Der Rest des
Sonntags war ruiniert. Dawn mußte mit den
eisigen Schauern, die ihr über den Rücken liefen, fertig werden. Im
Gegensatz dazu war der bitterkalte Mainemärz mild. Auch die
besänftigenden Worte des alten Clausman, die Notiz sei ein böser
Streich, erleichterten sie nicht. Weder wußte er von der langen,
düsteren Vorgeschichte, noch konnte er begreifen, was diese
Botschaft bedeutete: Jemand war ihr nach Down East, an diesen
idyllischen Ort, gefolgt, um ihr Angst einzujagen.
Das und die Tatsache, daß sie sich zwei Nächte lang draußen herumgetrieben hatten, zeigte die Entschlossenheit ihrer Feinde so klar wie der Mondschein die Schneelandschaft. »Wir« werden dich umbringen. Sie hatte nur Schemen zwischen den Bäumen gesehen. Egal. Sie umzingelten sie und gaben ihrem Leben noch eine Woche! Sie sehnte sich nach Trost von Karl. Aber der Zettel hatte seine dunklen Schatten auch auf ihn geworfen. Er war voller Zorn gegen die, die ihr schaden wollten. Er plusterte sich auf wie ein Hahn, seine Halsschlagadern traten hervor, Farbe stieg ihm ins Gesicht.
Wenn er sonst schon nicht sehr gesprächig war, konnte er jetzt, noch Stunden später, kaum reden. Wenn, dann murmelte er nur eine lange Litanei, die Rache versprach, endlos wie die Landschaft jenseits der Straße Richtung Süden. Er hatte keine Zweifel, wer hinter der Drohung und allem anderen steckte - Jeff Bently.
Obgleich sie zu Tode erschreckt war, ärgerte sie das. »Jeff ist nicht der, auf den du wütend sein solltest, Karl«, sagte sie scharf. Sie verdächtigte Peter mehr als Jeff. Peter hatte ein Motiv. Aus welchem Grund auch immer, er wollte den Club. Nicht Jeff. Warum dann, um Himmels willen, vertraute sie dem Mann nicht? Peter war der Schuldige. Er war der Mann, der bald verhaftet wurde. Sie seufzte laut und fand es an der Zeit, Jeff zu verteidigen. »Er und ich sind enge Freunde. Er hat keinen Grund, mir zu schaden.«
»Ich habe dir nicht alles über ihn erzählt«, sagte Karl.
»Was denn noch?« Sie spürte mehr Anspannung in ihrem Nacken.
»Er liebt dich. Er hat es mir einmal gesagt, als wir zusammen einen trinken waren. Er war ziemlich blau. Da hat er’s gesagt. Er hat gesagt, er würde dir nie wirklich was bedeuten, solange der Club dein Leben ist. Er fand es schade, daß du nicht die Art Frau bist, für die man sorgen kann. Du sorgst für dich selber.«
»Das beweist noch gar -«
»Er sagte, er täte alles, um dich zu kriegen.«
»Karl, man will mich umbringen. Wenn ich tot bin, kann mich niemand mehr lieben.«
»Das ist logisch. Aber Jeff Bently hat nichts mit Logik zu tun. Er war in einer Klapsmühle, weißt du?«
»Naja. Er hatte Probleme, aber-«
»So. Warum könnten die nicht wiederkommen?«
»Karl...«
»Wenn du willst, bleibe ich vierundzwanzig Stunden am Tag bei dir.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß, was du für mich empfindest, Karl. Ich glaube nur nicht, es wäre klug. Aber im Club will ich dich immer in meiner Nähe haben.«
»Ich will da sein, wenn Bently was versucht!«
Sie machte sich nicht die Mühe, den großen Mann vor heftigen und vorschnellen Schlüssen zu warnen. Leider war er dazu prädestiniert. Jeff schuldig? Das war absurd! Peter war der Mörder. Sie mußte sich daran erinnern. Aber... Konnte Jeff...? Obgleich sie es nicht wollte, mußte sie an die intimen Stunden denken, die sie und Jeff gehabt hatten. Sie stöhnte. Konnte er an einem Tag diese Dinge tun und sie am nächsten Tag umbringen? Unmöglich! Peter! Ihr Verdacht würde sich auf Peter konzentrieren. Von allen Verdächtigungen Karls hatte sich nur eine richtig festgesetzt: Er hatte den Masseur im Medizinschrank im Trainerraum herumstöbern sehen. Die Sache, mit der sie am letzten Wochenende nichts anzufangen wußte, ergab jetzt einen Sinn. Detective Morgan hatte gesagt, daß Drogenspuren in Sams Leiche gefunden worden waren.
Als sie Montag morgen Detective Morgan anrief, sprach sie nicht gleich von Drogen. Sie erzählte ihm von ihrem Ausflug nach Maine, dem Zettel und fragte ihn, was sie tun solle. Nach Möglichkeit nicht allein sein, riet er ihr. In der Gesellschaft von Leuten sein, denen sie traute.
»Das geht nicht immer«, sagte sie. »Was, wenn ich allein sein muß?«
»Seien Sie vorsichtig.«
»Danke!«
»Ich habe Ihnen meinen Rat gegeben. Ich sagte Ihnen, bleiben Sie dem Club fern.«
»Ihren Rat habe ich dieses Wochenende befolgt, oder nicht?« fauchte sie. »Wieviel hat das genutzt?« Ihre Stimme wurde höher, trotz ihrer Anstrengung, sie zu kontrollieren. »Werden Sie nun herausfmden, wer mich umbringen will - oder was?«
»Wir arbeiten daran.«
»Ich will Polizeischutz!«
»Sie und fünfzig andere. Ich könnte sie Ihnen beim Namen nennen, ohne darüber nachzudenken. Sie haben Ihren eigenen freundlichen Ochsen, oder? Den Tuntenschläger? «
»Er ist mehr als das! Wie auch immer, er hat seine Jahre im Gefängnis abgesessen. Er hat seine Schuld bezahlt.«
»Beruhigen Sie sich, Dawn.«
Sie fragte, ob er noch etwas über die Drogenspuren in Sams Leiche herausgefunden hatte. Das Labor arbeite noch daran, sagte er. Aber es sehe ganz so aus, als gehöre es zur Familie der Betäubungsmittel. Wahrscheinlich oral eingenommen. Der Pathologe habe noch nicht die Zeit gehabt, sich die Leiche noch mal anzusehen. Sobald er mehr wisse, werde er es sie wissen lassen.
Sie ging runter zum Trainerraum, um Beth zu fragen, welche Medizin und Drogen im Schränkchen aufbewahrt wurden. Aber sie war nicht da. Karl drückte sich vor der Tür herum, stand Wache. Sie war überrascht, daß das Schränkchen mit den zwei Türen nicht verschlossen war. Dann konnte sich wohl nichts Gefährliches darin befinden. Sie öffnete den Schrank und sah hinein. Viele ihr bekannte, ohne Rezept erhältliche Schmerztabletten, eine Reihe Einreibemittel, Magenberuhiger. Ein paar verschreibungspflichtige Dosen mit Beths Namen und der Adresse des Clubs. Die Namen der Medikamente kannte sie nicht, aber es stand nichts von Gefahr darauf. Als sie den Schrank gerade zumachen wollte, sah sie in der Ecke eine kleine Sammlung Geschenkkarten. Oh! Von den Geschenken, die Beth von dem großen Unbekannten bekommen hatte. Das ging Dawn nichts an. Aber ihre zierliche Freundin hatte ihr soviel davon erzählt. Sie ging die Karten durch. Sie waren chronologisch geordnet. Die erste hatte das Datum von vor fünf Wochen. Die Nachrichten waren kurz. Sie bewunderten Beth. Auf der letzten stand das Versprechen, daß der Schreiber seinen Namen bald enthüllen würde. Diese feine Handschrift hatte sie früher schon einmal gesehen. Sie wußte Bescheid. Sie kamen von Hector Sturm!
Sie legte die Karten zurück und schloß das Schränkchen. Wieder in ihrem Büro, ein paar Minuten später, erstickte sie fast an ihrer Wut. Ihr früherer Geliebter war hinter zwei Frauen her! Dinah konnte für sich selber sorgen; sie und Hector waren aus demselben Holz geschnitzt. Aber Beth! Jemand wie Hector würde das sanfte Mädchen fortreißen - ins Verderben. Sie konnte verstehen, daß Beths bleiche, elfenhafte Schönheit Hector anzog. Oh ja, sie kannte seinen Geschmack. Dawn war nur knapp mit heiler Haut davongekommen. Beth hätte keine Chance. Dawn mußte etwas unternehmen, um ihre Freundin zu schützen, ohne ihre Gefühle zu verletzen. Im Moment wußte sie nicht genau, was. Am Abend mußte sie, weil an noch mehr Personal angespart wurde, bei der Tiger-Aerobicsklasse einspringen. Sie schluckte ihren Mißmut herunter, daß die Gruppe in den letzten Wochen um drei Viertel geschrumpft war. Nach Kettys Zahlen war SHAPE in einem Monat bankrott. Obendrein hatte Dawn, bevor die Woche herum war, zum zweitenmal eine Morddrohung bekommen! Obwohl sie Detective Morgan von ihrer Todesgefahr berichtet hatte, fragte sie sich im tiefsten Inneren, ob die Drohungen ernstgemeint oder nur dazu da waren, ihr den Club madig zu machen. Kurz, all das war Peter Faldos Arbeit! Ihr Mißtrauen Jeff gegenüber konnte sie auch nicht ersticken. Alles war so durcheinander! Sie sehnte sich danach, sich mit einem anstrengenden Training abzulenken. Ihr Geist und ihr Körper hatten es nötig. Während sie sich aufwärmte, kam ein Nachzügler -Dinah. Mit diesen roten Haaren und in ihrem roten hautengen Kostüm sah sie umwerfend aus. Ihretwegen trieb Dawn das Training auf beinahe unfaire Höhen. Hoffte, daß die Frau völlig erledigt ausstieg, aber sie hielt durch. Ein paar von den anderen gaben auf, setzten sich hin, ruhten sich aus, ihre Blicke feindlich. Als die Gruppe Entspannungsübungen machte, wußte Dawn, wie sie das Beth-Hector-Problem lösen konnte. Sie fing Dinah auf dem Weg zur Dusche ab. »Haben Sie Zeit? Ich möchte gerne irgendwohin gehen und mit Ihnen reden.«
Dinah zog erstaunt die Augenbrauen hoch, willigte aber ein. Sie gingen zu einem Sandwich-Shop in der Nähe, saßen im Neonschein und tranken überteuerten Orangensaft. Dinah erkundigte sich freundlich nach den Problemen des Clubs und ob es irgendwelche Fortschritte gebe. Keine, sagte Dawn, aber sie erzählte ihr nichts von den Morddrohungen. Sie wollte den Rotschopf nicht ablenken.
»Ich hoffe, Sie wollen nicht über sich und Sam und mich reden«, sagte Dinah. »Sie und er waren längst passé, bevor ich ihn überhaupt traf. Jetzt ist er Vergangenheit. Was auch immer Sie für Vorstellungen von ihm hatten, sie waren alle falsch.«
Dawn seufzte. Es war unfair, Sam so zu verdächtigen. Jetzt schien es unmöglich, daß er etwas mit den Morden zu tun hatte - aber ausgeschlossen war es nicht. Nichts schien mehr ausgeschlossen. Egal. Er war tot. Ein kurzer Anfall von Niedergeschlagenheit überkam sie und verflüchtigte sich wieder. »Ich muß Ihnen einige Dinge sagen. Ich hoffe, Sie hören es sich an, Dinah. Es geht um Sie, mich, Hector Sturm und jemand anderen. Am Ende werde ich Sie bitten, etwas zu tun. Es wäre also nett von Ihnen, wenn Sie mir zuhörten. Okay?«
»Naja, sicher. Schießen Sie los.«
Dinah schien eine intelligente, vernünftige Frau zu sein. Sie sagte also, Dinah habe nicht eine Vorgängerin gehabt, sondern davor habe es noch eine gegeben. Hector habe eine andere Affäre beendet, um Dawn zu seiner Geliebten zu machen.
Dinahs Augen weiteten sich. »Davon hat er mir nichts erzählt.« Sie sah Dawn jetzt mit anderen Augen. »Ich denke, Sie sind attraktiv genug, oder nicht? Und ich bin sicher, dumm sind Sie auch nicht.« Sie nippte an ihrem Glas. »Ich hoffe, Sie denken sich das nicht aus.«
»Absolut nicht!« Dawn erzählte weiter, daß sie mit Hector Schluß gemacht habe. Jetzt sei Dinah ihre Nachfolgerin - oder war es dazu noch nicht gekommen?
Dinah lächelte vielsagend. »Ich habe mich von ihm überreden lassen, mit ihm zum Abendessen in seinen
Club zu gehen. Einmal hat er mich auf ein paar Drinks dorthin mitgenommen.«
»Nett dort, oder nicht?« fragte Dawn. »Ich mochte die frischen Blumen mitten im Winter.«
Dinah blinzelte. »Ich habe mir schon gedacht, ich bin nicht die erste, die er dahin mitgenommen hat.«
»Hat er das Schubert-Quintett spielen lassen?« fragte Dawn.
»Das was?«
»Soweit ist er wohl noch nicht«, sagte Dawn. »Sie müssen schwerer zu kriegen sein als ich.«
»Okay, Sie haben Ihren Standpunkt klargemacht.« Dinah machte einen Schmollmund. »Ich hoffe nur, wenn Sie sagen, zwischen ihnen ist es aus, dann ist es auch aus.«
»Es ist aus.«
Der Rotschopf lehnte sich vor. »Ich glaube, Sie waren verrückt, Schluß zu machen! Er hat alles - Geschmack, Stil, Geld. Er hat angedeutet, er würde mir eine eigene Wohnung einrichten. Wir würden reisen!«
»Kann sein. Er und ich sind ein bißchen rumgereist. Ach, wieder in Puente Romana sein!« Dawn wunderte sich über ihre Selbstgefälligkeit. Normalerweise war sie nicht jemand, der sich aufspielte. Vielleicht stachelte sie Dinahs Selbstbewußtsein auf.
»Bin ich eben die zweite oder dritte - oder was.« Sie zuckte mit den Schultern. »Wen kümmert’s? Zur Zeit bin ich Nummer eins.«
»Das ist ja das Problem. Das sind Sie nicht. Nicht ganz.«
»Wovon sprechen Sie?« Zum erstenmal hatte Dawn Dinah aus der Fassung gebracht. Ihr blasser Hals und ihre blassen Wangen färbten sich purpurrot.
»Während er um Sie herumscharwenzelt, hat er sich auch an eine Freundin von mir herangemacht.«
»Wer ist das?«
»Das spielt keine Rolle. Jemand, der nicht so stark ist wie Sie - oder ich, wenn Sie so wollen. Jemand, für den es nicht gut wäre, sich mit so einem Typen einzulassen. Und schließlich fallengelassen zu werden.« Sie erzählte Dinah von den Geschenken und Karten an Beth. Erwähnte aber nicht den Namen dieser Freundin.
»Dieser Schuft!«
»Jetzt zu dem, was Sie tun sollen. Stellen Sie Hector zur Rede. Sagen Sie ihm, Sie schätzen es nicht, daß er anderen Frauen nachsteigt.«
Dinah wurde blaß. »Oh Gott, ich habe ihn zu lange zappeln lassen.« Ihr Gesicht zuckte vor Bestürzung. »Ich dachte, das sei genau die richtige Art bei ihm, und jetzt...«
»So tun Sie, was ich Ihnen vorgeschlagen habe. Ich denke, er ist mehr an Ihnen interessiert als an... der anderen. Wenn er vor die Wahl gestellt wird, bin ich überzeugt, er wählt Sie.«
Dinah ballte ihre Hände. »Ich kann es nicht glauben!«
»Sie bekommen ihn zurück. Hundertprozentig. Und meiner Freundin wird die Qual erspart, sich mit ihm einzulassen. Sie können nichts verlieren. Werden Sie’s tun?«
Dinah zögerte, vergrub ihre Hände in ihrem Haar, verzog ihr Gesicht. Dann blickte sie Dawn in die Augen. »Wollen Sie mich verarschen, Dawn Gray? Spielen Sie irgendein Spiel, um Hector und mich auseinander zu bringen? Vielleicht sind Sie ja eifersüchtig oder so was?«
»Absolut nicht! Ich schwöre. Was ist nun, stellen Sie Hector zur Rede?«
»Darauf können Sie Gift nehmen! Aber nicht gleich. Er ist gerade geschäftlich unterwegs. Wird in ein paar Tagen zurück sein.«
»Wohin ist er gefahren?«
»Weiß nicht. Hat er nicht gesagt.«
»Wenn Sie mit ihm reden, lassen Sie meinen Namen raus. Ich will nicht, daß er denkt, er kann sich da rausmogeln.«
»Alles klar!«
Sie verließen den Sandwich-Shop freundschaftlicher als sie gekommen waren. »Noch einen Gefallen, Dinah?«
»Groß oder klein?«
»Klein. Begleiten Sie mich zum Auto. Sie können es ruhig wissen. Man will mich umbringen.«
Der Rotschopf schaute entgeistert. »Und Sie machen sich Sorgen, daß Ihrer Freundin etwas zustößt. Ich säße im ersten Flugzeug nach Frankreich.«
»Sie und ich haben eben eine unterschiedliche Einstellung zum Leben«, sagte Dawn. Sie erzählte Dinah die Einzelheiten. Dann, als sie beim Honda waren, schoß ihr eine Idee durch den Kopf. »Sie kommen noch immer in den Club, Dinah? Sogar nach all dem Ärger. Viele Mitglieder haben sich verjagen lassen. Warum haben Sie keine Angst?«
Der Rotschopf lächelte. »Habe eben keine.«
Wieder zu Hause, schenkte Dawn sich ein Glas Cidre ein. Vom anstrengenden Training war sie noch durstig, und sie merkte, daß sie Muskelkater bekam. Vielleicht wäre ein langes, heißes Bad gut. Das Telefon klingelte. Jeff. Er erkundigte sich nach ihrem Maineabenteuer.
Plötzlich ging ihr ein Licht auf. Er war der einzige, der wußte, wie und wo sie das Wochenende hatte verbringen wollen. Ihren Zweifeln wuchs ein neuer Kopf: wie einer Hydra. Je schneller sie sie los wurde, desto schneller wuchsen sie nach. Sie log. Sie sagte, es sei eine erholsame Unterbrechung gewesen. »Und was hast du am Wochenende gemacht?« fragte sie, nicht zu freundlich, hoffte sie.
»Ich war Skifahren. In den Bergen. Meditierte. Bin über Nacht geblieben. Bin vor ungefähr einer Stunde zurückgekommen.«
»Irgendwelche Zeugen?«
»Was soll das denn heißen?« Sofort klang seine Stimme gereizt.
»Es gab einige >Vorkommnisse< in Maine. Ich dachte, daß du vielleicht - und jemand anders - was damit zu tun hatten.«
»Ich habe nicht den blässesten Schimmer, wovon du redest, Dawn. Und mir gefällt nicht, was du sagst. Komm mir bloß nicht mit neuen Vorwürfen, die du mir an den Kopf werfen willst. Ich bin nicht in der Stimmung, zuzuhören!« Er legte auf.
War seine Reaktion echt oder gespielt? War sie fair zu Jeff? Verdacht und Schamgefühl drehten sich in ihr wie eine Wetterfahne in einem Sturm. Karl verdächtigte ihn, hinter den Morden zu stecken. Aber konnte sie sich auf das Urteil des kräftigen Mannes verlassen, wenn sein Blick von Zuneigung getrübt war? Ihr fiel Karls gestriger stundenlanger Wutanfall ein. Kein Zweifel. Das war Rachsucht, wie sie sie noch nie gesehen hatte; und Jeff war die Zielscheibe.
Peter war heute auch nicht im Club. Vielleicht befand er sich auf dem langen Weg zurück von Maine, zurück von einem neuen Versuch, sie so lange zu ängstigen, bis sie verkaufte. Sie begriff eines: Schon seit langem befand sie sich in der hoffnungslosen Verfassung, jeden mit dem nur kleinstmöglichen Motiv für die quälenden Morde verantwortlich zu machen. Erst Zack. Dann Hector. Beide falsch. Dann Sam. Er war tot, hinterließ nur Zweideutigkeiten. Er konnte gemordet haben. Als sein Plan schiefging, hat er sich umgebracht. Das haute hin. Bis auf die Drohbriefe. Natürlich konnten andere den Ball einfach aufgehoben haben und damit weitergelaufen sein. Konnten so getan haben, als wäre Sams Brutalität ihre eigene. Andererseits, wenn Sam selber das letzte Opfer war, blieben jetzt Peter, Jeff und Karl als Verdächtige übrig. Welcher von den dreien? Moment! Welche zwei? Oder waren es... alle drei?
»Wir.« Wir. Wir!
Am nächsten Tag kreuzte Detective Morgan im Club auf und verkündete, er nehme Karl zu einer intensiven Vernehmung mit.
»Sie haben ihn doch schon vernommen, oder nicht?« sagte Dawn.
Er sah sie merkwürdig an. »Sie sind ein heller Kopf, Dawn. Das weiß ich. Aber diesmal denken Sie nicht nach.«
»Ich verstehe nicht.«
»Sie haben das Wochenende ein paar hundert Kilometer weit weg von hier mit Karl Clausman verbracht. Sie haben jemanden im Wald gesehen. Jemand hat einen Zettel an die Hütte geheftet. Meinen Sie nicht auch, beides könnte sehr gut auf das Konto von Karl gehen?«
»Aber warum? Er hat mich gern.«
Der Polizist verdrehte die Augen. »Sagen Sie mir, Sie lieben mich. Ich glaube alles. Kommen Sie, Dawn. Sie schalten nicht.«
»Ich verdächtige jeden! Kein Grund, daß Sie es nicht auch tun sollten, nehme ich an. Karl? Warum nicht? Wie ist es mit Peter Faldo? Und Jeff Bently? Warum nicht jeden!«
»Beruhigen Sie sich Dawn. Ich habe schon verstanden. Das alles ist hart für Sie.«
»Sie nehmen mir meinen Leibwächter weg, wissen Sie?«
Morgan nickte. »Ich habe Ihnen ein Geschenk mitgebracht. Charly Ruiz, Officer im ersten Jahr. Er liebt gutaussehende Frauen. Ihm macht es nichts aus, für Mr. Muskelmann einzuspringen. Bis später.«
Ruiz war groß und stark. Auch attraktiv. Muß an der Uniform liegen, dachte sie. Während sie sich um ihr Geschäft kümmerte und die sinkenden Einnahmen in die Bücher ein trug, hielt er respektvoll Abstand. Sie war froh, daß er sich nicht hinsetzte und daß er ständig einigermaßen wachsam aussah. »Bitte Officer, kommen Sie mit mir nach Hause?«
Nach dem Mittagessen tauchte Beth auf. Ihr Gesicht war rot vor Aufregung. »Ich muß mit dir reden!« flüsterte sie. Sie zog Dawn in den Trainerraum. Officer Ruiz folgte in freundlicher Entfernung. Beths herzförmiges Gesicht brannte. Beim Massagetisch drehte sie sich plötzlich zu Dawn herum. »Ich glaube, ich bin verliebt! « rief sie. »Kann man sich über Briefe und den Paketdienst verlieben?«
»Naja, ich nicht-«
»Und dann in jemanden, den ich gar nicht kenne? Ich verstehe mich selbst nicht mehr! « Dawns Herz sank.
Beth schnappte nach einem kleinen geöffneten Päckchen und warf es Dawn zu. »Sieh dir das an! Es kam gerade mit der Post.« Eine lange, schmale Schatulle. Zögernd hob Dawn den Deckel. Sie hätte sich denken können, was da glitzernd auf dem Samt lag. Eine Platinkette. Beinahe wie die, die sie einmal gehabt hatte! »Schau her!« Beths zarter Körper zitterte vor Aufregung. »Das ist Platin, oder nicht?«
»Yeah.« Beth hatte vergessen, daß Dawn, als sie der Dawn-Patrouille von ihrem früheren Leben erzählt hatte, eine solche Platinkette erwähnt hatte, ein Geschenk von Hector.
»Ich denke, das ist das letzte anonyme Geschenk«, sagte Beth. »Lies.« Sie gab Dawn eine Karte von Hector.
»Trag’ sie nächsten Mittwoch, wenn wir uns treffen.« Die zierliche Frau plapperte weiter, was passieren würde, wenn sie sich endlich treffen würden. Nein, sie wußte nicht, wer er war. Aber sie war bereit, mit ihm fortzulaufen. Falls er fragte. Sie hüpfte beinahe vor Erwartung.
Dawn fühlte sich mutlos. Einen Moment lang war sie versucht, ihrer Freundin zu sagen, daß großer Ärger und Kopfzerbrechen auf sie zukämen, weil es Hector war, der sie bedrängte. Sie sagte jedoch nichts.
Dinah würde ihn schon wegen seines Interesses an einer anderen zur Rede stellen. Sie würde darauf bestehen, daß er sich entschied. Dawn wußte, wenn er wählen mußte, würde er den Rotschopf nehmen. So gut kannte sie ihn. Das Schlimmste, was Beth widerfahren würde, war eine kurze Enttäuschung.
»Wenn ich du wäre, würde ich meine Hoffnungen nicht zu hoch schrauben«, sagte Dawn. »Es könnte dich auch jemand zum Narren halten.«
»Was willst du damit sagen?« fragte Beth scharf.
»Wer auch immer es ist, er hatte genug Zeit, sich zu zeigen. Er hätte es bis jetzt fünfmal tun können.«
»Ich mag es nicht, wenn du so sprichst!« Beths Augen blitzten. Dawn las schiere Verletzlichkeit in dem leuchtenden Blau. Jetzt war sie sich mehr als sicher, daß sie das Richtige getan hatte, als sie Beth vor Hector bewahren wollte. Bald darauf zogen Kettys Computerauszüge sie runter wie ein Tauchergürtel. Trotz ihrer schweren Zweifel, die sie wegen Peter hatte, mußte sie doch mit ihm die Einzelheiten klären, wann der Club geschlossen werden mußte. Der Gedanke tat weh! Aber nicht so sehr wie die Angst vor der Ankündigung, nächste Woche werde sie sterben. Bei der Erinnerung daran bekam sie kalte, schweißnasse Hände. Jetzt hatte sie keinen Zweifel mehr. Die Drohungen waren ernstgemeint, und sie schwebte in äußerster Gefahr. Tief in ihrem Inneren lag die eisige Wirklichkeit, daß mindestens zwei Menschen sie als Clubbesitzerin loswerden wollten. Welche zwei? Sie stöhnte! Sie verdächtigte jeden. Das war so zwecklos, wie gar keinen zu verdächtigen. Sie zog ihren Tagesplan hervor. Sonntag war ihr gedroht worden. Ihr blieben vier Tage. Höchstens fünf. Sie saß an ihrem Küchentisch, sah, wie ihre Hände zu zittern anfingen. Die Angst, die sie sich so lange vom Leib gehalten hatte, wucherte wie Krebs. Sie fühlte sich, als sei sie in der Mitte des Todesstrudels, sich im Kreis bewegend, schneller und schneller. Machtlos. Sie rang nach Luft, stand schwankend auf. Der Stuhl fiel polternd um.
Sie griff nach dem Telefon. Sie mußte mit jemandem reden. Mit wem? Peter? Nein. Ihr Verdacht verbot es ihr. Sie versuchte, Karl zu erreichen. Keine Antwort. Wahrscheinlich hatte die Polizei sich dazu entschlossen, ihn über Nacht dazubehalten. Das durften sie wohl, nahm sie an, wenn er keinen Anwalt hatte, der ihn an seine Rechte erinnerte. Vielleicht denkt er nicht daran, sich einen zu nehmen. Sie wimmerte wie ein Baby und haßte sich dafür. Es war, als ob die Bedrohung aus allen Wänden quoll. Sie würde wahnsinnig werden. Es sei denn, sie sprach mit jemandem. Zögernd ihren Widerstand überwindend, rief sie Jeff an. Sie fragte sich, warum ihr Gefühl ihr sagte, ihm trauen zu können. Dann, ihm nicht zu trauen. Von einem Tag auf den anderen. Ihr Mißtrauen vermischte sich mit ihrer Zuneigung für ihn. Er war, wie sie, ein schwieriger Mensch. Mit so vielen Seiten wie ein geschliffener Stein. War eine seiner Facetten die dunkle und tödliche Natur eines Mörders? Sie wußte es nicht. Und sie konnte es nicht ertragen, noch einen Augenblick länger allein zu sein. Er reagierte kühl. Das hatte sie erwartet. Erst als sie ihm die ganze Geschichte über Dinah, Beth und Hector erzählte, wurde er freundlicher. Der helle, fragende Ton kehrte in seine Stimme zurück. Sie versuchte, sich nicht zu lange über Karl auszulassen oder Jeffs Schnüffelei im Club - das Medizinschränkchen nicht zu vergessen, wo sie Hectors Lockkärtchen gefunden hatte.
»So, Hector ist also zwischen den beiden Frauen?«
»Ja.«
»Ist er vielleicht noch zwischen anderen, schlimmeren Dingen?«
»Erinnerst du dich nicht? Ich hab dir doch erzählt, daß ich ihn von der Polizei überprüfen ließ. Er hat ein Alibi für alle drei Morde.«
»Und als Sam starb?«
Sie zögerte. »Weißt du, daran habe ich noch gar nicht -«
»Und du wirst von jemandem bedroht, der >wir< sagt. Vielleicht arbeitet Hector mit jemandem zusammen.« Jeffs Stimme überschlug sich vor Aufregung. »Diese andere Person hat Eloise, Nicole, Chantelle und den Reporter umgelegt; vielleicht hat er Sam umgebracht und die Drohbriefe geschrieben.«
»Ich weiß nicht, Jeff. War er denn da, als Sam starb?«
Jeff stockte. Seine Begeisterung schwand. »Ich erinnere mich nicht, ihn gesehen zu haben. Ich denke, es gibt immer noch die Möglichkeit, daß Sam sich das Leben genommen hat. Es gibt ja keinen Beweis dafür, daß es kein Selbstmord war, oder?«
»Nein.« Plötzlich erinnerte sie sich. Karl hatte Jeff im dritten Stock gesehen. Kurz bevor Sam gestürzt war. Aber nur Karl war kräftig genug, einen sich wehrenden Mann über das Geländer zu hieven. In den entfernten Winkeln ihres Verstandes gab es lauter Kleinigkeiten, die sie zu einem Ganzen hätte zusammenfügen sollen, um zu erklären, was passiert war. Und mit der Erklärung käme die Identität derjenigen, die sich als ihre erbitterten Feinde herausstellten. Aber es war alles so kompliziert und durcheinander. Sie konnte diese kritischen Schlüsse nicht ziehen. Vielleicht hatte sie noch vier Tage.
»So, was wird aus uns in der ganzen Angelegenheit, Dawn?« fragte Jeff. »Sind wir genau da, wo wir angefangen haben, hm?«
»Ich glaube schon.«
Dann überraschte Jeff sie. »Dawn, ich will dir helfen. Von ganzem Herzen. Ich will tun, was immer in meiner
Macht steht. Ich könnte es nicht ertragen, wenn dir etwas zustößt, das ich hätte verhindern können. Weißt du, was ich wirklich für dich empfinde? Kannst du es denn nicht erahnen nach all der Zeit, die wir miteinander verbracht haben?«
Sie schloß die Augen, umklammerte den Hörer, versuchte, alle Häßlichkeit auszuschließen und sich aufs Schöne zu konzentrieren.
»Ich hoffe, du sagst mir, daß du mich liebst!«
»Ja. Ich habe die ganze Zeit versucht, es zu sagen. Aber du mußt eines tun. Ich denke, du weißt, was.«
Sie zögerte, fühlte sich plötzlich vollkommen einfallslos.
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte sie.
»Dawn, ich muß wissen, daß du mir vertraust.«
»Jeff...«
»Das hast du nämlich nicht, weißt du? Ich bin nicht leicht zu verletzen, aber du hast es geschafft.«
»Es tut mir leid.« Oh, es war ihr Ernst!
»Wirst du mir vertrauen? Von jetzt an?«
»Ja!«
Er schwieg. Sie merkte, seine Gedanken überschlugen sich. Wie konnte er ihr helfen? »Dann gib mir Hectors Privatnummer«, sagte er.
»Warum?«
»Weil ich mit ihm sprechen möchte, natürlich.«
»Worüber?«
»Kümmer’ dich nicht darum. Ich sag’s dir später. Denk’ dran, ich bitte dich, mir zu vertrauen.«
»Ich will nicht, daß Beth wehgetan wird!«
»Vertrau mir!«
»Hector ist für ein paar Tage weggefahren - soweit ich es verstanden habe.«
»Fein. Ich werde ihn erwischen, wenn er zurück ist«, sagte Jeff.
»Die Ideen, die du hattest über das, was im Club vorgeht und mit mir - hast du sie aufgegeben?«
»Im Gegenteil. Ich stecke fest. Das ist alles. Die Sachen, die du mir erzählt hast, sind so ungefähr die letzten Teile, die ich brauche.«
»Selbst, wenn ich dich liebe, du machst mich rasend mit deinen Andeutungen«, sagte Dawn zu ihm.
»Sobald ich sicher bin, hörst du alles. Immerhin, Liebste, ist eine Person - du -, die aus der Hüfte in alle Richtungen schießt, genug.« Er lachte. »Kann ich vorbeikommen? Ich würde dich gerne sehen.«
Sie zögerte. Sie fühlte sich völlig kaputt. Es war kein guter Tag gewesen. »Lieber nicht. Es hat nichts mit meinen Gefühlen für dich zu tun, ja?«
»Wenn du es sagst.«
»Ich sehe dich morgen im Club. Heute wäre ich keine gute Gesellschaft.«
»Mach’s, wie du willst. Freue mich darauf, dich zu sehen. Au revoir, ma chère.«
Nachdem sie aufgelegt hatte, ertappte sie sich dabei, wie sie lautlos einen kurzen Satz vor sich hersagte. Wie eine Litanei oder wie Brocken von der Gebetsmühle: Vertraue Jeff. Vertraue Jeff. Vertraue Jeff. Er sagte, er liebe sie! Und sie hatte es auch gesagt. Es schien wahr zu sein. Es mußte gesagt werden. Wenn nur ihr Leben nicht so durcheinander wäre. Wenn sie nur nicht bedroht worden wäre. Sie hätte auf das Geschenk der Liebe mit entsprechender Leidenschaft reagieren können. Das Telefon klingelte. Karl. Er wurde über Nacht im Gefängnis behalten. Ein Mitgefangener hatte ihm gesagt, er könne ein Telefonat führen. Die einzige Person, der er vertraute, war Dawn. Was sollte er tun?
»Nimm dir einen Anwalt!«
»Ich kenne keinen.« Er klang elend. »Sie haben jedes schmutzige Ding von vor Jahren ausgegraben. Sie hören nicht auf, es mir vorzuhalten. Dieser Hurensohn Morgan. Sagt, ich hab dich nach Maine geschleift und Spiele mit dir getrieben. Versucht zu behaupten, ich habe die vier Leute -«
»Er versucht nur, seine Arbeit zu machen. Du solltest es nicht so schwer -«
»Ich möchte ihm eine reinhauen! Er hört nicht auf, auf mir herumzuhacken...«
Plötzlich war sie besorgt um ihn. Auch wenn sie ihn nicht liebte, fühlte sie Zärtlichkeit für seine Anteilnahme und seine Freundlichkeit. »Karl, verlier nicht die Kontrolle. Das fehlt gerade noch. Das gäbe ihnen einen Grund, dich länger dazubehalten. Ich werde meinen Anwalt anrufen und sehen, ob er nicht jemanden finden kann, der dir hilft.«
Milt Glassman war nicht zu Hause. Dawn hinterließ eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter. Dann lief sie in ihrem Apartment hin und her. Sie konnte nicht schlafen, solange sie Karl nicht geholfen hatte. Ungefähr um Mitternacht klingelte das Telefon wieder. Sie griff nach dem Hörer. »Milt?«
Eine entfernte Stimme, gedämpft und entstellt: »Vielleicht geben wir dir noch zwei Tage, Dawn Gray. Zwei Tage.«