»Auf der Karte steht ‘Bluebird’. Zur Kontrolle bitte ich jene Person im Publikum, die das Wort aufgeschrieben hat, aufzustehen.« Ben reichte Nora die Karte, damit auch sie lesen konnte, was wirklich auf der Karte stand. »Lokomotive«, das war das richtige Wort für die zweite Karte. Und das Wort auf der zweiten Karte ergab dann die Lösung für die dritte Karte. Bei dieser Mentalroutine wurde nur das allererste Wort erfunden. Benötigt wurde lediglich ein dritter Mann, der im Publikum saß und rechtzeitig aufstand.

»Wer hat das geschrieben?«, wiederholte Ben. »Stehen Sie bitte auf.«

Tom und Victor spähten angespannt ins Publikum. Ein junger Mann erhob sich, vor zehn Minuten hatte er noch in der Küche des »Black Penny« gestanden.

»Wer ist der Kerl?«, zischte Victor nervös. Korge grinste müde vor sich hin. Victor schob ihm blitzschnell ein paar Geldscheine rüber. Korge steckte die Scheine verblüfft ein. Es war ihm nicht entgangen, dass Victor noch mehr davon hatte.

»Cunatti«, antwortete Korge amüsiert, »er arbeitet bei uns in der Küche.«

Geduldig setzte Korge das zerrissene Foto von Sturzberg wieder zusammen. Als er das letzte Stück eingesetzt hatte, grinste er provozierend zu Victor rüber, der ihn misstrauisch musterte.

»Ich hab den Auftrag, diesen Mann zu finden. Ich denke, dafür reicht eine einfache Kopie.« Plötzlich war die Kopie wieder wertvoll. Victor griff erneut in seine Brieftasche und legte ein paar Scheine auf den Tresen.

»Nennen Sie Ihren Preis, Korge.«

Korge steckte die Scheine ein, während Victor die Fototeilchen über den Tresenrand in seine linke Hand wischte.

Nora hatte soeben das zweite Wort erraten. »Lokomotive«. Ben öffnete das dritte Kuvert. Auf der Karte stand »Ingrid«. Im Publikum erhob sich die Autorin von »Lokomotive«. Applaus. Nora konzentrierte sich zum dritten Mal.

»Ingrid«, sagte sie laut.

Ben öffnete fast hastig das vierte Kuvert. Auf dem Kärtchen stand »Dimple«.

»Ingrid!«, rief Ben. »Bravo, Madame de Rougemont, Ihre Antwort ist absolut richtig. Ich bitte den Schreiber des Wortes 'Ingrid' aufzustehen.«

Bens Augen hetzten über die Köpfe des Publikums. Der Mann, der sich erhob, war Tom. Nicht schüchtern wie die andern, die nur kurz aufsprangen, ein bisschen verlegen, und gleich wieder untertauchten. Tom stand da wie ein alles überragender Fels. Und er schien Ben zu sagen, ich werde Sie zermalmen, Mc Syme, ich werde Sie zerstören, vernichten, auslöschen. Tom stand regungslos da, der Fels bewegte sich nicht. An ihm sollte Mc Syme zerschellen.

Vor dem Hotel Astoria hielt ein Taxi. Wagen 43. Leo, der Fahrer, und Ben stiegen aus. Sie wollten die Koffer abholen, die der Hotelbursche bereits unten in der Halle abgestellt hatte. Die Rechnung war beglichen. Der Hotelbursche überreichte Ben eine braune Versandtasche, die Wochenpost, die der Hauswart in Frankfurt jeweils nachschickte.

Nora wohnte in der Nähe des Wasserreservoirs, im anderen Stadtteil. Während Leo über die Seebachbrücke fuhr, öffnete Ben die braune Versandtasche und blätterte die adressierten Briefsendungen durch. Zu seinem Ärger legte der Hauswart stets auch die unadressierten Werbesendungen bei. Ben hatte ihn schon mehrfach gebeten, den Werbekram wegzulassen, aber der Hauswart war in einem Alter, in dem man unverhältnismäßige Gründlichkeit nicht mehr abspecken kann.

»Immer diese verdammten Rechnungen«, scherzte Leo.

»Manchmal ist auch eine Einladung für eine Gala dabei.«

Ben blätterte weiter, blätterte einen Brief zurück. »Hotel Europe, CH-6000 Luzern«. Während er den Brief aufriss, fragte er Leo, ob im Hotel Europe Artisten aufträten.

»Nein, das ist ein ganz normales Hotel, ein bisschen teuer, aber nichts Besonderes.«

Im Kuvert steckte eine Visitenkarte des Hotels, dahinter ein Plastiketui, beides mit einer Büroklammer aneinander geheftet. Auf der Visitenkarte der verkleinerte Briefkopf. Ein paar handgeschriebene Zeilen.

»Liebe Frau Truger, Sie haben bei Ihrem letzten Besuch etwas liegen lassen. Beiliegend Ihre Monatskarte retour. Wir würden uns freuen, Sie wieder einmal bei uns beherbergen zu dürfen. Mit freundlichen Grüßen.« Darunter eine verschwenderische Unterschrift, die von Napoleon hätte sein können. Ben Truger schaute nachdenklich das Plastiketui an.

»Das ist Ingrids Frankfurter Monatskarte für die Straßenbahn.«

»Sind Sie sicher?«

»Absolut.« Ben wunderte sich, dass Leo ihm eine derartige Frage stellte. Es war nun wirklich nicht schwierig, die Monatskarte der eigenen Schwester zu erkennen. Ihr Foto, ihre Unterschrift. Das Einlösedatum war auch richtig. Die Karte würde in einer Woche abgelaufen sein.

»Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr«, murmelte Leo, er sprach zu sich selbst. Er schien nachzudenken, nach Erklärungen zu suchen.

»Wir fahren zum Hotel Europe«, unterbrach ihn Ben. Er hatte seine unerfreulichen Begegnungen mit Kriminalkommissar Sutter ein bisschen anders dargestellt. Er hatte nichts Wesentliches verschwiegen, nicht gelogen, nur, er hatte Leo nicht gesagt, wie verzweifelt er gewesen war, als Sutter ihn mit einfachen, ja naheliegenden Fragen aus der Bahn geworfen hatte. Er hatte vermeiden wollen, dass auch Leo sich solche einfachen Fragen stellte und zu ähnlichen Ergebnissen kam. Aber Leo war anders. Was einfach war, erweckte sein Misstrauen. Er schien nur in sehr komplizierten Abläufen denken zu können. Wie die zahlreichen Detektive und Kommissare, die er täglich über hunderte von Taschenbuchseiten begleitete. Leo war davon überzeugt, dass sich täglich tausende von Verbrechen ereigneten. Verbrechen, die niemals aufgeklärt wurden, weil der Ablauf bis zur Tat so alltäglich war, dass niemand an die Vorbereitung eines Mordes dachte. Leo war ein Riesenfass, bis oben voll mit Geschichten. In jeder Kurve schwappte das Fass über und überschüttete den Fahrgast mit neuen Geschichten, die zum Teil so spannend waren, dass mancher am Zielort sitzen blieb, um den Schluss zu hören. Leo war ein ausgezeichneter Erzähler und ein Menschenkenner, der ziemlich genau wusste, ob er seine Mitfahrer unterhalten sollte oder nicht. Wenn er das Gefühl hatte, er könne loslegen, dann versuchte er, die Geschichte der Routenlänge anzupassen, und wenn die Konzentration des Beifahrers nachließ, beschrieb er die Schuhe des Mörders, und sie waren identisch mit denen des Fahrgastes, und wenn die Geschichte dadurch länger wurde, kroch er wie eine Schnecke vor die Kreuzung, ließ jedem Passanten, der bei Rot über die Fahrbahn hühnerte, den Vortritt, bis die Ampel ihn zum Anhalten zwang und seine Sprechzeit um wertvolle Sekunden verlängerte.

»Nein, überhaupt nicht, Fräulein Truger wirkte sehr ausgeglichen. Sie war sehr nett.« Die freundliche Dame hinter der Rezeption im Hotel Europe konnte sich sehr gut an Ingrid erinnern. Fröhlich sei sie gewesen, wie jemand, der frisch verliebt war. Unsicherheit und Angst beschlichen Ben. Zaghaft stützte er sich an der Theke ab. Hatte Ingrid nicht vom Heiraten gesprochen und davon, dass sie Flügel kriegen würde? Wollte er einfach nicht wahrhaben, dass Ingrid gesund war, dass sich Ingrid allein aufgerappelt hatte? Ohne seine Hilfe. Wollte er nicht wahrhaben, dass Ingrid ihn nicht mehr brauchte? Und war die Last, die er mit ihr getragen hatte, vielleicht auch ihm eine Stütze gewesen? Irritiert senkte er den Kopf und starrte auf seine weißen Schuhe. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er das Gefühl zu stürzen, auszugleiten.

»Hat sie abends Schlaftabletten verlangt?« Ben war seiner Sache nicht mehr sicher. Er schämte sich. Er wagte nicht mehr, Leo anzuschauen.

»Schlaftabletten?«, fragte die Dame hinter der Rezeption amüsiert. »Fräulein Truger war stets zu einem Späßchen aufgelegt. Aber mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Sie war ja kaum hier. Immer unterwegs.«

Ben sah ein, dass es keinen Sinn mehr hatte, die Dame nach Tabletten und nächtlichen Nervenzusammenbrüchen zu fragen. Jetzt wollte er nur noch wissen, wo Ingrid war. »Hat sie sich nach einer Adresse erkundigt?« Ben fragte leise, schüchtern. Er wusste, dass er kein Recht hatte, seine Schwester aufzuhalten. Er musste ihren Willen respektieren, auch wenn es ihm wehtat. Warum hatte sie ihm nichts gesagt? Hatte der Professor die Ursache ihrer psychischen Labilität auf Ben zurückgeführt? Hatte er Ben zum Sündenbock gestempelt? Konnte Ingrid nur durch die Ablehnung von Ben auferstehen? Wiedergeburt durch Hass?

Ingrid hatte sich nach keiner Adresse erkundigt. Einmal mehr schien sich für Ben die neue Theorie zu bestätigen, wonach sie keine Adresse mehr brauchte. Sie hatte bereits eine. Sie war verliebt.

»Ich habe ihr ein paar Mal ein Taxi bestellt. Sie fuhr immer mit dem Taxi.«

»44er?«, schoss es aus Leo hervor. Ben war überrascht. Zum ersten Mal hatte Leo die Initiative ergriffen. Er ist auf meiner Seite, dachte Ben. Oder will er mich bloß zu Ingrid bringen und mir beweisen, dass ich psychische Betreuung brauche. So, wie es Sutter getan hatte? Die Dame bestätigte, dass das Hotel immer die 44er-Zentrale anrief.

»Wer hat Dienstag oder Mittwoch eine zirka dreißigjährige blonde Frau ins Hotel Europe gefahren oder von dort abgeholt? Bitte um sofortige Mitteilung an die Zentrale.« Leo gab den Text an die Zentrale. Mit seinem Funkgerät konnte er nur Fahrer im engsten Umkreis erreichen. Leo hatte den Wagen am Taxistand beim Bahnhof geparkt. Direkt hinter dem Kunst- und Kongresshaus. Hier kamen die meisten Fahrer vorbei. Ben setzte sich auf die Motorhaube und blinzelte in die pralle Nachmittagssonne. Mary Long. Die Zigarette schmeckte nicht mehr wie verbranntes Papier. Jetzt schmeckte sie nach Tabak. Sie kratzte im Hals. Befriedigt wurde nur noch die alte Sucht. Aber nicht die Sehnsucht nach Ingrid, die womöglich irgendwo mit ihrem Liebhaber in einem Bett lag, zwischen nassverklebten Laken, und zufrieden nach den Zigaretten auf dem Teppichboden griff. Ben hätte Leo gerne gefragt, was er von der ganzen Sache hielt. Aber er hatte Angst, dadurch sein Misstrauen zu wecken. Er kam sich vor wie ein altertümlicher Vater, der seine Tochter verfolgt. Ben beobachtete Leo, der prickelnd vor Unternehmungslust auf der Motorhaube hin- und herschaukelte und die Füße abwechselnd gegen den Vorderreifen schlagen ließ. Spielte er bloß Detektiv in einer neuen Geschichte, die er bis dahin noch nirgends gelesen hatte? Eine Autohupe. Ein älterer Taxifahrer mit glatt pomadiertem Haar schlenkerte zwischen den geparkten Autos auf Leo zu.

»Hallo Harper« rief er, »ich hab die Kleine ein paar Mal gefahren!« Ben erschrak. »Harper« hatte er Leo genannt. Hatte nicht mal Paul Newman einen Detektiv »Harper« gespielt? Was soll's, versuchte sich Ben einzureden. Solange ihm Leo half und nicht misstraute.

»Die Kleine war ganz hübsch.« Die Hände des Fahrers formten sich zu großen Schalen. Die fleischigen Schalen saugten sich wie Haftplastik an seiner Brust fest, aber Ingrid hatte keine großen Brüste, nein, sie war mager, und ihr weißer Körper war der eines achtzehnjährigen Mädchens, das noch keinem Sonnenschein ausgesetzt worden war. Ein Mädchen, für das die Sonne noch nie geschienen hatte. Vermutlich übertrieb der Fahrer, das hatte nichts zu bedeuten, ein kleiner Möchtegern, der ein bisschen angeben wollte, der den jüngeren Kollegen beweisen musste, dass er sich auskannte mit Frauen. Gut angezogen war er auch, als müsse er ein Weltunternehmen am Messestand einer internationalen Fachausstellung vertreten, aber er vertrat bloß seine Interessen, und die schienen darin zu bestehen, den andern vorzugaukeln, dass er erotische Präferenzen hatte, dass er sich solche erlauben konnte, weil er noch nicht angestaubt war.

»Sie ist seine Schwester«, unterbrach ihn Leo unwirsch.

Der Fahrer lachte auf und tätschelte verlegen seine Brusttaschen, als habe er nie rubenssche Formen andeuten wollen, sondern bloß nach einem atemerfrischenden Halsbonbon gesucht. Er warf Ben einen versöhnlichen Blick zu. »Also, ich hab Ihre Schwester im Hotel Europe abgeholt. Sie hatte bloß eine Handtasche bei sich. Ich habe sie zu einem alten Haus in der Nähe von Vitznau rausgefahren, später zu den Pilatus-Flugzeugwerken nach Stans. Eine hübsche Strecke. Kriegt man nicht alle Tage.«

Was hatte Ingrid bei einem Flugzeugwerk verloren? Vom Fliegen verstand sie überhaupt nichts, sie hatte sich noch nie für Flugzeuge interessiert. »Vielleicht krieg ich Flügel« hatte sie mal gesagt. Warum hatte sie dieses Bild gewählt, hatte sie es von Sayka übernommen oder er von ihr? Hatte sie das Bild gewählt, weil sie sich plötzlich für Flugzeuge interessierte? Hatte sie in all jenen Nächten gar nicht geschlafen, sondern sich heimlich weitergebildet? Ihren Absprung geplant? So wie Ben seinerzeit als Achtzehnjähriger seine Flucht mit Ingrid aus dem perversreligiösen Elternhaus geplant hatte. Das war durchaus möglich, dachte Ben, denn Ingrid war ein bisschen wie er. Warum hatte sie ihn dann um Himmels willen verlassen? Das konnte sie gar nicht gewollt haben. Ben war verzweifelt. Die Ungewissheit nagte an ihm, fraß ihn auf. Blitzschnell griff eine eiserne Faust nach seinen Eingeweiden und zerquetschte jedes Organ. Ben glaubte zu sterben. Ein Angsthagel, der ihm bis dahin fremd gewesen war, schlug unerbittlich auf ihn ein. Er hatte das Gefühl, vernichtet zu werden, wie in jenen grauenhaften Träumen. Aber Ben konnte nicht einfach aufwachen und dem Traum entfliehen. Ben war hellwach. Nur der Tod konnte ihn vor dieser panischen Angst retten, die ihn wie ein klebriger Hautausschlag überzog und lähmte. So nah war er Ingrid noch nie gewesen. So gut hatte er sie noch nie verstanden. In ihm litt Ingrid.

Ein gelbes Pilatus-Flugzeug setzte auf der Landebahn auf und fuhr langsam auf den nächstliegenden Hangar zu. Ein Pilatus PC-7, Turbo-Trainer, der vom schweizerischen Kriegsmaterialgesetz nur deshalb nicht betroffen war, weil er als Ausbildungsflugzeug für junge Piloten diente. Es war ein außerordentlich beliebtes Flugzeug mit geringem Energieverbrauch, schnell und wendig. Das Besondere war die Nutzlastkapazität von über tausend Kilogramm, die selbst der schwergewichtigste Pilot niemals erreichen konnte. Nein, die zivile Präzisionsmaschine aus Stans wurde erst im Ausland mit Maschinengewehrgondeln, Raketen und Napalmbomben bestückt. Und so verwandelten sich die harmlosen Übungsflugzeuge auf dem Weg nach Uganda, Chile, Bolivien, Burma, Tschad und Malaysia zu militärischen Flugmaschinen, die im schweizerischen Kriegsmaterialgesetz hängen geblieben wären. »Light aircraft can strike hard.« Die in Guatemala und anderswo von PC-7 und PC-9 massakrierten Bevölkerungsgruppen werden vom schweizerischen Roten Kreuz betreut. Die Friedenskonferenzen finden in Genf statt. Das ist der berühmte Schweizer Fullservice.

Das Verwaltungsgebäude lag hinter der Landepiste. »Pilatus, ein Unternehmen der Oerlikon-Bührle Gruppe.«

»Ihre Schwester hat sich hier vorgestellt, das war am ...« Casagrande war ein klein gewachsener Mann mit bulligem Oberkörper. Er war braun gebrannt und trug ein weißes Polohemd, was den Körperteint noch stärker hervorhob. Er blätterte mit den vier Fingern seiner rechten Hand in der Agenda, als ließe er sie um die Wette laufen.

»Am letzten Montag war Ihre Schwester hier.«

»Sie hat sich bei Ihnen beworben?«

»Ja«, nickte Casagrande, »erstaunt Sie das?«

»Nein, nein, überhaupt nicht.«

Ben wollte seiner Schwester nichts verbauen. Er kam sich vor wie ein eifersüchtiger, kleinkarierter Ehemann.

»Darf ich fragen, warum Sie Ihre Schwester suchen? Das ist doch eher ... ungewöhnlich. Ich meine ...«

Casagrande hatte völlig Recht. Ben war eine Erklärung schuldig. Es war in Ordnung, dass er fragte, dass er nicht jedem beliebigen Menschen, der ins Personalbüro eindrang, freimütig Auskunft erteilte.

»Ich arbeite als Artist vorübergehend in einem Luzerner Nachtlokal. Meine Schwester und ich, wir wollten uns hier in Luzern treffen. Aber sie ist umgezogen. Ihre neue Anschrift hat sie mir an meine Frankfurter Adresse geschickt. Ich bekomme die Post aber immer mit großer Verspätung. Sie wird nur einmal pro Woche nachgeschickt.«

Ben machte eine Pause, um zu prüfen, ob Casagrande damit zufrieden war. Casagrande zupfte amüsiert sein Ohrläppchen, die Geschichte schien ihn zu amüsieren, aber er glaubte sie. Er nahm ein Klarsichtmäppchen hervor und zog einen Vertrag heraus. »Ihre Schwester wohnt vorübergehend im Hotel Europe. Bis sie eine Wohnung gefunden hat.«

Casagrande erhob sich von seinem Schreibtisch. Er war froh, Ben geholfen zu haben.

»Sie hat das Hotel gestern verlassen.«

Ben war es unangenehm, Casagrande noch weiter in Anspruch zu nehmen. Casagrande war ein durchaus netter Mensch. Ben war überzeugt, dass Ingrid und er sich gut verstehen würden, dass sie hier gut aufgehoben wäre. Casagrande setzte sich wieder und ließ seine Hände auf die Armlehnen klatschen. Er zupfte wieder an seinem Ohrläppchen, als würde er alle Informationen von daher beziehen.

»Bleiben Sie lange in Luzern, Herr Truger?«

»Ich habe ein Saisonengagement.«

Casagrande klatschte freudig in die Hände, er liebte große Gesten. »Das ist ja großartig, dann wird es bestimmt bald eine Gelegenheit geben, Ihre Schwester wiederzusehen. Sie fängt nächsten Monat bei uns an.«

Und dann wollte er mehr über Ben wissen, über die Kunst des Zauberns. Neugierig fragte er Ben aus, der bereitwillig Auskunft gab. Insgeheim hatte sich Casagrande womöglich eine kleine Zaubervorführung erhofft. Er versprach, in den nächsten Tagen mal reinzuschauen, er kannte das »Black Penny« nur vom Hörensagen. Das Telefon klingelte. Die Arbeit hatte ihn wieder eingeholt, und Ben war überzeugt, dass er nie die Zeit finden würde, nach Luzern zu fahren, um Mc Syme, den Meister der Illusionen, zu bewundern.

Aber Leo nahm sich die Zeit. Er war fast ein bisschen enttäuscht gewesen, dass die Jagd bereits zu Ende war. Jetzt saß er im »Black Penny«, allein an einem Tisch, als hoffte er insgeheim, Zeuge einer neuen Entwicklung zu werden, die den Fall ungeheuer erschweren und ihn mit neuen Fährten konfrontieren würde, mit Verdächtigen, die seinen ganzen kriminalistischen Spürsinn herausforderten. Aber nichts geschah. Ben hätte ihn gerne ein bisschen entschädigt, indem er sein Mineralwasser in Wein verwandelt hätte, aber Leo trank bereits Wein. Ziemlich viel. Und Wein in Wasser verwandeln, das konnte Ben nicht. Er konnte keine Wunder vollbringen.

An diesem Abend besuchte noch ein weiterer Gast das »Black Penny«. Bens letzte Vorstellung war vorbei, Leo bereits verschwunden. Der späte Gast setzte sich ohne Umschweife an die Bar. Zwischen Ben und Korge. Aber näher zu Ben. Sutter. Kriminalkommissar Sutter. Miriam brachte Ben den zweiten Orangenwodka. Korge beobachtete unauffällig, wie Sutter den Aschenbecher mit zwiespältigen Gefühlen beiseite schob. Korge hatte wieder dieses Unheil versprühende Glühen in den Augen. Aber er saß zu weit weg. Er verstand kaum ein Wort, denn die Musik hatte wieder eingesetzt. Auf der Bühne entblätterte sich Chanel.

»Haben Sie Ihre Schwester wiedergefunden?« Ben blickte in Sutters Felsgesicht. Aus der Nähe wirkte er noch massiver, der Schnauz noch buschiger. Ben hatte keine große Lust, sich mit Sutter zu unterhalten. Er brauchte seine Fürsorge nicht. Sein Auftauchen im Nachtclub erstaunte ihn, weckte aber keine neuen Hoffnungen. Sutter konnte ihm nichts sagen, was er nicht schon wusste. Von Sutter konnte er nichts erwarten. Ben war fast verärgert, als er sah, dass Sutter etwas bestellen wollte. Sutter störte ihn. Er wartete auf Nora. Bald würde sie hier sein. Er wollte allein sein. Allein mit Nora. Und ein bisschen vergessen.

»Ingrid hat sich nie mehr gemeldet.«

»Aber bei uns«, entgegnete Sutter trocken und bestellte einen Aquavit. Ben wollte nicht mehr weiterhören, er ahnte, warum Sutter hier war. Er wusste es. Es stand in großen Lettern in Sutters Gesicht geschrieben, in Fels gehauen wie die Köpfe auf dem Mount Rushmore.

»Ihre Schwester will jetzt auf eigenen Füßen stehen.

Ben war erschüttert und erleichtert zugleich. Sutter hatte ausgesprochen, was ihm seit Tagen wie ein Tornado durch den Kopf fegte. Jetzt war es Wirklichkeit. Ingrid hatte sich aus ihren Fesseln gelöst. Sie war gesprungen. In die Freiheit gesprungen. Weg von Ben. Ihre Fesseln waren auch seine gewesen. Jetzt war eingetreten, was er sich jahrelang sehnlichst gewünscht hatte, aber die Leere, die sich breit machte, ließ ihn an der eigenen Aufrichtigkeit zweifeln. Hatte er Ingrid wirklich Flügel gewünscht?

»Geht es ihr gut?« Ben war davon überzeugt. Vielleicht wollte er mit dieser fürsorglichen Nachfrage bloß seine neurotische Suchaktion gegenüber Sutter verständlich machen, rechtfertigen.

»Ich denke schon. Aber Sie sollten Ihre Schwester jetzt in Ruhe lassen.«

Sutter schien zu implizieren, dass Ingrids Wohlergehen auch ein bisschen von Bens Verhalten abhing. Wenn er seine Schwester wirklich liebte, sollte er sie endlich in Ruhe lassen. Das war es, was Sutter ihm mitteilen wollte. Und er hat Recht, dachte Ben beschämt, er hat verdammt Recht. Ingrid Zeit lassen. Bis sie sich gefestigt hat. Gelöst hat. Von ihm gelöst hat. Natürlich von ihm. Und später, wenn sie ihr Selbstbewusstsein wiedergefunden haben würde, später, vielleicht, würde sie ihn mal besuchen. Ab und zu.

»Ich soll Ihnen das ausrichten. Im Auftrag Ihrer Schwester. Ich denke, das hab ich jetzt getan.«

Ben strauchelte von einem Gedanken zum andern. Jede Hoffnung zerplatzte wie eine Seifenblase, spritzte ihm höhnisch ins Gesicht. Ben spürte ein brennendes Jucken in den Augenschleimhäuten. Sutter sah, wie sich ein feuchter Glanz über Bens Augen legte. Eine Träne rann ihm die linke Wange hinunter.

»Und dass Professor Sayka gelogen hat, wissen Sie das auch?« Ben presste die Worte heraus, trotzig, er winselte wie ein sterbender Hund, dem Unrecht zugefügt worden war: »Ingrid hat den Professor nach ihrer Flucht aus der Klinik nochmals besucht.«

»Flucht?«, fragte Sutter erstaunt und schaute mitleidig zu Ben hinunter, der sich tief über den dritten Wodka beugte, als habe er nicht mehr die Kraft, das Glas zu heben. Den Wodka trank er pur, ohne Orangensaft, als wolle er sich bestrafen, noch mehr quälen, und er bestellte noch einen Wodka und hoffte, das Glas sei groß genug, um darin ersaufen zu können.

»Ich weiß, dass Ihre Schwester den Professor nochmals besucht hat. Er hat es mir selbst gesagt. Ich hab mit ihm gesprochen. Er hat mir nichts verschwiegen.«

»Haben Sie die Klinik durchsucht?«, antwortete Ben. Er wollte diesen Stiernacken niederzwingen, obwohl er wusste, dass er längst verloren hatte, dass es kein Mysterium mehr zu entschlüsseln gab, aber diesem Sutter, der auf alles eine Antwort wusste, dem wollte er noch eins auswischen, bevor er ihn zum Teufel wünschte.

»Ich hätte jene Klinik durchsuchen sollen, die Ihrer Meinung nach nicht existiert?« Sutter lächelte stumm vor sich hin. Ruhig nippte er an seinem Aquavit. Er schien ihm zu schmecken. Selbstsicher saß er da, unbeeindruckt die nächsten Angriffe von Ben abwartend, um sie souverän parieren zu können. Er wollte nicht einfach verschwinden, er wollte diesem armen Kerl die Chance geben zu begreifen. Und vielleicht wollte er auch Ingrid die Chance geben, die Tannenwipfel zu erreichen.

»Und Sturzberg? Haben Sie Sturzberg gefunden?« Bens Stimme war müde und schleppend. Er stolperte über jedes Wort. Das war kein menschliches Wesen mehr, das hier Laute von sich gab. Das war ein Stückchen Fleisch, das sich willenlos treiben ließ und bei jeder Bewegung knirschte und blutete.

»Ich habe ihn gefunden«, antwortete Sutter und streifte die anderen Gesichter an der Bar, als würde er sich bereits dem nächsten Fall widmen.

»Ich habe Sturzberg gefunden. Ich habe Ihnen eine Chance gegeben, Herr Truger. Weil Sie mir Leid tun. Aber Sie sehen Gespenster. Wir haben über Interpol die Spur von Peter Sturzberg gefunden. Er unterrichtet in einer Missionsschule in Niamey. Es tut mir Leid, Herr Truger, aber das ist die Wahrheit. Sie haben sich verrannt. Das ist weiter nicht schlimm. Das kann schon mal passieren. Aber lassen Sie Ihre Schwester in Ruhe. Sie wird sich schon wieder melden. Ingrid und Professor Sayka drohen mit Anzeigen, wenn Sie nicht vernünftig werden. Man kann nicht einfach nachts in eine Klinik einbrechen. Sonst endet man selber dort.«

Sutter hatte sein Glas leer getrunken und war vom Barhocker runtergestiegen. Seine kräftigen Hände legten sich auf Bens Schulter. »Adieu, Herr Truger.«

Und ein Trompetenfeuer entlud sich im Lokal, als sich Chanel wie eine Raupe aus ihrem dunklen Slip löste, und der Applaus des Publikums prasselte auf Ben nieder, als würde es seine Niederlage feiern. Die Zigarette war zwischen seinen Fingern abgebrannt, aber Ben fühlte keinen Schmerz mehr; eine Portweinflasche hob sich, wie von Geisterhand gesteuert, über sein Glas und entleerte sich. Die Gesichter um ihn glühten im fahlen Licht der Barbeleuchtung, und der Tresen schien in Flammen aufzugehen; Miriams Po quoll auf, und wie ein Walfisch schwamm sie zu ihm rüber, steckte ihm eine brennende Zigarette in den Mund, und Ben sog sich daran fest, während ein salziger Milchnebel die Wände hinuntertroff. Bens Tränen. Und wieder preschte ein tosender Beifall nieder, während sich die Portweinflasche von neuem entleerte. Und Ben hörte Frankys Stimme, als die Decke auseinanderbrach und das Tor sich öffnete. König Alkohol hatte ihn heimgeholt. Hinter dem Tresen stieg eine Katze hoch, und die Katze war Korge, und zwischen dem ätzenden Gebälk drang eine Stimme hindurch, wie durch ein fernes Wolkenloch, und eine Dämonenschar schien zu brüllen, und die Gäste im »Black Penny« schrien sich die Stimmbänder in Fetzen, und die weiche Pfote der Katze hakte ihre Krallen in Bens Ärmel fest.

»Mc Syme, hören sie mich? Wer war der Mann? Was wollte er von Ihnen? Hören Sie mich, Mc Syme? Sie müssen auf die Bühne.« Und Chanel opferte ihren nackten Körper, und feurige Hände griffen nach ihrer Hüfte, und Millionen Lippen saugten sich an ihren Schenkeln fest, und die Riesenkatze leckte Ben den Schweiß von der Stirn und flüsterte: »Mc Syme, sie sind ein großartiger Zauberer. In der Stiftung Temporis haben Sie auch gezaubert. Victor Schneider hat es mir gesagt. Dabei ist etwas verschwunden. Geben Sie es wieder her, Ben, und man wird Ihnen Ingrid zurückgeben.« Ben erhob seine Stimme, aber kein einziger Laut fand zum andern, und es wurden immer mehr, und als Ben das Brennen in der Kehle ersäuft hatte, hörte Korge die klägliche Stimme, die wie ein Heer von angesengten Ameisen über die salzigen Lippen kroch: »Ingrid braucht mich nicht mehr. Sie ist jetzt ganz erwachsen, meine kleine Ingrid, ganz erwachsen.«

»Ich hab mir schon Sorgen gemacht.« Nora legte das schwer beladene Frühstückstablett auf Bens Knie und legte sich neben ihn ins Bett. Bens Magen rebellierte und schien sich zu drehen, unaufhaltsam, wie die Trommel einer alten Waschmaschine. Die Augen brannten wie glühende Kohlen in den Höhlen. Die Schädeldecke war eingestürzt wie das abgebrannte Dach einer Kathedrale. Nora schnürte ihm ein Halstuch mit darin eingerollten Eiswürfeln um die Stirn und band es fest. Ben sah aus wie der letzte Überlebende von Little Big Horn. Er griff nach der Evian-Flasche und löschte die Überreste des nächtlichen Brandes. »Wenn sie mir wenigstens etwas gesagt hätte. Alles wäre viel einfacher gewesen. Ich hätt's schon verstanden.« Ben ließ die leere Plastikflasche auf den Boden kullern.

»Vielleicht war das für sie besonders wichtig«, verteidigte Nora Ingrids Vorgehen. »Ich hätte an ihrer Stelle genauso gehandelt.« Ben blinzelte zu ihr rüber. Jetzt hatte Nora sogar Verständnis für Ingrids Nacht-und-Nebel-Aktion. Aber wenn sie ihm dauernd nach dem Mund geredet hätte, wäre ihm das auch nicht recht gewesen. Das schätzte er an Nora besonders, dass sie unabhängig von der Windrichtung ihre eigene Meinung vorbrachte. Das fiel ihm auf, weil er es bei Ingrid stets vermisst hatte. Der große Meister der Illusionen wirkte ohne Mündel recht hilflos. Er wischte sich müde das Wasser weg, das unter dem Stirnband hervortropfte.

»Freu dich doch, dass sie es geschafft hat.«

»Natürlich freue ich mich, ich bin sogar sehr stolz auf meine Schwester.«

»Sie hat sich vermutlich schon ein bisschen eingelebt in dieser Firma. Lass sie, Ben. Lass ihr Zeit.«

»Sie fängt heute an.«

»Wirst du sie besuchen?«

»Nein, ich glaube nicht, ich muss ihren Entschluss respektieren.« Ben schlürfte den heißen Kaffee wie eine bittere Medizin.

»Der Bereich, in dem Ihre Schwester arbeitet, ist für Besucher gesperrt. Wenn Sie bitte hier warten wollen.«

Casagrande ließ Ben vor Hangar 5 stehen. Der Personalchef führte seine Identifikationskarte in den Leser einer Metalltür ein, die vom Hangar in die technische Abteilung führte.

»Aber sagen Sie ihr nicht, dass sie Besuch hat. Ich will sie überraschen!«, rief ihm Ben nach. Unsicher bewegte er sich auf den Beinen, benommen und schwach, der nachlassende Alkoholspiegel bereitete ihm allmählich Kopfschmerzen. Ein kleines Bier, dachte Ben, das wäre die einzige Möglichkeit, um den Kater zu lindern. Er würde anschließend Leo zu einem kleinen Frühschoppen einladen. Dass Ingrid mit ihm zu Mittag essen würde, hielt er für ausgeschlossen. So stark waren die Vorwürfe, die er sich bereits im Vorfeld des Wiedersehens machte. Er hatte kein Recht, hier zu stehen. Er hatte kein Recht, Ingrid aufzustöbern. Umso heftiger würde sie mit den Flügeln schlagen. Und umso weiter würde sie ihm davonfliegen. Vielleicht war er im Begriff, alles zu zerstören. Er stand da, als sei er für eine Tracht Prügel verabredet, die er unbedingt noch empfangen wollte. Er machte ein paar Schritte auf das Rollfeld zu und schaute zum Parkplatz rüber. Leos Taxi. Vermutlich fraß er sich gierig durch irgendeine mysteriöse amerikanische Kriminalstory, und wenn er sich wieder zu ihm setzte, würde er ihn kurz nach Ingrid fragen, um dann weit auszuholen zu einer brillanten Analyse der möglichen Tatverdächtigen. Leo war ein Bücherwurm.

Ben durchquerte den Hangar. In der Mitte stand ein gelbes Pilatusflugzeug mit geöffnetem Bauch. Auf fahrbaren Gerüsten Motorenteile. Werbeplakate. »Light aircraft can strike hard«. Ein Bewaffnungsprospekt der neuen PC-9 auf einem ölverschmierten Fass. Automatic gas-operated MAC machine guns, NATO 7.62 mm calibre. Electro-hydraulic machine gun cocking device.

»Ben, ist das eine Überraschung, bist du entlassen?« Ben fuhr herum und fiel beinahe rückwärts über eine Bockleiter. Ingrid hatte sich in seine Arme geworfen. Ben war überglücklich, er drückte sie fest an sich, suhlte seinen Kopf in ihrem blonden Haar und sog den Duft ihres Eau de parfum »Prudence« in sich hinein. Und dieses Parfüm wollte er in Zukunft auch benutzen, und was Ingrid ihm angetan hatte, war vergessen, dass sie ins Leben zurückgefunden hatte, freute ihn, nur das zählte, und am liebsten hätte er auch Casagrande umarmt, der sich still mitfreute über das stürmische Wiedersehen der beiden Geschwister. Ben hielt Ingrid fest, er streichelte sie. Ihre Hüfte war weicher geworden. Plötzlich erstarrte er, packte Ingrid an beiden Schultern und stieß sie von sich. Ingrid war nicht Ingrid. Die Frau vor ihm trug Ingrids Kleider, sie benutzte das gleiche Parfum, auch der blonde Pagenschnitt stimmte, aber ihre Brüste waren genauso, wie sie der pomadierte Taxichauffeur angedeutet hatte. Groß und straff spannten sie sich unter dem engen, roten T-Shirt. Und ihr Gesicht war kühl, unerschrocken, erbarmungslos. Wenn sie lächelte, bewegten sich nur die sinnlichen Lippen, und die Augen funkelten noch gefährlicher.

»Diese Frau ist nicht meine Schwester«, sagte Ben aufgeregt und sah sich Hilfe suchend nach Casagrande um, der langsam auf ihn zukam. Befremden. War nicht ein Mann zu ihm gekommen, der hier seine Schwester wiedersehen wollte? Hatte die Schwester nicht ihren Bruder wiedererkannt?

»Bitte, Ben, nicht schon wieder«, flehte die blonde Frau, die nicht Ingrid war. Sie wollte Ben berühren, aber er entzog sich ihrer Hand, als befürchte er, durch die Berührung in einen hässlichen Frosch verzaubert zu werden.

»Bist du aus der Klinik geflohen?«, fragte sie ernst. Casagrande wollte etwas sagen, aber Ben kam ihm zuvor. »Rufen Sie die Polizei.«

Casagrande bewegte sich nicht. Er schaute Ben an, und Ben schien ihm leid zu tun.

»Was geht hier vor?«, fragte er die blonde Frau.

Er fragte sie und nicht Ben, denn Ben war der Kranke, der Unberechenbare. Die blonde Frau schaute Casagrande verzweifelt an, sie schien den Tränen nahe, dann wandte sie ihren Blick von ihm ab, ging ein paar Schritte auf Ben zu, und ein triumphierendes Lächeln huschte wie ein Regenbogen über ihr Gesicht.

»Bitte, Ben«, flehte sie, »das ist mein erster Arbeitstag heute.«

»Wann haben Sie diese Frau zum ersten Mal gesehen, Herr Casagrande? Persönlich.«

»Vor zwei Wochen, das war am ... neunzehnten.« Der Regenbogen im Gesicht der blonden Frau ergraute. Es gefiel ihr nicht, dass Casagrande sich mit Ben unterhielt.

»Darf ich das Telefon benutzen?«, fragte sie scheinheilig und tat so, als sei sie aufrichtig um das Wohlergehen ihres kranken Bruders bemüht. Ohne die Antwort des verwirrten Personalchefs abzuwarten, ging sie zielstrebig auf den Wandapparat zu, der über dem Stehpult an der Werkzeugwand montiert war. »Ich muss sofort die Klinik benachrichtigen.«

Ben schnitt ihr den Weg ab. Casagrande folgte den beiden mit großen Schritten und blieb dann unschlüssig stehen.

»Sie haben diese Frau am neunzehnten zum ersten Mal gesehen. Seit diesem Tag ist meine Schwester Ingrid spurlos verschwunden.« Mit einer wilden Bewegung löste die blonde Frau ihr Handgelenk aus Bens Umklammerung. Wütend riss sie den Telefonhörer von der Gabel.

»Können Sie sich ausweisen?«, schrie Ben verzweifelt, denn er spürte, dass er nicht mehr viel Zeit hatte.

»Hör jetzt auf, Ben, du benimmst dich unmöglich.« Die blonde Frau riss einen Ausweis aus ihrer Hosentasche und streckte ihn demonstrativ in die Höhe. Wie ein Schiedsrichter die rote Karte. Ben riss ihr den Ausweis aus der Hand.

Der Personalchef hatte sich entschieden. Er stellte sich schützend vor die blonde Frau.

»Das ist der Ausweis von Ingrid!«, schrie Ben und steckte ihn ein.

»Und Ingrid ist Ihre Schwester?«, fragte Casagrande mit zusammengekniffenen Augen, als bereite ihm das Nachdenken Kopfschmerzen.

»Natürlich«, lachte die blonde Frau, während sie die Drehscheibe des Telefons zurückfahren ließ, »das ist der Ausweis von Ingrid. Das ist mein Ausweis. Ich bin seine Schwester.«

Die blonde Frau sprach jetzt nicht mehr zu Ben. Sie versuchte, den Personalchef zu überzeugen. Und das war falsch. Ben schöpfte neue Hoffnung. Die blonde Frau hatte das Geschwisterspiel beendet, jetzt verteidigte sie sich wie eine Angeklagte vor dem Richter. Aber Casagrande hatte sein Urteil längst gefallt.

»Es ist wohl das Beste, wenn Sie jetzt die Klinik anrufen.«

Ben verließ fluchtartig den Hangar und rannte über das Rollfeld zum Parkplatz hinüber. Ein Mann stand neben dem Taxi. Er schien sich mit Leo zu unterhalten. Vermutlich hatte er einsteigen wollen. Aber auf Leo war Verlass. Während sich der Mann entfernte, verlangsamte Ben seinen Schritt. Er wollte nicht unnötig auffallen.

Ben öffnete die Beifahrertür des Taxis und setzte sich erschöpft auf den Sitz. Er starrte vor sich hin. Doch Leo stellte ihm keine Fragen. Er ließ ihn verschnaufen.

»Ingrid ist nicht Ingrid«, keuchte Ben.

Leo schwieg. Er lehnte entspannt in seinem Sitz, den Kopf in der Nackenstütze. Auf der aufgeschlagenen Buchseite in seiner rechten Hand streckte ein roter Farbklecks seine Fühler aus. Leo war tot. In seiner Stirn klaffte ein Loch. Aus dem schwarz umrandeten kleinen Krater rann das Blut heraus. Wie aus einem frisch angestochenen Farbeimer.

Das Klappern von dünnen Absätzen auf dem Asphalt. Ben hob das Becken hoch und ließ sich blitzschnell auf die schwarz gerillte Plastikmatte zu seinen Füßen hinuntergleiten. Die blonde Frau rannte über den Parkplatz. Wie in Zeitlupe arbeitete sich Ben wieder hoch, bis er im Innenrückspiegel den weißen BMW sah, der reifenquietschend aus einer Parklücke hinausschoss und auf die Nationalstraße zusteuerte. Ben riss Leo zu sich rüber und zwängte sich mühsam hinter das Steuerrad. Er startete den Motor und nahm die Verfolgung des weißen BMW auf.

Als sie die Stadt erreicht hatten, wurde die Verfolgung wesentlich schwieriger. Rushhour. Ein Verkehrschaos auf dem Schwanenplatz. Ein Lastwagen war stecken geblieben. Unter der Motorhaube stieg grauer Rauch auf. Die Mittagssonne lastete wie eine glühende Faust auf Luzern. Der weiße BMW fuhr am Hotel Astoria vorbei in Richtung Lido Beach. Vor dem Verkehrshaus, dem größten Verkehrsmuseum Europas, bog die blonde Frau nach links ab. Sie stellte den Wagen hinter einem grau metallisierten Peugeot mit französischem Kennzeichen ab und versperrte diesem die Ausfahrt. Offenbar wollte sie nur etwas erledigen und bald wieder weiterfahren. Trotzdem schloss sie die Tür ab. Eilig lief sie auf den Eingang des Museums zu. Ben stellte das Taxi vor den weißen BMW und riss beim hinteren Reifen das Ventil auf.

Cadillac Fleetwood Brougham, 8080 Kubikzentimeter, 190 PS, Höchstgeschwindigkeit 181 Kilometer pro Stunde. Rot lackiert. Die Spur von Ingrids Doppelgängerin verlor sich zwischen den Marksteinen der Automobilgeschichte im Erdgeschoss der Halle »Straßenverkehr«. Ben blieb vor dem rot lackierten Cadillac stehen und überflog nervös die zahlreichen Besuchergruppen, die sich wie ein zähflüssiges Rinnsal zwischen den Oldtimern teilten, wieder zusammenflossen und von neuen Gruppen durchsetzt wurden. Die Tür des Cadillacs sprang auf und schnellte gegen Bens Knie. Sattler stieg aus. Einen schwarzen Regenschirm unter dem Arm.

Ben hetzte die Eisentreppe zu den Holzschleifen und zweikufigen Schlitten der Vorzeit hinunter, rannte an den sumerischen Jagd- und Streitwagen vorbei, bis er schließlich atemlos hinter einem schwarzen Citroen 7 S »Traction Avant« stehen blieb und nach Luft rang. Das erste europäische Auto mit hydraulischen Bremsen, 1934. Niedrige Monocoque-Ganzstahl-Karosserie, nasse Zylinderlaufbüchsen. Gegenüber der gelbe Citroen 5 CV von André Citroën. Furore hatte der Wagen seinerzeit fast ausschließlich wegen der für Autos ungewohnten Farbe gemacht: gelb. Dahinter schwarz. Sattlers Regenschirm. Ben rettete sich in eine schottische Besuchergruppe.

Die Ae 6/6-Einphasen-Wechselstrom-Lokomotive schoss aus dem Naxbergtunnel heraus. Auf dem originalgetreu nachgebildeten Bahnhof Erstfeld standen kleine Elastolinfiguren umher. Eine riesige Modellbahnanlage, Miniaturwelt im HO-Baumaßstab 1:87. Erstfeld bis Göschenen. Ben zwängte sich in die vorderste Zuschauerreihe. Sattler hatte ihn wieder aufgespürt. Er stand am Hallenausgang, der zur Spanisch-Brötli-Bahn führte. Jetzt kam er langsam auf ihn zu, den schwarzen Regenschirm unter dem Arm, die Spitze nach vorne gerichtet. Der Hallenausgang war frei. Er führte direkt auf das offene Areal mit den Originalfahrzeugen hinaus. Dort stand jetzt Simon. Als Ben ihn erkannte, glotzte er dumpf auf einen hölzernen Grubenhund aus einem Simmentaler Kohlenbergwerk des 18. Jahrhunderts. Ein Vorläufer der Eisenbahn. Ben zwängte sich in eine Gruppe japanischer Touristen und verschaffte sich mit den Ellbogen einen Platz in der ersten Reihe. Die Japaner musterten ihn neugierig, verärgert, erbost. Aber als sie die Angst in seinem Gesicht sahen, reagierten sie belustigt. Aus dem Miniaturtunnel fuhr eine Schlepptender-Schnellzuglokomotive A 315 hinaus. Ein kaum hörbares Pfeifen. Sattler senkte seinen Schirm. Die schwarze Gotthard-Lok krachte auf den Bahnhof Erstfeld hinunter und riss die Vorhalle ein. Die Zuschauer drehten sich um, schauten Hilfe suchend zum nächsten Wächter, sie wollten den Vorfall melden, sie wollten die A 3/5 der 900er-Serie nochmals sehen, wie sie aus dem Berg hinausfuhr. Sattler und Simon kamen näher. Ein Güterzug fuhr an Ben vorbei. Ben griff nach der Güterzuglokomotive der Schweizerischen Bundesbahnen und hob sie hoch.

»Meine Damen und Herren, das ist die Krokodillokomotive vom Typ Ce 6/8 II. Wie Sie hier sehen, bilden die beiden Triebgestelle das Fundament für die beiden Führerstände im Mittelteil.«

Die Zuschauer hatten den Wächter vergessen, die Krokodillokomotive dazu. Die Japaner lächelten. Sie wussten nicht, ob Bens Vorstellung ins Programm gehörte oder nicht. Der Wächter wusste es. Er eilte auf Ben zu. Ben griff panikartig nach der schwarzen Schlepptenderlok, die den Plastikberg hinunterfuhr. Die Güterwagen baumelten an der Kupplung, bis diese schließlich riss.

»He, Sie da, sind Sie eigentlich verrückt geworden?«

»Dieses Modell fehlt in meiner Sammlung, ich nehme es gleich mit«, entgegnete Ben unschuldig. Jetzt standen Sattler und Simon dicht vor ihm. Der Wächter schob sie beiseite und ergriff energisch Bens Arm, der mit der Lok in der Hand in der Luft umherfuchtelte.

»Geben Sie die Lok her.«

»Wieso? Ein großartiges Modell. Nennleistung 1200 Kilowatt, Höchstgeschwindigkeit neunzig Kilometer pro Stunde. Gesamtgewicht schätzungsweise 83 Tonnen. Hm?«

Ben wandte sich blitzschnell an Simon.

»Wie schwer ist eigentlich die Lokomotive, die Sie vorher gestohlen haben?«

Ben gab dem Wächter die Lok zurück. Der Wächter nickte stumm und packte Simon am Arm.

»Der Mann ist verrückt!«, schrie Simon und wollte sich losreißen. Aber da hatte ihn Ben bereits am Kragen näher gezogen und in seine Jackeninnentasche gegriffen. Blitzschnell zog er die großkalibrige Pistole hervor und ließ sie absichtlich unbekümmert um den Zeigefinger wirbeln. Die Gaffer wichen entsetzt zurück.

»Tut mir leid«, grinste Ben Simon ins Gesicht, »ich hab das Ding für eine Diesellok gehalten.«

Und plötzlich war die Waffe aus seiner Hand verschwunden. Ben rannte los, so schnell er konnte, direkt auf das offene Areal hinaus. Der Wächter wollte ihm folgen, aber Sattler stellte ihm ein Bein.

Keuchend blieben Sattler und Simon unter der Nasenspitze der Convair CV-990 »Coronado« stehen, dem schnellsten Unterschallverkehrsflugzeug der sechziger Jahre. Am liebsten hätten sie Feuer gelegt, um Ben hinter den zahlreichen Büschen und Sträuchern, die das Areal umrandeten, hervorzulocken. Sattler und Simon teilten sich das Areal auf. Das Cockpit. Ben saß im Cockpit der Coronado. Sattler hetzte die Metallsprossen hinauf und drang in die Maschine ein.

»Ich will verhandeln!«, schrie Ben und verkroch sich unter einer Sitzreihe. Vor ihm eine zerbeulte, leere Cola-Dose. Sattlers Schuhe. Er kam näher. Ben streckte sich nach der Aluminiumdose und warf sie hoch über die Sitzlehnen hinaus. Zwei Schüsse peitschten durch die Kabine. Stille. Ben am Boden, zwischen zwei Sitzreihen. Er sah nur die beiden Füße von Sattler. Sie bewegten sich weiter. Näher zu ihm. Noch zwei Schritte, und er war auf gleicher Höhe mit Ben. Ein Blick nach rechts würde genügen. Ben löste die Sperrsicherung der Walther-Pistole und drückte ab. Mehrmals hintereinander. Sattlers Füße wurden aus seinem Blickfeld geschleudert. Sattlers Kopf knallte auf den Boden. Direkt vor Ben. Er rollte die Augen, biss sich die Lippen blutig. Er stöhnte. Er hätte kein zweites Mal nach seiner Waffe greifen dürfen.

»Nein«, hatte Ben geflüstert, »tun Sie das bitte nicht«. Aber Sattler war weitergekrochen, hatte sich nach seiner Waffe gestreckt. Als er sie gegen Ben richten wollte, traf in das Blei mitten in die Wange.

Vor einem Halleneingang hing das Düsenkampfflugzeug N-20 »Aiguillon« mit der absprengbaren Pilotenkabine. Unter dem linken Deltaflügel stand Simon. Neben ihm die blonde Frau. Als sie Ben aus der Swissair-Maschine steigen sahen, flüchteten sie in die Halle. Offensichtlich hatte das Verkehrsmuseum als Treffpunkt gedient. Die Anwesenheit von Sattler und Simon bestätigte Bens Vermutung. Die Temporis AG und die Klinik von Professor Sayka arbeiteten zusammen. Ben wusste, wo er weiterzusuchen hatte. Aber zuerst wollte er die blonde Frau sprechen. Sie musste Ingrid gesehen haben. Denn sie war ihre beinahe perfekte Doppelgängerin.

»Die Entfernung des nächsten Fixsternes beträgt viereinhalb Lichtjahre. Ein Lichtjahr ist die Entfernung, die das Licht in einem Jahr zurücklegt. Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Lichtes entspricht dreihunderttausend Kilometern pro Sekunde.«

Ben tastete sich zwischen den ringförmig aufgestellten Stühlen des Planetariums hindurch. In der Dunkelheit zeichneten sich Silhouetten von Menschen ab. In der Mitte des halbkugelförmigen Saales stand der zweieinhalb Tonnen schwere Planetariumsprojektor, der hundertachtundfünfzig Einzelprojektoren enthielt und in Zeitraffung die tägliche und jährliche Bewegung von Sonne, Mond und Planeten in vollendeter Illusion an die Saalkuppel zauberte. Die sechsundzwanzigtausend Jahre dauernde Verschiebung des Himmelspols dauerte hier nur wenige Minuten. Unter der Saalkuppel glitzerte majestätisch der nördliche Sternenhimmel. Eine sanfte Frauenstimme kommentierte die Bahnen der Kometen, erklärte geduldig, wie eine Sonnenfinsternis entsteht, und sie vergaß zu sagen, dass dieser glühende Leuchtkörper, die Sonne, nach dem atomaren Schlagabtausch, der nur wenige Tage dauern würde, verschwinden würde hinter einem kilometerdicken schwarzen Vorhang aus Ruß, Staub und Rauchpartikeln. Dass eine ewige Nacht einbrechen wird, für Monate, und das einzige Licht, das noch leuchten wird, wird der riesige Feuersturm sein, in dem Städte wie Kartenhäuser zerfallen, und die nachfolgende eisige Kälte wird das Getreide auf den Feldern einfrieren, im atomaren Frost werden Gewässer und Seen vereisen, und die Selbstmörder werden wie Eiszapfen an den Bäumen hängen. Und wenn nach Monaten der Dunkelheit und Kälte die ersten Sonnenstrahlen die schwarze Himmelstapete durchbrechen, wird der letzte Irrläufer der Evolution endlich gestorben sein.

Fast ehrfürchtig stand Ben unter dem künstlichen Sternenhimmel und dachte an den Luftchemiker Paul Crutzen, den Kellnersohn, dem selbst das Waldsterben ein zu heißes Eisen war, bis er auf den Feuersturm stieß, den Hitze und Druckwellen von dreizehntausend Megatonnen atomaren Sprengstoffs entfachen. Und damit auf den nuklearen Winter, eine durch menschlichen Größenwahn reproduzierte ägyptische Finsternis, wie sie die 18. Dynastie der Pharaonen heimgesucht hatte. Nur würde diesmal kein Vulkan ausbrechen, sondern ein atomares Pulverfass. Ben war froh, kein Kind zu sein. Und vor allem: keine zu haben. Denn in dieser Zweibeinerhorde, die sich wie ein hungriger Heuschreckenschwarm plündernd über die Erdkugel ausbreitete, wuchs alles. Mit Ausnahme der Vernunft.

Ben stieg die letzten Stufen hinunter, bis er vor den riesengroßen, dreidimensionalen Körpern unter dem Sternenhimmel stand, die langsam und unbeirrbar ihrer Bahn folgten. Zwischen Sonne und Mond stand Simon. Er hatte sich in der zweiten Reihe verschanzt. Wie ein alter Greis stützte sich Ben auf Sattlers Regenschirm und stieg mit zittriger Hand die Stufen zwischen den gegenüberliegenden Sitzreihen hoch. Simon konnte nur seine Silhouette sehen. Ben setzte sich direkt hinter ihn. Er stellte die Schirmspitze auf Simons Stuhllehne, jedoch ohne ihn selbst zu berühren. Er wartete, bis die Tonbandstimme weitersprach. Dann stieß er den Schirm sanft nach vorn.

»Wo ist Ingrid?«, flüsterte er leise.

Simon wollte erschreckt aufspringen, aber Ben hielt ihn mit der anderen Hand auf dem Sitz zurück und wiederholte seine Frage.

»Was haben Sie vor, Mc Syme, machen Sie keine Dummheiten.«

Simon versuchte ihn hinzuhalten. Die Vorstellung würde bald zu Ende sein. Für wenige Minuten wäre der Saal dann hell. Diesen Augenblick wollte Simon nutzen. Er schwieg, bewegte sich nicht, um Ben nicht zu provozieren. Simon wusste, dass Sattler tot war. Und noch hatte Ben seine Ingrid nicht wiedergefunden. Die Sonne erlosch und mit ihr der ganze Planetenhimmel. Ein sanftes Licht durchflutete den Saal. Die Besucher standen auf und strömten dem Ausgang zu. Und irgendwo im Geknäuel entdeckte Ben ein rotes T-Shirt. Simon stand auf.

»Bleiben Sie sitzen. Ich will verhandeln.«

»Sie sind ein toter Mann«, antwortete Simon unbeeindruckt.

»Sagen Sie Ihrem Chef, dass ich Ingrid zurückhaben will. Dann verlassen wir Luzern. Für immer.«

»Ich werd's ausrichten«, grinste Simon. Er schien damit vermitteln zu wollen, dass es zwecklos war. »Wo können wir Sie erreichen?«

Er unterschätzte Ben. Er konnte nicht ahnen, was sie ihm mit Ingrid weggenommen hatten.

»Ich werde einen Unterhändler suchen«, entgegnete Ben und ließ Simon ziehen.

Der weiße BMW war verschwunden, das Taxi leer. Sie hatten Leos Leiche weggeschafft. Sogar das Taschenbuch, in dem er kurz vor seinem Tod noch gelesen hatte, war weg. Keine Blutspur, nichts. Ben stand allein da. Auf dem Parkplatz, inmitten von hunderten von Autos. In jedem Kofferraum konnte Leos Leiche liegen. Eine schwarze Limousine fuhr lautlos an ihm vorbei. Gesichter hinter braun getönten Scheiben. Nicht erkennbar. Das CD-Zeichen am Nummernschild erinnerte ihn an irgendetwas. Hatte er den Wagen nicht schon mal gesehen? Vor der Stiftung Temporis? Oder war das jene Limousine, die ihm heute Morgen auf der Autobahn aufgefallen war? Auf der Fahrt von Stans nach Luzern? Er hatte sich nichts dabei gedacht. Heute Morgen. Aber jetzt dämmerte ihm allmählich, dass er es mit einer Organisation zu tun hatte. Das hätte er mal Sutter erzählen sollen ...

»Ich habe einen Magier engagiert, aber die Feuerpolizei macht Schwierigkeiten.« Korge lachte wie ein alter Grislybär, bis ihn ein Hustenanfall einholte. Umgekippte Stühle auf den Tischen. Um diese Zeit war das »Black Penny« noch geschlossen.

»Das ist eine Rochade.« Korge nahm den weißen Turm und den weißen König vom Brett und ließ die beiden Figuren die Plätze tauschen. »Das ist ein zulässiger Doppelzug«, fügte er hinzu. Er schaute Ben mit diesem unheilvollen Blick an, als habe er ihm soeben eine schlimme Diagnose gestellt. Ben verstand nicht. Er hatte keine Lust, mit Korge herumzualbern, sich Geschichten von afrikanischen Stämmen anzuhören oder Schachpositionen erklären zu lassen.

»Ihre Zeit ist abgelaufen, Korge. Was haben Sie erreicht? Nichts.«

Bens Stimme klang energisch. Korge schaute verwundert zu ihm hoch. So kannte er ihn gar nicht. Das Glas vor ihm war leer.

»Das Foto von Sturzberg war eine Kopie, deshalb habe ich nichts erreicht.«

»Aber das Foto von Ingrid war echt.«

Ben setzte sich zu Korge an die Bar.

»Sind Sie hergekommen, um mir das zu sagen?«

Korge griff zur Flasche. Ben kam ihm zuvor.

»Herr Korge, wollen Sie für mich ein Geschäft abwickeln? Ich brauche einen Vermittler.« Ben erzählte ihm alles, was er wusste. Er hatte zwar kein besonders großes Vertrauen zu Korge, aber er kannte niemanden, den er als Vermittler hätte vorschieben können. Doch vielleicht würde ihm Korge helfen. Denn er liebte Nora, und er wusste, dass Ben jetzt bei ihr wohnte.

Es war bereits später Nachmittag, als Korge die leere Portweinflasche hinter den Tresen zurückstellte. »Ihre Chancen, die nächsten vierzehn Tage zu überleben, stehen nicht sehr gut, Mc Syme. Ich will ganz offen sein, Sie haben es vermutlich mit einem Geheimdienst zu tun, ich weiß nicht, mit welchem. Vermutlich mit dem amerikanischen. Das spielt keine Rolle. Sie arbeiten alle gleich. Die Stiftung Temporis hat durch ihre Vermittlungstätigkeit Zugang zu hunderten von Lebensläufen. Hier suchen sie geeignete Legenden für ihre Agenten, bevor sie diese einschleusen.«

»Was passiert mit den Menschen? Was haben sie mit Sturzberg gemacht?«

Korge warf Ben die Mittwochsausgabe der »Neuen Zürcher Zeitung« über den Tresen. Auf der Titelseite das lachende Gesicht von Peter Sturzberg. Sturzberg, der Attentäter. Er hatte den Präsidentenpalast in Niamey, der Hauptstadt der Republik Niger, in die Luft gesprengt und war dabei selber ums Leben gekommen. Der Putschversuch war misslungen. Die Bombe hatte er in einem Brotkorb versteckt. Nach Aussagen von ausländischen Regierungsquellen soll Sturzberg geistesgestört gewesen sein. Erst kürzlich habe er sich in einer Schweizer Klinik behandeln lassen. Lassen müssen.

Ben starrte Korge flehend an, als wollte er ihn bitten, nicht noch eine weitere Zeitung über den Tresen zu werfen. Bloß keine mit Ingrid auf der Titelseite.

»Wo bleibt Ingrid?«, stotterte Ben.

»Die Antwort finden Sie in der Klinik.«

Der Flur zur Linken führte zum Interviewzimmer. Dort hatte er bei seinem ersten Einbruch Sturzberg gesehen. Ben nahm den Flur zur rechten Seite. Er war entschlossen, die Klinik nicht ohne Ingrid zu verlassen. Er wusste, dass ihm heute alles gelingen musste. Denn es gab keinen Leo mehr, der unten im Wald auf ihn wartete. Er war allein. Er hatte das Gefühl, mit Leo seinen einzigen Freund verloren zu haben, jetzt, wo er tot war, sehnte er sich geradezu nach seiner Gegenwart, nach seinen listigen Augen und all den wunderlichen Geschichten. In einigen Jahren würde er sich nur noch an einen Taxifahrer erinnern können, der einen schwarzen Mercedes fuhr und ab und zu vergaß, den Gebührenzähler anzustellen. Falls er dann noch lebte. Er verstand nicht, wieso sie Leo und nicht ihn umgebracht hatten.

Der Flur war düster, schlecht beleuchtet. Metalltüren links und rechts, angeordnet wie Häftlingszellen. Neben jeder Tür hing eine schwarze Tafel mit einem kleinen Vorsatz. Darauf lag ein Stück Kreide. Die Tafeln waren wie Agenden nach Stunden gegliedert.

05.30: 1,5 ccm Methedrine.

07.00: Amytal-Interview.

Ben hob die Sichtklappe hoch und spähte ins schwach erleuchtete Zimmer hinein. Ein klinisch sauberer Raum. Ein Mann lag schlafend in einem Bett. Er hing am Tropf. Das durchsichtige Plastikkabel führte bis zum rechten Arm hinunter und war dort an eine Spritze gekoppelt, die in der Armvene steckte und mit Pflaster befestigt war. Links und rechts vom Bett Lautsprecher. Sanft rieselte eine Stimme wie frischer Tau auf den Schlafenden hinab.

»Die Welt ist schön, das Leben ist schön, Sie sind unwiderstehlich, Sie sind begehrt, jede Frau begehrt Sie, und das ist die Wahrheit, nichts als die reine Wahrheit ... Die Welt ist schön, das Leben ist schön ...«

Es war die Stimme von Professor Sayka. Ben schloss die Sichtblende wieder zu und ging zur nächsten Tür. Grelle Raumbeleuchtung. Eine nackte Frau japste nach Luft. Sie hielt eine Fliegenklappe in der Hand und fuchtelte damit wild in der Luft herum. Das Summen von Fliegen. Und die beschwörende Stimme von Sayka: »Der Virus ist tödlich. Der Virus wird durch Stechmücken übertragen. Schützen Sie sich davor. Sie haben eine reelle Chance. Der Virus ist tödlich ...«

Jetzt wurde die Stimme plötzlich lauter. Tausende von Mücken schienen sich auf die Frau niederzustürzen. Sie erbrach vor Angst. Ben erschrak. Er war aus Versehen mit dem Handrücken an eine gekerbte, kleine Scheibe gestoßen. Erst jetzt entdeckte er, dass diese kleine Scheibe als Lautstärkeregler diente. Ben steckte den Fingernagel in die dünne Kerbe und drehte den Knopf zurück. Die Frau sank zu Boden und blieb erschöpft im Erbrochenen liegen. An der Tafel stand:

M 4 Angst.

07.00 Angstinduktion durch Curare.

08.00 Interview ohne Sauerstoff.

Keine Nahrung.

In jeder Zelle eine neue Variation des Grauens. Und nirgends Ingrid. Noch eine Zelle, die letzte. Ben hob die Klappe hoch und senkte sie gleich wieder. Ein nackter Mann auf einem Stuhl. Links und rechts von ihm Sayka und der breitschultrige Pfleger.

»Gestehen Sie«, bat Sayka. Seine Stimme klang fast verzweifelt. »Ersparen Sie uns bitte rohe Gewaltanwendung«, flehte er. Es schien so, als würde er mitleiden.

»Sagen Sie mir um Gottes willen, was ich gestehen soll.« Die hysterische Stimme des Gefangenen überschlug sich.

Und dann hörte Ben das leise Flüstern von Professor Sayka: »Sie haben den ersten Weltkrieg angezettelt.«

06.00 Pentothal. Narkoanalyse. Biografie 735.

Ben stand jetzt vor einer breiten Glasfront. Er nahm den Schlüsselbund, den er seinerzeit dem Pfleger abgenommen hatte, als ihm dieser den Weg versperrte. Er öffnete die Glastür und betrat einen kühlen EDV-Raum. Der frische Luftzug war angenehm. An den Wänden hingen 18 Monitoren. Die Frau mit der Fliegenklappe, Sayka und all die andern. Ein Regal mit Magnetbändern. Bluebird. Ben steckte das Magnetband in seine kleine Sporttasche und suchte weiter. Er beugte sich über einen Bildschirm und las den Text:

Nummer II hat DDD abgeschlossen. Ab Montag frei programmierbar. Bericht.

A. Debility: Bei Eintritt

B. Dependency: Nach 24 Tagen

C. Dread: Nach 5 Tagen

Testergebnis nach Milgram/Gehorsamsexperiment, Variante 7/210 Volt.

Ben drückte auf die breite Taste mit dem nach unten weisenden Pfeilsymbol. Der Bildschirmtext wurde Zeile um Zeile nach oben geblättert.

Ben starrte wie hypnotisiert vor Schrecken auf den Monitor und las mechanisch weiter. Plötzlich verschwand der Text, vermutlich hatte er die falsche Taste erwischt. Er war ins Auswahlmenü zurückgefallen. Das Auswahlmenü hieß »Bluebird«.

001 Patienten 1 bis 18

002 Biografien 1 - 753

003 Gehirnwäsche nach Biedermann

004 Psychotechniken nach Sayka

005 Deprivationstechniken nach Sayka

006 Hypnosetechniken nach Rossel

007 Interaktionstechniken nach Sayka

008 Interviewtechniken nach Schobert/Moll

009 Kommunikationstechniken nach Karpowski

010 Konditionierungstechniken nach Dumont

011 Psychopharmaka

Die Bildschirminformation am unteren Rand forderte ihn auf, ein Programm zu wählen. Ben drückte »001 Patienten I«. Das Auswahlmenü wurde umgeladen. Er hörte die Drehbewegungen der Diskette im Laufwerk. Der Bildschirm blieb dunkel. Auch die Positionsanzeige am oberen Rand »001 Bluebird« war erloschen. Der Zeichenzähler hatte aufgehört zu zählen. Auf dem Bildschirm spiegelte sich das Gesicht von Professor Sayka.

»Was darf ich Ihnen heute anbieten, Herr Truger? Kaffee?«

»Ich hole Ingrid ab.«

Der breit gebaute Pfleger streckte seine Finger nach dem Schlüsselbund aus, den Ben in der Hand hielt.

»Er ist Zauberkünstler«, lächelte Sayka, »aber es gelingt ihm nicht alles, nicht wahr, Herr Truger?«

»Wo ist meine Schwester.«

»Ihre Halbschwester?«, spottete Sayka und forderte Ben auf, ihm zu folgen. Er führte ihn nicht zu Ingrid, sondern in sein Büro.

»Wollen Sie mich hier festhalten?«, fragte Ben verunsichert.

»Nein, aber was Sie gesehen haben, werden wir wieder auslöschen.«

»Ich warne Sie, Herr Professor, ich bin nicht allein gekommen.«

»Wir haben Ihr Ruderboot am Ufer gefunden, Herr Truger, aber ich fürchte, den Heimweg schaffen Sie auch ohne.« Professor Sayka schloss einen kleinen Schrank auf und nahm eine Ampulle und eine Wegwerfspritze heraus.

»Ich habe meine Sicherheitsvorkehrungen getroffen«, drohte Ben, aber Sayka war nicht zu beeindrucken.

»Darüber werden Sie mir gleich berichten. Offen und ausführlich.« Der Pfleger grinste debil vor sich hin und verließ das Zimmer. Er wirkte wie die frankensteinsche Konstruktion eines hirnlosen Elitesportlers, den irgendeine verkommene High-Tech-Republik zur nächsten Olympiade schicken wollte.

»Haben Sie besondere Präferenzen? Pentothal oder Amytal?« Ben starrte zur Tür. Hinter der Milchscheibe glänzte die Silhouette einer menschlichen Masse.

»Er steht vor der Tür. Ersparen Sie uns bitte rohe Gewaltanwendung.« Ben musste an den nackten Mann denken. Genauso hatte Sayka auch zu ihm gesprochen. Sayka brach die Spitze der Ampulle ab und führte die Nadel der Wegwerfspritze in die gläserne Öffnung

»Wir nennen diese Pharmaka auch Wahrheitsdrogen oder Plauderdrogen. Wir verwenden sie bei der Narkoanalyse. Mithilfe der hypnotisch wirkenden Pharmaka geben wir dem Patienten die Möglichkeit, sich an schmerzhafte Erinnerungen, verdrängte Erlebnisse zu erinnern. Bei der Heilung von Kriegsneurosen hat sich das Medikament sehr bewährt. Allerdings ist es heute sehr verpönt. Es wird nur noch in ein paar südamerikanischen Ländern benutzt, Chile, Uruguay ... Machen Sie bitte Ihren rechten Oberarm frei.«

Ben zog seine Jacke aus. Der Oberarm war bereits frei. Er trug ein rotes T-Shirt. Die Jacke behielt er in der Hand, die linke Faust steckte noch im Ärmel. Sayka kam langsam auf ihn zu. Ben wich zwei Schritte zurück. Er wollte nicht wegschwimmen, er wollte nicht in einer Zelle enden und imaginären Fliegen nachjagen, die der kranken Fantasie eines besessenen Forschers entsprungen waren. Sayka lächelte gutmütig, als wollte er andeuten, dass das Eindringen der Nadel völlig schmerzlos sei.

»Das Pentothal wird Sie in eine Euphorie stürzen. Pentothal macht geschwätzig. Das beigemischte Skopolamin blockiert die richtige Hirntätigkeit. Es wird Ihnen unmöglich sein zu lügen.«

Sayka drückte die Aufnahmetasten. Das Tonband lag unter dem Kopfende der fahrbaren Liege.

»Legen Sie sich bitte hin, Herr Truger, anschließend werden wir gemeinsam das Band abhören. Sie werden erstaunt sein. Ich werde Ihnen den wirklichen Ben Truger vorstellen.«

Ben Truger setzte sich auf die Liege und gab den rechten Arm frei. Sayka band ihn sorgfältig ab. Mit einem Wattebausch desinfizierte er die Einstichstelle.

»Sie binden den falschen Arm ab, Herr Professor.«

Sayka lächelte breit. So gefiel ihm Ben schon besser.

»Ob links oder rechts, das spielt keine Rolle.. Da sah Sayka den Pistolenlauf, der aus dem linken Jackenärmel ragte. Irritiert senkte er die Spritze in seiner Hand.

»Was passiert mit den menschlichen Hüllen?«

Das Bandende war erreicht. Ben wendete die Kassette und drückte die Aufnahmetaste. Sayka lag friedlich auf der Liege und schaute teilnahmslos zur Decke rauf.

»Wissen Sie eigentlich, was Lauret und Lasierra in 'La torture propre' geschrieben haben?: 'Warum seine Zeit mit dem Quälen menschlicher Leiber verlieren, wenn man Gehirne direkt beeinflussen kann? Dank der Wissenschaft kann man sich blutige körperliche Manipulationen sparen ..., der Mentizid ist die Zukunft der Repression.' Folter muss unbeweisbar bleiben. Ich forsche auf dem Gebiet der Verhaltenskontrolle. Mich interessiert, ob sich das Verhalten von Menschen umfunktionieren lässt. Inwieweit menschliches Verhalten manipulierbar ist. Das Programm 'Bluebird' umfasst die Bewusstseinskontrolle. 'Bluebird' ist zu gefährlich, um es an den eigenen Leuten auszuprobieren.«

»Wer sind die eigenen Leute? Für wen arbeiten Sie?«

»Für die Firma.«

»Für den CIA?«

»Ja, das ist die Firma. Sie finanziert meine Forschungsarbeit und überlässt mir die Verschollenen, die Hüllen. Ich darf nicht alle behalten, manchmal muss ich ein paar hergeben ...«

»Sturzberg?«

»Ich durfte ihn nicht behalten, leider. Aber nächste Woche kriege ich einen bulgarischen Agenten. Sie haben versprochen, dass er mir gehört. Ich habe Verhörmethoden entwickelt, mit denen ich Menschen ohne deren Wissen und gegen ihren Willen Informationen entlocken oder neue einprogrammieren kann. Diese Techniken sind für die Firma von unschätzbarem Wert. Ich habe sie entwickelt. In einigen Wochen werden Sie wissen, dass Sie nie eine Schwester gehabt haben. Sie werden wissen, dass Sie nie in Luzern gewesen sind. Das ist auch eine Art von Zauberei, Herr Truger, aber ich arbeite nicht mit faulen Tricks.«

»Wo ist Ingrid?«

Der Professor zögerte einen Augenblick. Er schien nachzudenken. Und dass er nachdachte, schien ihn gleichzeitig zu belustigen.

»Sie arbeitet in den Flugzeugwerken der Oerlikon-Bührle Gruppe in Stans. Sie ist eine Agentin. Da wir die Schweizer auf diplomatischem Weg nicht bewegen können, ihre Exportpolitik neu zu überdenken, beschaffen wir uns die Konstruktionspläne und ersparen unserer Rüstungsindustrie Forschungskosten und teure Lizenzgebühren. Das ist ein Wirtschaftskrieg, Mc Syme. Beide Parteien kämpfen mit unerlaubten Mitteln. Keiner hat Interesse an Öffentlichkeit. Die Wahrheit gehört den Fantasielosen. Erinnern Sie sich an den Putschversuch in Niamey? Europäische Waffenhändler haben ihn in unserem Auftrag organisiert. Finanziert hat ihn die Industrie, die als Gegenleistung exklusive Nutzungsrechte auf die Bodenschätze erhalten hätte. Und begonnen hat alles mit einem kleinen westafrikanischen Exilpolitiker, der sich in Paris nach dem Preis einer Söldnertruppe erkundigte.«

Ben hatte überhaupt kein Interesse an diesen wirren Geschichten. Ob sich Ost und West oder West und West bespitzelten, war ihm völlig egal.

»Unsere Agentin ...«, fuhr Sayka fort, doch Ben unterbrach ihn ungeduldig. »Was haben Sie mit der Hülle gemacht?«

»Ein Offizier hat sie mir heute Morgen wieder weggenommen.«

»Wie heißt er?«

»Victor Schneider.«

»Sagen Sie Victor, dass ich verhandeln will.«

»Er wird Sie umbringen.«

»Ich tausche diese Bandaufnahme gegen Ingrid. Ich werde Ihnen eine Kopie zuschicken. Setzen Sie sich mit Korge in Verbindung. Er ist mein Vermittler.«

Die Playtaste schnellte hoch. Das Band war zu Ende. Victor Schneider entfernte sie aus dem Laufwerk und wog sie nachdenklich in der Hand, als versuche er, den Wert dieser Aufnahme zu ermitteln. Victor erhob sich und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Er senkte den Kopf, als müsse er Sayka, der immer noch leicht benommen auf der Liege saß, eine bittere Mitteilung machen. Der groß gewachsene Pfleger brachte zwei Reisekoffer in Saykas Büro und setzte sie auf dem Boden ab.

»Was hat das zu bedeuten?« Sayka wusste es. Aber er fragte dennoch.

»Sie haben versagt«, antwortete Victor, ohne ihn anzuschauen.

»Und die Klinik? Und meine Forschungsarbeit ?« Sayka schrie auf wie ein verzweifeltes Kind, dem man alles wegnehmen wollte, die Wasserfarben und den gelben Bagger mit der manipulierbaren Schaufel, die Hergé-Bildbände und die Matchbox-Garage mit den Tankstellen und dem batteriebetriebenen Aufzug.

»Welche Klinik?«, unterbrach ihn Victor schroff. Victors rechte Hand glitt in die Innentasche seiner Jacke. Der Pfleger stand im grauen Türrahmen. Sayka schrie auf und kreuzte schützend seine Hände vor dem weit aufgerissenen Mund.

»Ihre Maschine startet in einer Stunde.«

Victor hatte ein Flugticket aus seiner Tasche gezogen. Jetzt streckte er es Sayka entgegen. Sayka nahm das Ticket in die Hand und musterte es misstrauisch.

»Ich will Tom sprechen. Es gibt noch eine Möglichkeit.«

»Ich bin jetzt Tom«, antwortete Victor unbeeindruckt.

Das Flugticket schwamm sinnlos im Wasser. Vereinzelte Luftblasen drangen an die Oberfläche, bildeten Ringe und lösten sich auf. In der Ferne das kleine hölzerne Boot. Victor Schneider ruderte wieder an Land. Jetzt saß er allein im Boot.

»Wissen Sie, was Mark Twain über diesen Löwen geschrieben hat?« Victor gab Ben die Hand und drückte sie fest.

»Das traurigste und bewegendste Stück Stein der Welt. Ingrid hat es mir mal erzählt.«

Ben und Victor standen nebeneinander unter dem Luzerner Löwendenkmal, das seinerzeit zum Andenken an den angeblichen Heldentod der 1792 in den Tuilerien gefallenen Schweizer in den natürlichen Fels gehauen worden war. Der kräftige Steinkoloss war in seiner Höhle zusammengebrochen. Man sah ihm an, dass er bis zum Äußersten gekämpft hatte. Er hatte viel erstrebt und nichts erreicht. Genau wie Ben. In seinem Fell steckte ein abgebrochenes Wurfgeschoss. Er wollte weiterkämpfen, aber er kam nicht mehr hoch. Ein angestochenes Fass, das langsam auslief.

»Sie machen dem sterbenden Löwen Konkurrenz«, lachte Victor und legte freundschaftlich seine Hand auf Bens Schulter. Er musste ihm den ganzen Morgen gefolgt sein. Denn um Nora nicht zu gefährden, hielt sich Ben meist außerhalb ihrer Wohnung auf, im Freien, inmitten von Menschenmengen. Jede halbe Stunde betrat er eine Telefonkabine und rief Korge an. Noch hatte sich niemand bei ihm gemeldet.

»Warum setzen Sie sich nicht mit Korge in Verbindung? So war es doch abgemacht?«

Ben löste sich von Victor. Er hatte Angst, Victors Freundlichkeit missfiel ihm. Standen sie nicht auf ganz verschiedenen Lohnlisten? Waren sie nicht Gegner?

»Ich wollte Sie noch einmal sehen, Ben. Vielleicht bin ich sentimental.«

»Ich will Ingrid zurück.«

»Sie kriegen Ihre Schwester zurück, Ben, das verspreche ich Ihnen. Aber es wird eine Weile dauern. Ingrid ist nicht mehr in der Stadt.«

»Nennen Sie Ihren Preis.«

»Geben Sie Korge das Material, die Fotos von Sturzberg und die Tonbandkassetten. Aber vergessen Sie die Originale nicht. Wir werden alles überprüfen.«

Ben zauberte eine Kassette aus seinem Ärmel, eine zweite, eine dritte, eine vierte, er warf sie Victor zu. Sie fielen zu Boden. Niemand bückte sich danach. Sie waren wertlos. Ben wollte ihm zeigen, dass er dem Tausch misstraute. Wenn er auch alles zurückgeben würde, sein Wissen konnte er nicht mehr loswerden. Er konnte es nicht auslöschen.

»Sie sind Offizier, Victor.«

Victor schob die Kassetten mit den Füßen beiseite. »Wir wollten bloß einen Zauberer, der uns beibringt, wie man Objekte, die für die Firma wichtig sind, außer Gefecht setzt. Dann kam diese Geschichte mit Ingrid und den Pässen. Wir konnten kein Risiko eingehen. Und wir brauchten eine Hülle für eine neue Agentin..

»Die Objekte, das waren Menschen, ahnungslose Kreaturen, die einen neuen Job suchten, ihr Leben verändern wollten. Sie haben sie einfach zerstört. Und wofür?«

»Ich mache bloß meine Arbeit, Ben. Ich liebe mein Land.«

»Sie werden mich umbringen, Victor.«

Victors Blick drückte Befremden aus. Enttäuschung. Ben hatte ihn verletzt.

»Ich mag Sie, Ben, vertrauen Sie mir, ich habe mich sehr für Sie eingesetzt.«

Ben trat auf Noras Dachgarten hinaus. Kein Stern war am Himmel zu sehen. Unter ihm das dunkle Häusermeer. Aus einzelnen Nischen Lichtquellen. Das bläuliche Flimmern von Fernsehapparaten. Irgendwo erlosch eine Küchenbeleuchtung. Jemand legte sich schlafen. Irgendwo hatte sich ein Mensch die Pulsadern aufgeschnitten, und eine einsame Frau gebar Drillinge. Und ein Mädchen lernte einen Jungen kennen, den sie fürs Leben lieben wollte, auf der Notfallstation wurde ein tropfendes Bündel Fleisch eingefahren, und irgendwo leerte ein Junge sein Sparschwein und stieg in die Prostituiertenabsteige hinauf. Ein Zug entgleiste, und jemand strich sein Badezimmer blau, und irgendwo wurde jemand eines Wortes wegen zu Tode geprügelt, und in irgendeinem Nachtclub saß ein bankrotter Kakao-Spekulant, der partout hinter dem Tresen sterben wollte, und irgendjemand wollte ein Buch schreiben, über Gott und die Welt, und ging dann zum Kühlschrank und trank ein Bier, und auf einem Dachgarten stand ein Mann, und eine Frau brachte ihm ein Glas Orangenwodka.

»Irgendwo in dieser Stadt ist jetzt ein Mann unterwegs, um mich zu töten.«

Nora umklammerte Ben, als wolle sie ihn davor schützen. Das Telefon klingelte schrill. Nora lief ins Wohnzimmer zurück und nahm den Hörer ab. So stellte sich Ben den Tod vor. Ein Telefon klingelt. Während Nora davongeht, schaut er ihr nach, und von hinten kommt der Tod und reißt ihn über die Balkonbrüstung hinunter in die Tiefe. Und wenn sich Nora umdreht, hört sie nur noch das Aufschlagen eines Tennisballes. Aber es ist Bens Körper, der da auf dem Asphalt aufgeschlagen ist.

»Wir kommen«, sagte Nora und legte den Hörer auf.

Korge hatte angerufen. Victor war bereit.

Wie zwei entflohene Sträflinge hetzten Ben und Nora die grell erleuchteten Schaufenster entlang durch die Nacht und versuchten, zwischen den promenierenden Nachtbummlern Schutz zu finden. Ein Finger krümmte sich über dem verchromten Knopf, der aus der schwarz lackierten Schale herausragte. Ein Surren. Ben erschrak. Ein Polaroidfoto glitt aus dem Schlitz. Eine Hand griff in eine Tasche, ein Auto schnitt ihnen den Weg ab, ein schwarzer Regenschirm in der Menschenmenge, schwüle, drückende Hitze, kein Gewitter in der Luft, der Mann zwängte sich an ihnen vorbei, Ben drehte sich um, schaute ihm nach, die Passanten hatten ihn verschluckt. Ben und Nora hetzten weiter. Der Weg führte direkt an der Temporis AG vorbei. Das Firmenschild war verschwunden. Ein anderes Schild hing dort. Nichts deutete darauf hin, dass sich irgendetwas verändert hatte. Ein junger Mann rannte auf Ben zu, an ihm vorbei und warf sich in die Arme einer jungen Frau, die ihn leidenschaftlich küsste. Zaghaft berührte Noras Hand Bens Wangen. Sie wollte ihn daran erinnern, dass sie da war, dass sie auch noch da war.

»Victor hat angerufen.«

Ben stand nervös in der Artistengarderobe.

»Wann?«

»Morgen..

Ben übergab Korge die Originalkassette und das Originalfoto von Sturzberg. Korge musterte ihn misstrauisch.

»Und die Kopien?« Ben schüttelte den Kopf.

»Es existieren keine Kopien mehr.«

Korge glaubte ihm nicht. »Sie haben doch nicht etwa die Polizei eingeschaltet?«

»Geben Sie das Material erst aus den Händen, wenn Ingrid frei ist. Sonst ist unser Leben nichts mehr wert.«

Korge steckte die Kassette und das Foto sorgfältig in seine Jackentasche und prüfte, ob sie auch sicher war.

»Sie können sich auf mich verlassen. Aber ich warne Sie, Mc Syme, spielen Sie nicht den Helden. Ich glaube, Sie wollen nicht nur Ihre Schwester zurück. Sie wollen mehr. Sie wollen Gerechtigkeit.«

»Und Sie?«, fragte Nora.

Die Station Fränkmüntegg war verlassen. Sie sah aus wie ein Fremdkörper im Fels, zwischen Bergwiesen und grünen Waldstücken. Ein Mann trat hinter einem Mauervorsprung hervor. Es war Ben. Bekümmert starrte er auf die rote Kabine der Gondelbahn, die sich kühn von den steilen Felswänden hinunterschwang. Vor fünf Minuten hatte die Kabine die Felspyramide Pilatus verlassen. Instinktiv griff Ben nach dem Revolver in seiner Tasche und entsicherte ihn. So, wie er es im Hotelzimmer geübt hatte. Er traute Victor nicht mehr. Wieso hatten sie Ingrid mit der Zahnradbahn von Alpnachstad zum Pilatus raufgefahren? Mit einer der nächsten Gondelkabinen würde sie wieder runterfahren. Bei der Zwischenstation Fränkmüntegg würde Ben dazusteigen und gemeinsam mit ihr nach Kriens runterfahren. Wieso der Umweg über den Pilatus? Wegen der überwältigenden Fernsicht auf das schweizerische Mittelland bis zu den Vogesen und dem Schwarzwald? Oder wegen der Alpenkette, die wie eine weihnachtliche Schokoladenverpackung ihre weißen Felshörner in die Wolken bohrte? Es war, als hätte der Luzerner Verkehrsverein und nicht der amerikanische Geheimdienst die Tauschmodalitäten ausgearbeitet. Und jetzt sah Ben die Frau in der roten Gondel. Sie fuchtelte wild mit den Armen. Die Frau war Ingrid. Ingrid. Die Gondel kam näher, verlangsamte ihre Fahrt, schaukelte ihren Bauch nach vorn. Ben rannte auf die Gondel zu, er schrie, er brüllte Ingrids Namen, und die Gondel rastete ein, blieb stehen. Die Tür wurde aufgerissen, von Ingrid aufgerissen, und Ben stürmte in die Gondel und riss Ingrid an sich, sie hakte sich in seinem Hemd fest und flüsterte seinen Namen.

Korge ließ das Fernrohr fahren. Er hatte genug gesehen. Zufrieden setzte er sich wieder. Ihm gegenüber saß Simon. Die Aussichtsterrasse des Restaurants war schlecht besucht. Simon lächelte still vor sich hin und streckte seine Hand über den Tisch.

»Erst wenn die beiden in Sicherheit sind«, grinste Korge.

Simon war erstaunt. »Oh«, lachte er, »das hätte ich Ihnen nicht zugetraut.« Amüsiert beobachtete er, wie vereinzelte Sonnenstrahlen das Hochnebelmeer lichteten und die märchenhaften Alpenkörper entblößten. »Die Karten sind längst verteilt, Korge, die beiden hatten von Anfang an keine Chance.« Korge war irritiert. Hastig griff er nach einem Geldstück und warf es in den Münzschlitz des Fernrohrs.

»Es ist alles vorbei, Ingrid, ich bin wieder bei dir. Hörst du, es ist alles vorbei.« Aber Ingrid schien ihn nicht zu hören, sie weinte lautlos, und Ben drückte sie noch fester an sich. »Ingrid«, flehte Ben, »meine kleine Ingrid«, aber Ingrid hörte nur jene monotone Stimme, gegen die sie wochenlang in ihrer kleinen Zelle angekämpft hatte. Die Stimme war mächtig, sie hatte ihren ganzen Körper infiziert. Es war Saykas Stimme, die sie beherrschte.

»Ihr Bruder ist an allem schuld. Er hat Sie hergebracht, Ingrid. Er ist an allem schuld, er wollte Sie loswerden, Ingrid, er hat es mir selber gesagt, Ihr Bruder ist an allem schuld.«

Ben spürte, wie ihre Umklammerung schwächer wurde, er spürte, wie der blonde Kopf an seiner Brust sich aufbäumte, aber sah nicht, wie sich ihre Augen öffneten und ins Leere starrten, er sah nicht, dass die Augen tot waren, dass sie keine Bilder mehr sahen, sondern nur noch die Worte, die von einer biochemischen Kurbel gesteuert wurden und in den Körper drängten.

»Er liebt eine andere Frau, er hat Sie verlassen, Ingrid, aber eines Tages werden Sie ihn wiedersehen, in einer roten Seilbahngondel, und dann werden Sie ihn töten, Sie werden Ihren Bruder töten, Ingrid, töten, töten.«

Ihr ganzer Körper wehrte sich gegen die quälende Botschaft, die sie nicht auslöschen konnte, gegen diese Stimme, die sie nur durch Gehorsam zum Schweigen bringen konnte.

»Du zitterst ja, schau mich an, Ingrid, ich bin wieder da, ich bin wieder bei dir, hörst du, wir werden immer zusammenbleiben.«

Ingrids Kopf bebte immer heftiger, schlug nach allen Seiten aus. Als Ben ihr Gesicht sah, war es verweint, und er spürte etwas Kaltes an seinem Hinterkopf. Es war der Lauf einer Pistole.

Korge hielt die Fotos in den Händen. Fassungslos starrte er Simon an, der ihm das Material lächelnd aus der Hand nahm. Korge hatte soeben einen Schuss gehört. Er zuckte zusammen, als sei er selber getroffen worden. Er hatte die Fotos festhalten wollen, aber die Kraft in seinen Händen war wie weggezaubert.

»Es ist nicht Ihre Schuld, Korge. Sie werden darüber hinwegkommen.« Simon reichte Korge ein Kuvert. Korge reagierte nicht. Er starrte über Simons Kopf hinweg ins Tal hinunter. »Wollen Sie nachzählen?« Langsam griff Korge nach dem blauen Geldbündel, das aus dem Kuvert hinausragte. Er sah das bekümmerte Gesicht von Francesco Borromini, das auf den Schweizer Geldscheinen zu sehen ist. Borromini schien ihn zu fragen, was er da denn angestellt habe. Korge schämte sich. Er zählte weiter. Und auf jeder Note stellte Borromini die gleiche Frage, während Simon nach Korges Glas griff und den kalten Aigle nachschenkte. Korge steckte die Noten weg. Ein kalter Weißwein war ihm jetzt lieber. In wenigen Zügen trank er sein Glas leer. Für einen Augenblick fühlte er sich leicht benommen. Irritiert griff er nach einer Zigarette. Simon gab ihm bereitwillig Feuer. »Jetzt fehlt nur noch die Kassette.«

Simons Stimme war undeutlich. Hatte er überhaupt eine Stimme gehört? Wo war Simon? Simons Konturen vermischten sich mit dem Schwindel erregenden Panorama. Korge versuchte zu sprechen. »Haben Sie gezaubert, Simon?« Korge wusste nicht mehr, ob er gesprochen hatte. Er hörte seine eigenen Worte nicht. Simon grinste und öffnete seine linke Hand. Der Zylinder, die Kugel, der Gummi. Korge starrte auf sein leeres Glas. Er wollte nach der Flasche greifen, aber er erwischte sie nicht mehr. »Gratuliere«, murmelte Korge, »aber auch ich habe gezaubert.« Korge wollte aufstehen. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Simon zog Korge die Kassette aus der Tasche. Korge wollte ihn daran hindern, aber er konnte seine Hände nicht mehr von der Tischplatte lösen. »Ich möchte Ihnen ein Geschäft vorschlagen.« Hatte Simon ihn verstanden? Er grinste bloß.

»Danke, Korge, aber ich denke, wir sind bedient.«

»Wieso?«, stammelte Korge leise, als Simon die Kassette triumphierend einsteckte, »mögen Sie Popmusik? Ich habe das Zeug nie gemocht. Zu viel Lärm.« Korges Oberkörper schwankte nach vorn und krachte auf die Tischplatte. Die Aigle-Flasche zerschellte am Boden.

Die rote Gondel schwebte langsam über die schmale Straße und rastete vor dem Stationshäuschen Krienseregg ein. Am Fenster stand Ingrid. Nur Ingrid. Vor der Station wartete eine schwarze Limousine mit CD-Schildern. Zwei Männer stiegen aus. Der zweite war Victor Schneider.

»Sie hat funktioniert«, sprach er ungläubig. »Benachrichtigen Sie die Polizei, eine Verrückte hat soeben in der Gondelbahn einen Mann erschossen.« Der Fremde nickte.

»Wo kann die Polizei die Verrückte finden?.

»Sie werden es gleich wissen«, lächelte Victor und ging langsam auf die Einstiegsrampe zu.

Jetzt hatte auch Ingrid ihn gesehen. Verstört warf sie einen Blick auf den Kabinenboden. Ben lag vor ihr. Er war nicht verletzt. » Nur Mut, Ingrid, sie müssen denken, dass ich tot bin. Die Polizei wird dir nichts tun, verlange Kriminalkommissar Sutter. Sutter kennt die Geschichte.« Ingrid verließ die Gondel. Bens Kabine begann zu pendeln, setzte sich langsam wieder in Fahrt, talwärts nach Kriens. Ingrid trat auf den Felsvorsprung hinaus und schaute der Gondel nach. Jetzt stand Victor Schneider hinter ihr. Ingrid erschrak. Sie erschrak, als sie den Halt unter ihren Füßen verlor und Victor sie in die Tiefe stürzte.

»Es war Selbstmord, Herr Truger.« Kriminalkommissar Sutter schritt langsam die breite Steintreppe zum Hinterportal der Klinik hinauf. Das nasse Laub klebte fingerdick auf dem Stein. Die Bäume hatten ihre Blätter abgeworfen, es war Herbst, die Gegend wirkte kahl und verlassen, wie die leeren Innenräume der Klinik. Nichts deutete darauf hin, dass vor kurzem hier noch Menschen gelebt und gelitten hatten. Der Spuk war vorüber, zurückgeblieben war gar nichts. Auch Ingrid nicht. Sie war tot.

»Und hier soll sich alles abgespielt haben?«, fragte Sutter leise, als er ein kahles Zimmer betrat, in dem vor Monaten Professor Sayka gearbeitet hatte. Der Deckenverputz bröckelte, die Tapeten waren schmutzig und aufgerissen. Der braune Parkettboden von weißem Gipsstaub überdeckt. Lose Kabel hingen aus den Wänden. Wo früher Steckdosen gewesen waren, klafften große Löcher.

»Die Klinik hat nie existiert, Herr Truger.« Ben nickte schwach mit dem Kopf, es war schon in Ordnung, er wollte nicht länger darauf beharren. Nett, dass Sutter mitgekommen war. Aber es war schon in Ordnung. Ben zuckte mit den Schultern: »Der Taxichauffeur hat die Klinik gesehen.«

»Welcher Taxichauffeur?«, fragte Sutter ihn schonungsvoll und zündete sich eine Zigarette an. Ben lächelte matt. Er wollte nicht mehr länger darauf beharren. Er wollte mit Nora Luzern verlassen. Weiterziehen. Luzern zurücklassen. Weit zurück.

Die Zeit heilt alle Wunden. Die Heilung besteht darin, dass man langsam stirbt, ohne es zu merken. Und wenn Ben in den folgenden Monaten in fremden Hotelzimmern aufschreckte und durch die hell erleuchteten Flure irrte, wenn er nachts verzweifelt den Wein aus dem Kühlschrank riss und den beißenden Qualm seiner »Mary Long« durch den wund gerauchten Hals zog, wenn er das Glas in einem Zug leerte und sich wünschte, er könnte die Wände zum Schweigen bringen und in einen ewigen Rausch entschlummern, dann wusste er, warum. Er hatte Ingrid verloren. Und Noras Hand gab sie ihm nicht zurück.

Und wenn er nachts mit dem Weinglas in der Hand auf dem Balkon irgendeines Hotels stand, in Cherbourg, Birmingham oder Offenbach, und sich verloren der Nacht hingab, mit all seiner unstillbaren Gier nach betäubenden Räuschen, aufreizenden Menschenleibern, Valium und feuchten Lippen, dann wusste er, warum. Er hatte Ingrid verloren. Und Nora konnte ihm nicht mehr helfen.

Er konnte die Zeit nicht zurückdrehen, würde es nie können. Was er jetzt erlebte, war sein Leben, war das Leben, ein anderes gab es nicht.

Und wenn er manchmal plötzlich verschwand, für Stunden verschwand, dann suchte sie ihn in den größten Warenhäusern der Stadt und fand ihn auf irgendeiner Rolltreppe, schwer beladen mit Einkaufstüten. Aber die Damenkleider in den Tragetaschen waren Nora zu klein.

Und als sie im Winter in einem schäbigen Nachtclub in Valetta die Mentalnummer mit den beschrifteten Kärtchen vorführten, stand ein Mann auf, der die drei Worte geschrieben hatte, die Ben von der Bühne hinunterlockten. Die Worte waren: »Nora folgt Ingrid«. Und der Mann im Publikum trug weiße Hosen und ein buntes Polohemd. Victor Schneider. Ben ging an seinen Tisch und zauberte eine Tonbandkassette hervor und eine zweite, und Victor Schneider nickte still, als wolle er ein Patt akzeptieren, und die dritte Kassette, die Mc Syme, der Meister der Illusionen, aus dem Ärmel schüttelte, glitt über die Tischkante hinaus und riss das Glas von Victor mit. Und Mc Syme spielte weiter, spielte für Ingrid. Er spielte Leben, während es ihm entglitt.