Es war nach
23 Uhr, als Dawn, nachdem sie geduscht
hatte, den Club verließ. Sie atmete einmal tief durch die Nase ein
- ihr eigenes primitives Thermometer. Als die feinen Härchen in
ihrer Nase gefroren, wußte sie, es waren beinahe minus zwanzig
Grad. Nach vier Versuchen hustete sich der Honda allmählich zum
Leben. Die Straßen zu ihrem Apartment waren fast völlig vereinsamt.
Die Leute saßen zu Hause vor dem Kamin. Sie fingerte ihre Post aus
dem Briefkasten. Sehr geehrter Mieter... Sie stieg die Treppen hoch
und dachte an Hectors Expreßaufzug. Vor ihrer Wohnungstür fühlte
sie eine unbestimmte Unruhe. So etwas wie Angst. Feierabendblues,
sagte sie sich. Sie schloß auf tastete nach dem Lichtschalter,
drehte eine Runde durch die Wohnung: Küche, Schlafzimmer, Bad und
zurück ins Wohnzimmer. Zack Keyman stand zwischen ihr und der
Wohnungstür - unrasiert, ungepflegt und bedrohlich.
»Dawn, ich will —« Sie schrie, wirbelte herum und stürzte nach hinten. Scheußliche Angst gab ihren Beinen Kraft, aber seine Hand auf ihrem Mund erstickte ihren zweiten Schrei. Sein anderer Arm umfaßte ihre Taille. Er zog sie brutal von der Tür weg. In ihrem panischen Hirn explodierte die frische Erinnerung daran, daß er sie beinahe erwürgt hatte. Sie trat ihn und versuchte, ihr Gesicht zu drehen, wollte in seine Hand beißen. Er hielt sie fest, seine Arme so stark wie Stahlseile. Sie konnte nichts machen.
»Hey, hab keine Angst«, hauchte er in ihr Ohr.
Sie war sich sicher, dieser Mann hatte die beiden Frauen im Club ertränkt. Sie wehrte sich mit all ihrer Kraft. Sie konnte sich nicht befreien! Schwäche überfiel sie. Er hatte sie in seiner Gewalt! O Gott, was würde er tun?
»Beruhige dich, Baby!«
Ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen. Seine ekelhafte Hand quetschte die zarte Haut ihres Gesichts; hielt es wie eine Zange. Zur Seite spähend, blickte sie in ein verschwommenes, verärgertes Gesicht. Sie fing an zu zittern und haßte sich für ihre Schwäche.
»Dawn, hab keine Angst. Ich will nur mit dir reden.«
Sie stöhnte fragend. Ihr jagender Atem zischte feucht aus ihrer Nase durch die beengenden Finger.
»Vergiß die Schreierei!«
Sie stöhnte wieder. Sobald er ihren Mund freiließ, würde sie lauter schreien, als es je einer von beiden gehört hatte. Vorsichtig minderte er den Druck. Sie füllte ihre Lungen. Ihre Nasenflügel bebten.
»Du denkst schon wieder ans Schreien«, flüsterte er. »Ich sage dir, es gibt keinen Grund dafür. Nicht einen. Alles, was ich will, ist, mich mit dir unterhalten.«
Ihre Knie zitterten. In ihre Panik schlichen sich plötzlich einige klare Gedanken. Er hatte ihr nicht wirklich Weh getan - noch nicht. Falls er das wollte, konnte sie nichts tun, um ihn davon abzuhalten.
»Kein Geschrei. Versprochen?« Sein Atem roch faulig. Sie nickte. Er ließ ihren Mund los, aber seine Hand lauerte noch nahe ihren Lippen.
»Was willst du?« fragte sie. Ihre Stimme ein bebendes Flüstern.
»Wie ich schon sagte, ich will mit dir sprechen.«
»Worüber? Läßt du mich in Ruhe?«
»Ich verspreche, mich zu benehmen, Dawn.«
Sie wollte in dieser Situation energischer sein. Ihn nicht spüren lassen, wie sehr er sie erschreckt hatte. »Versprich mir, daß du mir nicht weh tun wirst.«
»Versprochen.«
»Fein. Gut, Zack.« Sie machte ein paar Schritte zurück, schaute ihn an. Auf seinem unrasierten Gesicht lag eine Spur von Verwirrung. Er hatte neue Kleider nötig - und eine Dusche. »Erst habe ich einige Fragen an dich.« Würde sie damit durchkommen, das Kommando zu übernehmen? Kühn zu sein, war nicht gerade eine ihrer Stärken. Langsam entfernte sie sich rückwärts von ihm, hielt aber Augenkontakt. Ihre Knie fühlten sich fast wieder normal an. »Ich werde ehrlich mit dir sein. Ich spiele mit dem Gedanken, sofort die Polizei anzurufen oder wieder zu schreien. Also lass’ deine Hände weg von mir.«
»Du hast dich über nichts aufgeregt.« Sein gutaussehendes Gesicht versuchte sich in seinem normalerweise warmen Lächeln.
Gut auszusehen, war nicht alles - bei weitem nicht. »Ich glaube nicht, daß nach Hause kommen und einen Mann in meinem Apartment zu finden nichts ist; noch dazu, wenn dieser Mann mich beinahe erstickt hat und, soweit ich weiß, mir die Kehle durchschneiden oder mich vergewaltigen wird.«
»Dawn, an so was habe ich nie gedacht.«
Sie winkte ab. »Woher wußtest du, wo ich wohne? Wie bist du hier hereingekommen?«
»Ich verfolge dich, seit du mich gefeuert hast.« Sein schwaches Grinsen veränderte sich plötzlich zu einem finsteren Gesichtsausdruck.
»Warum?«
»Um herauszufinden, wo du wohnst und wann die beste Zeit ist, mit dir zu reden.«
Dawn holte tief Luft, lehnte sich gegen die Spüle. »Das ist... nicht gerade... sensibles Verhalten. Wie bist du reingekommen?«
»Bin letzte Woche bestimmt ein halbes Dutzend Mal die Kellertreppen raufgekommen. Habe das Schloß gecheckt. Habe verschiedene Schlüssel probiert, bis ich einen gefunden hatte, der funktionierte.«
Eine bleierne Schwere legte sich auf sie. »Ich verstehe. Meinst du nicht, es wäre einfacher gewesen, wenn du auf mich zugekommen wärst und -«
»Du weißt verdammt genau, daß du nicht mit mir gesprochen hättest! «
Sie schloß ihre Augen und atmete tief. »Also gut. Worüber willst du dich unterhalten? Beeil dich. Dann kannst du gehen.«
»Ich habe versucht, einen anderen Job zu finden, aber jeder will Referenzen haben. Ich wußte, daß du mir keine guten geben würdest. Und so... keiner will mich einstellen.«
»Und? Warum bist du hier - jetzt -, mitten in der Nacht? Was willst du von mir, Zack?«
»Ich will meinen Job wiederhaben.«
Sie sah ihn an, versuchte zu lesen, was wirklich in diesem mürrischen Gesicht vorging. In diesem Moment erkannte sie, daß er ein undurchsichtiges Spiel spielte. Wie ein Schachprofi, der die Wirkungen eines Zuges besser kannte als ein Amateur. Die einfachen Figuren waren Job und Arbeit. Die großen Rache und Mord.
»Zack, du bist nicht ehrlich zu mir.«
»Ich habe gesagt, ich will meinen Job wieder.«
»Ich nehme an, du wirst mir gleich sagen, du wußtest nichts davon, daß letzte Woche zwei Frauen im Club umgekommen sind.«
Wieder verzog er sein Gesicht.
»Nein, davon wußte ich nichts.«
»Das glaube ich dir nicht.«
»Na und?« Er runzelte die Stirn, jetzt möglicherweise aus Verwirrung. »Was hat deren Tod mit mir zu tun?«
Sie wog die weise Entscheidung, still und sicher zu sein, gegen die einer Konfrontation ab, um ihre hartnäckigen Zweifel an ihm zu testen. Sie ging ins Wohnzimmer und nahm den Telefonhörer ab, behielt ihn aber vorsichtig im Auge. Sie drückte eine neun und eine eins und drehte sich um.
»Ich bin dabei, die Polizei anzurufen. Ich werde dir sagen, was ich denke und dann zu Ende wählen. Du wirst mich nicht stoppen können.«
»Dawn -«
»Versuch’s nicht! Hör mir zu, Zack. Ich weiß, daß du Eloise St. Martin und Nicole Thurston umgebracht hast.« Sie wählte die letzte eins.
»Das habe ich nicht!« Seine grünen Augen weiteten sich. »Ich schwöre bei Gott, das habe ich nicht!«
»Ich weiß, daß du es getan hast. Du hast es getan, weil ich dich rausgeschmissen habe. Du hast es getan, um mir eins auszuwischen. Mir und dem Club.« Die Polizeizentrale meldete sich mit einem Anrufbeantworter.
Dawn stieß ihren Namen und ihre Adresse hervor. »Ich habe einen Eindringling in meiner Wohnung. Er heißt Zachery Keyman -«
»Jessas! Dawn, du bist verrückt geworden! « Er drehte sich um und griff nach seinem Mantel. Er hatte ihn hinter der Couch versteckt. Er riß die Tür auf und rannte hinaus. »Ich habe überhaupt niemanden umgebracht!« rief er, bevor er die Tür zuknallte.
Dawn sank langsam zu Boden. »Alles in Ordnung. Er ist fort«, sie atmete in den Hörer. »Aber er sollte verhaftet werden. Er ist ein Mörder -«
»Einen Moment bitte.« Sie wurde weiterverbunden. Nach einem langen Gespräch mit einem verständnisvollen Beamten überzeugte sie diesen, daß sie doch keinen Polizeibesuch nötig hatte und nahm sich noch zehn Minuten Zeit für eine detaillierte Beschreibung ihres Angreifers. Sie rammte einen Stuhl unter die Türklinke, obwohl sie davon überzeugt war, daß sie ihr Ziel erreicht hatte: Zack Keyman zu vertreiben. Sie hatte ihn wissen lassen, daß sie wußte, daß er für zwei Morde verantwortlich war. Bald würde er ein paar Sachen in einen Koffer werfen und, der Polizei um eine Nasenlänge voraus, aus der Stadt flüchten. Ab heute nacht würde er ein Flüchtling sein. Sie konnte nur hoffen, daß ihn das beschäftigt hielt, um SHAPE nicht noch mehr Ärger zu machen.
Schlafen? Nach dem Tag, den sie hinter sich hatte? Sie lag mit weit geöffneten Augen unter der Decke, hörte, wie der Wind um die Hausecken pfiff. Sie stöhnte und wälzte sich hin und her, während das Hirn ihr die langen Minuten mit Zack wieder vorspielte. Sie brauchte fast eine Stunde, um sich langsam den Nachmittag mit Hector wieder ins Gedächtnis zu rufen; was auch nicht tröstender war. Angesichts seiner Liebeserklärung, der verführerischen Angebote und ihres Machtkampfes hatte sie eine kleine Goldader gefunden, die sie schürfen und hegen würde: die Goldader der Selbsterkenntnis, entdeckt in den Tiefen ihrer Persönlichkeit. Der Club war ihr wichtiger als er. Außerdem hatte der Club plötzlich, in ihrer veränderten Lebenssituation, eine ganz neue Bedeutung bekommen. Einerseits war das eine Überraschung. Andererseits schien es unumgänglich.
Am nächsten Tag bekam sie im Club Besuch: Detective Morgan. Er hatte die Telefonprotokolle eingesehen und war dabei auf ihren Namen gestoßen.
»Dieser Keyman ist der, von dem Sie schon mal erzählt haben, oder, Dawn?«
Nach dieser aufregenden Nacht war sie in keiner geduldigen Stimmung. »Genau der, von dem sie behaupten, Sie würden eine Ewigkeit brauchen, bis sie ihn befragen, Detective Morgan.«
»Das ist nicht genau das, was ich gesagt habe.« Sein säuerliches Gesicht erhellte sich durch ein grinsendes Zucken um seinen rechten Mundwinkel. »Warum erzählen Sie mir nicht, was gestern nacht vorgefallen ist?« Sie erzählte. Sein kleiner Rekorder lief. Als sie zu Ende war, nahm er sich einen Moment Zeit, um sich am Kopf zu kratzen. »Sehr nett, daß sie so schnell dabei sind, jemanden einen Mörder zu nennen. Insbesondere, wenn gar kein Mord vorliegt.«
»Meine Intuition sagt mir etwas anderes, Detective Morgan.« Und Hector hatte es auch getan, erinnerte sie sich.
»Sie können mich Monty nennen. Ich bin keiner von der formellen Sorte. Keyman hat sich also ziemlich aufgeregt wegen Ihrer Anschuldigung?«
»Er ist weggerannt.«
»Morgan nickte. »Wenn er noch mal in Ihrem Apartment oder Club auftaucht, sagen Sie mir Bescheid.«
»Sie fangen also an, mir zu glauben?« sagte Dawn.
Er stand auf. »Lassen Sie es mich so ausdrücken: Keyman treibt langsam an die Oberfläche der dunklen See polizeilicher Aufmerksamkeit.«
Dawn lächelte. »Sie haben ja sogar eine poetische Ader.«
Er verbeugte sich leicht. »Bin ein versteckter Dichter. Nach dem Gesetzbuch ist das nur ein leichtes Vergehen. Auf Wiedersehen.«
Kurz nach Mittag kamen Jeff und Beth im Büro vorbei. »Zweites offizielles Treffen der Dawn-Patrouille«, sagte Beth. »Wir sind hier, um nach dem Rechten in deinem Leben zu sehen und eine Ablenkung für heute abend vorzuschlagen.«
Dawn blickte sofort zu Jeff. Seit der frustrierenden Nacht mit den Blumen hatte er kein Wort mit ihr gesprochen. Er zwinkerte ihr zu. Sie war aber nicht sicher, was das bedeutete. Eine angenehme Wärme hatte ihre Brust erfüllt, als sie ihn sah. Mehr denn je wollte sie diese Beziehung vertiefen. Zur Hölle mit Hector und seinen dreihundert Blumen! Sie beschlossen, sich in Beths Wohnung zu ihrer ersten privaten Truffaut-Retrospektive zu treffen. Mit der Zeit wollten sie alle seine Filme anschauen, oder zumindest die Videos, die man an Ort und Stelle ausleihen konnte.
»Ich liebe französische Filme!« Beth lächelte. Ihre blauen Augen leuchteten in ihrem herzförmigen Gesicht. Es war Dawn, als habe ihre Freundin eine Schönheit, die auf Kommando sichtbar wird - sie schlich sich an einen heran, wenn man es am wenigsten erwartete.«
»Jeff holt dich um sechs Uhr von hier ab. Lange arbeiten ist heute nicht drin, Boß. Ich werde chinesisch kochen - kommt nicht jeden Tag vor, glaub mir.«
Als Peter kam, ging sie sofort zu ihm, um mit ihm zu sprechen. Bevor sie auch nur ein Wort sagen konnte, i erzählte er ihr, Glassman habe einen Blick in die Thurston-Klage geworfen. Er sei dabei geblieben, daß ihnen höchstwahrscheinlich nichts geschehen würde. Glücklicherweise habe die Presse die beiden Fälle ignoriert.
»Wir haben sturmfreie Bude, D.G.!« sagte er
»Nicht bevor Zack Keyman im Gefängnis ist«, murmelte sie. Sie berichtete ihm von Zacks furchterregendem Besuch in ihrer Wohnung. Er verstand ihre Angst, war aber sicher, daß weder von Zack noch von jemand anderem ein Mord begangen worden war. In den frühen Zeiten ihrer Partnerschaft hatte sie ihm ohne Unterbrechung zugehört, auch wenn sie nicht seiner Meinung war. Aber die Geschehnisse des gestrigen Tages und ihre neuentdeckte Selbsterkenntnis hatten ihr inneres Gleichgewicht ins Wanken gebracht. »Ach Peter, du bist wahrscheinlich der Schlauere-! Wirklich! Ich bin jetzt nur zu beschäftigt, um in Details zu gehen, warum.«
Seine Augen weiteten sich. »Hey! Was ist los?«
»Ich bin mir nicht sicher, Neunmalklug. Vielleicht das Ende der Geduld.«
»Sitzung vertagt«, sagte er.
Um sechs Uhr kam Jeff ins Büro. Er schlug vor, zu Beths Wohnung zu laufen, nur sieben Ecken weiter. »Die Nacht ist frisch und klar«, sagte er. Sie war einverstanden, froh über die Möglichkeit, mit ihm eine Weile alleine zu sprechen.
»Jeff, ich möchte dir gerne das mit den Blumen neulich Nacht erklären«, sagte sie.
»Das mußt du nicht. Wirklich.«
»Ich denke doch.« Sie fing an und merkte, daß sie ihm eine lahme Geschichte auftischte, mit so großen Löchern, daß eine Boeing 747 hätte durchfliegen können. Aber anstatt den Mund zu halten, machte sie es noch schlimmer, indem sie versuchte, die Löcher zu füllen, zu erklären, ausführlicher zu erläutern. Sie verzettelte sich total. Sie liefen auf einem schmalen Bürgersteig, vorbei an Schaufenstern. Die Stadtreinigung war fleißig gewesen. Die aufgehäuften Schneeberge vor ihrem Wohnhaus paßten nicht zu diesem Geschäftsviertel. Deshalb war es auch für Hectors Limousine so leicht, wurde ihr später klar, kurz vor ihnen auf den Bürgersteig zu brausen, bevor sie merkte, was eigentlich vor sich ging.
Hector kletterte gewandt aus dem hinteren Teil des Wagens und stand vor ihnen, auf dem vom Neonlicht der Geschäfte beleuchteten Bürgersteig. Er trug einen teuren Kamelhaarmantel und einen russischen Zobelhut. Jeff beachtete er kaum. Seine Augen funkelten sie an. Sie verlangsamte ihren Schritt zögernd.
»Dawn, ich kann deine Dummheit wirklich nicht akzeptieren.« Er machte einen Schritt auf sie zu. Sie konnte jetzt sehen, daß seine Augen gerötet waren, seine normalerweise tadellose Frisur zerzaust war. Hatte er ihretwegen geweint?
»Welche Dummheit?« fragte sie.
»Mit mir zu spielen, bevor du endlich tust, was du tun solltest - mit mir zu kommen.«
Sie errötete. »Hector, das hier ist der Masseur vom Club -«
»Ich will dich und ich liebe dich! Ich habe das Gefühl, du glaubst mir nicht.«
»Hier ist weder der Ort noch die Zeit, um wieder davon anzufangen!«
»Ich wette, das hier ist unser Blumenkind«, sagte Jeff. »Der Hang zur Übertreibung ist nicht zu übersehen.«
»Halt mich nicht zum Narren, Junge.« Hectors Blick streifte kurz Jeffs hagere Gestalt. »Ich bin jetzt, mehr denn je, der Mann, dem man sich nicht entgegenstellen sollte.« Er ergriff Dawns Arm. »Meine Liebe, daß ich mich verhalte, wie ich es tue, müßte dir klarmachen, daß ich die Wahrheit sage - und daß Aufrichtigkeit und Dauerhaftigkeit hinter meinem Angebot stehen.«
Sie krümmte sich innerlich. Es gab keinen Zweifel. Über die Monate hatte er sich eine Nische in ihrem Herzen erobert. Aber jetzt ging alles so entsetzlich schief. »Hector, nein. Bitte - geh!«
Er versuchte zu flüstern, sich an einen Strohhalm ihrer Vertrautheit zu klammern. Aufgeregt wie er war, kamen seine Worte in einem erstickten Bariton hervor. »Ich habe ein Bankkonto für dich eröffnet. In meiner Tasche habe ich zwei Tickets nach Sint Maarten. Man hat mich in die Villa eines Freundes eingeladen. Wenn wir wiederkommen -«
»Nein, Hector. Nein! Ich habe dir doch gesagt, ich werde beim Club bleiben.« Sie versuchte, ihren Arm loszureißen.
Sein Gesicht verdüsterte sich. »Hast du es denn noch nicht begriffen, Dawn? Der Club ist am Ende! « Er deute auf die offene Limousinentür. »Dein Schicksal liegt dort. Bei mir!« Er zog sie Richtung Wagen.
»Hector, nein! Laß mich los!«
Sie war sich nie richtig im klaren darüber gewesen, was Jeff dann getan hatte. Was - ganz plötzlich - geschah, war dem nicht unähnlich, was sie im >Kung-Fu-Theater< gesehen hatte. Nur erschreckend flinker! Jeffs Hände peitschten gegen Hectors Hals - ein, zwei, drei Viper-Schnell-Schläge. Der ältere Mann taumelte. Dann schnappten ihn Jeffs Hände und schleuderten ihn in den Wagen. Jeff schlug die Tür zu.
»Fahr weiter, James!« rief er. Dawn hielt er seinen Arm hin. Lass’ uns gehen«, sagte er.
Schweigend eilten sie weiter. Dawns Ohren waren geschärft, weil sie noch Hectors bellende Stimmer erwartete. Als es ruhig blieb, blickte sie zurück. Die Limousine stand unbeweglich. Was auch immer hinter den dunklen Scheiben vor sich ging, es hatte nichts mit Verfolgung zu tun. Sie schämte sich, daß sie im Aufruhr anderer Gefühle auch die süße Gewißheit spürte, begehrt zu werden. Alles zwischen ihr und Hector veränderte sich. Das gab ihr Hoffnung, daß sie ihm wahrhaftig entkam.
»Willst du drüber reden?« fragte Jeff.
»Das ist genau das, worüber ich vorhin schon gequatscht habe. Warte, bis sich die ganze Dawn-Patrouille versammelt hat. Dann werdet ihr alles erfahren.« Ihre Stimme klang unsicher.
»Wie du willst.«
Sie blickte fragend zu ihm hoch, lächelte. »Du hast nicht nur Religion in Asien studiert, oder?«
Er grinste. »Hin und wieder brauchte ich eine kurze Zerstreuung von der höheren Gedankenwelt und den geistigen Disziplinen. Ich widmete mich einer anderen Disziplin: Kampfsportarten.«
Den Rest des Weges bis zu Beths Apartment gingen sie Hand in Hand. Beth hatte eine scharfe italienische
Knoblauchsauce zubereitet, die sie mit rohem Gemüse als Vorspeise servierte. Obwohl die Grogs nicht stark waren, stiegen sie Dawn schnell zu Kopf. Das machte es leichter, die Geschichte von Hector und ihr zu erzählen. Sie handelte alles ab, vom ersten Zusammentreffen über die Platinkette bis hin zu diesem Abend. Sie verhielten sich wie gute Freunde, hörten kommentarlos zu.
Als sie endlich zum Ende kam, sagte Beth sanft: »Ich kann ihn irgendwie verstehen. Du hast ihm was vorgemacht, und jetzt willst du ihn wie eine heiße Kartoffel fallen lassen.«
Dawn schüttelte den Kopf. »Nein, Beth. So war es nicht. Was wir zusammen hatten, war echt. Nur - naja, die Dinge ändern sich eben.«
Jeff nahm seine Nickelbrille ab, putzte sie.
»Hector scheint nicht gerade der Typ zu sein, der aufgibt - egal was.«
»Meine Worte!«
Beth war während Dawns dramatischer Erzählung blasser geworden. »Vielleicht solltest du einfach mit ihm gehen. Ich würde es tun.« Sie kicherte und schaffte es, fünf Jahre jünger auszusehen. »Nicht wirklich. Ich bin so sauer auf ihn wie du.« Dawn lächelte. »Danke. Ich sehe es. Aber auf ihn sauer zu werden, ist reine Energieverschwendung. «
»Wut aus Solidarität«, sagte Beth. »Das ist es.«
Sie aßen, sahen Jules und Jim und spielten Trivial Pursuit. Beth brauchte keine Führung zu machen: Sie konnten das ganze Studio-Apartment vom Tisch aus sehen. Es war stilvoll möbliert. Einige der Möbel und einige der Wandbehänge sahen teuer aus. Als Dawn sie lobte, sagte Beth: »Reliquien der glorreichen Tage meiner Computerkarriere.« Jeff war zu gut für sie im Trivial Pursuit. Beth und Dawn verbündeten sich, konnten ihn aber trotzdem nicht schlagen.
»Wieder ein Nagel im Sarg der Frauenemanzipation«, sagte er mit unbewegtem Gèsicht. Er widerrief solange nicht, bis beide hüpfend auf seiner Brust saßen. Nach einem aufregenden Dreier-Ringkampf endete ihr gemeinsamer Abend.
Die Temperatur war gefallen. Jeff und Dawn liefen schnell zum Parkplatz des Clubs zurück.
»Es tut mir leid, daß du eine Rolle in der Hector-Dawn-Saga spielen mußtest«, sagte sie.
»Kein Problem.«
»Wie auch immer, danke für deine Hilfe. « Sie schaute ihm in sein halb verdecktes Gesicht. »Ich hoffe nur, daß du mich vielleicht - besser verstehst?«
»Du hast eine Menge offener Enden in deinem Leben. Es scheint mir, als müßten sie entweder festgebunden oder abgeschnitten werden.«
»Was heißt das für uns beide? Zusammen, meine ich?« Der Wind blies bitterkalt. Er rückte seinen Kragen zurecht, hob seine Schultern. Ihr Nasenthermometer sagte, es mußte unter minus zwanzig Grad sein.
»Harte Zeiten stehen bevor«, antwortete er.
»Was soll denn das heißen? « Er irritierte sie ein wenig.
»Du hast Hector und du hast SHAPE. Oder wenigstens die Hälfte davon.«
»Und?«
»Du müßtest wissen, daß bald noch mehr Ärger in deinem Schoß landen wird.«
»Wahrhaftig? Wie kannst du dir da so sicher sein? Ich Staube, das Schlimmste ist vorüber.«
»Ich nicht.«
»Warum nicht? Hast du auch Hellsehen im Osten studiert?«
»Intuition, glaube ich. Nichts, was ich offiziell studiert habe.«
»Du denkst also, Zack kommt wieder und - bringt noch jemanden um?« Sie sah ihn an, wartete auf eine Antwort.
Er schüttelte nur seinen Kopf.
»Jeff!«
»Willst du den Rest des Weges joggen? Ich friere.«
Im Bett, in der Nacht, dachte sie über ihre Schwierigkeiten nach. Sie trugen das Gesicht von Zack Keyman. Sie hatte vergessen, den Schlüsseldienst anzurufen, um die Schlösser ihres Apartments auswechseln zu lassen. Sie konnte sich nicht helfen, aber sie hatte das Gefühl, daß Zack lauerte. Bereit, zu... was? Sie stöhnte und preßte ihr Gesicht ins Kissen. Sie wußte, zu was. Um wieder zu morden.
Am nächsten Morgen im Club sah sie Hector beim Training. Sie beschäftigte sich woanders. Hoffte, daß er den Club ohne eine Wiederholung des Zwischenfalls von letzter Nacht verlassen würde. Es war so seltsam, ihn als Mitglied zu haben! Eine Stunde später ging sie an die Bar, um einen Saft zu trinken. Vorne, in der Lobby, sah sie Hector. Beth stand ihm zornig gegenüber. Ihre Gesten und ihr Gesichtsausdruck verrieten Dawn, daß sie aufgeregt war. Auch wenn sie ihre Worte nicht hören konnte. Plötzlich drehte er sich auf seinem Absatz um und verschwand.
Dawn eilte zu Beth. »Was war denn los?«
Beths hohe Wangen waren rot. »Ich hatte beschlossen, ihm deinetwegen meine Meinung zu sagen.«
»Beth! War das klug? Ich glaube nicht, daß du dich einmischen solltest!«
«Ich konnte mich nicht beherrschen.« Sie drückte eine Handfläche an ihr Gesicht. »Ich glaube, ich habe ihn mir zum Feind gemacht.«
»Meinetwegen? Das war nicht nötig, Beth. Wirklich.«
»Ich habe mich einfach hinreißen lassen. Tut mir leid!« Sie drehte sich um und stolperte davon.
Dawn ging ans Geländer. Unten sah sie Hector aus dem Club stürmen. Sie wußte, er würde wiederkommen - um sie zu sehen. Sie hatte ihn noch nie so außer sich gesehen wie letzte Nacht. Heute fühlte sie sich deshalb mehr verängstigt als geschmeichelt. Sie schaute hinunter auf die Gruppe tropischer Pflanzen. Ein Frösteln schüttelte sie, als ob ein Hauch Winterluft den Zement, die Isolierung und die warme Luft durchdrungen hätte. Was in Himmels Namen würde ihr passieren?
Ihr Telefonpieper meldete sich. Sie eilte zum Apparat. Der Anrufer war Zack Keyman. Sie schloß ihre Augen, erinnerte sich an seine starken Hände. Früher hätte sie sich nicht getraut, seinen Anruf engegenzunehmen. Jetzt... naja, es war klüger, mit dem Teufel zu sprechen, als sich vorzustellen, was er als nächstes vorhatte. Dieser Teufel war fleißig gewesen. Erst hatte er einen Anwalt aufgesucht. Er würde Klage erheben, um seinen Job wiederzukriegen und wegen der Diffamierung; immerhin war er zweier Morde bezichtigt worden. Unwissentlich lieferte er gute Nachrichten mit: Die Polizei hatte ihm einen Besuch abgestattet, auf Dawns Veranlassung. Also war auch das Teil der Klage. Schlimm genug, nahm sie an. Aber er hatte noch mehr auf Lager: »Ich habe auch deinen Partner, Peter Faldo, angerufen. Ich habe ihm gesagt, was du mit mir zu machen versuchst. Daß du einen Knall hast. Er sagte, er würde mit dir sprechen.«
»Oh?«
»Und daß vielleicht die Chance für mich besteht, meinen Job wiederzukriegen.«
»Hör mir zu, Zack. Hör mir gut zu! Es besteht nicht die geringste Chance, daß du wieder eingestellt wirst. Keine! Verstanden? Sag das deinem Anwalt!« Sie legte auf.
Peter war noch nicht da. Wahrscheinlich hatte er wieder den Schürzenjäger gespielt. Mein lieber Gott, wurde sie aber kritisch: Ihr eigenes Leben setzte ihr auch nicht gerade einen Heiligenschein auf. Sie war gereizt. Sie wollte sich endlich mit ihm offen über Zack aussprechen. Als sie sich beruhigt hatte, merkte sie, daß ihr Vorsatz und ihre Energie schwächer wurden. Wahrscheinlich würde sie Kompromisse schließen. Sie kannte sich zu gut: Miss Formbar.
Peter kam diesen Freitag nicht in den Club. Er rief die Rezeption an, um Bescheid zu sagen. Er hatte eine leichte Grippe und versuchte, sie zu kurieren, bevor es ihn richtig erwischte. Sie rief ihn in seiner Eigentumswohnung an, aber dort war er nicht. Offensichtlich bekämpfte er die Grippe nicht allein. Schlecht gelaunt beschloß sie zu bleiben, um Papierkram zu erledigen und danach zu trainieren. Beides mit der Absicht, ihren Seelenzustand aufzubessern. Gegen 20 Uhr machte sie eine Pause und fand Beth im Trainerraum. Sie sprach mit einem Mitglied über ein effektives Diät- und Trainingsprogramm. Dawn lud ihre Freundin zu einem Glas Saft ein. Sie schlenderten zur Bar und kamen beim Büro vorbei. Aus ihrem Augenwinkel beobachtete Dawn eine flüchtige Bewegung. Sie sah Zack Keyman um eine Ecke verschwinden. Sie rannte hinter ihm her, rief seinen Namen. Beth folgte. »Was ist denn los?« fragte sie.
»Zack Keyman ist verboten worden, dieses Gebäude zu betreten«, rief Dawn über ihre Schulter, während sie zur Treppe sprintete. »Was hast du hier verloren?« rief sie die Treppen hinunter. Stop, Zack! Bleib stehen und antworte, oder ich rufe die Bullen!«
»Dawn, um Himmels willen. Beruhige dich.« Beths kurze Beine flitzten, um mit ihr mithalten zu können.
»Nicht bis - Zack, Stopp!« Sie hatte ihn aus den Augen verloren. Sie bat zwei Ausbilder, ihre Gruppen zu verlassen und suchen zu helfen. Nach einer halben Stunde waren sie überzeugt, daß er durch einen der Notausgänge im ersten Stock entkommen sein mußte. Da sie sich noch immer unbehaglich fühlte, ließ sie bei der geduldigen Beth ihre Sorgen ab. »Ich bin ganz verzweifelt, weil ich weiß, daß er jemanden töten wird.«
»Dawn, du solltest nicht von Mord reden. Es hat keine Morde gegeben. Nur zwei Unfälle. Vergiß deine wilden Eingebungen, und du wirst eine glückliche Lady sein.«
Am Montagmorgen stürzte sich Dawn auf Peter, sobald er zur Tür hereinspazierte. Sie schloß die Tür hinter ihm. »Zack Keyman!« sagte sie.
»Ja, er ist in dein Apartment eingebrochen. Was gibt’s sonst noch?«
»Er hat mich angerufen. Er wird mich verklagen. Und SHAPE. Dann habe ich ihn dabei erwischt, wie er neulich nachts im Club herumgeschnüffelt hat. Er war fort, bevor ich herausfinden konnte, was er vorhatte.« Sie stieß ihm ihren Zeigefinger entgegen. »Peter, am Telefon hat er gesagt - ich kann es kaum glauben, wirklich nicht - daß du ihm gesagt hast, wir würden ihn vielleicht wieder einstellen.«
»Ich habe auch von seiner Klage erfahren, D.G.« Im kleinen Wandspiegel kontrollierte er Kragen und Krawattensitz. »Ich habe ihn ein bißchen abgekühlt. Vor allem wegen deiner Überreaktion -«
»Meiner Über...«
»Du hast mich gehört. Du bist mit deinen Verdächtigungen zu weit gegangen. Zack kann ziemlich dusselig sein. Das mußt du berücksichtigen.« Er fuhr fort, Beispiele von Zacks Dummheit aufzuzählen. Trotz ihres schwelenden Grolls saß sie nur da und hörte zu, wie sich ihr Partner für den Mann einsetzte. Als ob der kein gewalttätiges Monster war, das sehr wohl das Temperament eines Mörders hatte. Dann kam Peter auf die Gründe zurück, warum eine Wiedereinstellung durchaus möglich wäre. Je länger er redete, desto nervöser wurde sie. Warum sagte sie es ihm nicht? Wie immer bekam sie nicht die Chance.
Es hatte eine weitere Tragödie gegeben. Karl Clausman klopfte an die Tür und stieß sie auf. »Ärger im Sonnenstudio«, sagte er. »Wir haben den Krankenwagen gerufen.«
Sie rasten ins Erdgeschoß, wo die beiden Sonnenbänke in einem aufgeteilten Raum standen. Eine Menschenmenge hatte sich versammelt - die Anziehungskraft schlechter Nachrichten.
»Oh Gott!« Dawn holte Luft. Der Geruch! Genauso, erinnerte sie sich, wenn sie sich als kleines Mädchen ein paar Haare an der Flamme einer Kerze versengt hatte. Der Geruch verbrannten Fleisches hatte Aufmerksamkeit erregt. Sie schnappte Gesprächsfetzten auf, hörte, daß jemand in der Sonnenbank eingeklemmt worden sei. Als sich der Deckel nicht öffnen ließ, hatte jemand den Starkstromstecker gezogen. Der Notdienst kam und kämpfte sich einen Weg durch ein Dutzend Schaulustiger. Sie fackelten nicht lange an dem Riegel herum. Dawns Finger krallten sich in Peters Oberarm. Die Sonnenbank war lang und eng. Eine Raumfahrtmuschel aus Plastik und Metall.
»Zurücktreten!« brüllte einer der Mechaniker, »wir werden den Deckel öffnen.« Einige Frauen in der Menge wandten sich ab. Dawn konnte es nicht. In ihrem Kopf herrschte ein wildes Durcheinander von an Panik grenzender Furcht. Ein Mann des Notdiensttrupps stand mit einer Decke bereit. Der Deckel öffnete sich, begleitet von einem Chor des Stöhnens und von zwei schrillen Schreien. Dawn sah schwarzes Fleisch. Dann senkte der Mechaniker glücklicherweise die Decke. Die zwei anderen beugten sich über die verbrannte Frau. »Sie lebt noch«, sagte jemand, »wo bleibt denn der verdammte Krankenwagen?«
Innerhalb von Minuten war er da. Die Männer trugen eine Bahre. »Ich begleite sie«, sagte Peter. »Schaff die Leute hier raus! Mach diesen Teil des Gebäudes zu! « Dawn nickte. Sie schluckte, um gegen die Übelkeit anzukämpfen. Er beugte sich zu ihr und flüsterte in ihr Ohr: »Mit den Bullen wirst du dich auch rumschlagen müssen.«
Nachdem die Frau weggetragen worden war, beförderte sie alle hinaus. Es dauerte nur Minuten, bis die Neuigkeit im ganzen Club die Runde gemacht hatte. Sie führte zu hellster Aufregung. Sie überprüfte den Sonnenbankplan. Chantelle Carson hatte sich eingetragen - o Gott -, vor zwei Stunden. Sie lehnte sich Segen die Wand, bedeckte ihr Gesicht mit ihren Händen. Plötzlich war der Geruch zu viel für sie. Sie flüchtete zur Damentoilette. Kurz davor würgte sie schon.
Als sie herauskam, mit säuerlichem Geschmack im Mund und verschwitzt, war sie nicht in bester Verfassung. Sie ging zum Telefon und wählte. »Beth, kannst du mir helfen?« Beth kam aus dem Trainerraum, voller Fragen. Ein Blick in Dawns Gesicht und ein Schnüffeln in der Luft ließen sie verstummen. »Was kann ich tun?« fragte sie sanft. Sie machten ein Schild - Solarium bis auf weiteres geschlossen. Dawn benutzte den Hauptschlüssel, um die Tür abzuschließen. Sie zitterte, als sie in den Fahrstuhl stiegen. Beth fragte, ob sie Gesellschaft brauche. Im Moment nicht. Sie ging allein zurück zum Büro, starrte stumm in die fragenden Augen vorbeigehender Mitglieder. Sie sank auf ihren Schreibtischstuhl. Noch stärker als ihr Kummer und ihre Sorge um Chantelle Carson, die sie nicht einmal persönlich kannte, war ein Gedanke, so häßlich wie eine offene Wunde: Zack Keyman hatte wieder zugeschlagen.
Zwanzig Minuten später erreichte sie ein Anruf von Detective Morgan. »Vor einer Weile haben wir einen Anruf erhalten. Phyllis Melaney dachte, wir sollten darüber informiert werden, daß bei euch drüben jemand verbrannt ist. Sehr entgegenkommend von ihr, finden Sie nicht?«
Phyllis, Anführerin der Viererclique, die jetzt wahrscheinlich nahe dran war, ihre Mitgliedschaft aufzukündigen - und lautes Geschrei darum zu machen. Konnte sie es ihr verübeln?
»Ich würde gerne rüberkommen und mit Ihnen sprechen, Dawn.«
»Sie glauben nicht, daß es ein Unfall war?« Sie wußte, wie albern das klang. Aber sie mußte es trotzdem sagen; besonders dem Mann, der ihr versichert hatte, die beiden anderen Tode seien Unfälle gewesen.
»Ich bringe einen Protokollführer mit - und vielleicht einen vom Labor. Wenn ich einen kriege. Sie halten jeden von der Sonnenbank fern, hören Sie? Bis gleich.«
Dawn setzte sich und versuchte, sich zusammenzureißen. Sie hatte nicht viel Glück damit und war froh, als Morgan auftauchte. Als sie ihm den Weg zu den Sonnenbänken zeigte, mußte sie sich widerwillig eingestehen, daß sie sich langsam an sein faltiges Gesicht gewöhnte. Unter all den Falten sah sie jetzt etwas Neues: einen Funken von Interesse in seinen dunkelbraunen Augen. Konnte sich unter dieser müden, bürokratischen Schale ein heimlicher Sherlock Holmes verbergen? Er faßte nichts an, bat sie aber, ihm zu erklären, wie die Sonnenbank funktionierte. Als sie fertig war, murmelte er: »Schlecht für die Haut.«
»Das würden Sie nicht zu sagen wagen, wenn Sie Chantelle gesehen hätten!« Plötzlich war sie den Tränen nahe. Und weinte schließlich.
Er knurrte. »Lassen Sie uns von hier verschwinden. Schließen Sie wieder ab. Der Typ vom Labor kann nicht vor morgen kommen.« Wieder im Büro, stellte er eine stämmige Frau mit schwarzer Hornbrille und charmantem Lächeln vor. »Miss Darlene Sopht wird Ihre Mitglieder- und Angestelltenliste kopieren.«
»Aber...«
»Wir können einen Gerichtsbeschluß und all das besorgen, wenn es nötig ist. Wenn Sie einfach nur Ihr Ja geben, macht es uns das viel leichter.«
»Warum wollen Sie sie haben?« fragte sie. Morgan setzte sich, lehnte sich zurück. Verschränkte seine Arme hinter seinem Kopf. »Damit wir zu prüfen anfangen können.«
»Was?«
»Das fragen Sie?« Er grinste. »Dieses und jenes. Sie wissen schon.«
»Warum sich anstrengen? Verhaften Sie Zack Keyman. Dann sparen Sie das Geld der Steuerzahler.«
Er drehte sich um und betrachtete die gerahmten Poster an den Wänden des Büros, konzentrierte sich auf eines, das ein muskulöses Mädchen in einem knappen Turndreß zeigte. Er sprach, mit dem Rücken zu Dawn: »Die Frau, die gerade verbrannt ist - Chantelle Carson -, war sie eine von denen, die sich über Zacks Fummelfinger beschwert hat?«
»Nun ja... nein. Es gab nur zwei. Sie sind beide tot.«
Er seufzte. »Wissen Sie, Dawn, ich habe mit Ihrem Kumpel Zack gesprochen.«
»Er erwähnte, daß er eine Unterredung mit der Polizei hatte.«
»Er ist unzurechnungsfähig, wissen Sie«, sagte Detective Morgan.
»Natürlich ist er das. Und -«
»Aber ist er keiner von der Sorte unzurechnungsfähiger Krimineller?«
»Ich habe ihn Freitag nacht im Club herumschnüffeln sehen!«
Der Detective drehte sich herum. »Ach, das ist ja interessant.«
»Ich hoffe, Sie finden es genauso interessant, daß er mir in seinem Auto und zu Fuß gefolgt ist, in meine Wohnung eingedrungen ist, mich angegrapscht und mich fast zu Tode erschreckt hat.«
»Olle Kamellen. Wissen Sie was? Ich glaube, es ist an der Zeit, daß ich mal ein Schwätzchen mit Ihrem Partner halte. Wie steht’s?«
Peter rief am späten Nachmittag aus dem Krankenhaus an. Chantelle Carson war gestorben, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Dawn hielt den Hörer mit gefühllosen Fingern, tränenüberströmt, mit steigender Besorgnis. Jetzt wurde es ernst.
Am frühen Dienstag morgen wurde das Leben komplizierter. Eine Reporterin vom Dispatch, in einem modischen Kostüm und mit einem Kassettenrecorder in der Hand, meldete sich an der Rezeption. Natürlich war Peter noch nicht da. So mußte Dawn sich alleine um Miss DiNotello und ihren himmelschreienden Ehrgeiz kümmern. Sie fing clever an. »Das Blatt hat mehrere anonyme Anrufe bekommen, daß hier drei Frauen umgebracht worden sind.« Von Anfang an in der Defensive, fing Dawn an zu erklären, daß Eloise und Nicole schlicht und einfach die deutlich beschriebenen Sicherheitsregeln mißachtet hätten. Die Polizei habe die Sonnenbank untersucht. Weil sie mit Gewalt geöffnet worden sei, könne niemand mit Sicherheit sagen, ob sie einfach nur nicht richtig funktioniert habe und ob Chantelle, bevor sie um Hilfe rufen konnte, das Bewußtsein verlor. Miss DiNotello solle doch verstehen, daß absolut kein Beweis für ein Verbrechen vorliege.
Miss DiNotello war aufmerksam und mitfühlend. Dawn würde es sicher nichts ausmachen, wenn sie mit Clubmitgliedern spräche, oder? Während Miss DiNotello energisch in das Clubinnere schritt, hoffte Dawn, daß das, was sie schreiben würde, nicht allzu gechäftsschädigend sein werde. Es gab keinen klaren Beweis dafür, daß irgendwer ermordet worden war - trotz ihrer persönlichen Zweifel.
Ein Pfarrer kam in die Anmeldung und fragte nach dem Manager. Er war klein und mager; seine Hände schmal und sehr weiß. Pfarrer Harold war Chantelles einziger lebender Verwandter. Die ganze Zeit über, in der er über Gottes unergründliche Wege sprach und die Notwendigkeit, sie zu ertragen, bis sein Plan deutlich sei, sogar wenn dies erst im Himmel offenbart werde, hatte Dawn Tränen in den Augen. Während dieser spirituellen Erklärungen drehten sich ihre Gedanken - Schande über sie - einzig und allein um weltliche Angelegenheiten. Der Club würde zum zweitenmal um eine Klage herumkommen. Sie antwortete Pfarrer Harold auf seine Fragen, wie seine Schwester gestorben sei. Er verabschiedete sich mit gesenktem Haupt. Angesichts seines Leidens und seiner stoischen Duldsamkeit brach Dawn schluchzend zusammen. Arme Chantelle!
Bis elf Uhr hatten sieben Mitglieder beschlossen, aus dem Club auszutreten. Inzwischen war Peter gekommen. Er machte ihnen klar, daß der Vertrag sie dazu verpflichtete, die Zahlungen für die abgeschlossene Zeit der Mitgliedschaft zu leisten. Auch wenn sie den Club nicht besuchten. Nein, das war kein Betrug. Das war allgemein gängige Verfahrensweise. Dawn ging im Club umher. Kein Zweifel, viele Mitglieder hatten ihr Training abgesagt. Die Besucherzahl war so gering wie am Anfang, als sie und Peter den Club gerade übernommen hatten. Ihr Herz sank. Ihr ehemaliger Geliebter, Sam Springs, und seine jetzige Flamme, Dinah, aßen zu Mittag. Bevor sie sie entdeckte, hatten sie schon ihr Sandwich bestellt. Sie setzten sich an ihren Tisch. Sam war ein einziges großes Grinsen. Dawn fragte ihn, worüber er so froh sei, verkniff es sich aber, ihn zu fragen, ob das sein manisch-depressives Verhalten war. »Habe gehört, Grübchen, daß du ein neues Todesopfer zu beklagen hast«, sagte er.
»Würde es dir was ausmachen, mich nicht so zu nennen?« Dawn starrte ihn feindselig an.
»Entschuldigung! «
»Ein neuer Todesfall macht dich also glücklich, Sam?« Dawn konnte die Schärfe in ihrer Stimme nicht verbergen. »Was dagegen, wenn ich frage, warum?«
»Werde ich dir eines Tages sagen.« Er grinste. »Und ziemlich bald.« Verärgert trug Dawn ihr Sandwich ins Büro. »Rätselmann« hatte sie ihn genannt, als sie noch zusammenlebten. Eine Figur aus einem Comic-Heft, das sie einmal aufgestöbert hatte. Ihn so zu nennen, hatte ihn auch nicht von seiner widerlichen Angewohnheit abgebracht. Das würde es auch jetzt nicht, selbst wenn sie wieder anfangen würde, darauf herumzureiten. Wie gut es war, ihn nicht mehr in ihrem Leben zu haben. Oder war er es doch?
Sie erhielt einen Anruf von einem gewissen Doktor Paulsen. Er entpuppte sich als Zack Keyman. Sie starrte den Hörer an, war wie gelähmt. Worte lagen ihr auf der Zunge und verschwanden wieder. Egal, was Detective Morgan behauptete, sie wußte, dieser Mann am anderen Ende hatte drei Frauen ermordet. Und er lief immer noch frei herum! Trotzdem. Sie konnte den Hörer nicht einfach aufknallen.
»Ich will mit dir reden, Dawn«, sagte er.
»Wir hatten bereits in meinem Apartment eine Unterhaltung. Eine weitere am Telefon. Ich dachte, wir hätten uns verstanden.«
»Ich wollte dir nur sagen, wie leid es mir tut, daß Chantelle tot ist.« Sie atmete scharf ein. Es war unmöglich, seine Worte zu entziffern, deren wahren Sinn zu entschlüsseln. »Und wollte fragen, wann du dich entscheidest, ob ich meinen Job wiederkriege. Peter hat gesagt -«
»Es ist mir egal, was Peter gesagt hat! Wir haben nur kurz miteinander gesprochen. Und du kannst sicher sein, Zack, daß ich es niemals erlauben werde.«
»Erzählst du immer noch das verrückte Zeug, daß ich diese beiden Frauen umgebracht habe?«
»Und wie!« Ihre Knöchel wurden weiß. In ihrem Inneren schrie es: Ich weiß, daß du sie umgelegt hast -und Chantelle auch!
Pause. Sein Atem rasselte wie eine Viper. »Du weißt, was ich machen könnte?« fragte er.
»Was?«
»Ich könnte dich wieder verfolgen. Ich meine, überall hin. Ich könnte dir nachspionieren. Du weißt schon. Wenn du mit deinem reichen Schnösel in der Limousine abschwirrst. Hector, der Hitzkopf. Dich solange belästigen, bis du deine Meinung änderst. Was hältst du davon?«
»Gar nichts. Und die Polizei auch nicht.« Verdammt! Ihre Stimme zitterte.
»Die Bullen? Die sind zu sehr damit beschäftigt, Crack und Kolumbianern hinterherzujagen, als sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was ich tue.«
»Darauf würde ich nicht wetten.« Sie knallte den Hörer auf.
Gleich anschließend rief sie die Polizei an. Sie konnte nicht zu Detective Morgan durchkommen. Als sie auflegte, entwich ihr ein Laut, der sich wie Wimmern anhörte. Sie starrte auf ihr Thunfischsandwich. Es sah jetzt so appetitlich aus wie zwei gekochte Augäpfel. Sie konnte es nicht eine Minute länger im Büro aushalten! Sie rannte hinaus, vorbei am Personal in der Rezeption. Sie eilte zum Geländer, hielt sich daran fest. Versuchte, sich zusammenzureißen, sich an ihren inneren Felsen zu klammern, Schutz zu suchen vor der steigenden Flut von Zacks tödlicher, folternder Böswilligkeit. Sie atmete tief ein und aus und spürte, daß die Fluten nur Vorboten eines tödlichen Sturms waren, der, wenn er seine volle Stärke erreicht hatte, ihren Lebensunterhalt und ihre verheißungsvolle Zukunft endgültig fortreißen würde.