Die Stahlräder quietschten, als der Intercity 106 in den Tunnel hineinschoss, fahlgelbes Licht in den Schlafabteilen. Draußen im engen Flur versuchte Ben, Ingrids Handgelenk zu halten. Sie kämpfte wie eine Bestie und zerrte Ben bis ans Ende des Waggons, wo die Klotür unruhig hin und her pendelte und den Geruch von großflächig verpissten Bodenbelägen in den Flur fächelte. Ben spürte, wie ihm die feuchte Hand allmählich entglitt, diese kleine, zarte Hand, die er Nacht für Nacht gehalten hatte, bis sie endlich Ruhe gab. Ingrid riss sich los, Ben wollte nachfassen, griff ins Leere, stürzte der Länge nach hin. Ingrid warf sich mit ihrer ganzen Kraft gegen den rot lackierten Sicherheitsgriff der Waggontür und sackte zu Boden. Bens Hände griffen nach ihrem rechten Bein, wie eine Tierfalle, die blitzschnell zuschnappt. Ingrid bäumte sich auf, versuchte, sich am Griff der Schiebetür hochzuziehen, die den Zweiteklassewagen von der ersten Klasse trennte. Die Tür glitt bis zum Anschlag zurück. Das aufheulende Getöse von Metall, das an den schwarzen Tunnelwänden abprallte. Und Ingrid kämpfte weiter. Langsam kroch sie auf dem schmutzigen Fußboden voran, Zentimeter um Zentimeter. Hinter ihr lag Ben und hielt ihre Beine fest umklammert. Ihr rechtes Bein entwischte wie ein nasser Fisch. Der spitze Schuhabsatz schnellte gegen Bens Stirn und riss eine klaffende Wunde. Ben schloss die Augen. Erneut griff er nach ihrem rechten Bein und drückte es nieder. Er krallte seine Hände in ihren Hosenbeinen fest und zerrte seine kleine Ingrid näher zu sich, ins Leben zurück. Badischer Bahnhof.
Als der Intercity 106 auf Schweizer Boden rollte und ein Zollbeamter die Schiebetür zu Bens Abteil aufstieß, war Ingrid bereits in seinen Armen eingeschlafen. »Diazepam«. Das Medikament wirkte schnell.
»Schweizer Zoll. Haben Sie etwas anzumelden? Zigaretten, Schnaps?« Ben schüttelte den Kopf und reichte dem Beamten zwei Ausweise. Der überflog die ersten beiden Seiten und reichte die Pässe zurück. »Und hier?«, lächelte der Beamte breit und zeigte auf die große Reisetruhe mit der Aufschrift »Mc Syme«. Er öffnete sie. Der Inhalt schien ihn zu belustigen. Mit beinahe kindlicher Neugierde untersuchte er die Truhe. Fast ehrfürchtig nahm er einen großen Würfel heraus und probierte, ihn zu öffnen. Über Bens Gesicht huschte ein gequältes Lächeln. Er schloss die Augen und legte seine Hand auf Ingrids Kopf. Eines Tages, so schwor er sich, würde er sie ziehen lassen. Über die Bahngeleise. Nichts würde übrig bleiben, keine Wiederbelebungsversuche, keine geschädigten Organe, nur Knochensplitter und Fleischfetzen. Und Ben wäre wieder frei. Er nahm sich vor, ihr das nächste Mal nicht mehr zu helfen. Nicht mehr da zu sein. Aber der Gedanke ließ ihn gleichzeitig erschauern. Die Bilder hörten nicht auf. Sie lockten mit neuen Bildern. Er sah sich in einer Bar sitzen, auf einem Hocker an der Theke. Und dahinter: Nora. Er würde ihr sagen, dass Ingrid letzte Nacht gestorben sei. An einer Überdosis. An der für sie richtigen Dosis vielleicht. Und Nora würde seine Hand berühren, den Kopf über die Theke beugen. Die schwarzen Haare würden sich wie ein Vorhang über ihre dunkle Haut legen. Er würde ihre Wangen berühren, den Vorhang beiseite schieben und die schwarzen Augen küssen, die er in seinen Träumen suchte.
»Wohin fahren Sie?«, fragte der Schweizer Zollbeamte neugierig.
Luzern. Hotel Astoria. Ben schloss leise das Fenster. Vor ihm lag der Vierwaldstättersee mit seinen nostalgischen Raddampfern. Letztes Jahr hatte er mit Ingrid auf den See hinausfahren wollen, mit einem Tretboot, aber Ingrid hatte plötzlich Angst bekommen. Sie waren ins Hotel zurückgekehrt und hatten sich das Essen im Zimmer servieren lassen. Zimmer 307. Ein Doppelbett. Links und rechts davon ein Nachttischbrett, an der Wand montiert. Das Zimmertelefon. Ein runder Tisch beim Fenster, zwei Stühle. Ein altmodisches Tapetenmuster, das an dicke, muffige Nachthemden erinnerte. Ben öffnete die Hausbar, einen kleinen, gut gekühlten Schrank, der gleichzeitig als Sockel für den kleinen Schwarzweißfernseher diente. Er leerte die kleine Cognacflasche in einem Zug und schaltete den Fernseher ein. Auf dem Bett lag Ingrid. Ihre Hand hing leblos über der Bettkante. Ben legte sie auf ihre Brust zurück. Im randvollen Aschenbecher qualmte noch eine Zigarettenkippe. Er löschte sie mit ein paar Tropfen Cognac. Eine aufgerissene Medikamentenpackung. Ben stellte den Fernseher leiser. »Concerto No.1 in E, P. 241 'La primavera' von Antonio Vivaldi.« Im blau gekachelten Badezimmer wusch er sich Hände und Gesicht. Ben war ein groß gewachsener Mann um die vierzig mit melancholischen Augen, die schon viel gesehen hatten. Aus seinen Gesichtszügen waren breughelsche Geschichten und Visionen herauszulesen, die er sorgsam pflegte und hütete. Zu dieser versteckten Seelenlandschaft hatte nur Nora Zutritt. Bei ihr allein spürte er eine Art Wesensverwandtschaft. Aber zwischen Nora und ihm stand Ingrid.
Ben zog die alte Truhe mit der Aufschrift »Mc Syme« in den Hotelflur hinaus. Er spähte misstrauisch nach allen Seiten, bevor er den Schlüssel zweimal im Schloss drehte und die Schlaufe des Kärtchens über die Türklinke schob: »Bitte nicht stören.«
»Applaus, meine Damen und Herren, denn nun präsentieren wir Ihnen den weltberühmten Meister der Magie, Mc Syme, den großen Zauberer, den König der Illusionen.«
Der schwere, purpurrote Vorhang öffnete sich, und auf der Bühne stand Ben im schwarzen Smoking. Lächelnd nahm er den schwarzen Zylinder vom Kopf. Ein herzlicher Applaus vom Publikum, der gleich wieder anschwoll, als Ben eine weiße Taube aus dem doppelten Boden ins Freie ließ. Zum Einwärmen begann er meistens mit Mikromagie. Er zauberte ein Kartenspiel aus seinem Ärmel und schlenderte routiniert zum Publikum hinunter. Ben war ein stummer Zauberer, kein Conférencier. Das war für internationale Engagements von Vorteil. Ben hatte sich nicht aus kommerziellen Überlegungen dazu entschieden, sondern eher aus Abneigung gegen das Sprechen, gegen das Vorsprechen. Aus Abneigung gegen eine Art von Kommunikation, die seinem Naturell widersprach. Und das mit den internationalen Engagements, das war längst vorbei. Die Galaauftritte und Saisonengagements waren mit den Besuchen bei Psychiatern koordiniert. Keine Show, wenn keine Klinik in der Nähe war.
Begleitet vom Applaus des Publikums kehrte Ben auf die Bühne zurück. Er legte die Karten auf den Vorführtisch, zog drei farbige Taschentücher aus dem Ärmel und steckte sie in eine Dose. Er hob die Dose in die Höhe, drehte sie nach allen Seiten und zog ein weißes Taschentuch heraus. Jetzt war die Dose leer. Applaus. So was nannten die Zauberer eine Routine oder gar ein Experiment. Natürlich war es ein Trick, ein sehr primitiver Trick sogar. Und das war es eigentlich auch, was Ben den Beruf mit zunehmendem Alter immer mehr erschwerte. Denn wer die Tricks kannte, konnte dafür nur noch ein müdes Lächeln übrig haben. Es gab immer mehr Experimente, die ohne großes Fingergeschick erfolgreich vorgeführt werden konnten. Ben ließ Untertassen fliegen, Bücher auf geheimnisvolle Weise von einem Ort zum andern wandern, er zauberte eine brennende Zigarre aus der Luft, zerriss Zeitungen, die wenig später wieder unbeschädigt waren. Dem Publikum gefiel die Zwanzig-Minuten-Show, die zwischen zwei Stripteasenummern eingebettet war. Jeden Abend viermal die gleichen Routinen, eine ganze Saison lang, das war Bens Job. Am Anfang hatte er die Routinen geübt, um sie zu beherrschen, jetzt übte er sie täglich im Hotelzimmer, um sie nicht zu verlernen. In seinem Alter hatte es keinen großen Sinn mehr, etwas Neues zu lernen, denn es dauerte zu lange, bis man Neues perfekt beherrschte. Zudem beharrte Gottlieb, der Inhaber des »Black Penny«, darauf, dass er immer die gleichen Nummern brachte. Die hatten sich bewährt, die waren erprobt, darauf konnte sich Gottlieb verlassen. Aber was er heute vorbrachte, war dennoch neu. Im Gegensatz zum letzten Jahr arbeitete Ben ohne Assistentin. Die beliebten medialen Nummern mit dem Publikum konnten aber ohne Assistentin nicht stattfinden.
Ben stieg nochmals zum Publikum hinunter und blieb vor einem kleinen Zweiertisch stehen. Zwei Männer saßen dort, Victor Schneider und Tom. Ben kannte keinen von beiden. Tom war der ältere, vermutlich der Vorgesetzte von Victor Schneider. Er war gegen sechzig und hatte die Leibesfülle eines Sumo-Ringers, aber die Ruhe eines Schinto-Priesters. Er schien weder Heiterkeit noch Emotionalität zu kennen und passte gar nicht richtig in die Galerie der ausgelassenen Nachtclubbesucher. Es gefiel ihm überhaupt nicht, dass Mc Syme ihn in die Show einbeziehen wollte. Demonstrativ wandte er sich von Ben ab. Ben verstand das Zeichen und suchte den Blickkontakt zu Toms Begleiter, einem sportlichen Kerl so um die fünfundvierzig mit ausgeglichenen Gesichtszügen und großen, warmen Augen. Dass Ben vor ihrem Tisch stehen blieb, schien ihn mächtig zu freuen. Er schaute zu Ben auf und schenkte ihm ein offenes Lächeln, das Begeisterung und Bewunderung ausdrückte. Ben nahm die Flasche Mineralwasser, die auf ihrem Tisch stand, und hob sie hoch, damit das Publikum sie sehen konnte.
»Pass auf, Tom«, scherzte Victor Schneider, »jetzt wird er dir gleich Zyankali einschenken.« Doch Tom verzog keine Miene. Sein kahl geschorener Kopf bewegte sich nicht, sondern ragte wie eine stolze Skulptur aus dem feinen Stoff heraus. Er blies nachdenklich den Rauch einer Zigarette vor sich hin. Ben füllte Toms Glas und hob es zur Demonstration wieder hoch. Klares Wasser. Ben stellte das Glas wieder auf den Tisch und forderte Tom mit einer Geste auf, es leer zu trinken.
»Das ist bestimmt für dich, Victor«, murmelte Tom desinteressiert und warf Victor einen geringschätzigen Blick zu. Victor trank das Glas leer, ohne dabei Ben aus den Augen zu lassen. Denn insgeheim hoffte er, das Geheimnis des bevorstehenden Zaubertricks zu lüften. Doch die Vorbereitung dazu hatte Ben längst abgeschlossen. Dass das Publikum immer zum falschen Zeitpunkt die falsche Hand anstarrte, auch das gehörte zur Kunst des Zauberns. Ben füllte das Glas noch einmal. Diesmal floss nicht glasklares Mineralwasser, sondern eine bordeauxrote Flüssigkeit ins Glas. Victor lachte leise auf und warf Tom einen schelmischen Blick zu. Dieser rümpfte verlegen die Nase, als habe er bei der Lösung einer einfachen Rechenaufgabe versagt.
»Großartig, Mc Syme«, lachte Victor und klatschte kräftig in die Hände, während Ben das Glas in die Höhe hielt und das übrige Publikum applaudierte. Ben bedankte sich bei Victor mit einem kurzen Nicken und kehrte den beiden Männern den Rücken zu.
»Das ist unser Mann«, murmelte Tom, als Ben wieder auf der Bühne stand. »Ich werde mich darum kümmern«, entgegnete Victor fast jovial. Tom starrte ihn kühl an, als wolle er ihn für seine Fröhlichkeit bestrafen. Victor erwiderte den Blick, unbeeindruckt.
Als Artistengarderobe diente ein fensterloser und schmaler Raum mit Garderobenkästen und einer langen hölzernen Sitzbank. Unter grellen Lampen stand ein improvisierter Schminktisch, schmutzig und wacklig. Ein zwanzigjähriges Mädchen saß davor. Sie griff müde nach ihrem langen blonden Haar. Langsam rutschte die Perücke von ihrem Kopf. Hier hörte die Show auf, hier war nichts mehr zu spüren von Frische und Erotik. Das junge Mädchen beobachtete durch den Spiegel, wie Ben seinen Smoking auszog und all die zahlreichen Nylonfäden löste, die an Knöpfen befestigt waren und durch Ärmel und Hosenbeine führten. Als er die Wachsbeschichtung von den Fingerkuppen abkratzte, fiel ihm ein Bund Karten aus der Innentasche. Er kniete auf dem Boden nieder, sammelte die Karten ein und legte sie in die große Truhe.
»Sie waren großartig, Mc Syme«, hörte er eine Stimme sagen. Er drehte sich um. Hinter ihm stand Gottlieb, der Inhaber des »Black Penny«, ein drahtiger Mensch mit bleichem Teint.
»Danke«, antwortete Ben höflich und schloss die Truhe.
»Darf ich mal reinschauen?«, scherzte Gottlieb. »Wieso?«, antwortete Ben, »können Sie zaubern?« Gottlieb grinste. Diese kurze Begrüßungszeremonie gehörte zu ihrem alljährlichen privaten Repertoire. Ein bisschen Lob gehörte dazu. Nichts Ernstes, nichts Böses.
»Die Bar ist offen, kommen Sie rüber, mein Buchhalter möchte Sie sprechen..
Das Mädchen mit den Mandelaugen begann zu husten und wandte sich an Gottlieb. »Haben Sie was für den Hals?«
»Du brauchst ja nicht zu singen, meine Liebe, bloß dich auszuziehen.«
»Und wenn ich beim Strip einen Hustenanfall kriege?«
»Dann drehen wir die Musik auf. Beeil dich, Miriam.« Gottlieb grinste zu Ben rüber, hob drei Finger zum Gruß und verließ die Artistengarderobe. Ben kramte ein paar Kautabletten hervor und legte sie Miriam auf den Schminktisch. Erstaunt schaute sie zu Ben hoch und lächelte wie die Mädchen im Werbespot, die soeben eine neue Damenbinde für sich entdeckt haben.
Ben hatte nur Augen für Nora. Wirklich schön war sie nicht. Aber es war Nora, die er jede Nacht aus brennenden Autowracks und sinkenden Hochseedampfern rettete, wenn römische Legionen in Luftschiffen und Wikinger in fliegenden Untertassen sie durch den bolivianischen Dschungel hetzten. Für Nora hätte er sein Leben hergegeben. Und jedes Mal wenn er im »Black Penny« in Luzern gastierte, kam es ihm so vor, als sei Nora noch viel schöner geworden. Die Widrigkeiten des Lebens schienen spurlos an ihr vorüberzugehen. Wie eine heilige Madonna stand sie hinter der Bar, charmant und warmherzig, umringt von gierigen Augenpaaren, umhüllt von beißendem Zigarettenqualm. Vermutlich beflügelte Nora die Fantasie der Barbesucher weit mehr als irgendein routinierter Bühnenstriptease. Fast eifersüchtig wachte Ben heimlich über jede ihrer Bewegungen. Sie war freundlich zu allen Gästen, und das war Ben schon zu viel. Einmal mehr war er sich bewusst, dass Nora nur in seinen Träumen existierte, und dass die Nora im »Black Penny« nur den Zauberer Mc Syme kannte. Die ganze Vertraulichkeit, die mit jedem Traum stärkere Wurzeln schlug, erstickte hier in Rauchschwaden, reduzierte sich auf ein heimliches Wunschdenken.
Gottlieb nahm das Ansagemikrofon aus der Aufhängung hinter der Theke und kündigte eine neue Künstlerin an: »Miriam, das Mädchen aus Paris.« Miriam wohnte in Luzern und hoffte, einmal in ihrem Leben einem Prinzen zu begegnen. Mit dem Einsetzen der Musik betrat sie die Bühne und tanzte im Farbenspiel der Scheinwerferlampen. Die Männer an der Bar warfen beiläufige Blicke auf die Bühne, als seien sie alle bloß hergekommen, um die Gläser zu begutachten, die sie nachdenklich zum Mund führten. Gottlieb schaute zu Korge rüber und fragte: »Sind Sie fertig mit der Buchhaltung?«
»Es fehlen Belege«, antwortete der Mann neben Ben. »Können Sie keine Quittungen schreiben?«
»Dafür ist mein Honorar zu klein. Ich bin kein Zauberer.« Korge grinste müde zu Ben rüber. Offensichtlich war er der neue Buchhalter im »Black Penny.. Ein dicklicher, untersetzter Mann, zirka achtundsechzig, mit feinen Gesichtszügen, die Schlauheit, Wissen und Geschäftssinn erahnen ließen. Korge nippte an einem Glas Portwein. Man spürte, dass er schon bessere Zeiten erlebt hatte. Kaum hatte er sein leeres Glas abgesetzt, stand Nora bereits vor ihm. Sie nahm die Flasche Portwein, die unter dem Tresen stand, und schenkte nach. Korge berührte still ihre Hand und flüsterte: »Danke, mein Kleines.«
»Geschenk des Hauses«, gab Nora zurück. Doch gleich war Gottlieb da und rollte einen Kassenbon in das schmale Weißweinglas, das vor Korge stand. Im Glas lagen bereits ein halbes Dutzend zusammengerollte Quittungen.
»Beinahe hätte schon wieder ein Beleg gefehlt«, grinste Gottlieb.
»Ihr Mc Syme verdient zu viel, er kriegt ja nicht mal den Mund auf«, entgegnete Korge gereizt. Ben schwieg. Er verstand nicht, wieso sich Korge plötzlich auf ihn einschoss.
»Die Stummen sind die Besten«, sagte Nora, »ich freue mich, dass er wieder da ist.«
Ben blickte erstaunt hoch. Jetzt glaubte er in Noras Augen wieder jene merkwürdige Wesensverwandtschaft zu entdecken. Wie in seinen Träumen. Er und Nora, die beiden Wesen von einem fernen Planeten, die sich endlich auf der Erde wiederfinden. Am liebsten wäre er aufgesprungen wie in seinen Träumen, hätte sich in ihre Arme geworfen und wäre mit ihr durch das »Black Penny« geflogen, zum Ausgang hinaus, über die Kappelerbrücke und all die Raddampfer am Spittelerquai. Und irgendwo in einem erloschenen Vulkankrater im Süden hätten sie sich zur Ruhe gelegt.
»Wir haben für zwei Artisten bezahlt«, bohrte Korge weiter und wandte sich Ben zu. »Wo bleibt Ihre Assistentin?«
»Letztes Jahr war sie noch da«, scherzte Gottlieb, »aber plötzlich ist sie verschwunden. Zauberei.« Gottlieb war offensichtlich mit der Einmannshow zufrieden. Oder seine Beziehung zu Korge war so, dass er alles verteidigte, was Korge missfiel. Gottlieb verließ die Bar und stieg die Seitentreppe zur Bühne hinauf.
Nora brachte zwei Gläser Wodka, verdünnt mit Orangensaft, und stellte sie vor Ben auf die Theke. »Schön, dass Sie wieder da sind.« Beide hoben ihre Gläser. Korge warf ihnen einen misstrauischen Blick zu.
»Das ist Korge«, lächelte Nora, »unser Feierabendbuchhalter. Zum Wohl.« Auch Korge hob sein Glas. Alle drei tranken.
»Die Künstler-Agentur hat uns zwei Artisten versprochen.« Wie ein eifersüchtiger Nebenbuhler versuchte Korge, Ben und Nora zu stören.
»Wirklich? Dann sollten Sie sich beschweren.« Ben warf Korge einen verärgerten Blick zu. Er hatte keine Lust, sich länger mit diesem Mann auseinanderzusetzen. Als Korge sah, dass Nora bereits den zweiten Drink mixte, zog er still ein kleines Magnetschachbrett hervor und stellte anhand eines Zeitungsausschnittes ein Schachproblem nach. Er war offenbar kein schlechter Verlierer. Und wenn er so ärgerlich auf Ben reagiert hatte, kombinierte Ben nicht ohne Schadenfreude, dann nur deshalb, weil Korge Nora gut kannte und sie Ben offenbar mehr Aufmerksamkeit schenkte als den übrigen Gästen.
»Bleiben Sie lange?«
»Die ganze Saison.«
»Schön«, strahlte Nora verschmitzt und hob ihr Glas. Die beiden stießen miteinander an. Während sie tranken, schielten die beiden Augenpaare über den Glasrand, und Ben versuchte ihr all das mitzuteilen, was er ihr jeweils tief unten im Vulkankrater auf die Lippen hauchte, wenn sie sich eng umschlungen in der langsam erglühenden Vulkanasche liebten ...
»Heute Abend ...?«, fragte Nora.
»Heute Abend nicht.«
»Schade.«
»Es ist nicht meine Schuld, Nora«, murmelte Ben verlegen.
»Vielleicht sucht er ja eine neue Assistentin«, brummte Korge, ohne von seinem Schachbrett aufzuschauen.
»Hat er Recht?«, fragte Nora, und es schien Ben, als sei ihre Stimme schwächer geworden. Ben schüttelte verlegen den Kopf, suchte nach Worten, schaute irritiert zu Korge rüber. Er war immer noch über sein Schachbrett gebeugt. Ben suchte ein Wort. Vor ihm Noras Glas. Er berührte es. Seine Hand schwebte beiläufig über das Glas. Der Daumen scherte aus. Eine kleine Kapsel fiel ins Glas und begann, von der Feuchtigkeit aktiviert, sich zu entfalten, sich zu öffnen. Ein rotes, aufgeblähtes Herz schwamm an der Oberfläche, während Ben langsam die Bar verließ.
Nora nahm das Kunststoffherz aus dem Glas und versteckte es in ihrer Faust. Korge hatte es nicht gesehen.
»Der Mann hat Talent.« Victor Schneider stand vor Nora und zeigte auf ihre geschlossene Faust.
»Darf ich?« Victor wollte ihre Faust öffnen. Aber sie war leer. »Hat er Ihnen das beigebracht?«
Nacht. Eine schwüle Nacht. Ben schlenderte den Schweizerhofquai entlang. Er wollte allein sein, nachdenken. Und einmal mehr wurde er sich bewusst, wie isoliert er im Leben stand, ohne Freunde, ohne Vertraute. Ben verkehrte nur noch mit Ben. Gott und die Welt, das war irgendeine andere Geschichte, eine Geschichte, die ihn immer weniger interessierte, und seit seine Geschichte Ben hieß, war er gealtert wie ein Schrei. Was er sich wünschte, war ein Freund, ein richtiger Freund, der gemeinsam mit ihm das dornenreiche Gestrüpp in seinem Gehirn durchforstete, ein Freund, der mit einem Buschmesser umgehen konnte. Ein blauer Buick fuhr vor und hielt. Ein Fremder, der nach dem richtigen Weg suchte. Die Beifahrertür sprang auf.
»Mc Syme, König der Illusionen!«
Ben näherte sich misstrauisch und beugte sich zum Beifahrerfenster hinunter. Am Steuer saß Victor Schneider.
»Darf ich Sie mitnehmen? Steigen Sie ein.«
Ben hatte nichts dagegen. Er stieg ein. Vielleicht hatte es ihm Victors freundliche Stimme angetan. Ein ehrlicher Bewunderer, das war selten. Er mochte Victors Blick, er war stets offen und dennoch nicht hohl. »Mc Syme« nannte er ihn. Mc Syme, der kleine Junge, der mal davon geträumt hatte, seine Initialen im Sternenhimmel eingraviert zu sehen. Doch geblieben war bloß der Wunsch und später der Versuch, sich damit abzufinden, dass der Wunsch Wunsch blieb. Kein Himmel für Mc Syme. Keine Eurovisionssendung mit Mc Syme. Und für die Silvesterparty vor fünf Jahren hatte Channel4 im letzten Augenblick doch noch einen anderen Zauberer eingeladen. Erwähnung fand er heute höchstens noch als Lückenbüßer auf der Regionalseite von Provinzzeitungen, die die Werbefläche eines abgesprungenen Inserenten mit Buchstaben füllen mussten. Sie schrieben wohlwollend, den Namen meist falsch. Der Miniaturartikel war irgendwo eingebettet zwischen einem Radunfall und dem Straßenplan für die Sperrgutabfuhr.
Victor warf Ben einen Blick zu, um zu prüfen, ob er ihm auch wirklich zuhörte. Victor war ein bisschen geschwätzig, sicher, er redete während der ganzen Fahrt, aber Ben hatte das Gefühl, dass er es ihm zuliebe tat. Um ihn aufzuheitern. War er schon so weit, dass er Mitleid erregte? Glich er bereits einem malträtierten Pudel, dem man ein paar Mal übers Fell streichen musste?
»Ich bewundere Sie, Mc Syme. Sie haben den schönsten Beruf der Welt.«
Ben Truger lächelte müde. Er hielt bereits Victors Visitenkarte in der Hand. Beim Einsteigen hatte er sie ihm zum Spaß entwendet. Obwohl er seine Späßchen albern fand, fühlte er sich manchmal verpflichtet, seinen Bewunderern kleine, private Darbietungen zu offerieren. Irgendwie erwartete jeder Gesprächspartner, dass der Zauberer, der ihm da gegenübersaß, plötzlich Bananen aus dem Zigarettenetui zog.
»Victor Schneider, Geschäftsführer der 'Temporis AG', klingt doch auch gut«, entgegnete Ben in Anspielung auf den »schönsten Beruf der Welt«.
»Sie sind der geborene Taschendieb«, entrüstete sich Victor amüsiert.
»Und Sie?«, fragte Ben ernst. Das Misstrauen hatte ihn wieder eingeholt.
»Wir vermitteln Lehrkräfte in alle Welt. Nicht sehr aufregend.« Victor hielt vor einer Straßenampel und schaute kurz zu Ben rüber. Vermutlich spürte Victor, dass er langsam Schluss machen sollte mit den Albernheiten. Der Mann, der da neben ihm saß, war Zauberer, Unterhalter. Aber eben nur auf der Bühne.
»Ich möchte Ihnen ein Angebot machen, Mc Syme.«
»Truger. Ben Truger.«
»Entschuldigung, Herr Truger.« Victor fuhr langsam über die Kreuzung und bog nach rechts ab.
»Ich sagte Ihnen ja, unser Beruf ist nicht sehr aufregend. Und schon gar nicht erheiternd. Unsere Mitarbeiter sind Amerikaner, hier sind wir Ausländer. Deshalb organisiere ich jeden Monat ein kleines Betriebsfest. Das letzte Mal hatten wir einen Jongleur eingeladen. Er hat uns fünf Gläser zerschlagen.« Ben und Victor lachten. Victor hielt den Wagen vor dem Eingang zum Hotel Astoria.
»Sind Sie für tausend Franken zu haben?« Ben zögerte.
»Es ist bloß ein kleines Betriebsfest, Herr Truger, wir würden uns alle freuen. Sie brauchen kein abendfüllendes Programm zu präsentieren. Eine halbe Stunde vielleicht. Wir fangen am späten Nachmittag an.«
Victor hatte Ben längst überredet.
»Ich gebe Ihnen morgen Bescheid«, schmunzelte Ben und öffnete die Beifahrertür.
»Darf ich Sie um halb acht abholen? Das liegt auf dem Weg. Ich fahre ohnehin in den Club. Einverstanden, Mc Syme?«
»Truger, Ben Truger.«
Das weiße Tischtuch färbte sich dunkel. Die Flüssigkeit sog sich weiter bis zur Messerspitze neben Ingrids Frühstücksteller. Ben setzte seine Kaffeetasse ab und schaute gequält zu Ingrid rüber, die ihm im gut besetzten Frühstückszimmer des Hotels Astoria gegenübersaß. Sie hielt die Kaffeekanne in der Hand und goss weiter Kaffee ein. Der Kaffee schwappte über den Tassenrand und sammelte sich in der kleinen Untertasse.
»Ingrid?«
»Ja und? Passiert dir nie ein Missgeschick?«
Ingrid goss weiter Kaffee ein. Ben ergriff ihre Hand und zwang sie, die Kaffeekanne abzusetzen.
»Das sind die Medikamente, Ben. Ich zittere, und die Zeit vergeht schneller, als ich denken kann.«
»Ist ja schon gut, Ingrid.«
»Nichts ist gut, Ben. Du hast gestern Schiffbruch erlitten. Ohne mich ist deine Bühnennummer nichts mehr wert. Das hat dir auch Gottlieb gesagt. Gib's doch zu. Herr Truger, hat er gesagt, ohne Assistentin geht das nicht.«
»Natürlich waren wir früher zu zweit besser, aber ...«
»Mach dir nichts vor, Ben, das ist unser letztes Engagement im 'Black Penny', die wollen uns nie mehr sehen, die mögen uns nicht.«
»Bitte. Lass uns gehen.«
»Wohin denn?«, schrie Ingrid, und die Leute im Frühstückszimmer begannen sich umzudrehen.
»Haben wir ein Monatsengagement in Paris, eine Gala in Brighton? Einen Scheiß haben wir, und das im Jahresabonnement.«
Ben hätte sich vor Scham am liebsten unter dem Teppich verkrochen, die Leute tuschelten bereits, gedämpftes Kichern gemischt mit würdevoller Empörung, und der junge Hotelbursche stand auch schon an ihrem Tisch.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«
»Ein Missgeschick. Tut mir leid.«
Der Hotelbursche schaute unbeeindruckt das kaffeedurchtränkte Tischtuch an und meinte achselzuckend: »Das macht doch nichts, meine Herrschaften.«
Ingrid war fast ein wenig enttäuscht. Ben warf einen Blick auf seine Uhr und wollte aufstehen. Doch Ingrid kam ihm zuvor. Sie stand auf. Der Stuhl hinter ihr fiel zu Boden. Sie griff nach Bens Orangensaftglas und goss es über seine Uhr. Jetzt war auch der Hotelbursche sprachlos. Hilfe suchend schaute er zur Küche rüber. Und Ingrid scherzte gelassen: »Ganz ruhig bleiben, meine Herrschaften. Die Uhr ist wasserdicht.«
Ben Truger saß auf der Bettkante. Hinter ihm Ingrid, ausgestreckt auf dem Bauch. Die Jalousie hatte sie runtergelassen. Seit Ingrid medikamentös gesteuert wurde, war sie sehr lichtscheu. Die brütende Hitze im Hotelzimmer war unerträglich. Keine kühle Brise, kein Luftstrom, nichts.
»Ich habe mich unmöglich benommen«, sagte Ingrid. Aber es schien ihr nichts auszumachen. Sie blinzelte zu Ben hinauf.
»Das macht doch nichts, vergessen wir's.«
»O doch«, stichelte Ingrid, »du hast dich geschämt, furchtbar geschämt, es war dir peinlich, du wirst bestimmt heute Nacht davon träumen.«
Ben drehte sich zu Ingrid um. Sie grinste über beide Ohren. Am liebsten hätte er ihr gesagt, dass sie keine Ahnung haben konnte von seinen Träumen. Aber damit hätte er sie ruiniert. Sie vertrug längst keine Wahrheiten mehr. Und so verschwieg er ihr, dass er ein Mensch war, der aus Fleisch und Blut und einer ganzen Menge falscher Geschichten bestand. Ben wollte sich hinlegen und die Augen schließen. Ingrid vergessen und eintauchen in seine Traumgeschichten, all die Freunde wiedersehen, die Mädchen in der Confiserie, die bleiche Frau auf dem Hochspannungsmast, die nackte Frau in der Straßenbahn, die Dame vor dem Fahrkartenschalter ... und Nora. Immer wieder Nora.
Jeder Mensch traf irgendwann einmal ein kleines Arrangement mit der Realität. Für Ben war es vielleicht die einzige Möglichkeit, um mit Ingrid weiterleben zu können.
Ben legte sich hin, er wollte vor der Vorstellung noch ein bisschen ausruhen, tagträumen, aber Ingrid kuschelte sich an ihn und begann ihn zu kitzeln und abzulenken, als ahnte sie seine Traumeskapaden. »Ruf diesen Kerl an, und sag ihm, dass wir kommen.«
Ben setzte sich wieder auf die Bettkante und nahm das Telefonbuch hervor. Er blätterte darin, hielt inne und fuhr mit dem Finger eine Spalte hinunter.
»Hast du ihn gefunden?«
Es gab in Luzern eine ganze Menge Nervenärzte. Ben fuhr mit dem Finger die ganze Spalte hinunter. Er wusste nicht richtig, welche Kriterien er beachten sollte, die Anzahl der Doktortitel, oder ob einer auch noch Privatdozent war? Er hoffte insgeheim, einen prominenten Namen zu finden, der ihm unter irgendeinem gescheiten Artikel in irgendeiner Fachzeitschrift schon aufgefallen war. Ben merkte sich alle Namen, er speicherte sie wie die Routinen und Experimente, die er jeden Abend wieder abrufen musste. Aber selbst wenn er im Telefonbuch auf irgendeinen berühmten Namen gestoßen wäre, es hätte auch nicht weitergeholfen. Schließlich war der Arztberuf eine Erwerbstätigkeit wie jede andere auch, nur mit dem Unterschied, dass man die Bezeichnung »Kunde« durch »Patient« ersetzt hatte. Ein ernsthaftes Interesse an Ingrid hatte er überall vermisst. Jene, die neue Therapien entwickelt hatten und diese ausprobieren wollten, waren womöglich gründlicher in der Ausführung, aber nicht erfolgreicher. Der letzte Schrei war gerade eine Kombination von Schlafentzug und neuen Antidepressiva kombiniert mit künstlichem Licht. Ben kam es vor, als versuche man einem verdurstenden Menschen mit allerlei Gesprächstherapien weiterzuhelfen. Und keiner brachte Wasser. Was Ingrid brauchte, war ein Mensch, ein Freund, der bedingungslos zu ihr hielt. Ben hatte diese Rolle übernommen. Vorübergehend. Kein Psychiater auf der Welt konnte ihn ersetzen, so sehr er sich das auch wünschte. Für Ingrid.
»Hast du die Tablette genommen?«, murmelte Ben, ohne sich nach ihr umzudrehen.
»Jawohl, Herr Professor, ich habe gleich zwei genommen.«
»Drei Milligramm müssen genügen, Ingrid.« Plötzlich stülpte ihm Ingrid von hinten ihr T-Shirt über den Kopf. Das Telefonbuch fiel zu Boden. Ben befreite sich. Ingrid hüpfte auf dem Bett, wackelte mit der Hüfte und streifte langsam ihre schwarzen Jeans über das schmale Becken.
»Hör jetzt auf«, bat Ben und konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Ingrid begann einen alten Hit aus den sechziger Jahren zu singen, »Pamela, Pamela«, und streifte ihren BH ab. Ihre kleinen Brüste zappelten, während sie immer wilder auf dem Bett umherhüpfte und immer lauter sang. Sie war sehr mager geworden. Nackt wirkte sie noch zerbrechlicher. Ben griff sanft nach ihren Beinen und brachte sie zu Fall.
»Ich brauche was zum Anziehen!«, schrie Ingrid und umarmte Ben, so fest sie konnte.
»Der ganze Schrank ist voll mit Kleidern..
Ingrid küsste Ben leidenschaftlich, um ihn am Sprechen zu hindern, und knöpfte ihm das Hemd auf.
»Die sind mir alle zu groß.«
»Du musst mehr essen. Wollen wir essen gehen? Am Ende werden wir dich noch wegen Magersucht behandeln.«
»Und dich schicken wir zu den Anonymen Alkoholikern«, lachte Ingrid und zog Ben das Portemonnaie aus der Hosentasche. Sie riss ein paar Scheine heraus und steckte sie in ihren Slip. »Ich brauch was zum Anziehen, du kannst mich nicht jeden Abend einschläfern wie ein gemeingefährliches Monstrum.«
»In Ordnung, wir gehen einkaufen.«
Ingrid sprang vom Bett runter und riss den Kleiderschrank auf. Er war in der Tat prall gefüllt mit Damenkleidern. Übermütig riss Ingrid ein Stück nach dem andern heraus, musterte es kurz und warf es mit einer abschätzigen Bemerkung in Richtung Ben. Ben schaute ihr ruhig zu. Die Zeiten waren vorbei, in denen er noch mit ihr gestritten hatte. So extrem und gegensätzlich die einzelnen Medikamente und Therapien waren, so unterschiedlich war auch Bens Verhalten. Er fühlte sich bloß noch als Korken, der verhindern musste, dass Ingrid wieder überschäumte und ins schwarze Loch hinunterperlte. Er hatte die Rolle des still erduldenden, fürsorglichen Menschen angenommen. Aber nur im realen Leben. Er trug sein Los mit Anstand. Er würde bei Ingrid bleiben, solange sie ihn brauchte. Bedingungslos. Auch wenn er dabei auf ein eigenes Leben verzichtete. Es gab für ihn nicht die Möglichkeit einer Entscheidung. Es gab nur Ingrid. Ingrid war sein Leben. Und die Augenblicke, in denen er zusah, wie graue Streifen sein Haar durchzogen und die ersten Falten sich wie Pflüge durch sein Gesicht kerbten, waren nicht entscheidend. Nora blieb ein Traum.
Der Vorhang der Umkleidekabine wurde energisch zur Seite gerissen. Ingrid hatte sich rote Hosen und ein rotes T-Shirt übergezogen, auf dem Arm die halbe Sommerkollektion an Damenblusen. Selbstbewusst legte sie sie neben die Kasse. Die Verkäuferin schaute sie entgeistert an.
»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte Ingrid mit gespielter Fürsorge. Die Verkäuferin schluckte, als sei ihr Mund sehr trocken. Sie tippte die Preise in die elektronische Kasse ein, während Ingrid bereits wieder ausflog zu neuen Einkäufen. Sie nahm ein halbes Dutzend Herrenhemden aus einem entfernten Verkaufskorb und legte sie hinzu.
»Das kommt dazu«, flüsterte Ingrid und lächelte übertrieben höflich. Doch gleich machte sie ein sehr bekümmertes Gesicht. »Die Hemden sind für den kleinen Benni. Er ist furchtbar schüchtern, müssen Sie wissen. Wagt sich nicht mehr unter die Leute. Wir haben schon alles versucht, Frischzellentherapie, Brennnesselumschläge ...«
Hinter einem Kleiderständer tauchte Bens Kopf auf. Geduldig beobachtete er Ingrid. Er mochte ihre euphorische Phase nicht bremsen, obwohl gewöhnlich ein Tief darauf folgte. Je höher sie raufkam, desto tiefer fiel sie. Er wollte einfach da sein, in der Nähe, ihr rechtzeitig beistehen.
Mit zahlreichen Warenhaustaschen schwer beladen, stand Ben auf der Rolltreppe und fuhr ins Parterre hinunter. Doch auf der gegenüberliegenden Rolltreppe, die hinaufführte, stand Ingrid, die ihm herzlich zuwinkte. Sie hatte immer noch nicht genug. In der Bücherabteilung kaufte sie Bücher, die sie nie lesen würde, sie kaufte ein Tonbandgerät und zwei Dutzend Kassetten, bespielt mit so genannten Oldies aus den fünfziger und sechziger Jahren. Als sie schließlich eine Reiseschreibmaschine erwerben wollte, um ihre Memoiren zu schreiben, wie sie der Verkäuferin erzählte, ging ihr das Geld aus. Aber zurückgeben wollte sie nichts. Die Verkäuferin trug die Maschine in das Verkaufsregal zurück. Ingrid griff zum Rufmikrofon neben der Kasse, schaltete es ein, und ihr Hilferuf erschallte aus allen Lautsprechern in allen Stockwerken.
»Mc Syme, größter Meister aller Klassen, erscheine, ich brauche Geld.« Hinter einem Regal voller Fernsehgeräte trat Ben hervor. Er zog sein Portemonnaie aus der Tasche und bezahlte. Er wusste, dass Ingrid bei der kleinsten Kritik zusammenbrechen würde.
Der Zusammenbruch erfolgte erst beim Friseur. Ingrid saß auf dem Stuhl vor dem großen Spiegel. Dahinter die Friseuse, bei der Garderobe Ben, umringt von Schachteln, Tüten und Plastiktaschen. Ingrids Redeschwall brach plötzlich ab. Stille. Ihre Mundwinkel begannen zu zittern, das ganze Gesicht bebte, die Stimmung kippte, sie kämpfte gegen Tränen, Wickler im Haar. Hilfe suchend starrte sie in den großen Spiegel. Ben stand auf und nahm sie in die Arme. Die Friseuse fragte, ob etwas nicht in Ordnung sei. Ben bat um ein Taxi und hielt seine kleine Ingrid fest. Sie war zehn Jahre jünger als er.
Sie war nicht einmal mehr im Stande gewesen, ihren Pyjama anzuziehen. Ben zog ihr die Schuhe aus und deckte sie zu. Das Hotelzimmer war völlig verraucht, ungelüftet und schwül von der Hitze des Nachmittags. Der Aschenbecher qualmte. Ben trank die Bierbüchse leer und ließ ein paar Tropfen in den Aschenbecher fallen. Die Glut erlosch. Er verschloss die Pillendose und steckte sie ein. Sicherheitshalber. Am liebsten wäre er hier geblieben, bei Ingrid, hätte Wache gehalten. Wofür, wusste er nicht, denn ihr Schlaf war bis acht Uhr morgens programmiert. Er wollte ihr nur helfen, wusste aber nicht, wie. Er hatte nichts gelernt außer zaubern. Aber wirklich zaubern konnte er nicht.
Um halb acht klopfte jemand gegen die Tür des Hotelzimmers. Ben stand auf. Er liebte keine Überraschungen und öffnete die Tür nur einen Spalt weit.
»Bin ich zu früh?« Victor stand im Flur. Unternehmungslustig und guter Laune wie immer. Ben war irritiert. Victor versuchte, einen Blick ins Zimmer zu werfen. Aber er sah nur die zahlreichen Tüten und Schachteln am Boden.
»Haben Sie Besuch?., fragte Victor augenzwinkernd. Ben musste leise lachen. »Ich bin in einer Viertelstunde unten.«
Victor nickte und ging den Flur entlang. Ben schloss die Tür. Victors Heiterkeit hatte ihn ein bisschen angesteckt. Der Kerl schien ihn zu mögen. Und Ben mochte ihn auch.
Routiniert absolvierte Mc Syme seine Experimente auf der Bühne des »Black Penny«. Die Routine mit dem Wasser, das in Wein verwandelt wird, demonstrierte er an Victors Nachbartisch. In der Gegenwart von Tom, diesem gusseisernen Buddha, wirkte Victor viel ernster. Umso mehr erstaunte ihn Victors Begeisterungsfähigkeit für die Zauberkunst, für eine Kunst, die wohl eher kindliche Gemüter bewegen konnte. Vielleicht hatte Victor auch berufliche Schwierigkeiten, die er mit Tom besprechen musste. Tom und Victor Schneider wechselten ab und zu ein paar Worte, ohne sich jedoch dabei anzuschauen. Ben hob die Mineralwasserflasche in die Höhe und schenkte einer Dame eine bordeauxrote Flüssigkeit ein.
»Er hat angenommen«, sagte Victor knapp.
»Es war auch langsam Zeit«, antwortete Tom trocken. Das Publikum applaudierte, als Ben das Weinglas in die Höhe hielt. Auch Victor applaudierte. Als Ben ihn sah, nickte er anerkennend.
»Er ist nicht allein«, setzte Victor die Unterhaltung mit Tom fort.
»Eine Frau?«, fragte Tom erstaunt.
Victor nickte. Toms Gesicht verfinsterte sich. »Wir brauchen nur Mc Syme.«
Unter zahlreichen Messingschildern von Treuhand- und Finanzgesellschaften prangte die Firmentafel der »Temporis AG, Stiftung für Fernkraftvermittlung«. Das Signet war eine Weltkugel. Ben bezahlte den Taxichauffeur. Ingrid stand, etwas abseits, verlassen und unschlüssig auf dem Gehsteig herum. Sie suchte den Blickkontakt zu Ben. Sie trug einen lila Rock und sah darin etwas unglücklich aus.
»Alles in Ordnung?«, fragte Ben bekümmert, als sie gemeinsam die Truhe zum dritten Stock hinauftrugen. Ingrid nickte, ein bisschen zu tapfer, wie Ben schien. Er kannte ihr ganzes Repertoire an Ausdrucksmöglichkeiten. Und wenn sie sich übertrieben höflich benahm, korrekt und zuvorkommend wie jetzt, war dies meistens der letzte Versuch, um in die Gesellschaft aufgenommen zu werden. Sie spielte Leben, während es ihr entglitt.
Gemeinsam betraten sie den Empfangsraum der »Temporis AG«. Aus einem hinteren Zimmer war ein erwartungsvolles Raunen zu hören, Menschen. Ingrid wusste nicht mehr, auf welchem Bein sie verlegen herumtänzeln sollte. Sie wollte Ben den Vortritt überlassen, aber da sie beide die Truhe hielten und Ben sie vorgehen ließ, entstand eine Szene, der die Gäste als komische Eröffnungsnummer applaudierten. Ingrid lachte erleichtert auf. Ein bisschen zu laut. Ein strahlender Victor kam auf sie zu, begrüßte sie herzlich. Charmant nahm er ihr die schwere Truhe ab. Ben reichte Ingrid sofort seine Handschuhe, denn er wusste, dass sie ziemlich schnell den Halt verlor, wenn sie nichts in den Händen hielt. Ingrid nahm sie dankbar an. Jetzt folgte der für sie schwere Gang durch das Empfangszimmer zum Hinterzimmer. Dort standen zehn Menschen eng beieinander. Unmöglich für Ingrid, an ihnen vorbeizukommen. Sie bereute, mitgekommen zu sein. Ben bat Victor, vorzugehen. Gemeinsam trugen sie die Truhe weiter. Ingrid versteckte sich hinter Ben und tat so, als interessiere sie sich für die Einrichtung, für die mit Stecknadeln bespickte riesengroße Weltkarte an der Wand, für die Wandschränke, die Regale, die Aktenordner, Bücherschrank, Zeitungsständer. Ben hielt den hinteren Griff der Holztruhe nur noch mit zwei Fingern. Neben seiner Hand umklammerten Ingrids ausgemergelte Finger den dunklen Metallgriff. Sie starrte auf den hellen Linoleumboden, der unter ihr vorbeischwamm. Gemeinsam durchquerten sie das hintere Zimmer. Dort standen ungefähr zehn Leute mit Champagnergläsern in der Hand herum. Sie waren alle schön bunt angezogen, ein Hauch von Ferienstimmung und Swimmingpool, gut situierte Leute beim Aperitif, ein bisschen überparfümiert. Ein bisschen Overkill. Und alle so nett. So schrecklich nett. Ein großer Konferenztisch wurde zur Wand getragen. Die mit schwarzem Leder überzogenen Breuer-Stühle waren so angeordnet, dass sich daraus zwei Zuschauerreihen ergaben. Ingrid kam es so vor, als wollte der dornenreiche Weg nicht mehr aufhören. Victor führte sie ins nächste Zimmer, das mit modernstem Film- und Videozubehör ausgestattet war. Vor einem Großbildschirm saß Tom, das glatzköpfige Sumo-Double mit dem weisen Schinto-Blick. Er hörte einem bärtigen, zirka dreißigjährigen Mann zu, der ihm mit weit ausholenden Gesten irgendetwas erklären oder verkaufen wollte. Tom nickte Ben und Ingrid freundlich zu und blätterte in seinem Dossier weiter, während er sein Gegenüber unterbrach: »Die Missionsschule in Niamey liegt am Ende der Welt, Herr Sturzberg.«
»Die deutsche Schule in Johannesburg lag auch am Arsch der Welt. Na und?«, entgegnete der junge Sturzberg keck. Tom wartete, bis Victor mit seinen beiden Gästen das Zimmer verlassen hatte. Der Nebenraum war ein grell beleuchtetes Archivzimmer, mit Gips und dunklen Sichtbalken renoviert und zentimetergenau auf die Raumbedürfnisse der modernen Stehbehälterregistraturen eingerichtet. Tausende von dünnen Aktenhüllen in Kunststoffbehältern auf grauen Metallregalen mit farbigen Beschriftungsfenstern.
»Darf ich Ihnen bei den Vorbereitungen helfen?«, scherzte Victor, als er die Truhe auf den Boden setzte.
»Wieso? Können Sie zaubern?«, fragte Ben.
»Ein bisschen schon«, antwortete Victor schmunzelnd und verließ das Archivzimmer. Endlich waren Ben und Ingrid allein. »Mach dir keine Sorgen, Ingrid, wir schaffen das schon.«
Ben öffnete die Truhe. Beide zogen sich um, präparierten Kleidung und Zauberrequisiten. Ingrid war sehr stolz darauf, wieder mit Ben auftreten zu können. Im schlecht isolierten Nebenzimmer hörten sie die Konversation zwischen Tom und Sturzberg. Sturzberg war offensichtlich Lehrer in Deutschland gewesen und wollte jetzt - aus welchen Gründen auch immer - im Ausland unterrichten. Toms ruhige, sonore Stimme war gut von Sturzbergs etwas undeutlicher Aussprache zu unterscheiden.
»Warum versuchen Sie es nicht wieder mit einer Anstellung in Deutschland? In der Nähe von Familie und Freunden. Ich muss Sie warnen, nach ein paar Monaten werden Sie den einen oder anderen vermissen.«
»Freunde?« Sturzberg lachte kurz auf. »Ich war doch sieben Jahre in Südafrika. Familie hatte ich nie. Wann kann ich in Niamey anfangen?«
»Bald«, versuchte Tom ihn zu bremsen, »aber zuerst brauchen wir noch ein paar Angaben von Ihnen.«
»Noch mehr«, entrüstete sich Sturzberg, »ohne Interviews läuft hier wohl nichts. Das habe ich in Südafrika so geschätzt. Mit ein paar Dollars ließ sich alles regeln.«
»Dann wird Ihnen die Missionsschule in Niamey bestimmt gefallen.«
Ben und Ingrid lachten leise.
»Wäre das nichts für uns, Ingrid?«, scherzte Ben.
»Warum nicht?«, empörte sich Ingrid. Sie spürte, dass ihr Ben so was nicht zutraute. Auch Ben wusste gleich, dass er einen Fehler gemacht hatte.
Hinter dem Konferenztisch stand der Zauberer Mc Syme. Seine Assistentin trug wie er einen schwarzen Smoking und eine hübsche weiße Fliege. Mademoiselle de Rougemont übergab Mc Syme eine Zeitung, die Tagesausgabe der »Luzerner Neuesten Nachrichten«, Mc Syme hob die Zeitung, für alle sichtbar, in die Höhe und zerriss sie der Länge nach. Er faltete die beiden Teile zusammen und schaute amüsiert ins Publikum. Gelächter. Mc Syme faltete die Zeitungsteile wieder auseinander. Die Zeitung war intakt, nirgends ein Riss. Applaus. Victor schenkte Champagner nach. Ben und Ingrid tranken ihre Gläser in einem Zug leer.
»Wie wird Wasser zu Wein, Mc Syme?«
»Geben Sie mir irgendeine Flasche«, bat Mc Syme.
Victor reichte Mc Syme eine angebrochene Champagnerflasche. »Ist die in Ordnung?«
»Natürliche, lächelte Mc Syme.
»Sie ist aber nicht präpariert«, scherzte Victor und hielt Mc Syme sein Glas hin. Mc Syme füllte das Glas auf. Der Champagner war rot.
»Wie machen Sie das?«, fragte ein junger Mann, der seine Freizeit vermutlich unter Kraftmaschinen verbrachte. Er trug ein enges Sporthemd. Der muskulöse Brustkasten wölbte sich bei jedem Atemzug. Victor hatte ihn als Herrn Sattler vorgestellt. Er wandte sich gleich an Ingrid, weil er von ihr eher eine Antwort erwartete. Doch Ingrid wehrte geschmeichelt ab: »Die ganze Zunft würde arbeitslos, wenn ich Ihnen das verraten würde.«
Da gesellte sich bereits ein anderer junger Mann hinzu, ein drahtiger Kerl mit asketischen Zügen. Er hieß Simon und füllte ununterbrochen Ingrids Champagnerglas nach. Es schien ein gelungener Nachmittag zu werden. Bis Victor einen ganz besonderen Wunsch an Mc Syme richtete.
»Zeigen Sie unseren Damen bitte den Trick mit dem Herz im Wasserglas. Wie damals in der Bar.«
»Ich hab nur ein Herz«, antwortete Ben.
»Bitte«, insistierte Victor, »für unsere Damen.«
»Genügt das noch nicht?., fragte Mc Syme und zeigte auf Victors Champagnerglas, in dem ein hässlicher Plastikkäfer schwamm. Die Leute der Temporis waren vergnügt, belegte Brötchen wurden serviert, Ingrid zwischen Sattler und Simon, und ihr Champagnerglas war wieder voll, obwohl sie pausenlos trank. Sie soff sich ins Leben zurück. Ben wollte sie fragen, ob sie Lust habe, die Mentalnummer vorzuführen, aber Ingrid ließ ihn nicht ausreden.
»Wem hast du ein Herz gegeben?«, zischte sie leise.
»Sei nicht albern«, gab Ben verärgert zurück und lächelte Tom zu, der sein Glas zum Gruß hob.
Ingrid wollte ihn nochmals auf das Herz ansprechen, aber Sattler und Simon hatten sie wieder eingekreist. Simon füllte ihr Glas nach. Tom gesellte sich hinzu, plauderte Belanglosigkeiten über die Branche und schien sich selber dabei zu langweilen.
»Wissen Sie, der klassische Lehrertyp ist ein oberflächlicher Mensch, der sich gerne anpasst; er scheut das Risiko und sucht die absolute Sicherheit. Als Schüler verlässt er die Schulbank nur, um über die Hochschule an den vertrauten Ort zurückkehren zu können.«
»Wir sind um jede Ausnahme froh«, lachte Victor und gesellte sich ebenfalls dazu.
»Wir profitieren von den steigenden Arbeitslosenzahlen und den Geburtenrückgängen. Allein in Deutschland haben wir in diesem Jahr über sechzigtausend arbeitslose Lehrer. In fünf Jahren werden es hundertfünfzigtausend sein. Da finden wir immer wieder einen, der schon alles erfolglos ausprobiert hat und gerne in der Antarktis Botanikunterricht erteilen will. Davon leben wir.«
Während Ben höflich zuhörte, merkte er plötzlich, dass Ingrid verschwunden war. Die meisten Angestellten hatten sich im Vorraum zusammengefunden. Sie bildeten einen Kreis. In der Mitte Ingrid. Sie hielt eine Flasche in der Hand. Die Vibration in ihrer Stimme verriet, dass sie bereits zu viel getrunken hatte.
»Und während einer von euch eine Flasche Champagner herbrachte, hat Ben diese dunkelrote, kristallisierte Substanz mit Klebewachs unauffällig an seinen Zeigefinger geklebt.« Ingrid zeigte allen Umstehenden das kaum fingernagelgroße Kristallstückchen, das an ihrem Finger klebte. Langsam führte sie den Finger in den Flaschenhals und drückte den Farbkristall an die Innenseite des Flaschenhalses. »Entscheidend ist das Etikett am Flaschenhals, damit niemand den färbenden Kristall sieht.« Ingrid schenkte Sattler Wasser ein. Glasklar. »Und jetzt unterhalten Sie sich mit Ihrem Gegenüber. Während der Konversation drehen Sie unauffällig die Flasche, damit beim nächsten Einschenken das Wasser über den Farbkristall hinausfließt.« Sie schenkte Simon ein. Das Wasser war rot gefärbt. Ben ging hin und versuchte Ingrid mit einem Blick von ihrem Vorhaben abzubringen. Er wollte sie nicht öffentlich rügen und bloßstellen. Nur zum Aufhören bewegen. Ingrid wusste das und machte weiter.
»Ziemlich albern, meine Damen und Herren, was uns der große Mc Syme da vorgeführt hat. Ich verrate jetzt alle Experimente, schließlich wollt Ihr was sehen fürs Geld. Nicht wahr, Mc Syme?«
Die Anwesenden drehten sich nach Ben um. Es war ihm ziemlich peinlich. Nur Victor schien ihn zu verstehen. Er blieb neben ihm stehen. Er war einfach da, als wollte er Ben beistehen. Wie ein Freund.
Ingrid nahm zwei Zeitungen aus der Tasche und hob sie in die Höhe.
»Und das mit der Zeitung ist ganz einfach. Der große Mc Syme hat zweimal dieselbe Zeitung abonniert, und das regt ihn furchtbar auf. Er legt beide Ausgaben hintereinander, die hintere Ausgabe ist bereits gefaltet. Er zerreißt also nur die vordere Ausgabe.«
Immer wieder schaute Ingrid zu Ben rüber, triumphierend, provozierend. Sie wusste, dass er es nicht wagen würde, sie zu unterbrechen. Als Ben ins Archivzimmer zurückwollte, um die Utensilien einzupacken, wurde ihre Stimme schrill, ja hysterisch.
»Der große Mc Syme hat Angst vor mir. Denn ich kann wirklich zaubern. Manchmal verschwinde ich spurlos. Und der große Mc Syme sucht mich überall. Tagelang.«
Victor suchte den Blickkontakt zu Tom, der abseits stand und allein aus einiger Entfernung das Geschehen verfolgte. Toms Miene hatte sich erhellt - er wusste, dass auch Victor soeben eine nützliche Entdeckung gemacht hatte. Victor wollte die Feier sanft abbrechen lassen, ohne jemanden zu brüskieren. Er stellte die umherstehenden Champagnerflaschen in den Kühlschrank zurück. Als er sah, dass Sattler Ingrids Glas wieder füllen wollte, schüttelte er unauffällig den Kopf, worauf Sattler sofort aufhörte und gehorchte. Victor nahm Ingrid bei der Hand und gab ihr zu verstehen, dass das Fest vorüber war, indem er sich höflich für die Vorstellung bedankte. Aber Ingrid dachte nicht ans Aufhören. Sie ließ sich gegen Victor fallen und entnahm ihm unbemerkt seine Brieftasche. So, wie sie es bereits mit Simon, Sattler und Tom gemacht hatte. Jetzt fing es erst richtig an, jetzt wollte sie zeigen, was sie konnte. Sie war mehr als nur eine Assistentin. Sie war eine virtuose Zauberin. Gleich würde sie das Experiment mit den Eiern vorführen und anschließend die Brieftaschen und Pässe zurückgeben, die sie in ihrem Zauberfrack versteckt hatte. Doch die Leute verließen den Empfangsraum, gingen woanders hin, weg von ihr, fröhlich plaudernd und feiernd. Und der Linoleumboden unter ihr bäumte sich auf, die Wände erschlafften, strafften sich, Ben stand vor ihr, hielt sie fest am Handgelenk, und das hasste sie wie die Pest, diesen eisernen Griff, der sie daran hindern sollte, ein bisschen Spaß zu haben. Sie wollte sich an der Garderobe festhalten, erwischte jedoch bloß einen schwarzen Regenschirm, sie wollte schreien, kämpfen, aber ihr fehlte die Kraft dazu. Sie fing an zu heulen. Ben steckte ihr eine Zigarette an, die sie dankbar zwischen die Lippen schob. Carl-Spitteler-Quai. Was Ben da die Uferpromenade entlang mit sich führte, sah aus wie ein kleines trotziges Kind. Ingrid löste sich verärgert von ihm und trat allein ans Ufer, auf einen Bootssteg hinaus. Sie hielt den schwarzen Regenschirm in der Hand. Sie bestand immer darauf, Orte mit Suizidmöglichkeiten ohne Ben aufzusuchen. Er durfte dabei sein, aber nicht in ihrer unmittelbaren Nähe. Wenn Ben von der Parkbank an der Uferpromenade aufgestanden wäre, hätte sie sich vermutlich gleich ins Wasser gestürzt. Es war ein Spiel, das sie mit ihm trieb, das Sitzen auf Balkonbrüstungen und was sie sich sonst noch alles einfallen ließ. Wenn Ben drei Psychiater nach dem richtigen Verhalten befragte, erhielt er meistens fünf verschiedene Antworten.
Er übte mit zwei Streichhölzern einfache Fingerroutinen und hielt dabei Ingrid unauffällig im Auge. Sie lehnte sich über die Holzbrüstung des Bootssteges und schaute immer wieder triumphierend und mahnend zu Ben rüber.
»Bist du Zauberer?«, fragte eine Kinderstimme. Ben erschrak. Vor ihm stand ein fünfjähriger Junge. Er hielt seine kleine Schwester an der Hand. Ben zeigte dem Jungen die Handfläche. In den Hautfältchen zwischen Daumen und Zeigefinger waren die beiden Streichhölzer versteckt.
»Nein«, antwortete Ben gedankenverloren, »ich bin kein Zauberer, leider.«
»Mein Bruder möchte nämlich Zauberer werden«, erzählte das kleine Mädchen. Ben schaute den Jungen an. Er hatte keine Erinnerung an seine eigene Vorschuljugend. Nur die Erinnerung an Lärm, menschenfressende Monster und bösartige Tannen, die einen im Traum verfolgten.
»Gib Acht auf deine kleine Schwester«, sagte Ben und blickte zum Steg rüber. Ingrid war verschwunden. Ben sprang hoch. Hinter einem geparkten Auto entdeckte er sie. Sie lächelte müde. Sie wollte den Schirm öffnen, aber es gelang ihr nicht. Es war kein gewöhnlicher Schirm. Mit dem Daumen drückte sie auf den eingebetteten weißen Würfel im Schirmknauf. Aus der Schirmspitze löste sich ein Geschoss. Ganz in der Nähe ein zischendes Geräusch. Sie sah den Wagenreifen nicht, der sich langsam platt legte. Das Pfeilgeschoss, das durch die Betätigung des weißen Druckknopfes abgeschossen worden war, hatte sich in einen schwarzen Autoreifen gebohrt. Sie nahm den Schirm unter den Arm und ging auf die beiden Kinder zu, die vor Ben standen. Ben erhob sich. Die beiden Kinder überquerten die Straße und verschwanden. Ingrid setzte sich müde auf die Parkbank.
»Lass uns ins Hotel zurückgehen«, bat Ben.
Ingrid reagierte nicht. Ben setzte sich wieder und schwieg. Ihr Kopf berührte seine Schulter. Er legte seine Hand darauf und strich ihr liebevoll übers Haar. Ingrid war eine von psychischer Empfindlichkeit und Launenhaftigkeit geprägte Frau, die mit ihren Charaktertücken weit mehr zu kämpfen hatte als ihre Umgebung. Einerseits sehnte sie sich nach Aufstieg, Anerkennung und Popularität, andererseits aber scheute, ja verabscheute sie infolge ihrer seelischen Feinfühligkeit und Empfindlichkeit Öffentlichkeit und jegliches Auffallen an prominenter Stelle. Heute hatte sie krampfhaft die Gesellschaft gesucht, und jetzt befand sie sich wieder auf dem Rückzug in ihr seelisches Schneckenhaus. Sie hatte hohe Ansprüche, auch an sich selbst. Von ihrer Person hielt sie nicht viel, sie hatte kein gesundes Selbstbewusstsein, sie hatte gar keins, nie gehabt, und was sie erreichen wollte, versuchte sie über Ben zu erreichen, durch Ben. Er war ein Teil von ihr. Und wenn er ihr riet, über ihren Schatten zu springen, dann vergaß er, dass es für sie einfacher war, vor den Zug zu springen. Vier Milligramm. Ingrids Kopf auf Bens Schulter. Beide saßen auf der Parkbank zwischen der Badeanstalt und dem Tennisplatz.
»Hilf mir, Ben«, wimmerte Ingrid, »ich falle, ich schwimme davon.«
Ben hielt sie fester. Er war ebenso hilflos wie sie.
»Es geht vorüber, Ingrid, es geht alles vorüber..
»Nein«, schluchzte Ingrid. Jedes Wort schien ihr in der Kehle wehzutun.
»Nein, Ben, es hat erst angefangen, ich habe solche Angst.«
»Möchtest du wieder assistieren?«
»Ich habe schon lange Abschied genommen von der Bühne, vom Leben, ich bin bloß noch Statisterie.«
»Wenn du willst, hängen wir die Zauberei an den Nagel und werden sesshaft. Was hältst du davon?«
»Es ist sinnlos, Ben, die Angst hat mich längst aufgefressen.« Lauwarme Regentropfen klatschten auf den Asphalt. Ben stand auf. Ingrid blieb sitzen. Er versuchte, sie hochzuziehen, aber jede Bewegung war ihr zu viel. Neben ihr lag der schwarze Regenschirm. Sie umklammerte ihn fest.
»Woher hast du den Schirm?«
»Gestohlen. Aber frag mich nicht, warum.«
Ben löschte das Licht. Ingrid wollte im Copilotensitz einschlafen. Ben rollte sich auf die Seite und zog die Beine an. Ingrid zog ebenfalls ihre Beine an und kuschelte sich mit dem Rücken an seine Brust, bis sie beide eng aneinander lagen. Sie griff nach hinten, nach Bens Arm, zog ihn über ihre Brust wie einen Sicherheitsgurt und hielt ihn fest. So wollte sie einschlafen. Zwei Astronauten, die gemeinsam zum Mond fliegen. Aber in dieser Nacht flog Ben nicht zum Mond, er floh vor den großen Tannen, die mit ihren Wurzeln nach ihm griffen, er stürzte sich von Wolkenkratzern, um ihnen zu entgehen, die Erde brach stöhnend auseinander, und der rot gefärbte Ozean bäumte sich auf und spülte Ben in den Schlund der schwarzen Erde hinunter, wo pelzartige Organismen sich um seine Waden schlangen und ihn langsam auffraßen. Zwanzig Uhr. Der Radiowecker hatte ihn gerettet. Ben zog seinen rechten Arm sanft aus Ingrids Umklammerung.
Die letzte Vorstellung war beendet. Auf der Bühne sang Franky-Boy »Somethin' Stupid«. Eigentlich hieß er Franz und hatte nach seiner Scheidung seine Stimme entdeckt, nachdem ihn ein Kellner mit Frank Sinatra verwechselt hatte. Mit dem Singsang konnte er seine dürftige Rente aufbessern. Gottlieb ließ ihn meistens im Halbdunkeln singen, denn Franky war ein leidenschaftlicher Biertrinker, was man ihm auch ansah. Seine Stimme klang tatsächlich etwa so wie die von Frank Sinatra. Die Mädchen im Club mochten ihn nicht. Er war ihnen zu anschmiegsam. Aufdringlich war er nicht, aber eben nicht viel versprechend für die jungen Damen. Dicke Männer mochten sie ohnehin nicht. Wenn sie kein Geld hatten. Und dazu noch alt waren. Miriam knallte die Tür der Artistengarderobe zu, die Ben absichtlich offen gelassen hatte. Sie machte eine abschätzige Bemerkung über Franky. Es schien so, als würde sie nur deshalb über Franky herziehen, weil sie Angst hatte, selber so zu enden. Für Miriam war Franky die verhasste Version einer möglichen Zukunft. Ben ignorierte sie und zog still die Nylonfäden aus seinen Ärmeln. Er beobachtete dabei, wie Miriam und die Neue, sie hieß Chanel, gegenseitig Urlaubsfotos austauschten. Miriam hatte in einem vornehmen Restaurant auf der Insel Malta für fünfundachtzig Franken gegessen, und Chanel hatte in einer Bar in Zürich für hunderteinundzwanzig Franken Champagner getrunken. In einer Illustrierten suchten sie sich ihre Zukunft aus. Auch sie träumten wie Franky vom großen Entdecker, der aus Amerika rüberkam, um sie, und nur sie, zu entdecken. Das waren auch mal Bens Träume gewesen. Oder die von Ingrid. Und jetzt saßen sie alle zusammen im »Black Penny«, der alte Korge mit seinem Portwein und seinem Schachbrett, der rührige Franky, der sich anschließend im Bahnhofsbuffet Rösti und einen Humpen Bier bestellen würde, die Stripteasetänzerinnen, die versuchten, ihren Po über den Atlantik zu recken, bis nach Hollywood, und Ben, der sich König der Illusion nannte und irgendwie am Ende war.
Ben hatte das Bedürfnis zu trinken, alles in sich zu ersäufen, bis die mahnenden Stimmen in ihm aufgaben. Es waren keine richtigen Stimmen, sondern das Gefühl, etwas tun zu müssen, aber nicht zu wissen, was. Das Gefühl, langsam einen Hang hinunterzugleiten, träge und müde, und unten sperrte ein Seeungeheuer das riesige Maul auf. Ben glitt weiter den Hang hinunter. Und unten war's aus. Vorbei das Leben. Hätte schlimmer sein können, ab und zu recht hübsch und freundlich, nicht immer einfach, keine Sonntagsnummer, keine Sternstunde für die Menschheit, bloß ein bisschen Gleiten, und ehe man die Orientierung gefunden hatte, prallte man irgendwo auf, überschlug sich und landete auf einem weichen Kissen. Ben wusste, das Kissen war eine rosa Zunge, die dem Ungeheuer gehörte, und wenn er jetzt nichts unternahm, würde er morgen in den stinkenden Gedärmen des Ungeheuers umherwaten, und das Leben wäre vorbei. Für immer. Ben wollte das Ruder nochmals herumreißen. Aber es war morsch. Chablis Premier Grand Cru. Nur Korge an der Bar. Nora hatte ihren freien Tag. Ben bestellte eine zweite Flasche. Miriam ersetzte Nora. Sie füllte die Männer ab. Bevor sie von den Hockern kippten, bestellte sie ihnen ein Taxi. Ein Mann setzte sich neben Ben. Es war Victor. Er schaute Ben freundlich an und schwieg. Er war anders heute. Nicht geschwätzig. Als wisse er, was in Ben vorging. Ben lächelte gequält.
»Tut mir leid wegen heute Nachmittag.«
Victor berührte freundschaftlich Bens Arm.
»Ich bitte Sie, Herr Truger, wir haben alle ein bisschen zu viel getrunken.«
»Ingrid ... «, sagte Ben und hielt inne. Er hatte vergessen, was er sagen wollte. Irgendetwas, das nur ihn und Ingrid etwas anging.
»Ihre Frau war sehr charmant«, sagte Victor.
»Ingrid ist meine Schwester.«
Victor schien überrascht. Er fuhr sich mit der Zungenspitze nachdenklich über die Unterlippe. Zögernd fuhr Ben fort:
»Meine Schwester hat Probleme. Mit den Nerven. Wir wollen hier einen Spezialisten aufsuchen.«
»Hier in Luzern?«, wunderte sich Victor.
»Wir haben in Deutschland schon alles versucht. Wir wollten nach Basel. Zu Professor Kielholz. Aber er hat die Klinik verlassen. Und in Basel gibt's kein Varieté mehr mit Zaubervorstellungen.«
Victor schien aufrichtig berührt. Er machte ein kummervolles Gesicht und rieb sich nachdenklich das Kinn. Ben setzte sein Glas wieder ab. Er schaute Victor an und wartete. Als würde er ihm weiterhelfen können. Irgendwie hatte er Vertrauen zu Victor. Er wirkte menschlich. Und stark. Victor warf Ben einen kurzen Blick zu und fragte beinahe schonungsvoll, ob er Professor Sayka kenne. Ludek Sayka.
Eine süße Brise blies über die Reling, als das Liniendampfschiff »Weggis« auslief. Ingrid schlug ihren Mantelkragen hoch und hielt sich mit beiden Händen an der Brüstung fest. Weiter entfernt, auf einer weißen Holzbank, saßen Ben und Victor. Ben fühlte sich schlecht. Er roch stets den Mistkerl in sich, wenn er erneut aufbrach, um Ingrid irgendwo unterzubringen. Trotz aller Misserfolge schwang auch diesmal die leise Hoffnung mit, er könne in einigen Wochen wieder hinüberfahren und eine gesunde Ingrid abholen, so, wie man sein Fernsehgerät aus der Reparaturwerkstatt abholt.
»Ich glaube, Ingrid möchte Ihnen etwas sagen«, flüsterte Victor unaufdringlich. Ben schaute ihn erstaunt an. Tatsächlich, jetzt hatte Ingrid ihre Haare zurückgeworfen und dabei ihren Bruder gesucht. Ben stand auf und ging zur Brüstung. Er streichelte Ingrids Hand. Ingrid kam näher zu ihm und zog die Schultern hoch. Sie fror nicht. Sie tat das immer, wenn sie Bens Arme um sich spüren wollte. Und Ben nahm sie in die Arme. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. 441 Meter über dem Meer. Vitznau. Eine sonnige, windgeschützte Seebucht am Vierwaldstättersee. Mit geheizten Schwimmbädern, Minigolfanlagen, Hallen- und Strandbädern, Wassersport, Kurkonzerten; ein idyllisches Wanderparadies mit Hotels der gehobenen Preisklasse und einem Bilderbuchpanorama. Mächtige Bergketten, die aus dem Wasser ragten - wie die Seeungeheuer, die Ben in seinen Träumen heimsuchten, wenn die Erde auseinanderbrach.
Die Klinik von Professor Sayka lag abseits, fast verborgen in einem kleinen Wald am Ufer. Sie waren ungefähr eine halbe Stunde gelaufen. Allein hätte Ben den Rückweg nicht mehr gefunden. Sie verließen die Straße und spazierten einen kleinen Feldweg hinunter, der von einem grün überwucherten Gartenzaun abgeschnitten wurde. Victor öffnete das Tor. Ein großer Garten mit altem Baumbestand. Weiter hinten ragte die Hinterfassade eines alten dreistöckigen Hauses in den stahlblauen Himmel. Weiß vergipster Fassadenverputz, hohe Fenster. Die im dritten Stock waren vergittert. Früher hatte das Gebäude als Waisenhaus gedient, und noch früher stand hier mal das Seuchenhaus. Das Anwesen hatte einen direkten Zugang zum See. Am Ufer lagen ein paar Boote. Die beiden Türflügel des Hintereinganges wurden geöffnet. Ein kleiner Mann mit kurzem, kräftig weißem Stoppelhaar stieg die breite Steintreppe zur Gartenanlage hinunter. Professor Ludek Sayka. Er war ein sympathischer Mann mit natürlichen Umgangsformen. Herzlich und spontan, aber auch sehr rücksichtsvoll. Ben war sehr glücklich darüber, denn wie oft war er Ärzten begegnet, denen er nicht mal seinen Regenschirm anvertraut hätte. Ingrid und Sayka schienen ziemlich schnell Zugang zueinander zu finden. Sie sprachen nicht viel, aber Ben spürte, dass Ingrid Sayka nicht ablehnte, dass sie ihm vertraute, so wie auch er Sayka vertraute.
»Sie müssen nicht bleiben, wenn Sie nicht wollen«, sagte der Professor, während er in der Gartenlaube die Kaffeetassen nachfüllte. Ingrid schaute Hilfe suchend zu Ben rüber. Die Sonne schien durch die Baumkronen hindurch. Die Ruderboote schaukelten friedlich in den weichen Wellen. »Sie dürfen Ihren Bruder jederzeit anrufen..
Alle spürten, dass es Ingrid hier gefiel. Aber sie wagte nicht, eine Entscheidung zu treffen. Ben traf die Entscheidungen. Er musste Ingrid die Wünsche von den Lippen ablesen.
Ingrid wollte es nochmals versuchen. Sie presste die Lippen zusammen und lächelte.
»Du brauchst nur anzurufen, und ich stehe wieder hier. Ich komme jeden Tag vorbei.«
Ingrid reagierte verängstigt. »Muss ich lange bleiben?«
»Sie müssen gar nichts«, beruhigte Professor Sayka. »Sie bleiben, solange Sie wollen. Aber im Herbst werden Sie nicht mehr da sein. Bestimmt nicht.«
Ingrid wirkte verloren. Ben wollte sie in den Arm nehmen, wagte es aber nicht, denn manchmal warf er sich vor, Ingrid allzu viel vom Leben abzunehmen. Vielleicht würde Professor Sayka Ingrid später einreden, dass sie sich von ihrem Bruder lösen sollte. Ben hielt sich zurück und war froh, als Ingrid von sich aus sprach.
»Es ist sehr schön hier. Und wenn es mir nachher ... besser geht ... ich darf gar nicht daran denken ...«
Ingrid begann zu weinen, und Ben nahm sie in den Arm. Professor Sayka sprach ruhig und leise, er hatte eine angenehme Stimme. »Sie sind nicht in einem Labyrinth der Angst geboren, Ingrid. Das ist später entstanden. Aber wir werden es wieder abtragen, dieses Labyrinth. Gemeinsam. Stein für Stein. Und Sie werden Ihr Leben zurückbekommen. Ich verspreche es Ihnen.«
Der Professor stand auf. Die andern erhoben sich ebenfalls. Ingrid warf sich Ben in die Arme. Beide umarmten sich fest, nahmen Abschied, wie zwei Liebende, zwei Unzertrennliche. Plötzlich gab es noch eine Menge Dinge, die man dem andern mitteilen wollte, Kleinigkeiten und solche, die den Abschied verzögern konnten. Der Professor stand bereits vor der Steintreppe. Und Victor beim Gartenzaun hinten im kleinen Wald.
Ingrid und Professor Sayka stiegen gemeinsam die massive Steintreppe zum Hintereingang der Klinik hinauf. Ingrid hob zaghaft ihren Arm zum Abschied. Es war nicht leicht für Ben. Er bereute seinen Entschluss. Er wollte alles auf sich nehmen, auf alles verzichten, auch auf Nora. Nur Ingrid wollte er zurück. Er sah, wie Professor Sayka seine Hand auf Ingrids Schulter legte. Ben erschrak. Auch auf seine Schulter legte sich das Gewicht einer Hand. Victor schloss das Gartentor. Ben hob nochmals den Arm. Zu spät. Ingrid war bereits in der Klinik verschwunden. Die beiden Türflügel wurden geschlossen.
»Kommen Sie«, sagte Victor, »jetzt wird alles wieder gut.«
Nichts war gut. Der Kleiderschrank im Hotelzimmer war leer. Überall lagen Kleider herum. Ingrid hatte Mühe gehabt, sich für ein Kleid zu entscheiden. Ben hatte entscheiden müssen, er hatte die weiße Hose gewählt, aber Ingrid war aufgebraust, war jedes Mal aufgebraust, wenn Ben etwas auswählte, das ihr nicht gefiel. Und nichts wollte ihr gefallen. Denn der Anlass missfiel ihr. Bis er endlich die schwarzen Hose mit der gelben Bluse wählte, das also, was Ingrid von Anfang an gewollt hatte, aber nicht selbstständig hatte auswählen können. Und jetzt räumte Ben alles weg: den BH, der über dem Bettpfosten hing, die Socken auf dem Tisch, die Strümpfe unter dem Bett und den ganzen Kleiderberg auf dem Bett, auch den Zaubersmoking von Ingrid. Ben war nicht glücklich. Ingrid fehlte ihm. Er machte sich Sorgen. Als damals ihre Eltern starben und der zwanzigjährige Ben allein dastand mit der kleinen zehnjährigen Ingrid, da hatte er sich überhaupt keine Sorgen gemacht. Im Gegenteil. Er war sofort mit der kleinen Ingrid umgezogen und hatte das gesamte elterliche Mobiliar gegen einen Pauschalbetrag einem Trödler überlassen. Und all die Regenbogenillustrierten mit den schwarzweißen Fotoromanen und den farbigen Königsreportagen hatte er eigenhändig in den Rohrschlund im Hausflur runtergeworfen, der direkt in einen großen Müllcontainer im Keller mündete. Und all die mysteriösen kleinen Broschüren über Wunderheiler, Teufelsaustreiber, Geistheiler und Magnetiseure hatte er nachgeworfen. Die Biografie von Mama Rosa von San Damiano dazu und all die dümmlichen Götterbildchen an den Wänden, die angeblich töten konnten, wenn man sich nicht davor verbeugte, hintendrein. Als letzte Zugabe noch das ganze Pilgerbrimborium, die heiligen Kerzen, die heiligen Wässerchen, abgefüllt in Colaflaschen. Bens Mutter stammte aus einem kleinen Provinznest, wo noch der Rauch der letzten Hexenverbrennungen über den Bauernhöfen hing. Ihren religiösen Fanatismus hatte sie mitgenommen in die große Stadt der Banken und Chemiekonzerne. Und während Armstrong seinen Fuß auf den Mond setzte, kreuzte sie zwei schwarze Brotmesser unter Bens Bett, um den Teufel aus seinem Leib zu verbannen. Denn Ben hatte den harten Holzstuhl im Gymnasium klammheimlich gegen einen blauen Plüschstuhl im Kino »Hollywoods« ausgetauscht, dem großartigen Tempel der Illusionen. Das Eintrittsgeld verdiente er sich als Laufbursche in einer Spirituosenhandlung. Dort lernte er die grünen Witwen kennen, die er jeweils am Dienstag- und Donnerstagnachmittag besuchte. Wenn sie ihren Ben auch an anderen Tagen bei sich haben wollten, bestellten sie in der Spirituosenhandlung eine Hauslieferung Eiercognac. Es war in jeder Beziehung ein anstrengender Job. Nebenbei mussten Briefe für die Schulbehörden gefälscht und laufend neue Krankheiten erfunden werden, die dem Epidemiegesetz unterstellt waren und mehrmonatige Absenzen forderten. Als Bens Mutter nach zwei Jahren beim Saubermachen seinen Terminkalender fand, ergraute sie innerhalb von 24 Stunden und versuchte fortan, den Teufel in ihm mit dem Stahlrohr eines Satrap-Staubsaugers niederzuschmettern. Sie zwang Ben vor einem heiligen Holzkreuz zu Boden, mit ausgestreckten Armen, und wenn seine Kraft nachließ, schlug sie zu, denn Ben musste Buße tun. Stundenlang starrte er den vergoldeten Gipsmann an, der ihn mit schrägem Kopf anschaute, jenen Gipsmann, den er beim Fußballspiel in der elterlichen Wohnung hundertmal vom Nagel gekickt hatte. Doch wenn Ben gehorchte, konnte die Mutter sehr nett sein. Alten, alleinstehenden Damen die Einkaufstasche ins Einfamilienhäuschen tragen, dagegen hatte Mutter nichts einzuwenden. Denn wenn alte Menschen starben, das wusste Bens Mutter ganz genau, vererbten sie manchmal den kleinen Jungs, die ihnen die Milch nach Hause getragen hatten, ihr Haus. Das liebe Geld und der liebe Gott, das war ihr Antriebssystem. Sie liebte farbige Reportagen über Königshäuser, denn die Blaublüter waren reich und trugen ähnliche Stoffe wie der Papst in Rom. Und sie inszenierten ihre Monarchien ähnlich gekonnt wie das Kirchenoberhaupt in Rom, eine Mischung aus »Royal Shakespeare Company« und »Liverpool/AC Roma«. Sie waren alle unfehlbar. Wie Bens Mutter. So half die Fantasie als Innendekorateur aus, wenn sie sich den Himmel ausmalte. Er war mindestens so feudal wie das Schlafzimmer von Queen Elizabeth. Und außerhalb des Schlafzimmers wurde Dieben die Hand abgehackt, fröhliche Onanisten wurden entmannt, Ungläubige geröstet und Kinos ins Mittelalter zurückgebombt. Denn was sie nicht kannte, erschreckte sie. Und sie kannte nicht viel. Nur das, was die dünne Provinzzeitung ihres Heimatdorfes in einer Auflage von dreitausend Exemplaren in die Briefkästen der letzten Apostel warf. Es war eine recht banale und kleine Papierwelt, die bei den Windsors anfing und in Rom aufhörte. Je schrulliger ihr Weltbild wurde, desto verbissener verteidigte sie ihren religiös-royalistischen Rechtsextremismus. Sie begnügte sich nicht mit verbaler Verteidigung, sondern unternahm regelrechte missionarische Kreuzzüge. Wer konnte schon ahnen, dass dort oben im zwölften Stockwerk der grauen Betonsiedlung eine der feurigsten Verteidigerinnen der nichtsnutzigen Monarchien wohnte, eine Jeanne d'Arc, die als stärkste Waffe ihre Tränendrüsen besaß. Wer zuerst weinte, war im Recht. Und sie weinte oft. Weinen war ihre Sprache. Sie tropfte den ganzen Tag. Vermutlich vererbt. Als einmal ihre sieben Schwestern wegen der Erbschaftsteilung zu Besuch waren, weinten alle zusammen eine ganze Woche lang um die Wette. Gegenstand der Bewässerung war eine Heilige Ikone. Jede Schwester hatte geglaubt, Anspruch darauf zu haben. Kurz vor der körperlichen Austrocknung riefen alle acht Schwestern ihre Anwälte. Vor Gericht soll sogar der Gerichtspräsident geweint haben. Vor Lachen. Die Ikone war eine Fälschung.
Bens Vater rettete sich jeweils in Kneipen und ließ seine Frau allein in der Wohnung, allein im üppigen Sofa, das irgendeinem Königsdesign nachempfunden war, allein unter dem majestätischen Kronleuchter mit dem ganzen Geklunker, das viel zu groß war für die Zweimeterdreißigdecke und mindestens so deplaziert und obszön von der Decke herunterbaumelte wie eine geschmacklose Kollektion überlanger Hoden. Auf ihre Art war auch Bens Mutter eine Meisterin der Illusionen, aber ihren Verstand hatte sie längst weggezaubert. Bens Vater assistierte. Am Anfang hatte er wenig Lust dazu, er flüchtete meistens mit Ben in Wirtshäuser, denn er machte sich Sorgen um Bens geistige Gesundheit. Der Muttervirus war seiner Meinung nach ansteckend. Er bestellte dem kleinen Ben Sirup und trank zufrieden sein Feldschlösschen-Bier. Er war kein weit gereister Mann, umso höher war es ihm anzurechnen, dass er sehr tolerant war, obwohl er keine großen Vergleichsmöglichkeiten hatte. Auch er berief sich auf die Bibel, aber seine Haltung war eine andere. Wenn er irgendwo im Restaurant einen armen Mann oder eine arme Frau sah, die verlegen mit großen Augen die Speisekarte in den Fingern drehte, lud er sie ein. So half er schließlich auch jener Kellnerin, die Ben so gerne mochte, und nahm ihr die Last ab, nahm die Last schließlich mit nach Hause. Und die Last hatte einen Namen. Ingrid. So kam Ben im Alter von zehn Jahren zu einer Schwester. Er war dabei, als die Kellnerin dem Vater das kleine Paket übergab, und wusste gleich, die Kellnerin war die Mutter und sein Vater war der Papa der Kleinen. Bens Mutter, die nach eigenen Angaben in Sachen Religiosität von niemandem überboten werden konnte, lehnte das kleine Geschöpf rundweg ab. Es trug keine Zinsen ein. Es war unnütz und lästig, kostete Geld. Nachts weinte das Baby, und es war Ben, der die kleine Ingrid aufnahm. Er nahm sie zu sich ins Bett wie eine große lebende Puppe, gab ihr geduldig zu essen und wechselte ihre Windeln. Bens Puppe lernte sprechen. »Enn«, sagte sie. Das »B« kam später dazu, und da ihr der Name so gut gefiel, hängte sie noch ein »i« an und rief morgens als Erstes nach ihrem »Benni«. Ingrid wurde größer und schöner. Sie hatte wundervolle, große Augen. Und als Bens Tanten die ersten Komplimente machten, erklärte Bens Mutter ihren Schwestern naserümpfend und zähneknirschend, dass sie keinen Unterschied mache zwischen Ingrid und Ben, denn Gott würde auch keinen Unterschied machen. Doch ihr Gott war ein furchtbarer Gott. Er verstieß Ben, als dieser Zauberer wurde. Tino Rossi, Finanzgenie oder Papst, das wäre in Ordnung gewesen, aber Zauberer, das war nichts, was Mutters Ansehen verbessern konnte. Und ein bisschen Politur hatte sie dringend nötig.
Für den kleinen Ben auf ihrem Schoß hätte sie alles getan. Aber Ben wuchs schneller, als sie denken konnte. Er ging auf die Straße hinaus. Von diesem Augenblick an wusste Bens Mutter, dass sie ihren Sohn für immer verloren hatte. Eines Tages würde er zurückkommen, und ihre weihrauchgeschwängerten Fabeln würden von Mikroprozessoren, Glasfaserkabeln und genetisch veränderten Arbeitsbakterien entwertet und der Lächerlichkeit preisgegeben. Was sie für Ben wollte, konnte Ben nicht wollen. Denn was sie wollte, wollte sie für sich. Das Schlimmste, was er ihr antat, war der Anfangserfolg, den er sich als Zauberer erkämpfte. Er zerstörte damit ihr ganzes Weltbild. Sie hatte ihn nur gebremst, weil sie nicht mithalten konnte. An einem Montag um Viertel nach drei vollbrachte Ben schließlich sein größtes Zauberkunststück. Er verschwand spurlos mit Ingrid aus der elterlichen Wohnung und kam nie mehr zurück.
Nur in den Träumen von Bens Mutter stand Ben mit gesenktem Kopf hinter der Tür und fiel weinend um Vergebung bittend in ihre Arme zurück. Und sie nahm ihn wieder auf in ihre Welt der besenreitenden Teufel und Hexen. Aber der Traum wurde nie Wirklichkeit. Nachdem sie eines Abends wutentbrannt in ihr Schlafzimmer gestampft war, weil der neue Pfarrer sich nicht vom wahren Katholizismus hatte überzeugen lassen wollen, blieb sie in ihrem Schlafzimmer, bis zwei lockere Hippies mit Seemannsgang die Totenbahre durch den engen Wohnungsflur zwängten und das Schlafzimmer betraten. Die dicken, heiligen Kerzen, die sie allabendlich angezündet hatte, um sich mit der Hilfe des Himmels irgendwelche Wünsche zu erfüllen, waren gänzlich abgebrannt und hatten auf dem Boden eine dicke Wachskruste hinterlassen. Auf dem bücherlosen Nachttisch lag ein abgewetzter Rosenkranz und ein Bild ihrer Eltern, die dumpf und leer nach vorne schauten, als würden sie den Fotografen unter dem schwarzen Tuch hinter diesem Stangengerüst suchen, der ihnen ein anständiges Foto versprochen hatte. Nach dem Tod der Mutter folgte gleich der Vater, als sehne er sich geradezu nach der Peitsche seiner Ehefrau. Er sah aus wie Bing Crosby, aber seine Bühne lag irgendwo im Grünen, an einem Lagerfeuer bei Wurst und Brot. Und wenn die Frau nicht dabei war, auch einem bisschen Bier. Er hätte keiner Fliege was zu Leide getan, und so erwischte ihn Mutters Fliegenklatsche umso öfter. Wenn seine Frau ihn nicht dazu getrieben hätte, König von Bayern zu werden, wäre er nicht Sachbearbeiter in einem regionalen Brauereibetrieb geworden, sondern Schreiner geblieben, ein guter Schreiner, der gute Stühle und gastfreundliche Tische geschreinert hätte. Aber Bens Mutter nahm ihn mit in das royalistische Schlafzimmer hoch oben über den Wolken.
Ingrid war acht Jahre alt, Ben gerade achtzehn geworden, als er ein Mädchen heiraten und Ingrid eine richtige Mutter schenken wollte. Doch das Mädchen wollte das genießen, was sie als das Leben bezeichnete. Als er sie das letzte Mal sah, wollte sie ihn doch heiraten, aber da hatte sich bereits Ingrid für Ben entschieden, und all die netten jungen Männer, die Ben mit Ingrid zusammenbrachte, waren nicht so wie Ben. Sagte Ingrid. Sie wurde seine Assistentin. Irgendwann einmal war sie einem Veranstalter zu alt. Alte Zauberer waren genehm, weil sie Können implizierten und das Klischee vom weisen Zauberer. Bald glaubte auch der nächste Veranstalter, Ingrid den geilen Publikumsblicken nicht mehr zumuten zu können. Ingrid stürzte zum ersten Mal in das schwarze Loch, und wenn man diese vernichtende Dunkelheit und Ausweglosigkeit einmal erfahren hatte, gab es keine Sicherheit mehr. Die schönsten Augenblicke des Lebens wurden plötzlich von der Angst getrübt, die Sonne könne wieder zu einem schwarzen Stein verkohlen. Die ersten Psychologen und Psychiater wurden aufgesucht, sie verteilten Terminkärtchen, verschickten Rechnungen, aber keiner wusste Rat. Auch Ben wusste nicht mehr weiter, als er die letzten Kleidungsstücke auf den Bügel gespannt und in den Kasten gehängt hatte.
»Ben, ich möchte Ihr Schüler werden«, sagte Victor, als sich Ben am nächsten Tag in der Artistengarderobe auf den bevorstehenden Auftritt vorbereitete.
»Das ist gar nicht so einfach«, entgegnete Ben, erstaunt und tief berührt zugleich, weil Victor ihn »Ben« genannt hatte. Victor setzte sich auf die Garderobenbank und schaute Ben geduldig zu, wie er seine Armel und Innentaschen präparierte. Ben wollte Victor dadurch, dass er sich in seinem Beisein vorbereitete, zeigen, dass er ihm vertraute, dass er ihn mochte. Denn nach dem Ehrenkodex der Zauberer war es streng verboten, Routinen an Laien zu verraten.
»Wie sind Sie denn Zauberer geworden?«, fragte Victor.
»Ich habe auf dem Flohmarkt mein Kirchengesangbuch gegen einen Zauberkasten eingetauscht«, lächelte Ben. Für die kleine Ingrid hatte er zaubern wollen. Insgeheim hatte er ihr zeigen wollen, dass auch das Unfassbare auf einfachen Tricks beruhte, dass das Unheimliche nur so lange Furcht erregend war, bis es entschlüsselt war. Wissen konnte Angst besiegen. Auch jene Ängste, die die Mutter für ihre eigenen Zwecke schürte. Mit seiner Kunst hatte er die Zauberei der Mutter entzaubert. Die religiösen Magier und philippinischen Wunderheiler, die blutige Fleischstummel durch die geschlossene Bauchdecke aus dem kranken Körper rissen, Ben hatte sie alle als Scharlatane entlarvt, kopiert und übertroffen.
»Ich würde mich verpflichten, den Ehrenkodex einzuhalten«, hakte Victor nach. Seine unaufdringliche Art machte es einem schwer, ihm eine Bitte abzuschlagen. Ben zögerte und schaute Victor schmunzelnd an. Victor erwiderte das Lächeln und zeigte seine weißen Zähne. Schelmisch spann er den Faden weiter: »Tagsüber Privatunterricht in der Stiftung Temporis und abends die Vorstellungen im 'Black Penny'. Da käme eine ganz hübsche Summe zusammen. Ich würde Ihnen hundert Franken die Stunde bezahlen.«
Das Geld war durchaus ein ernsthaftes Argument, denn die Klinikrechnungen waren nicht gerade billig, die Krankenkassen akzeptierten nicht alle Behandlungsmethoden. Doch zu seiner Überraschung fügte Victor hinzu: »Ich habe mit Professor Sayka gesprochen. Er wird kein Honorar verlangen.«
Ben war erstaunt, dass Victor sein bestes Argument selber entkräftete. Wenn die Behandlung in der Klinik teuer gewesen wäre, hätte er Victors Angebot sofort angenommen. Aber der Klinikaufenthalt würde ihn nichts kosten. Dank Victor. War das nicht auch ein Argument, Victors Bitte nicht abzuschlagen?
»Ich habe volles Verständnis«, sagte Victor freundlich, »wenn Sie mein Angebot ausschlagen müssen. Abgesehen von der Zauberei hätte es mich natürlich gefreut, öfter mit Ihnen zusammenzusitzen.«
Über die Gegensprechanlage wurde Ben auf die Bühne gerufen. Man hörte den Applaus für Miriam, die soeben ihren Striptease beendet hatte.
»Gehen Sie nur. Wenn Sie mögen, können wir nachher an der Bar noch ein Glas trinken.« Ben gab Victor die Hand.
»Sie sollen mein Zauberlehrling werden, aber ich warne Sie, reich kann man mit unserer Kunst nicht werden. Wir zaubern nicht, wir bluffen nur.«
Nach der letzten Vorstellung setzte sich Ben an die Bar. Nora mixte ihm einen Orangensaft mit Wodka. Scharf beobachtet von Korge, der auf seinem Magnetbrett irgendein Schachproblem nachstellte. Ben konnte nicht verstehen, dass eine Frau wie Nora Nacht für Nacht hinter der Theke eines Nachtclubs stand. Er wusste nicht, was sie hierher geführt hatte, ob sie einfach gestrandet war, wie die meisten hier auch, was sie an ihren freien Tagen unternahm, er hatte sie noch nie außerhalb des Nachtclubs gesehen. Nur in seinen Träumen. Etwas zaghaft fragte er sie, ob sie heute Abend schon etwas vorhabe. Eigentlich hätte er von heute Nacht sprechen sollen, aber das hätte missverstanden werden können. »Das hängt ganz davon ab, was Sie vorhaben«, antwortete Nora fast schüchtern. Und so, als habe sie seit langem auf diese Frage gewartet.
Kurz vor Mitternacht irrte Ben durch die Schaufensteralleen der Luzerner Innenstadt. Hitzegeschädigte Leiber, die lustfeindlich ineinander quollen, um aneinander vorbeizukommen. Japanische Kameras, die sich an Damenhandtaschen und Rückspiegeln von geparkten Autos festhakten. Rauchschwaden von glühenden Braunkohlen und gegrilltem Fleisch hingen zwischen den Gassen wie die Kantonsflaggen und die nervös aufblitzenden Neonschriften über den Schaufensterauslagen. Die Autos hupten die vom Bürgersteig abgedrängten Touristen vor den Kühler des nächsten Autos, dessen exotische Herkunft am Autokennzeichen abzulesen war. Das Sprachengemurmel, das wie ein vorbeiziehender Bienenschwarm zwischen den Menschenleibern hochstieg, konnte kein Dolmetscher enträtseln. Ein Cocktail aus japanischen, englischen und französischen Wortfetzen, durchsetzt von Schweizer Mundart und allen möglichen Dialekten. Nur die Geschichten, die in den schräg versteinerten Mundwinkeln eingemeißelt waren, suggerierten eine Artverwandtschaft. Die Menschen kamen Ben alt und kränklich vor, im Gegensatz zu den schönen Frauen auf den großflächigen Werbeplakaten. Sie schienen gesund und zufrieden, jene mit Sehnsüchten vollgestopften Kunstrealitäten, wie sie von alkoholkranken Textern und individuell gestörten Creative Directors entworfen wurden, die Nacht für Nacht über den rauchgeschwängerten Tresen der Luzerner Nachtbars hingen, um sehnsüchtig Gedanken nachzuhecheln, für die niemand Werbung machte. Denn diese Visionen waren nicht käuflich, konnten nicht maschinell produziert werden. Sie waren unerreichbar wie der Fleischbrocken an der Stange, die sich bei Hunderennen wie ein überlanger Uhrzeiger über die Rennbahn bewegt.
Plötzlich stand Nora vor ihm. Und als er sie fest in den Armen hielt und ihre Lippen suchte, schienen beide überrascht. Keiner wusste so richtig, wie das geschehen war. Die Passanten drängten sie auf die Straße ab, aber sie hörten das Hupen der Autos nicht mehr, und der Hunger war verschwunden. Gegen Morgen saßen sie auf dem überdachten Podium in der Parkanlage des Kursaales und ließen die Beine in den verwaisten Orchestergraben hinunterhängen.
Ben saß im Konferenzraum der Temporis AG. Er griff mit der linken Hand in seinen schwarzen Zylinderhut und fixierte dabei Victor, Sattler und Simon mit dem typischen Zaubererblick, der die Zuschauer zu fragen scheint, ob sie so weit folgen konnten. Als er das Ei aus dem Zylinder herausnahm, verzog er keine Miene. Er stellte es in den Eierbecher, der auf der nussbraunen Tischplatte stand, und zog ein weiteres Ei aus seinem Zylinderhut. Victor war ruhig und aufmerksam, Sattler und Simon machten einen gelangweilten Eindruck, als müssten sie einem Kleinkind beim Legospiel zuschauen. Ben verstand nicht, wieso die beiden dabei waren. Sie wollten auch lernen, hatten angeblich schon einiges über die Zauberkunst gelesen und ausprobiert. Sie bezahlten auch, aber ein echtes Interesse war nicht festzustellen. Weder Ehrgeiz noch Leidenschaft. Ben zauberte für Victor. Nur für Victor. Aus allen vier Eierbechern ragte ein weißes Ei hervor. Ben nahm sie wieder heraus und legte sie in den schwarzen Zylinder. Sattler und Simon warfen sich einen gelangweilten Blick zu. Victor verfolgte mit listigen Fuchsaugen jede Bewegung. Und als Ben ihm den Zylinderhut reichte, war er sehr verblüfft. Der Hut war leer. Auch im doppelten Boden war nichts zu finden. Sattler und Simon waren beeindruckt. Bis Ben die Routine erklärte. Das Geheimnis lag in den präparierten Eierbechern. Ben zeigte seine leeren Hände, griff mit dem Zeigefinger in einen Becher, und schon stand ein Ei darin. Doch das angebliche Ei, eine eiförmige weiße Blechform, ließ sich durch ein leichtes Antippen im Eierbecher versenken. Ben hatte immer mit dem gleichen, echten Ei gearbeitet, die weiße Blechform jeweils nach oben gezogen und so den vollendeten Transfer eines echten Eies vorgetäuscht.
»Wir unterscheiden zwischen Kartenkunst, Mikro-, Bühnen- und Mentalmagie. Bei der Kartenkunst sind Fingerfertigkeit und Übung entscheidend, bei der Mikro- und Bühnenmagie präparierte Objekte, kombiniert mit Ablenkungsmanövern und wiederum - Fingerfertigkeit. Etwa so.«
Ben stand auf und holte hinter Sattlers Ohr einen Gummiball hervor. Sattler lächelte gequält.
»Wie kommt die Fliege ins Glas?«, fragte Simon ungeduldig. Seine Augen flackerten unruhig. Ben hatte das Gefühl, dass ihn diese Routine am meisten interessierte. Vielleicht wollte er noch heute Abend einem Bekannten einen kleinen Streich spielen.
»Mit einem Gimmick«, antwortete Ben amüsiert, »das ist ein Hilfsmittel. Oder mit einer Palmage, so nennen wir ein Versteck.«
Ben klemmte sich einen Plastikkäfer in die Hautfalte zwischen Daumen- und Zeigefingeransatz, hob seine Hand in die Höhe, drehte sie nach allen Seiten. Der Käfer war verschwunden. Er zeigte die leere rechte Hand, und schon hatte die linke unbemerkt den Käfer über Sattlers Glas fallen lassen. Sattler schien verärgert. Simon lachte laut auf, während Sattler den Käfer mit den Fingerspitzen aus dem Glas nahm und selber in der Handinnenfläche palmierte. Sturzberg. Die Tür im Nebenraum war aufgegangen. Peter Sturzberg, der junge Lehrer, der sich kürzlich mal mit Tom über eine Anstellung unterhalten hatte, torkelte, taumelte ins Konferenzzimmer. Tom griff ihm kräftig unter die Arme und fing ihn auf.
»Er fühlt sich unwohl. Ich habe ihm ein Taxi bestellt.. Victor nickte. Die anderen beiden schauten bloß zu, etwas irritiert. Offensichtlich gehörten sie in der Betriebshierarchie nicht zu jenen, die Erklärungen erwarten durften. Als Tom den stellenlosen Lehrer Sturzberg in den Empfangsraum hinausgeführt hatte, scherzte Sattler: »Und so einer will in die Republik Niger.« Doch Victor fuhr ihn unwirsch an, das könne ja mal passieren, oder? Sattler schwieg. Alle Augen waren wieder auf Ben gerichtet. Er nahm eine Kugel, einen kleinen Zylinder und einen Nylonfaden aus seiner Tasche heraus und hielt inne.
»Woran denken Sie?«, fragte Victor ruhig und unaufdringlich. »Sie wirken abwesend.«
Ingrid rannte die Steintreppe hinunter. Sie trug ein blütenweißes Kleid. Das Haar offen. Es war länger geworden. Wie eine Märchenfee schwebte sie über die saftige Wiese, zwischen den dicken Baumstämmen hindurch, die von drahtigen Efeulianen umschnürt wurden. Willig setzten sie ihr dichtes Blattwerk der launigen Brise aus. Und dann riss Ingrid ihren Ben an sich, küsste ihn leidenschaftlich und biss ihm vor Freude kräftig in die Lippen. Sie schlenderten zum Ufer hinunter und setzten sich in eins der verankerten Ruderboote.
»Warum bist du gekommen?«, fragte Ingrid, als sei sie darüber besonders erstaunt. Sie schien in ausgezeichneter Verfassung zu sein. Ben ballte die Fäuste zusammen und presste die Lippen aufeinander. Er wollte, dass Ingrid ins Leben zurückkam. Er wollte alles dafür tun. Aber sie lebten kein Märchen. Das kleine Mädchen, das ihren Finger opfert, um die Tür zu öffnen, die ihren sieben schwarzen Rabenbrüdern die Freiheit zurückgibt, erschien als das Hirngespinst eines müden Dichters. Selbst wenn er sich die Lippe blutig biss und die Fingernägel in die Handballen bohrte, es nützte nichts, die Tür zum Leben ließ sich nicht mit einem Fleischstummel öffnen.
»Das wäre wirklich nicht nötig gewesen«, wiederholte Ingrid und presste Bens Hände an ihre Wangen.
»Ich wollte aber«, grinste Ben und nahm sie in die Arme. Sie küssten sich, und das Boot begann zu schaukeln.
»Mir geht's wirklich gut. Der Professor meint, in zwei, drei Wochen kann ich wieder nach Hause..«
»Gefällt es dir hier?«, fragte Ben skeptisch.
»Die Leute sind sehr nett. Wir gehen oft schwimmen. Abends spiele ich Klavier oder male. Willst du meine Bilder sehen?« Ingrid sprang mit einem kräftigen Satz ans Ufer. So kannte er seine Schwester gar nicht. Sie streckte die Hand nach ihm aus. »Komm, ich zeig dir mein Zimmer.«
Schwarz. Das Bild war schwarz. Dazwischen ein Grauton, vermutlich hatte sie weiße Farbe benutzt, aber die schwarze Farbe hatte das Weiß gefressen und nur einen feinen grauen Schleier hinterlassen. Das Bild daneben war schon wesentlich heller. »Heute werde ich einen Sonnenaufgang malen«, scherzte Ingrid und zwinkerte dabei mit dem linken Auge.
»Und am Ende der Woche«, fügte sie schelmisch hinzu, »male ich nur noch strahlend weiße Bilder mit lachenden Sonnen. Und dann lässt mich der Professor wieder nach Hause gehen.« Sie kniff Ben neckisch in den Po. Ben setzte sich lachend auf die Bettkante. Seine Schwester kannte alle Testverfahren, und wenn sie sich gut fühlte und wieder nach Hause wollte, sah sie in jedem Farbkleckser nur noch Schmetterlinge, und die Baumstämme malte sie besonders breit, mit starken Wurzeln, die jedem Sturm standhielten.
Das Zimmer war recht klein, aber freundlich eingerichtet. Überall hatte Ingrid bereits ihre Zeichen gesetzt, und das war gut so.
»Hast du heute Abend Vorstellung?«, fragte Ingrid. Ben nickte. »Und nächsten Monat?«, drängte Ingrid. Ben spürte, dass sie hier rauswollte, auf die Bühne zurück, zum nächsten Nachtclub, das Frühstück im Speisewagen, mit vorbeiziehenden Landschaften, die sich wie Trickfilme abwechselten.
»Mach dir keine Sorgen, Ingrid. Ich bleibe in Luzern, solange du hier bist. Ich gebe jetzt Victor und zweien seiner Mitarbeiter Unterricht in Zauberei.« Ingrid schaute ihn erstaunt an, als habe er soeben gestanden, ein Geheimnis zu verkaufen.
»Sie bezahlen hundert Franken die Stunde. Jeder von ihnen. Vielleicht kann ich im ‘Black Penny’ verlängern.«
Ingrid zog Ben vom Bett hoch und führte ihn in den Flur hinaus. Plötzlich hielt sie ihn zurück. Ben steuerte auf den falschen Seitenflur zu.
»Das ist die geschlossene Abteilung«, sagte Ingrid mit tiefer Stimme und bog Ben den aufgerichteten Hemdkragen zurecht. Verschmitzt schaute sie nach links und rechts und gab ihm einen stürmischen Kuss.
»So, mein Junge, jetzt gehst du ins Hotel zurück und bereitest dich anständig auf die Show vor. Anschließend gehst du ins Kino oder so. Du musst jetzt vermehrt an dich denken, Benni, denn wenn ich hier raus bin, wirst du mich kaum noch erkennen, ich werde die ganze Welt auf den Kopf stellen, vielleicht krieg ich mal Flügel, heirate oder so.«
Ben nickte betreten. Natürlich hatte Ingrid Recht. Aber ein bisschen erstaunt war er schon. Ja, er war regelrecht erschrocken. »Du willst heiraten?«, fragte Ben verunsichert.
»Ich weiß noch nicht, wen«, flapste Ingrid, »es müsste natürlich schon ein Mann wie du sein.«
»Den gibt es bestimmt, Ingrid«, antwortete Ben ernst. Ingrid schaute ihn von der Seite an und trat ihm sanft auf die Zehen. »Ich habe nicht an mich gedacht«, lachte Ben, »ich meine es ernst. Ich würde dann auch heiraten.«
Ingrid lachte und hakte ihn unter.
»Ich bin ja so glücklich, Ben. Danke für alles.« Auf der Steintreppe umarmten sie sich zum Abschied. Ben versprach, morgen wiederzukommen. Beim Gartenzaun wartete bereits Victor. Ein netter Kerl. Er schien immer zu wissen, wann Ben allein sein wollte. Und wann nicht.
Als der Liniendampfer in die Luzerner Bucht einfuhr, kamen in Ben wieder Zweifel auf. Er hätte Ingrid oder den Professor fragen sollen, welche Medikamente auf ihrem Menuplan standen. Denn manchmal war es nicht Ingrid, die da ausgelassen scherzte, sondern bloß der verbale Ausdruck einer chemisch gesteuerten Kursänderung im biochemischen Haushalt des Gehirns. Vielleicht, sinnierte Ben, war jetzt schon alles wieder vorbei. Die Wirkung des Medikamentes hatte nachgelassen, und Ingrid lag wie ein Häufchen Elend allein und verlassen in ihrem kleinen Zimmer inmitten ihrer schwarzen Zeichnungen.
Ben bestellte im nahe gelegenen Straßenrestaurant eine Flasche Twanner. Der Weißwein war eiskalt. Victor leistete ihm Gesellschaft.
Der schwarze König schlug die weiße Dame. Korge lachte auf und schaute zu Ben rüber, der nachdenklich an seinem Glas Orangenwodka nippte.
»Eine bemerkenswerte Miniatur von zeitloser Schönheit. Streng böhmisch mit wechselndem Farbecho.«
Offensichtlich kommentierte Korge eine Schachlösung. Ben ignorierte ihn. Er wartete auf Nora, die kurz rausgegangen war, um eine neue Flasche Portwein zu holen. »Sie geben den beiden Ausländern Unterricht in Zauberei?«, murmelte Korge beiläufig. Er war hartnäckig.
»Hat sich das schon rumgesprochen?«, antwortete Ben kühl und palmierte ein Streichholz zwischen dem Zeige- und Mittelfinger. »Nein., antwortete Korge ernst und stellte eine neue Schachaufgabe nach. Er benutzte dabei einen sauber ausgeschnittenen Zeitungsstreifen. Er schaute Ben kurz an und steckte den Ausschnitt in sein Brillenetui. »Ich beobachte nur..«
»Ich denke, Sie machen hier die Buchhaltung«, konterte Ben bissig, ohne Korge eines Blickes zu würdigen. Der Alte sollte ihn in Ruhe lassen. Schließlich war er nicht seinetwegen hier. Sondern wegen Nora. Das wusste auch Korge.
»Ich bin Komponist, ich erfinde Schachprobleme, Mc Syme. Auch dafür werde ich bezahlt. Schachmatt in drei Zügen. Kennen Sie die Rubrik? Das ist meine Rubrik.« Korge beugte sich wieder über sein Schachbrett. »Ich bevorzuge römische Kavalkaden aus der guten alten Zeit.«
»Ich verstehe nichts von Schach., antwortete Ben gereizt.
»Schade«, antwortete Korge mit einem merkwürdigen Lächeln auf den Lippen, »ich hätte mich gerne mit Ihnen darüber unterhalten. Wer Schachprobleme erfindet, muss die Aufgaben auch lösen können, nicht wahr?« Korge flüchtete mit dem schwarzen König auf d8 und drohte ihm mit dem weißen Turm auf d3. Er wusste, dass er Bens Aufmerksamkeit für sich gewonnen hatte und fuhr fort: »Wissen Sie, früher war ich oft zur Jagd in Afrika, ich habe Stämme gesehen, die damals noch keiner gesehen hatte. Die haben ja auch Schach gespielt. Manchmal ist einer daran gestorben, obwohl er nicht wusste, wie ein Schachbrett aussieht.«
»Ich verstehe Sie nicht«, antwortete Ben irritiert.
Was wollte ihm Korge mitteilen? Wollte er ihn bloß verunsichern, ärgern? Weil er Nora liebte?
»Schade«, brummte Korge vor sich hin, und plötzlich war es wieder da, dieses merkwürdige Lächeln auf seinen schmalen Lippen. Er hob den Kopf und schaute Ben direkt in die Augen. Hatte sich Ben getäuscht? Wollte Korge ihm tatsächlich helfen? Aber in welcher Angelegenheit?
»Darf ich Sie wenigstens zu einem Drink einladen«, sagte Korge leise, und seine großen Augen strahlten Wärme aus. Und Bedauern.
Nora war zurückgekommen. Sie war noch schöner als gestern. Sie war verliebt. Das sah man ihr an. Verliebte Menschen waren immer schön. Als sie Korge Portwein einschenkte, berührte er ihre Hand nicht. Er wollte es tun, ließ es aber sein. Der Zeigefinger tippte monoton auf der Thekenplatte, rhythmisch, lautlos und unaufhaltsam wie ein Sekundenzeiger. Er beobachtete Ben von der Seite. Als sich dieser nervös nach ihm umdrehte, beugte er sich wieder über sein Schachbrett und überließ ihm Nora. Endlich. Zaghaft berührte Ben Noras Hand. Gedankenversunken strich er über ihren Handrücken. Es waren keine zarten, zerbrechlichen Hände. Die Finger waren lang, aber kräftig. Man sah ihnen an, dass damit gearbeitet wurde. Mag sein, dass sie nicht besonders hübsch waren, aber es gab keine Hände, von denen sich Ben lieber hätte streicheln lassen. Er wollte Nora sagen, dass er sie liebte.
»Darf ich Sie zum Essen einladen?«
»Ich heiße Nora«, flüsterte sie, und eine wohlige Wärme durchflutete Bens Körper.
»Nora«, antwortete Ben.
Was Mc Syme da trug, war kein schwarzer Zaubersmoking, nein, Mc Syme war in einen schweren Vorhang eingenäht. Das clownesk geschminkte Gesicht drückte Verwunderung und Hilflosigkeit aus. Es schien, als fiele er in einen riesengroßen Zylinderhut, der in Wirklichkeit ein gusseiserner schwarzer Kochtopf war. Aus allen Nähten flatterten blaue Vögel. Und bunte Spielkarten mit Furcht erregenden Königen, Damen und Bauern.
Unter dem Gemälde ein »Throwaway« von Willie Landels, eine strenge Struktur aus Polyurethan ohne Gestell. Links und rechts davon zwei Megaron-Lichtsäulen von Richard Sapper in schlichter Rohrform. Ben kniete auf das Sofa nieder, um die Jahreszahl auf dem Ölgemälde zu lesen. Vor vier Jahren war es gemalt worden. Er war überrascht über Noras Beobachtungsgabe. So hatte er sich nie gesehen. Je länger er das Ölgemälde anschaute, desto stärker wurde er sich bewusst, dass der Mann, der da im schwarzen Vorhang eingenäht war, Mc Syme war. Nora und die Barmaid im »Black Penny«, das hatte er nie richtig zusammengebracht, aber jetzt schien es ihm selbstverständlich und folgerichtig. Das Wohnzimmer glich einem Galerieraum für modernes Möbeldesign, in dem gerade skurrile Bilder ausgestellt wurden. Menschenkörper, die sich von Flaschenetiketten lösten, Zeichenlabyrinthe, die, je nach Betrachtungsweise, Höhlenmenschen oder Motorenskizzen darstellten. Jedes Bild schien in Bewegung und ununterbrochen gegensätzliche Botschaften zu vermitteln. Ben trat auf den kleinen Dachgarten hinaus und schaute in den Hinterhof hinunter. Das eng gebaute, zweigeschossige Häuschen steckte zwischen mehrgeschossigen Baumgartnerhäusern, und es schien, als hätten die Architekten seinerzeit das kleine, unscheinbare Häuschen bei ihrer Planung völlig vergessen. Nora brachte auf einem alten Servierwagen eine Flasche Wodka und einen Krug Orangensaft ins Wohnzimmer.
Irgendwie fühlte sich Ben überflüssig, eine Nummer zu klein für Nora. Vielleicht, weil sie selbstständig war und ohne fremde Hilfe durchs Leben kam, genug Geld hatte, ihre eigene Burg. Und der furchtlose Ritter, der den Drachen tötet und die Herrin aus dem brennenden Turmverlies rettet, war hier gar nicht gefragt. Nicht einfach für Ritter Ben, der seit über zwanzig Jahren seine kleine Ingrid vor imaginären Kobolden, Folterknechten und heimtückischen Falltreppen schützen musste. Smirnoff. Ben setzte sich auf das Sofa und nahm das Glas in die Hand, das Nora ihm reichte. Hier war nur noch der Posten des Hofnarren frei, dachte Ben. Allmählich wurde ihm bewusst, wie stark er sich mit Ingrid ins Abseits begeben hatte.
Ben begann, sich wohl zu fühlen. Als sich Nora neben ihn setzte, war der Zeitpunkt für die eingeübte Liebeserklärung gekommen. Aber Nora kam ihm zuvor.
»Solange Ingrid in der Klinik ist, könnte ich assistieren. Was hältst du davon? Ich hab mit Gottlieb gesprochen. Er ist ganz begeistert davon.«
»Natürlich«, schwärmte Ben, »wir machen die Experimente gemeinsam. Die Mentalnummern sind die erfolgreichsten Routinen.«
Nora nahm ein paar Bücher unter dem Sofa hervor und legte sie Ben in den Schoß. Zauberbücher.
»Ich habe sie alle studiert. Ich brauche nur noch einen Partner.« Ben war begeistert. Er schlug vor, bereits morgen um zehn mit den Übungen anzufangen. Sie solle gleich ins Hotel Astoria kommen. Den Zaubersmoking von Ingrid anprobieren. Und bei Gottlieb solle sie ruhig eine anständige Gage verlangen. »Komm«, sagte Ben und reichte ihr die Hand, »wir gehen spazieren.« Auf dem Sofa war es ihm allmählich eng geworden. Er wollte frische Luft, Bewegung, er wollte mit Nora über den See spazieren. Und nie mehr stehen bleiben.
Der Miniaturzylinder war ungefähr vier Zentimeter lang und hatte einen Durchmesser von zirka einem Zentimeter. Das Loch im Zylinderboden war mit einer kleinen Kugel verschlossen, die an einem Nylonfaden befestigt war. Ben zog den Nylonfaden über den Daumen, der Zylinder verschwand in der Handinnenfläche. Und als er mit einer magischen Handbewegung über Sattlers Wasserglas fuhr, hob er mit dem Daumen den Nylonfaden. Die Kugel, die daran hing, wurde dadurch hochgezogen. Schwarze Tinte floss durch den jetzt geöffneten Zylinderboden. Es war ein sonniger Nachmittag. Eine romantische Gartenwirtschaft in der Luzerner Altstadt. Sattler, Simon und Victor füllten nun ihrerseits ihre Zylinder mit schwarzer Tinte und spannten den Nylonfaden über den Daumen. Hoch über dem weißen Kiesboden war ein Gitternetz gespannt, durch das sich unreife Traubengewächse zu einem horizontalen Rebberg schlängelten. Die dunklen Schatten der Ranken flackerten unruhig auf den roten Gartentischen.
Die Tinte floss langsam Victors Handgelenk entlang. Sattler und Simon lachten schadenfroh. Aber auch Victor hatte Humor. »Das macht nichts«, sagte Ben, »wir üben mit Tinte, damit wir das Ergebnis überprüfen können. Wesentlich ist, dass Sie während des Experiments mein Glas nicht anschauen. Sie müssen es vorher anschauen, Sie müssen genau wissen, wo es steht, Sie müssen sich das einprägen wie eine Landkarte, und dann dürfen Sie nur noch mich, Ihr Opfer, anschauen. Fixieren Sie mich. Nur so können Sie wissen, wohin meine Augen schauen. Wenn ich Sie anschaue, kann Ihre Hand weiterarbeiten. Herr Simon bitte.«
Simon beugte sich über den Tisch und reichte Ben einen Bierdeckel.
»Ein Autogramm, verehrter Meister.«
Ben zog einen Kugelschreiber aus seiner Tasche und nahm den Bierdeckel in die Hand. Er warf einen Blick auf das Wasserglas neben sich. Aber da hatte Simon das Experiment bereits abgeschlossen. Die schwarze Tinte vermischte sich wie ein dunkler Schweif blutiger Hieroglyphen mit dem glasklaren Wasser.
»Haben Sie geübt, Simon?«, fragte Sattler.
»Der Bursche ist ein Naturtalent«, kommentierte Victor.
»Sie haben es nicht mit Laien zu tun«, grinste Simon, »wir sind alle begeisterte Zauberlehrlinge.« Ben war irritiert. So viel Geschick hatte er Simon nicht zugetraut. Er hatte den Mann unterschätzt.
»Unser Herr Simon hat bereits fünf Kurse besucht. Der liest alles, was mit Zauberei zu tun hat«, erklärte Victor.
»Mit diesem Experiment können Sie noch keinen Abend bestreiten«, begann Ben, aber Sattlers röhrendes Lachen unterbrach ihn.
»Deshalb ist er auch bei der Aufnahmeprüfung für den Magischen Ring Luzern durchgefallen..
»Die mögen keine Ausländer, deshalb«, verteidigte sich Simon selbstbewusst und bestellte noch eine Flasche Dézaley-Médinette. Die drei Zauberlehrlinge wollten die gleiche Routine nochmals üben. Aber ohne Gimmick. Simon nahm eine Brausetablette aus seiner Jackentasche und zerstückelte das Vitaminpräparat. Er palmierte ein Stückchen zwischen Daumen und Zeigefinger. Simon war ehrgeizig und perfektionistisch, er war der Beste von allen. Aber ein bisschen eintönig. Es schien die einzige Routine zu sein, die seine Leidenschaft erwecken konnte. Ben ließ den kalten Dézaley-Médinette auf dem Gaumen zerfließen und setzte seinen Körper verschwenderisch dem süßlich weichen Wind aus. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen, das Glas in der Hand. Victor würde es nachfüllen. Victor war sein Freund. Und das Leben war schön. Ingrid würde ins Leben zurückfinden. Mit Ingrid in diese Gartenwirtschaft. Einen kalten Dézaley-Médinette bestellen. Der Wind, die Sonne und der Rebberg über dem Kopf. Die tanzenden Schatten auf den Tischen. Und als die Dämmerung sich einschlich, schien es so, als würde jemand hoch über dem Jungfraujoch den stahlblauen Himmel mit explosiven Farbströmen überfluten. Es musste Nora sein. Das Glas in seiner Hand war wieder voll. Ben wollte es leer trinken, und dann zu Nora hinüberfliegen.
Der Morgenhimmel war bereits stark bewölkt, als Ben am Nationalquai ein schwarzes Mercedes-Taxi stoppte. Vorsichtig setzte er sich auf den Beifahrersitz, um den mächtigen Blumenstrauß in seiner Hand nicht zu beschädigen. Der Taxifahrer grinste über beide Ohren und stellte den Taxameter ein. »Wo wohnt sie?«, fragte er kumpelhaft.
»Ich habe bloß eine Telefonnummer«, gab Ben verlegen zurück und legte den Blumenstrauß sorgfältig auf die Knie. Seine Bewegungen waren langsam. Er war verkatert. »Nach Vitznau bitte.«
Der Fahrer wendete elegant und nahm die Seestraße in Richtung Küssnacht. Er trug eine abgewetzte, ärmellose Lederjacke, darunter die übliche Turnschuh- und Bluejeans-Uniform. Er schloss das Seitenfenster.
»Melden Sie sich, bevor Sie ersticken«, und während er den Kopf im Uhrzeigersinn kreisen ließ, fügte er bei: »Ich krieg vom ewigen Zug einen steifen Nacken. Aber jeder Beruf hat seine Tücken, nicht wahr?«
Ben lächelte zustimmend und schaute einem kleinen Boot nach, das auf dem See herumdümpelte. Die Fahrt dauerte ziemlich lange. Als sie Küssnacht passierten, wurde Ben allmählich ungeduldig.
»Wie weit sind wir?«, fragte Ben.
»Jetzt sind wir in Wilhelm Tells Wahlheimat«, scherzte der Fahrer. »Gestohlen haben wir den Nationalhelden den Dänen. Aber was soll's, die Engländer haben uns schließlich auch die Nationalhymne gestohlen.« Der Fahrer warf Ben einen kurzen Blick zu, um zu prüfen, ob er an einer kleinen Unterhaltung interessiert war. Dann fuhr er fort: »Wilhelm Tell, das ist natürlich bloß ein Pseudonym. In Wirklichkeit hieß er Toko und wollte den dänischen Tyrannen Harald Blauzahn erlegen. Das war im Jahre 950. So ungefähr. Und dann trieben die Hungersnöte ein paar Dänen nach Süden. Die nahmen die Sage gleich mit. Im Jahre 1487 schoss ein gewisser Punker in der bayrischen Pfalz seinem Sohn eine Münze vom Kopf, später kam dieses personifizierte Hirngespinst nach Altdorf in die Schweiz. Was treibt denn Sie in die Schweiz«, fragte der Fahrer keck und für Ben ziemlich überraschend. Der schwarze Mercedes passierte Weggis und fuhr weiter in Richtung Vitznau.
Ben wusste keine Antwort. Er schaute die Blumen an, die da auf seinen Knien lagen, und auch der Fahrer schaute sie kurz an.
Als sie Vitznau erreicht hatten, fragte der Fahrer, ob Ben wenigstens den Weg kenne.
»Das ist eine Privatklinik«, gestand Ben verlegen. »Und die soll hier in der Nähe sein?« Ben nickte.
Der Fahrer nahm das Mikro aus der Aufhängung. »Wagen 43, hallo Zentrale.« Eine kraftlose Stimme meldete sich.
»Kennst du eine Privatklinik in der Nähe von Vitznau?«
»Ich schau nach. Ende.«
Sie fuhren über die Hauptstraße durch Vitznau. Als sie den Dorfausgang erreicht hatten, wurde auch der Fahrer ein bisschen ungeduldig. Der Taxameter zeigte bereits 86 Franken. Der Fahrer hatte die Geschwindigkeit auf dreißig Kilometer pro Stunde gedrosselt.
»Ist die neu, diese Klinik?«
»Können Sie nicht schneller fahren?«
»Doch, doch, aber wohin?«
»Hier!«, schrie Ben. Der Fahrer trat brüsk auf die Bremse und fuhr in eine kleine Waldlichtung hinein. Auf der anderen Seite stand das weiß vergipste Klinikgebäude, märchenhaft zwischen hohen Tannen verborgen. Der schwarze Mercedes überquerte die Fahrbahn und hielt vor dem Eingangsportal.
Im Aschenbecher qualmte ein Zigarettenfilter. Professor Sayka drückte ihn nochmals aus. Seine Finger waren braungelb vom Nikotin. Jetzt schwieg er. Hilflos saß er da, inmitten seiner Akten und Fachzeitschriften, verschanzt hinter seinem schweren Schreibpult. Ben nagte nervös an seinem linken Daumen. Es klang wie ein verzweifelter Hilfeschrei, als er fortfuhr:
»Aber meistens hat sie mich mitgenommen, hat das Ganze so arrangiert, dass ich ihr nachgehe, in ihrer Nähe bin.«
»Sie war in ausgezeichneter Stimmung heute Früh, sie steckte voller Pläne und Ideen.«
Der Professor konnte es offensichtlich selber nicht begreifen. Wenigstens, so dachte Ben, spielt er nicht den allwissenden großen Mann, der in jeder Situation so tut, als habe er den Überblick, als würden sich seine Theorien bestätigen.
»Sollen wir die Polizei benachrichtigen?«
Professor Saykas Kopf erhob sich blitzschnell. »Sie wollen Ingrid polizeilich suchen lassen? Vermisstmeldungen über Radio und Fernsehen verbreiten? Mit Namen, Foto und Personenbeschreibung? Jetzt, wo sie auf dem richtigen Weg ist?«
»Das war bloß so eine Idee von mir«, entschuldige sich Ben. Der Professor schien erleichtert, das angespannte Kinn entspannte sich wieder. »Ich kann Sie verstehen, Herr Truger, glauben Sie mir, an Ihrer Stelle würde ich genauso reagieren. Aber wir dürfen den Kopf nicht verlieren. Wir nicht. Gehen Sie ins Hotel zurück. Es würde mich nicht wundern, wenn Ingrid bereits dort wäre. Fröhlich und ...«
»Und wenn ihre Stimmung plötzlich umkippt«, unterbrach ihn Ben verunsichert.
»Dann werden Sie bei ihr sein«, antwortete der Professor mit beschwörender Stimme.
Die Gartenlaube war leer. Feiner Regen rieselte auf die verlassene Wiese. Nirgends ein weißer Schleier. Keine Spur von Ingrid. Ben horchte, als er mit Professor Sayka die Hintertreppe zur verwachsenen Parkanlage hinunterstieg. Hatte er eine Stimme gehört? Rief Ingrid nach ihm? Das Rauschen von Blättern. Er erwartete, jeden Augenblick ein Zeichen zu erhaschen. Ein Boot, das an Land fuhr, womöglich Ingrids Lachen aus einer Baumkrone. Er erschrak, als er Saykas Hand auf seiner Schulter spürte. Es schmerzte ihn geradezu. Auch Ingrids Schulter hatte er berührt, damals, beim ersten Abschied. Der Professor war Ben unheimlich, aber im gleichen Atemzug verwarf er den Gedanken. Ingrid war verschwunden, Ingrid war weg. Und er wusste nicht mehr weiter.
»Sie wird sich nichts antun, Herr Truger.« Die Stimme von Professor Sayka klang warm und herzlich. Geschwafel, fuhr es Ben durch den Kopf, er will mich beruhigen, kostet ja nichts, ist ja nicht seine Schwester.
»Aufgrund meiner Erfahrung darf ich sagen: Bei Ingrid besteht keine Suizidgefahr.« Ben starrte ihn erstaunt an, was wusste denn dieser Sayka schon. Jetzt lächelte er sogar. »Ich weiß«, fuhr der Professor fort, »Sie denken jetzt an diese Zuggeschichte.«
»Das hat sie Ihnen erzählt?«, fragte Ben ungläubig. Die beiden blieben auf der untersten Treppenstufe stehen.
»Sie hat mir alles erzählt«, sagte Sayka ernst und schaute Ben dabei eindringlich an, als wolle er implizieren, dass er auch über Ben eine ganze Menge wusste. Genau genommen, alles.
»Sie sind ein großartiger Bruder. Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen. Lassen Sie Ingrid ziehen, wenn sie so weit ist ... bald werden ihr Flügel wachsen.«
Ben ergriff irritiert die Hand, die ihm der Professor hinstreckte. »Flügel«, dachte Ben fieberhaft. Das hatte er doch schon mal gehört. Ingrid hatte davon gesprochen. Aber woher hatte sie diesen Ausdruck. Von Sayka? Hatte er ihr das eingeredet? Sayka war ins Haus zurückgekehrt. Ben stand allein auf der nassen Wiese. Das Taxi wartete vor dem Eingangsportal. Aber noch wollte Ben nicht gehen. Wenn er jetzt ins Taxi stieg, war alles verloren, dachte Ben. Es war ihm, als könne er nur auf dieser Wiese, in diesem märchenhaft verwachsenen Park Ingrid auf die Spur kommen. Und wenn sie nun doch im Hotel saß? »Pamela, Pamela« singend. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Natürlich, Ingrid hatte es diesem Professor zeigen wollen. Recht so. Und das ganze Gebäude kam ihm ziemlich lächerlich vor. Er ging langsam zum Gartentor rüber und schaute die Hinterfassade an, so, als wolle er Abschied nehmen von dieser dümmlichen Institution. Doch plötzlich erstarrte sein Grinsen. Im dritten Stockwerk glaubte er hinter einem vergitterten Fenster eine Gestalt zu erkennen. Sie wippte vor dem Fenster hin und her, wie ein Pendel. Jetzt schien auch diese seltsame Gestalt Ben zu sehen. Und sie sah, dass Ben hinaufschaute. Ingrid?
Die Gestalt trug einen Bart. Wie Sturzberg, jener stellenlose Lehrer. Ben kniff die Augen zusammen. Und immer genauer glaubte Ben, in der mysteriösen Gestalt Sturzberg zu erkennen. Ben hob versuchsweise, aber sehr zaghaft, seine Hand. Die Gestalt reagierte nicht. Doch, jetzt wippte sie noch stärker, hob ihre Arme hoch und presste sie gegen die Fensterscheibe. Hatte sich der Mund geöffnet, schrie Sturzberg um Hilfe? Was hatte er hier zu suchen? War hier Niamey, die Hauptstadt der Republik Niger? Verzweifelt kehrte Ben zum Taxi zurück. Als er sich entnervt auf den Beifahrersitz plumpsen ließ, wusste er bereits nicht mehr, ob er tatsächlich Sturzberg gesehen hatte.
»Haben Sie Ihre Klinik gefunden?«, fragte der Fahrer. Ben nickte und zog die Beifahrertür zu. Der Fahrer ließ den Motor anspringen.
»Erstaunlich, die Zentrale hat soeben gemeldet, dass die Klinik nicht existiert. Komisch, was?«
Ben starrte den Fahrer verärgert an. Er war seine dummen Sprüche leid, seine idiotischen Geschichtsvorträge und dieses besserwisserische Gehabe. Und zum ersten Mal dachte auch Ben, dass er womöglich ... Dass er krank wurde. So wie Ingrid. Hatte es nicht auch so begonnen? Mit fixen Ideen? Komplottvisionen? Der Fahrer hatte ihm ja gar nichts getan. Im Gegenteil. Er hatte sich bei der Zentrale nach der Klinik erkundigt. Und einen Augenblick lang hatte er ihn schon als Saykas sadistischen Vasallen gesehen. In einem weißen Überkleid, Elektroschocks durchführend. Ben lächelte dem Fahrer zu, als wolle er etwas wiedergutmachen. Der Fahrer lächelte zurück.
»Wenn Sie nochmals rausfahren, verlangen Sie Wagen 43, ich kenn jetzt den Weg. Und nun?«
»Zum nächsten Polizeirevier«, antwortete Ben. Seine Augen wanderten verloren über den Vierwaldstätter See.
Der Luzerner Kriminalkommissar Sutter hob den kantigen Kopf und strich sich nachdenklich über den borstigen braunen Schnurrbart. Prüfend schaute er Ben an, während er mühsam Luft in sich hineinsog. Sutter atmete schwer. »Blond oder schwarz?«
»Sie hat sich manchmal die Haare gefärbt«, antwortete Ben verbissen, »aber die Größe stimmt, ein Meter siebzig.«
Sutter nickte monoton. Die Finger schlugen flink auf die muschelfarbigen Tasten der breiten Xerox-Tastatur. »Seit wann vermissen Sie Ihre Schwester?«
»Seit heute Früh.«
Sutter zog das Formular aus der Maschine. Der braune Schnauz hob sich leicht. Er kaute auf der Unterlippe, als würde er gleich die Beherrschung verlieren und Ben mit seiner Schreibmaschine erschlagen. Man hörte das Pfeifen seiner teerverklebten Bronchien. Sutter steckte sich einen Bleistift in den Mund. Im sauberen Aschenbecher lagen Nicorette-Kautabletten und Sugus.
»Herr Truger«, begann Sutter beherrscht, »ich habe heute Früh um sieben meine Wohnung verlassen. Im Laufe des Tages kann es durchaus mal vorkommen, dass ich meine Frau vermisse. Wir sind seit zweiunddreißig Jahren verheiratet, aber es kommt manchmal vor. Gewöhnlich greife ich dann zum Telefonhörer und rufe sie an. Niemand nimmt ab. Sie ist nicht zu Hause. Wissen Sie, wo sie ist?«
Ben schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es auch nicht, Herr Truger. Und wenn ich abends nach Hause komme, steht sie in der Küche und zieht zwei Champignon-Toasts aus dem Backofen.«
»Meine Schwester ist krank«, murmelte Ben, »sie war in einer Klinik. Sie ist aus der Klinik geflohen.« Und trotzig fügte er bei: »Wenn ich jetzt ins Hotel zurückgehe, wird niemand da sein, der Champignontoasts aus dem Backofen zieht.«
Sutter senkte leicht beschämt den Kopf. Vielleicht hatte sich der Kopf auch bloß gesenkt, weil der Kommissar in der unteren Pultschublade nach einem neuen Formular griff. Er schien berührt. Geduldig spannte er das neue Blatt ein und schrieb die Angaben vom alten Formular ab. Als er fertig war, fragte er Ben nach dem Namen der Klinik. Aber Ben konnte keinen Namen nennen. Nicht mal eine Straße. Nur eine vage Ortsbeschreibung. Sutter beherrschte sich, schonungsvoll forschte er weiter und tippte geduldig Bens Angaben in die Xerox-Maschine.
Der Regen hatte aufgehört. Die Parkbank am Carl-Spitteler-Quai war noch feucht. Ben setzte sich. Ben war kurz im Hotel gewesen. Keine Spur von Ingrid. Niemand hatte sie gesehen. Aber irgendwo musste sie sein. Vielleicht würde sie plötzlich auftauchen, einfach so, ohne Ankündigung. Er würde sie fragen, wo sie gewesen sei, und Ingrid würde mit den Achseln zucken und sich neben Ben setzen. Den Kopf auf seine Schulter legen. Und alles wäre wieder wie früher.
»Wo ist die Frau mit dem Schirm? Hast du nicht auf sie aufgepasst?« Der kleine Bub, der Zauberer werden wollte, stand vor ihm. Er hielt seine Schwester fest an der Hand. Er hatte aufgepasst. Er schon.
Ben kehrte ins Hotel zurück. Der Hotelbursche grinste ihn an. Ben schaute blitzschnell die Treppen hoch und dann wieder zum Hotelburschen rüber. Er grinste noch breiter.
»Sie wartet bereits oben, Herr Truger..
Truger stürmte die Treppen hoch, rannte den Flur entlang und riss die Tür von Zimmer 307 auf. Der Kleiderschrank war offen. Vor dem Innenspiegel stand Bens Assistentin im schwarzen Smoking.
»Ingrid!«, schrie Ben.
»Enttäuscht?., antwortete Nora und drehte sich um.
»Du?«, stammelte Ben und setzte sich müde auf die Bettkante.
»Wir wollten doch heute den Anzug probieren. Und die Mentalnummern?« Nora zog verlegen den schwarzen Smoking aus. Er war ein bisschen eng für sie. Ben wusste, dass Nora jetzt sehr enttäuscht sein musste. Er konnte die Sache nur wieder gutmachen, indem er ihr bewies, dass es ihm noch schlechter ging.
»Ingrid ist verschwunden.«
»Seit wann?«, fragte Nora schockiert und legte den Zaubersmoking beinahe pietätvoll neben Ben aufs Bett. Ben hatte keine Augen für Noras nackte Beine. Er nahm Ingrids Anzug und krallte sich darin fest.
»Seit heute Früh«, murmelte er wie in Trance.
»Wir gehen Ingrid suchen«, antwortete Nora, während sie sich schnell wieder anzog. »Welche Orte hat sie gerne aufgesucht?«
Ben schüttelte den Kopf. Am liebsten hätte er losgeheult. Denn Ingrid kannte keine Lieblingsorte. Ben war der Ort, wo sie sich zu Hause fühlte. Und Ben war hier. Und Ingrid war verschwunden. Seine Hand stieß auf etwas Hartes in Ingrids Palmagetasche, die an der Frackinnenseite eingenäht war. Er griff hinein. Drei Pässe. Ben schlug den ersten auf. Das Foto von Tom. Paul Montez, Geschäftsmann. Der zweite Pass gehörte Sattler. Und war auf den Namen Thomas Powers ausgestellt. Werbefachmann. Und unter dem Foto von Simon stand Dr. Leonhard Baez, Industrieller.
»Ben«, flehte Nora, »was ist denn los mit dir? Wir müssen Ingrid suchen, hörst du?«
Ben klappte die Pässe zu und steckte sie ein. Er stand langsam auf und ging zur Tür. »Ich weiß, wo sie ist«, sagte Ben und verließ das Hotelzimmer.
Die Tür der Temporis AG stand weit offen. Victor schien überrascht von Bens Besuch.
»Sie haben heute Unterricht«, lächelte Ben freundlich.
»Das muss ein Missverständnis sein«, entschuldigte sich Victor höflich, »Sattler und Simon sind nicht da. Ich bin allein. Kommen Sie doch rein.«
Victor führte Ben ins Konferenzzimmer. Gläser, Whisky, volle Aschenbecher. Victor riss das Fenster auf und entschuldigte sich für die Unordnung. »Heute ist der Teufel los. Was trinken Sie?.
»Orangenwodka mit Eis«, antwortete Ben und schaute sich aufmerksam im Zimmer um. Er hatte absichtlich ein Getränk gewählt, das für die Zubereitung eine gewisse Zeit in Anspruch nahm. Victor räumte eine Akte beiseite. Er legte sie auf einen Schrank und verließ das Zimmer. Die Akte auf dem Schrank. Ben fixierte sie, als könne er sie mit Blicken herzaubern. Er horchte. Die Tür des Kühlschrankes wurde geöffnet. Ben stand auf und griff ruhig nach der Akte. Die Frontseite war mit »Programm Bluebird Nr.108«beschriftet. Er schlug die erste Seite auf. Und erschrak. Sturzberg lächelte ihn an. Blitzschnell riss er das Farbfoto aus den eingeklebten Fotoecken heraus und steckte es in seine Tasche. Hastig blätterte er weiter, überflog einen handgeschriebenen Lebenslauf, zahlreiche Computerfragebogen mit bläulich schraffierten Feldern, die mit Zahlen besetzt waren. Ein violetter Stempelaufdruck »Geeignet für Bluebird«. Es folgten weitere maschinell ausgewertete Testergebnisse. Ben hörte, wie ein Eiswürfel in ein halb volles Glas plumpste. Hatte Victor den Orangensaft schon beigefügt? Stempelaufdruck »Weiterleiten an Bluebird«. Nach der letzten beschrifteten Seite eine Klarsichtmappe. Darin die aufgeschlagene Identitätskarte von Peter Sturzberg. Er war Deutscher. Beigelegt war die militärische Erkennungsmarke mit Halskette, im Volksmund »Grabstein« genannt.
Victor betrat das Konferenzzimmer. Er musterte Ben nachdenklich. Ben stand vor dem offenen Fenster und schaute über die Dächer der Luzerner Altstadt. Victor schaute zum Schrank rüber, unauffällig. Die Akte lag immer noch da. Victor stellte das Glas auf die kastanienbraune Tischplatte.
»Was ist eigentlich aus dem jungen Mann geworden, der sich kürzlich mal beworben hat?«, fragte Ben in lockerem Konversationsstil.
»Ein junger Mann?«, wiederholte Victor mit gespielter Ratlosigkeit und zog dabei die Augenbrauen theatralisch in die Höhe.
»Er wollte in eine Missionsschule nach Niamey«, lächelte Ben.
»Ach der«, lachte Victor erleichtert, »der ist längst unterwegs«. Und gleich darauf griff Victor nach der Akte auf dem Schrank und hielt sie fest in den Händen. Ben nahm sein Glas und hob es auf Victors Wohl hoch.
»Trinken Sie nichts?«, fragte Ben erstaunt.
»Nein«, lächelte Victor, »ich hab genug für heute. Ich bringe nur schnell die Akten weg, dann stehe ich Ihnen zur Verfügung, mein Freund.« Victor verschwand mit der Sturzberg-Akte im Archivraum. »Mein Freund«, hatte ihn Victor genannt. War er wirklich sein Freund? Ben schüttete den Orangenwodka über die ausgetrocknete Wurzelschale einer kranken Kokospalme, die vor dem Fenster dahinsiechte. Als Victor zurückkam, setzte er das leere Glas von den Lippen ab.
»Tja«, begann Victor von neuem, »das ist mir sehr unangenehm, Ben, aber ich glaube, Sie haben sich getäuscht. Wir haben heute keinen Unterricht.«
»Ingrid ist verschwunden«, antwortete Ben trocken.
»Verschwunden?«, stammelte Victor ungläubig. Er war wirklich sprachlos. Er setzte sich langsam in einen Ledersessel und starrte Ben mitfühlend an.
»Ich gehe jetzt ins Hotel zurück«, versuchte Ben abzuschwächen, »vielleicht ist sie bereits dort.«
Victor warf einen kurzen Blick auf Bens Glas und sprang dann auf. »Warten Sie doch, ich fahre Sie rüber.«
»Nein, Victor«, lächelte Ben, »bleiben Sie hier und geben Sie Ihren Pflanzen Wasser. Die erste hat schon. Aber die anderen brauchen auch Hilfe.«
Victor schien nicht zu verstehen, wieso Ben plötzlich so forsch mit ihm umging. Er schien fast traurig darüber.
Einem plötzlichen Impuls folgend, zog Ben die drei Ausweise von Tom, Sattler und Simon aus der Tasche und reichte sie Victor.
»Die wollte ich Ihnen noch zurückgeben. Ich habe sie heute in Ingrids Zauberjacke gefunden. Tut mir Leid.«
Victor nahm die Pässe überrascht in die Hand. Er sagte bloß »danke«. Aber das sehr freundlich. Die beiden Männer schauten sich an. Und wenn Victor etwas mit dem Verschwinden von Ingrid zu tun hatte, dann musste er jetzt wissen, dass Ben bis zum Äußersten kämpfen würde. Kämpfen um Ingrid.
»Wir haben ein Problem«, sagte Victor, als er sich gegen Mitternacht neben Tom setzte. Das »Black Penny« war gut besetzt. Tom drehte sich zu Victor um und schaute ihn an, emotionslos und desinteressiert. Victor legte beiläufig eine Akte auf den Tisch und schlug die erste Seite auf. Dann winkte er den Kellner herbei. Die Akte war die von Sturzberg. Auf der ersten Seite klebten die vier Fotoecken. Das Foto fehlte. Tom schlug den Aktendeckel geräuschlos zu.
»Wer?«, fragte er beiläufig. Doch in seinem Gesicht zeichnete sich eine wilde Entschlossenheit ab. Victor zeigte mit dem Kinn zur Bühne. Dort stand der Täter. Und Nora assistierte.
»Die Firma wird nicht zufrieden sein«, sagte Tom. Sarkastisch fügte er bei: »Es geht um Ihren Kopf, Victor, nicht um meinen.«
»Geben Sie mir ein bisschen Zeit, Tom, zwei Tage.« Tom schüttelte gelangweilt den Kopf: »Es liegt nicht an mir, Victor, ich kann Ihnen nicht helfen.«
»Ich würd's auch nicht tun«, grinste Victor, nahm die Akte an sich und erhob sich. Zielstrebig schlängelte er sich zwischen den Gästen zur Bar hinüber. Er nahm direkt neben Korge Platz, der gerade eine ökonomische Brennpunktstellung der schwarzen Dame inszenierte. Eine amüsante Glatteiskomposition zur Vereitelung der Verführungen durch den weißen Läufer. Korge hob triumphierend den Kopf.
»Eine charmante Einladung zu Fehltritten«, kommentierte Victor Korges Neukomposition und bestellte bei Miriam, die ihren chronischen Husten an der Bar kurierte, einen Scotch. Miriam war eine klassische Bankrottnudel. In einigen Tagen würde sich vermutlich kein Stammgast mehr an die Bar setzen. Miriam verachtete die Kundschaft. Besonders die älteren Herren, die den ganzen Abend ihre Lippen an einem einzigen Glas benetzten. Sie wusste genau, was sie wollte. Aber sie wusste nicht, wie sie es kriegen konnte. Korge trank weniger als üblich. Die Seele der Bar stand jetzt auf der Bühne. Jetzt verschwand sie gerade in Bens Zauberkasten.
»Ihr verliert eure Barmaid«, scherzte Victor.
»Nein«, brummte Korge melancholisch, »wir verlängern seinen Vertrag.« Gemeint war der von Mc Syme. Korge notierte die Matt-Lösung in einem kleinen schwarzen Heft, um das Brett für eine neue Komposition freizumachen. Miriam stellte den Scotch mit weit gestrecktem Arm und hochgestelltem Kinn auf die Theke, so, als fürchte sie, von Victor infiziert zu werden. Und dann wackelte ihr Po zur Kaffeemaschine zurück. Und etwas höher wackelte der Kopf, der sich das alles mal gründlich überlegt hatte. Korge schaute ihr mitleidig nach. Plötzlich wandte er sich an Victor und fragte trocken: »Warum sind Sie hier? Am Scotch kann es nicht liegen.«
»Haben Sie schon eine Vermutung?« Victor lachte leise vor sich hin und leerte sein Glas in wenigen Zügen. Korge mochte Victors Lachen nicht.
»Ich bin Geschäftsmann«, sagte Korge, als wolle er ausdrücken, dass man mit ihm jedes Geschäft abwickeln konnte. Victor musterte ihn neugierig. Dann nickte er nachdenklich mit dem Kopf und bestellte noch einen Scotch. Und einen halben Liter Portwein für Korge. Vom besten.
Gottlieb nahm das Mikrofon aus der Halterung und bat um Applaus für Mc Syme und seine attraktive Assistentin, Madame Rougemont. Die Bühne gehörte jetzt Chanel. Gottlieb schaute zu Korge rüber.
»Im Lager ist wieder eine Kiste Gin verschwunden.«
»Sind Sie sicher, dass die Kiste auch geliefert wurde?«, spottete Korge und suchte Unterstützung bei Victor.
»Absolut«, entgegnete Gottlieb verärgert und schlenderte zu Korge rüber.
»Haben Sie schon einen Verdacht?«, grinste Korge, während er spielerisch den weißen Turm von einem Feld zum anderen versetzte.
»Vielleicht können Sie mir helfen«, beharrte Gottlieb und nahm den weißen Turm vom Brett.
»Cunatti«, fauchte Korge, »jagen Sie den Kerl zum Teufel.« Wütend griff Korge nach dem weißen Turm, aber Gottliebs Hand schnellte unerreichbar in die Höhe.
»Der Küchenbursche ist in Ordnung«, entgegnete Gottlieb und musterte Korge drohend. Gottlieb setzte den weißen Turm auf das Schachbrett zurück und entfernte sich. Miriam brachte den Scotch und einen halben Liter »Fine Ruby«. Korge fühlte sich durch Gottlieb gedemütigt, aber er schwieg. Mit einem schwarzen Bauern griff er den weißen Turm an.
»Eine böhmische Perle«, kommentierte Victor anerkennend, »ein interessantes Drohspiel mit doppelter Fesselung.«
»Wollten Sie nicht über Geschäfte reden?«, entgegnete Korge unbeeindruckt.
Der Ventilator schwirrte wie eine stählerne Fledermaus, die in der üppig-schmierigen Luft der Artistengarderobe verrückt geworden war, über den Köpfen von Ben und Nora. Kurz vor Mitternacht. Von der Bühne her drang Frankys »Stranger in the Night« durch den weiß vergipsten Flur, der Bühne und Garderobe miteinander verband. Frankys Stimme klang so verzweifelt, als sei der Steuermann im letzten Bier ersoffen, als würden bestialische Katzen ihre Krallen ausfahren und sich in Frankys Stimmbändern festhaken, um sie gleich darauf wieder schnellen zu lassen. Um diese Zeit war Franky am besten, mit treuherzigen Augen suchte er den Blickkontakt zu der jungen Dame, die es jeden Abend an irgendeinem Tisch gab, und er versuchte sie mit seinem treu ergebenen, feuchten Blick zu umgarnen. Und wenn die Dame sich darüber amüsierte, wurden Frankys Augen wässrig, und das Gesicht schien aufzuquellen. Als Ben den Telefonhörer wieder auflegte, hatte er das Gefühl, Franky habe noch nie so gut gesungen. Heute Nacht schien er zu glauben, was er sang, obwohl er kaum Englisch konnte. Ben setzte sich auf die Holzbank unter dem Wandapparat. Soeben hatte ihm Professor Sayka mitgeteilt, dass Ingrid immer noch verschwunden war. Nora setzte sich neben Ben. Plötzlich stand er vor ihnen, Korge, der stehend gar nicht richtig in diese Welt passen wollte. Der Oberkörper war leicht nach vorne verkrümmt, als würde er sich auch beim Gehen über ein imaginäres Schachbrett beugen und gleich nach dem nächsten Glas Portwein strecken. Korge öffnete einen Garderobenkäfig und holte aus dem Fond eine Kiste Portwein hervor. »Haben Sie Ihre Schwester wiedergefunden?«, fragte er.
Ben starrte mit verwühltem Blick auf den voll gekritzelten Notizzettel in seiner Hand. Er ließ ihn sich von Korge widerstandslos aus der Hand nehmen. Doch Korge gab ihn gleich wieder zurück, denn das Gekritzel bestand aus einer dünnen Linie, die im Laufe des Telefongesprächs mit Professor Sayka zu einem chaotischen Geknäuel angewachsen war, das sowohl die Länge des Gesprächs wiedergab, als auch das Labyrinth veranschaulichte, in dem Ben fiebrig herumkroch und für das es keinen Bauplan mehr gab.
»Haben Sie ein Foto von Ihrer Schwester?«, fragte Korge mit dunkler Stimme. Er setzte sich neben Ben, zog eine Flasche »Ruby Fine« aus dem Karton, löste den Hartplastikverschluss und setzte den Flaschenhals an die Lippen. Ben streckte ihm ein Foto von Ingrid hin, widerwillig. Korge nahm es in die Hand und setzte die Flasche ab.
»Ich kann Ihnen nichts versprechen, Mc Syme«, murmelte Korge streng. Er setzte die Flasche wieder an, als wolle er Ben beweisen, dass er Alkoholiker war und dass er mit ihm nicht rechnen durfte.
»Was haben Sie vor?«, fragte Ben. Ihm dämmerte allmählich, dass hier einer neben ihm saß, der ihm helfen wollte. Dass Korge neben ihm saß und so ungeniert soff, gab ihm das Gefühl, dass er nicht allein war. Nicht allein auf der Suche nach Ingrid, und wenn Korge behauptet hätte, dass er ihm helfen konnte, dass er Ingrid finden werde, hätte Ben ihn vermutlich zum Teufel geschickt.
»Ich kann Ihnen wirklich nichts versprechen«, wiederholte Korge, »aber in spätestens zwei Wochen werden Sie mehr wissen. Ich habe gute Verbindungen zu einer internationalen Privatdetektei.« Ungestüm fragte er sogleich, ob Ben eine Anzahlung leisten könne. Ben zog seine Brieftasche hervor und drückte sie Korge in die Hand. Korge zupfte alle Scheine heraus, zählte sie, als rechne er aus, wie viel er Ben wegnehmen konnte, ohne ihn gänzlich auszutrocknen.
»Wer sind die Leute, die Ingrid suchen werden?«, fragte Ben besorgt.
Korge steckte ein Bündel Scheine ein und gab Ben seine Brieftasche zurück. »Vertrauen Sie mir, wir werden äußerst diskret vorgehen.«
»Ich will nur wissen, wo sie ist. Ich will nicht, dass man sie gewaltsam zurückbringt«, sagte Ben. Während er das aussprach, wurde ihm bewusst, dass Korge nichts versprochen hatte, und dass er hier dabei war, einen Auftrag zu formulieren, Details zu geben für eine wenig Erfolg versprechende Mission. Ben nahm seine Brieftasche nochmals hervor und zog ein weiteres Foto heraus. Dabei fiel ihm das Kärtchen von Wagen 43 auf, das der Taxifahrer ihm gegeben hatte. Es war mit einer Büroklammer an der Plastikfolie im Innenteil befestigt. Ben reichte Korge das zweite Foto.
»Suchen Sie auch ihn. Er heißt Peter Sturzberg und ist Lehrer.« Korge sah sich das Foto lange an. Auch die leere Rückseite schaute er an.
Während Korge die Flasche Portwein wieder in den Karton steckte und sich grußlos entfernte, starrte Ben ratlos auf das Kärtchen von Wagen 43. Nora berührte seine Finger. Seine Hand war steif vor Anspannung.
»Was kann ich für Ingrid tun?«, fragte Nora eindringlich.
»Leih mir dein Haarspray., sagte Ben. Seine Stimme war fordernd und eisern. Er erhob sich, stumm wie ein Tier, und es schien, als würde ihn der Instinkt treiben, als habe plötzlich die stählerne Fledermaus über ihm die Richtung gewechselt, als habe der Wind gedreht. Und jetzt roch das Tier eine Fährte.
»Sie warten auf mich«, sagte Ben zum Fahrer von Wagen 43, als dieser sein Fahrzeug hundert Meter vor der Klinik am Waldrand zum Stehen brachte. Zwei Uhr morgens.
»Wie lange?«, fragte der Fahrer und griff nach einem abgewetzten Taschentuch unter seinem Sitz.
»Bis ich zurück bin«, antwortete Ben.
»Und wenn Sie nicht zurückkommen? Wie Ihre Schwester?«, fragte der Fahrer mit weit geöffneten Augen.
»Dann gehen Sie zur Polizei«, antwortete Ben leise und öffnete geräuschlos die Beifahrertür.
»Auf mich können Sie sich nicht verlassen«, flüsterte der Fahrer hastig, »ich werde Sie nicht suchen«, drohte er aufgeregt, als wolle er Ben von seinem Vorhaben abbringen. »Ich gehe einfach zur Polizei und gebe eine Vermisstenmeldung auf.«
Doch Ben hörte ihn nicht mehr. Der Taxameter war auf zweiundneunzig vierzig stehen geblieben. Ben schlich lautlos im Lichtkegel der Scheinwerfer weiter. Plötzlich erloschen sie. Man hörte nur noch das schwächer werdende Knacken von dürren Ästen, die irgendwo in der Ferne zersplitterten.
Der Mond hing klein am dunklen Firmament, und die Sterne am Nachthimmel funkelten wie verglühende Satelliten, die närrische Wissenschaftler gestartet hatten, um das Universum in eine elektronische Geisterbahn zu verwandeln. Das akademisch veredelte Gesindel übernahm die Verantwortung für den galaktischen Zaubershop, weil es bereits in einem Alter war, in dem es kaum noch von den Spätfolgen seiner Sottisen betroffen werden konnte. Jene Männer übernahmen die Verantwortung, weil sie verantwortungslos waren. Sie übernahmen Hypotheken für eine Zukunft, an der sie nicht mehr teilhaben würden, für eine Zukunft, an die sie selber nicht mehr glaubten. Und morgen werden erbgeschädigte Kobolde über ihre plutoniumverseuchten Gräber robben. Und weitermachen. Bis die Erdkugel, in der primitiven Vorstellung der ahnungslosen Vorfahren eine Scheibe, durch die allwissenden Nachfahren wieder zur Käseplatte geworden und wie eine achtlos dahingeworfene Frisbee-Scheibe nutzlos im Universum zwischen steuerlosen Elektronikkeulen umherschwirrt.
In den oberen Stockwerken der Klinik brannte noch Licht. Lautlos wie ein beutehungriges Raubtier schlich Ben die massive Steintreppe zum Hintereingang der Klinik hinauf. Mit Noras Haarspray besprühte er das Schlüsselloch, bis die klebrige Bindeflüssigkeit die weißblechige Schlossumrandung hinuntertriefte. Ben entfachte ein Streichholz und hielt es dicht an das Türschloss. Es fing gleich Feuer, Ben ließ ein paar Sekunden verstreichen, dann erstickte er das Feuer mit dem Ärmel und führte den Schlüssel seines Hotelzimmers in die Öffnung. Die Springfeder im Innern war verglüht. Das Schloss ließ sich problemlos öffnen. Der Lichtkegel der Taschenlampe leckte den schwarzweiß karierten Linoleumboden und sprang dann kurz auf die Bilder über, die auf Augenhöhe an den Wänden hingen. Bis er die Bleistiftzeichnung erreichte, die vor Ingrids Zimmer hing. Vorsichtig griff Ben nach der Türklinke. Erst jetzt merkte er, dass seine Hand zitterte. Er schloss die Augen, als wolle er damit den Hörsinn schärfen. Schärfen für jedes Geräusch, das ihn warnen konnte. Ben schob die Tür auf. Einen Spalt weit. Der Lichtkegel zappelte zum Bett rüber, hüpfte auf die Bettdecke, unter der sich ein angewinkeltes Bein abzeichnete. Blondes Haar. Der Lichtkegel zitterte unruhig über Ingrids Kopf. Ben wollte sie nicht erschrecken. Behutsam schloss er die Zimmertür. Seine Finger fühlten sich zum Lichtschalter vor. Das Zimmer wurde in ein grelles Licht getaucht. Hastig schlich Ben zum Bett und flüsterte beschwörend Ingrids Namen. Sie regte sich nicht. Sanft ergriff er ihre Schultern und drehte sie auf den Rücken. Vor ihm ausgebreitet lag das von Medikamenten zerpflügte Gesicht einer Frau. Und die Frau war nicht Ingrid. Plötzlich klappten die geschlossenen Augenlider auf. Wie die einer Warenhauspuppe, die man zu schnell auf die Beine gestellt hatte. Ein gellender Schrei erschütterte das kleine Zimmer. Orkanartig breitete er sich über die ganze Klinik aus. Ben rannte aus dem Zimmer. Die grell peitschende Stimme klatschte an seine Ohren wie ein wuchtiger Fliegentöter. Am Ende des Flurs ging hinter einer Milchscheibe ein Licht an. Stimmen aus dem oberen Stockwerk. Ben flüchtete in einen unbeleuchteten Nebengang. Die Klinik erwachte, Gegenstände schienen sich vibrierend aus der Dunkelheit zu lösen, um ihn, Ben, zu zertrümmern. Nur ihn. Und die Stimme der Frau in Ingrids Zimmer erlosch, zischend wie ein Waldbrand, der von Wassermassen erstickt wurde. Sie erlosch, ging in ein schweres, röhrendes Luftholen über, um mit erneuter Kraft ihr anklagendes Wolfsgeheul in den Flur hinauszuschmettern. Plötzlich wurde der Flur von unsichtbaren Lichtquellen überflutet. Ben presste sich verzweifelt mit dem Rücken gegen die Wand, als könne er Schutz finden in den mörtelüberzogenen Backsteinlöchern der Flurmauer. Er spürte eine kräftige Faust zwischen den Schulterblättern. Er wirbelte herum, verlor fast das Gleichgewicht. Hinter ihm der Stahlrohrgriff einer Lifttüre. Ben öffnete sie und sprang in den Lift hinein. Ein dumpfes Geräusch, als das Gewicht seines Körpers auf der federnden Plattform aufsetzte und die Fahrstuhlbeleuchtung auslöste. Auf Hüfthöhe waren an den drei Fahrstuhlwänden runde Haltestangen montiert. Ben stellte sich rücklings in eine Ecke, klammerte sich mit beiden Händen an den verchromten Stangen fest und zog sich hoch. Wieder das dumpfe Geräusch, als die Plattform von seinem Gewicht entlastet wurde. Die Fahrstuhlbeleuchtung erlosch. Ben starrte auf die Fahrstuhltür. Die Flurbeleuchtung schimmerte durch das grobkörnige Glas, das in der Mitte der Tür eingesetzt war. Eine Silhouette huschte vorbei. Wenig später starb der schrille Schrei ab, und ein sanftes Summen lag in Bens Ohren. Stumm hing er da, in der Dunkelheit des Fahrstuhls, und starrte auf das hell schimmernde Glasmuster in der Lifttür. Die Kraft in den Armen ließ nach. Und als die Silhouette wieder vorbeigeisterte, glaubte er im Glasmuster die aufgescheuchten Augen im aufgedunsenen Gesicht der verzweifelten Frau zu sehen, die Funken sprühend nach dem fremden Eindringling forschten.
Ein metallisches Surren erschütterte den Fahrstuhl. Die Beleuchtung sprang an. Die Stockanzeige über der Tür leuchtete auf. Der Lift fuhr aufwärts, am ersten Stock vorbei. Ben hielt sich immer noch an den Haltestangen aufgestützt. Jemand musste den Fahrstuhl bestellt haben. Ben ließ sich auf die Plattform hinuntersinken und betätigte den Stopp-Knopf. Der Fahrstuhl fuhr weiter, am zweiten Stockwerk vorbei. Wie hypnotisiert starrte Ben auf die Stockanzeige über der Tür. Dritter Stock. Die geschlossene Abteilung. Der Fahrstuhl hielt ruckartig. Die Tür wurde geöffnet. Ein Mann betrat den Fahrstuhl und drückte den Parterreknopf, bevor sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. Noch hatte er Ben nicht gesehen, der sich flach in die hinterste Ecke gedrückt hatte. Als die Fahrstuhltür zuschnappte, fuhr der Mann jäh herum. Sein ganzer Körper begann zu zittern, verkrampfte sich wie eine schlecht geführte Marionette, deren Konstruktionsachsen von schlechtem Draht gelenkt wurden. Peter Sturzberg.
»Nicht schreien«, flüsterte Ben aufgeregt und versuchte, sich nicht mehr vom Fleck zu rühren. Peter Sturzberg starrte ihn an, regungslos.
»Ich tue Ihnen nichts«, beschwor ihn Ben mit leiser Stimme.
»Ich bin Bäcker«, entschuldigte sich Sturzberg, »in Koblenz geboren ... Ich werde nach Westafrika reisen, nach Niamey, ich werde dort ein ganz besonderes Brötchen backen ...« Ein irres, melancholisch durchtränktes Lachen stolperte aus seinem Mund.
»Sie sind doch Lehrer«, entgegnete Ben hastig, als wollte er ihn wieder zur Besinnung bringen.
»Ich bin Bäcker«, antwortete Sturzberg trotzig, »ich backe Brot, ich stehe jeden Morgen um vier auf und backe Brot. Kleine Brötchen, große Brötchen, immer Brötchen ...«
Es hatte keinen Sinn, ihn weiter über seinen Beruf auszufragen. Peter Sturzberg funktionierte auf eigentümliche Weise. Er war nicht mehr ansprechbar. Irgendwo wurde eine Tür zugeschlagen. Schritte, die näher kamen.
»Wo ist Ingrid?«, flehte Ben. Er hoffte, dass er Sturzberg erweichen konnte, dass er Mitleid empfinden würde. Sturzberg kniff die fiebrig kalten Augen zusammen und staunte mit leicht geöffnetem Mund die Fahrstuhldecke an. Als versuche er, sich an etwas zu erinnern, das mal gewesen war, als stünde irgendwo an der Fahrstuhldecke ein rettendes Wort, das jenes befremdende Gefühl entschleiern konnte, das Ben mit der Erwähnung von Ingrid geschaffen hatte. Doch an der Decke war gar nichts. Peter Sturzbergs Blick blieb in Bens Gesicht hängen. Seine Augen suchten, forschten, rangen. Aber die Brücke zur Erinnerung war eingebrochen, und wenn Sturzberg versuchte hinüberzukommen, zu jenem Wort, das Ben ausgesprochen hatte, griffen die Gedanken ins Leere. Ein Wolkenfeld verschlang das Wort, und bald wusste Sturzberg nicht mehr, wonach er eigentlich gesucht hatte, was ihn veranlasst hatte zu suchen, und er wurde traurig und schwermütig, denn er hatte bereits vergessen, warum er in diesem Fahrstuhl stand.
»Ich bin Bäcker«, murmelte Sturzberg zaghaft. Er wirkte so verloren und ängstlich, dass Ben auf ihn zugehen und ihn in die Arme schließen wollte, so, wie er es immer wieder mit Ingrid getan hatte. Manchmal hatte es ein bisschen geholfen.
»Das Volk ist hungrig!«, schrie jemand jovial. Der Mann musste ganz in der Nähe sein.