Peter war in
seiner gewöhnlichen
Ich-Übernehme-das-Kommando-Stimmung, als er um 12.30 Uhr in den
Club kam. Mit einer Hand fuhr er sich durch sein lockiges Haar,
seine Bewegungen waren noch hastiger als sonst - und er bewegte
sich immer schnell. Nicht so, wie es Dawn bei einem Mann,
hochgewachsen und solide, wie er war, eigentlich erwartet hätte.
»Er bewegt sich, als ob jemand hinter ihm her ist«, hatte Jeff
Bently, der neue Masseur, mal gesagt. Wenn irgend etwas Peter
verfolgte, so war es der Wunsch nach Erfolg und der damit
verbundene Wohlstand. Der teure Anzug und die französische Krawatte
strahlten beides aus, seinen guten Geschmack und das Geld, das er
brauchte, um ihn sich leisten zu können. Neidisch sprach er von
senkrechtgestarteten Computermillionären. »Es gibt auch Millionen
im Fitneß zu holen, D. G.«, sagte er. »Nur nicht ganz so viele. Das
ist alles. Deshalb müssen wir uns beeilen. Verdammt, ich bin schon
fünfunddreißig!«
Als Gegenpol zu seinem hoch am Himmel schwebenden Optimismus und seinem Hang, Risiken einzugehen, versuchte sie, bodenständiger zu sein. Sie wollte weder leichtsinnig sein - das konnte der Club sich noch nicht erlauben -, noch wollte sie, daß er von der Last übertriebener Vorsicht in die Tiefe gezogen wurde. Wenn sie sich irrte, dann darin, daß sie Peter zu oft zustimmte und ihre eigene Meinung nicht energisch genug durchsetzte. Trotzdem waren sie bis jetzt ein gutes Team gewesen.
Nachdem er Eloises Tod mit einem »Hey, Pech gehabt!« abgetan hatte, was sie innerlich zusammenzucken ließ, nannte er die wichtigsten Nebenwirkungen der Tragödie. Er hielt zwei Finger in die Luft: »Gesetz und Pressen.« Innerhalb von Minuten telefonierte er mit Milton Glassman, dem Anwalt des Clubs. Er machte den Lautsprecher an, so daß Dawn bei der Beantwortung der Fragen des Anwalts behilflich sein konnte.
»Falls Klage erhoben wird, kann sie nur auf Fahrlässigkeit zielen«, sagte Milton zusammenfassend. Er war sichtlich erfreut, daß das Opfer unverheiratet und elternlos war. »Vielleicht habt ihr ja Glück gehabt, ihr Gesundheitsfanatiker. Haltet euch zurück. Keine Statements. Alle Fragen leitet ihr an euren geliebten Halsabschneider weiter. Ihr bekommt meine Rechnung. Meine Zeit ist knapp heute morgen. Bleibt cool.«
Als Peter auflegte, sagte Dawn: »Er ist sogar weichherziger als du angesichts dieser Sache. Eine Frau ist tot, Herrgott noch mal.«
»Niemand hat meine Erlaubnis eingeholt, ob sie sterben darf, D. G. Von mir hätte sie keiner bekommen. Jetzt müssen wir damit fertig werden.«
»Okay, ’schuldigung.«
»Die Presse..., die Presse...« Mit zusammengekniffenen Augen taxierte Peter das Büro. Die beiden
Schreibtische, den Computer, der bald zur Drehscheibe des Clubs avancieren sollte, die Aktenschränke, die kostenlosen Werbeplakate, die, gerahmt, die Bürowände schmückten: Lifecycles, Nike-Turnschuhe, Gewichte, Vitaminkuren, alles präsentiert von Männern und Frauen. Überdimensionale pektorale und laterale Muskelpakete. »Falls irgendwelche Reporter anrufen, sagen wir die Wahrheit: Es war ein Unfall. Vielleicht hatte sie einen Herzanfall oder so was. Wir wissen es nicht. Tatsache ist, der Club ist sicher. Wir nehmen an, sie hat gegen die Sicherheitsregeln verstoßen und mußte dafür mit ihrem Leben bezahlen. Dann -«
»Aber wir wissen nicht hundertprozentig, was passiert ist.«
»Wir wissen, daß es ein Unfall war.«
»Ich bin mir nicht so sicher; Ich habe mit Lucy De-Mott gesprochen. Sie war gestern im Dienst. Sie sagte, wir sollen vielleicht mit Zack -«
»Ach komm, D. G.! Zack gehört der Vergangenheit an. Wir haben uns um die Beschwerde der Lady gekümmert, indem wir uns um Zack gekümmert haben. Ich möchte nicht einmal, daß du dir im Traum vorstellst, Zack sei irgendwie in die Sache verwickelt. Es war ein Unfall. Garantiert. Und jetzt hör auf damit, okay?«
»Sicher.« Dawn wußte, daß sie rot geworden war. Zacks Rausschmiß war ein wunder Punkt zwischen ihnen beiden. Daß sie wieder davon anfing, tat ihrer Partnerschaft nicht gut. Sie hatte übertrieben, und Peter hatte ihr den Kopf zurechtgerückt. Ihre Phantasie hatte sich, mit Lucys Hilfe, verselbständigt. Nach irgendeinem Ausblick suchend, dachte sie daran, wie wichtig die Beachtung der Sicherheitsvorschriften war. Sie ging zum Computer und schrieb ein Memo: »In Anbetracht der jüngsten Tragödie...« Sie rief dazu auf, in den kommenden Wochen alle Vorschriften genau zu beachten, um eine eventuelle Wiederholung »des traurigen Unfalls« zu vermeiden. Sie setzte drei kurze Sitzungen fest, für Morgen-, Mittag- und Abendpersonal. Peter, immer der Energischere, würde den Leuten die Botschaft einbleuen. Dann machte sie sich auf, um die jetzigen Schilder zu kontrollieren.
Sie ging ins Erdgeschoß zu den acht Squash- und Racketballplätzen. Immer besetzt. Sie mußten völlig ausgebucht sein, um die Kosten pro Quadratmeter zu decken - nie ein Problem. Sie blickte durch das Fenster in einer der Türen zum Court. Zwei Hausfrauen sprangen einem Ball hinterher, legten Pausen ein, keuchten und kicherten über den Punktestand. Am Feierabend würden die Männer kommen. Jeder mit einem Profihandschuh bewaffnet. Sie spielten mit schweigender Konzentration und sahen mit ihren Schutzbrillen wie Außerirdische aus. Sie brauchten nicht die vor Augenverletzungen warnenden Schilder zu lesen. Sie hoffte, die Spieler ignorierten nicht die Rote-Kreuz-Schilder mit den Wiederbelebungsanleitungen. Jeder, der Mitglied wurde, mußte eine Erklärung unterschreiben, die SHAPE schützen sollte. Zum Beispiel, wenn die Pumpe versagte... In dem größeren der zwei Aerobic-Studios war eine Klasse beim Training. Ein Fortschritt. Am Anfang, als sie den Club gerade übernommen hatten, war an den Vormittagen nichts los gewesen. Sie hatten hart gearbeitet, um das zu ändern; mit einigem Erfolg. Der sich ändernde amerikanische Lebensstil tat das Seine: weniger Neun-bis-fünf-Jobs, zunehmend schichtähnliche Dienstleistungsjobs. Mehr Leute hatten tagsüber Freizeit.
Sie nahm den Fahrstuhl zum beheizten Swimmingpool von olympischer Größe - ein Schmuckstück und die Benutzungsgebühren dementsprechend. Eine Geldquelle, obwohl der Unterhalt ein wahres Vermögen kostete. Sie las die Schilder: Tauchen verboten. Rennen verboten. Keine Flaschen. Keine Drogen. Kein Alkohol. Alleine schwimmen verboten. Schlägereien verboten. Sie überflog die Hinweise zum Gebrauch der Einrichtung. Bahnen- und Freischwimmzeitplan waren deutlich beschrieben. Die Schilder für die Benutzung des Sonnendecks hatten den Sommer ebenfalls ohne Schaden überstanden.
Schnee war an die Thermofenster geweht. Kondensiertes Wasser tropfte an der breiten Glaswand herunter. Sie machte eine Notiz in ihr Buch. Sie mußte jemanden kommen lassen, um den Energieverlust herauszufinden. Sonnenfetischisten hielten die drei Sonnenbänke im Solarium in Betrieb. Und Peter hatte gedacht, die würden kein Erfolg werden! Eines der seltenen Male, daß sie ihm gegenüber hartnäckig geblieben war. Sie hatte den kleinen Anflug von Stolz verdient: Ihre Hartnäckigkeit hatte ein paar Dollar mehr in die Kasse gebracht. Sie schlenderte durch die Frauenumkleidekabine. Labortechniker von der Polizei hatten in Whirlpoolnähe fast ihre Arbeit erledigt. Unter ihrem Kommando schuftete Beth Willow mit Schrubber, Scheuerlappen und Eimer. Einige Strähnen ihres dunklen Haares hatten sich aus der Hornspange gelöst und hingen ihr ins Gesicht. Plötzlich hatte Dawn wieder Eloises auf dem Wasser treibendes Haar vor Augen. Sie stöhnte leise, riß sich zusammen und rief Beth zu: »Hey, hast du Lust auf eine Pause?«
Beth blickte überrascht auf, ihr Gesicht war von der Arbeit erhitzt. Ihre leuchtendblauen Augen glänzten vor Energie. Zum erstenmal fiel Dawn auf, daß Beths herzförmiges Gesicht zart und schön war. Das herabfallende Haar hob ihre asiatischen Züge, normalerweise kaum wahrnehmbar, hervor. »Wie spät ist es denn?« fragte Beth.
»Mittag. Kommst du? Ich lad’ dich ein. Allerdings will ich erst die Warnschilder zu Ende überprüfen. Ich seh dich dann an der Bar in zwanzig Minuten?«
Beth nickte und schrubbte dann, mit dem Enthusiasmus eines Fanatikers, den Boden weiter. Sie arbeitet wirklich zu schwer, dachte Dawn. In der dritten Etage befanden sich die zwei Nautilusrunden. Allgemeine Hinweise zur Bedienung der Geräte und Funktion des Systemswaren deutlich sichtbar angeschlagen, zusammen mit Warnungen vor Mißbrauch. Sie achtete besonders auf alle Verzichtserklärungen, die SHAPE schützen. Danach begutachtete sie die Rudermaschinen, die Fahrräder, die Laufbänder und Stair-Masters. Alle mit dem guten Ratschlag versehen, im Falle von Kurzatmigkeit oder Unwohlsein sofort die Übung abzubrechen. Sie bat Allan, Sportstudent der ortsansässigen Uni und gerade dabei, die Aerobic-Kartei zu ordnen, alle Verzichtserklärungen durchzusehen und zu markieren.
»Eloises, he?« fragte er.
»Du hast es erfaßt.«
»Das war ein absoluter Hammer, Boß.«
Dawn nickte, ging weiter. Keine Probleme mit den Billard- und Pingpong-Tischen. Sich hier tödlich zu verletzen, war schon ein Kunststück. Zuletzt der Basketballplatz. Er hatte nur halbe Größe. Typen mittleren Alters, die so taten, als wären sie siebzehn, verknacksten sich hier regelmäßig die Gelenke. Aber das war nicht SHAPE anzulasten. Sie ging zum Treppengeländer in der Vorhalle und schaute von der dritten Etage auf ein Meer von Pflanzen, die in der feuchten Luft des Clubs hervorragend gediehen. Sie fühlte, wie das Gebäude vor Aktivität summte. Sogar um die Mittagsstunde. Stolz überkam sie. Peter und sie hatten es tatsächlich geschafft, einen Erfolg aus SHAPE zu machen. Allen Widrigkeiten zum Trotz. Sie waren am Ball geblieben, hatten hart gearbeitet - Gott sei Dank war das keinem von beiden etwas Neues. Und jetzt, trotz des Darlehens, das sie aufgenommen hatten, und trotz der Zinsen, die sie jeden Monat zahlen mußten, waren sie nahe dran, Profit zu machen. Selbst mit dieser schrecklichen Geschichte von Eloises Unfall im Genick konnten sie es schaffen.
Während des Mittagessens - es gab Hühnersalat auf Roggenbrot, ungesalzene Chips und ein Glas Buttermilch, alles von Gene hinter der Snack- und Getränkebar neben der Rezeption hervorgezaubert - unterhielt sich Dawn mit Beth. In den Wochen seit ihrer Einstellung war langsam so etwas wie eine Freundschaft zwischen ihnen entstanden. Beths geduldiges und verständnisvolles Lächeln gegenüber dem nervösen Geplapper ihrer Chefin erinnerte Dawn daran, daß eine der Regeln einer Freundschaft der Wille zuzuhören war. Sie biß sich auf die Lippen und lächelte. »Halt die Klappe, Dawn! Gib Beth eine Chance, auch ein Wort zu sagen! Es tut mir wirklich leid.«
Beths Lächeln wurde noch breiter. Ihre Zähne waren weiß und gleichmäßig. »Du bist also heute ein bißchen aufgeregt, Dawn? O Wunder. Es gibt ja auch nichts Schöneres, als von einem Anruf aufgeweckt zu werden: Mach dir nichts aus einer Leiche im Whirlpool.«
»Es macht dir nichts aus, hinter den Bullen herzuräumen?«
»Uuh.« Sie rümpfte ihre hübsche Nase. »Lass’ uns das Thema wechseln.«
Sie zwinkerte. »Wie steht’s denn so mit unserem neuen Masseur, Mr. Müsli?«
»Jeff Bently? Och, wir haben uns ein paarmal ganz nett unterhalten.«
»Hast du ihn gefragt, ob er mit dir ausgeht?«
Dawn studierte den Rest ihres Sandwichs. »Ich dachte, ich lasse ihm den Vortritt.«
»Er ist sanft und süß«, sagte Beth.
»Hört sich an, als ob du interessiert bist.«
»Ist nicht mein Typ, Dawn. Ich hab es wahrscheinlich besser mit dem Typen, mit dem du mal zusammengewohnt hast, so wie du ihn beschrieben hast.«
»Du lieber Gott. Der Himmel steh dir bei. Sam Springs war mit Sicherheit weder süß noch nett. Er war ein Draufgänger - ist ein Draufgänger.«
»Ein Macher. Kein Müslimann. Wir reden von Steak, Kartoffeln und Bier.« Beth grinste. »Egal. Ich glaube, Jeff würde dir guttun. Du brauchst ein bißchen Geselligkeit. Erst die Arbeit und dann das... und all das.«
»Ich werde darüber nachdenken, Miss Willow.«
»Das solltest du, denn ich habe recht.«
Sie räumten ihre Pappteller und Papptassen zusammen und warfen sie in den Mülleimer. »Oh, was ich dir noch sagen wollte«, sagte Beth. »Ich habe hier gestern jemanden im Club gesehen, von dem ich glaube, daß er der Vergangenheit angehört.« Dawn leckte Mayonnaise vom Finger. »Wen?«
»Zack Keyman.«
Dawn erstarrte. Sie merkte, daß sie blaß wurde. Sie
wollte Beth sagen, daß sie das nicht wissen wollte. Sie wollte ihr verbieten, ihn gesehen zu haben. Sie hatte ihn nie wieder in diesem Haus haben wollen. Niemals! Denn wenn er hier war... Nein. Nein! Eloises Tod war ein Unfall! Zu Beth sagte sie nur: »Wenn du ihn noch mal siehst, sag mir Bescheid.« Sie drehte sich um, um ihr bleiches Gesicht zu verbergen. Später, am Nachmittag, war sie froh zu hören, daß Suzette Gagnon, die die Tiger Aerobics um 17.30 Uhr leitete, Grippe hatte. Dawn würde die Gruppe übernehmen. Es machte ihr Spaß, ab und zu für jemanden einzuspringen.
Heute, als sie ihren Sportdreß, ihre Shorts und Wadenwärmer anzog, freute sie sich besonders, sich abreagieren zu können. Sie kramte in den Kassetten von vor zwei Jahren herum. Damals, in den ersten Monaten ihrer Partnerschaft, war sie von einer erschöpften, aber dankbaren Klasse zur Big-Sweat-Queen erkoren worden. In jenen mageren Zeiten hatte sie alle drei Gruppen geleitet. Die Klasse am Abend - eindreiviertel Stunden hintereinander weg, nur fünfzehn Minuten Pause, ihr Puls im Ruhestand zweiundvierzig. Und sie hatte nicht ein Fettpölsterchen zuviel gehabt. Während sie mit den Tigers Aufwärmübungen machte, betrachtete sie sich zwischen all den herumhüpfenden Neun-bis-Fünfern.
Beinahe dreißig, sah sie noch ganz passabel aus. Ihre langen Beine waren fest, dank des häufigen Trainings. Ihre Taille von siebenundfünfzig Zentimetern war im letzten Jahr vielleicht um zwei Zentimeter breiter geworden. Sie wurde also älter. Mit beinahe ein Meter neunzig hatte sie ein bißchen zu viel Oberweite. Ihre Schultern waren breit und leicht nach unten geneigt. Ihr Hals schlank und makellos. Sie hatte Glück gehabt, so wohlproportioniert zu sein. Selbst die Jahre würden das nicht ändern. Eines von den vielen Geschenken von Mom und Dad, mögen sie in Frieden ruhen.
Unter dem kastanienbraunen Haarband zeigte ihr lächelndes Gesicht zwei Grübchen. Ihr strohblondes Haar glänzte gesund und war energisch zurückgebürstet. Ihre Beweglichkeit ließ zu wünschen übrig, weil sie weniger regelmäßig trainierte, aber sie würde sich lockern, je länger das Training dauerte. Falls sie Bestätigungen für ihr gutes Aussehen brauchte, so fand sie die in den heimlichen Blicken der drei Männer in einer Gruppe von einem Dutzend Frauen. Jetzt freuten sie sich noch, daß sie vor ihnen stand. Aber sie würden anders denken, wenn es in die letzte halbe Stunde ging.
»Wir wollen mit ein bißchen Laufen anfangen, Leute«, rief sie. »Ich will, daß ihr den Rhythmus haltet. Es wird in die Knochen gehen, aber versucht, so gut ihr könnt, mit mir mitzuhalten. So könnt ihr sicher sein, daß ihr bekommt, wofür ihr bezahlt habt.« Sie zeigte ihre Grübchen. »Ihr seid doch die Tigers, oder etwa nicht?« Gegen sieben Uhr hatten sich die Tigers in Schmusekatzen verwandelt.
Auch Dawn keuchte ein wenig. Sie ließ sich auf einer Bank nieder und zog ihre Wadenwärmer aus. Sich erholend, ging sie in Richtung Umkleidekabine. Die Dusche tat gut. Abgetrocknet und angezogen sah sie in den Whirlpoolraum. Das Becken war wieder vollgelaufen. Beth war ein Engel. Sie nahm das Seil und das Außer-Betrieb-Schild ab. Dies war nicht der Ort, um Eloise St. Martin zu trauern. Sie ging nach oben und erledigte einigen Papierkram. Jenseits der breiten Eingangsglaswand wirbelten Schneeböen wie Derwische. Plötzlich fühlte sie sich müde - es war einer der schlimmsten Tage ihres Lebens.
Als sie in ihren Honda stieg, hatte der Wind nachgelassen. Der Schnee fiel jetzt in dichten Flocken, bildete Häubchen auf den Laternen, verschluckte die Geräusche der Stadt. Es bereitete ihr keine Schwierigkeiten zu fahren. Im Radio suchte sie einen Sender mit Countrymusik. Sänger jammerten von Lastwagen und Truckstopmommas. Obwohl Dawn todmüde war, konnte sie sich nicht entspannen. Sie blickte immer wieder in den Rückspiegel. Sie wurde das Gefühl nicht los, verfolgt zu werden. An einer Ampel drehte sie sich um und schaute nach hinten. Durch den Schnee sah sie nur vereinzelte Scheinwerfer und verdeckte Straßenränder. Sie konnte nicht genau sagen, ob...
Erst in ihrem Appartement fiel ihr ein, daß sie nicht hätte hierher kommen sollen, wenn sie tatsächlich verfolgt wurde. Wer immer hinter ihr her war - falls jemand es war -, wußte jetzt, wo sie wohnte. Sie befahl sich, damit aufzuhören. Ihre Phantasie spielte verrückt. Schuld waren Müdigkeit und Streß. Sie sollte etwas essen. Aber der Gedanke daran, daß möglicherweise jemand auf sie lauerte, hatte ihr den Appetit verdorben. Sie ging zum Fenster. Blickte hinaus. Die Welt war ein einziges Weiß. Sie konnte nicht einmal die andere Straßenseite erkennen. Dawn schob die Sicherheitsriegel an Flur- und Hintertür vor. Dann setzte sie den Teekesssel auf. Sie ging in ihrer kleinen Wohnung auf und ab, während sie darauf wartete, daß das Wasser kochte.
Nach der Trennung hatten Sam und sie ihre bescheidenen Besitztümer geteilt. Sie wollte eigentlich immer ihren Teil ersetzen, um sich so der unerfreulichen Erinnerungen zu entledigen. Aber ihre finanziellen Mittel hatten nicht ausgereicht. Jeden übrigbleibenden Dollar steckte sie in SHAPE. Also schlief sie immer noch in dem Bett, das sie in den achtzehn Monaten mit Sam benutzt hatte. Er hatte ihr eine flitterwochenähnliche Reise versprochen. Dieses erste Versprechen hatte sie ihm geglaubt. Es dauerte Monate, bis ihr aufging, daß Sam Versprechen ausstreute wie Goldregen seine Pollen. Sie wehrte sich dagegen, in den Strudel von gegenseitigen Beschuldigungen, Schuldgefühlen und Was-wäre-wenn heruntergezogen zu werden, der immer noch ab und zu in ihrem Unterbewußtsein brodelte, obwohl die Trennung schon zwei Jahre zurücklag.
Sie nahm sich eine Tasse Tee mit zu ihrem Schaukelstuhl. Die breite Lehne war mit einem künstlichen Fell überzogen. Sie hatte ihn im Ausverkauf erstanden, entzückt von der Geschmacklosigkeit. Auf dem Weg nach Hause war er vom Dach des Hondas gerutscht, und der haarige Stoff war zerrissen. Sie hatte ihn mit einer Steppdecke abgedeckt. Irgendwie war er für sie bequemer als irgendein ergonomisches Wunderwerk. Normalerweise hörte sie über Kopfhörer 1960-Rockmusik, um sich von Sam und ihrer Vergangenheit abzulenken. Heute abend jedoch lag irgend etwas in der Luft, das sie davon abhielt. Und außerdem »gab es kein Radio oder Fernsehen« nach neun Uhr. Heilige Grundregel der Harnishes, des Hausmeisters und seiner Frau, deren fundamentalistische Vorstellungen für das Instandhalten eines Apartmenthauses großartig waren, für Smalltalk allerdings tödlich.
Dawn saß in absoluter Stille, Tasse und Untertasse auf ihrem Schoß. Nach einer Weile fing sie an zu schluchzen. Arme Eloise! Sie nahm ein Kleenex, atmete tief und lehnte den Kopf zurück. Ein heulender Wind weckte sie um zwei Uhr morgens auf. Sie blickte aus dem Fenster in einen Wirbel, der aus Nordost kam. War noch immer jemand dort draußen und beobachtete sie? Sie verscheuchte den unbehaglichen Gedanken, kroch in ihr Bett und zog die Decke über ihren Kopf.