KAPITEL 15
»Sir, Sir!« Eine Hand rüttelte seine Schulter, und als Sharpe die Augen öffnete, sah er graues Tageslicht auf grauen Mauern. »Sir?«
»Schon gut!« Teresa wachte ebenfalls auf. Ihre Augen blinzelten überrascht, ehe ihr einfiel, wo sie sich befand. Er lächelte ihr zu. »Bleib hier.«
Er verließ den Schutz der Treppe, kroch vorbei an dem Soldaten, der ihn geweckt hatte, hinüber zu dem gähnenden Loch in der Südmauer des Turms. Die Dämmerung lag wie ein grauer Nebel über dem Land, sodass die Bäume und das Grasland jenseits des Flusses nur undeutlich zu erkennen waren. Doch er konnte auf der Wasseroberfläche weiße Flecken ausmachen, wo am Abend zuvor keine gewesen waren.
Der Wasserspiegel sank rapide, und die Steine, mit denen die Furt von San Anton markiert war, ließen das Flusswasser aufschäumen. Sie konnten also heute hinüber.
Er hob den Blick und beobachtete die Hügel im Westen, als hoffe er, dort eine freundlich gesinnte Patrouille zu entdecken. Er dachte an die Kanonen, die am Tag zuvor nach Süden transportiert worden waren, und verharrte reglos in der Bresche, um auf das Geböller der großen eisernen Kanonen zu horchen. Stille. Die Belagerung Almeidas hatte noch nicht begonnen.
»Sir!« Lieutenant Knowles stand am Eingang zum Turm.
»Lieutenant?«
»Besuch, Sir. Vom Tal herauf.«
Sharpe grunzte, richtete sich auf und legte seinen mächtigen Degen um, während er Knowles auf den Festungshof folgte. Dort brannte ein Feuer, um das sich die Männer scharten. Sharpe wandte sich an sie.
»Hat jemand Tee?«
Einer von ihnen versprach, ihm eine Tasse zu bringen, und er trat neben Knowles an die erhöhte Brustwehr an der nordöstlichen Ecke des Festungshofs von San Anton. Er blickte ins Tal hinab, vorbei an der Stelle im Bach, an der das Mädchen unter ihm begraben gelegen hatte, an der sie zum ersten Mal die französischen Ulanen gesehen hatten.
»Wir sind heute Morgen verdammt gefragt.«
Eine Reihe von Berittenen näherte sich auf dem Weg, der von Casatejada hierher führte: El Católicos Männer in voller Stärke, und zwischen ihnen der blaue Rock von Major Kearsey. Sharpe spuckte über die Brustwehr in den darunterliegenden Bach.
»Sehen Sie zu, dass sie draußen bleiben, Robert. Lassen Sie niemanden, nicht einmal den Major, ins Innere der Mauern.«
Seine Uniform war unangenehm feucht, und er schnallte Degen und Gürtel ab und zog sich nackt aus.
»Schürt das Feuer! Benutzt das Dorngestrüpp!«
Schütze Jenkins legte Sharpes Kleider auf Steinen in der Nähe des Feuers aus, während Sharpe zitternd mit einem Becher Tee in der Hand dastand und auf die zweihundert Reiter starrte, die nun dem Eichenwäldchen zustrebten, in dem El Católico und seine Männer die Nacht verbracht hatten.
Sharpe blickte zum Himmel empor, sah die zerrissenen Wolkenbänder und wusste, dass der Sturm vorüber war. Bald würde es heiß sein unter schattenlosem Blau. Sharpe fragte sich, über wie viel Wasser die Kompanie verfügte.
»Sergeant McGovern!«
»Sir?«
»Nimm sechs Mann und sämtliche Feldflaschen, und geh zum Fluss. Lass sie auffüllen.«
McGovern sah erst Knowles an, dann Sharpe. »Das ist längst geschehen, Sir. Der Lieutenant hat uns runtergeschickt.«
»Oh.« Er blickte Knowles an und murmelte eine Entschuldigung. »Niemand hat euch dabei belästigt?«
Knowles schüttelte den Kopf. »Es ist so, wie Sie gesagt haben, Sir. Sie bewachen die Furt, nicht die Festung.«
»Habt ihr zu essen?«
Knowles seufzte. Er hatte entgegen jeder Erfahrung darauf gehofft, dass Sharpes morgendliche Laune dank Teresa besser sein würde als sonst. »Nur Trockenverpflegung, Sir, und davon nicht viel.«
Sharpe fluchte und goss die Reste seines Tees aus, sodass sie weit hinausflogen in Richtung des Eichenwäldchens, das El Católicos Männern Schutz bot.
»Also gut! Alle Waffen reinigen!« Er schenkte ihrem Murren keine Beachtung, wandte sich ab und lehnte sich gegen die Brustwehr. Sie hatten alle eine Zeit lang geschlafen, wenige Stunden zwischen den Postendiensten, aber zum Überprüfen der Waffen der Leichten Kompanie hatte sich während der Nacht weder Zeit noch die Gelegenheit ergeben.
Die Nacht war ruhig verlaufen. Einige Zeit nach Mitternacht hatte der Regen aufgehört, obwohl nach wie vor ein kalter Wind blies, und Harper hatte im Schutz des verfallenen Turms mithilfe der Dornbüsche, die wie Unkraut auf dem Festungshof wuchsen, ein kleines Feuer entfachen lassen. Teresa hatte recht gehabt. Die Festung war nur über einen steilen Pfad erreichbar, der leicht zu verteidigen war, und El Católico hatte sie in Ruhe gelassen.
Die faserigen Wolkenfetzen vor der Sonne lösten sich auf, Schatten fielen auf den Festungshof, und es machte sich ein Hauch von Wärme bemerkbar, der schon bald die Erde austrocknen und der Kompanie den letzten Rest ihrer Kräfte rauben würde.
Sharpe beugte sich über die Brustwehr. Die Flut war längst vorbei, das Wasser sank, und die Marksteine an der Furt waren an die Oberfläche getreten, wo sich struppige Bündel aus Reisig und Schutt an ihnen verfingen, die eine Springflut von den Uferböschungen losgerissen hatte. Dann sah er, dass Kearsey den Eichenhain verließ und auf seinem geliehenen Pferd auf dem Pfad herankam, der zur Festung führte.
Sharpe streifte seine Kleider über, die immer noch feucht waren, und wies auf den Turm. »Sieh zu, dass das Mädchen drinnen bleibt, Robert.« Knowles nickte. Sharpe war dabei, einen feuchten Stiefel anzuziehen, der jedoch an seiner Ferse hängen blieb. »Verdammt!« Der Stiefel gab nach und rutschte hoch. »Ich werde mich draußen mit dem Major treffen. Inspizieren Sie die Waffen, und machen Sie alles zum Abmarsch bereit.«
»Jetzt schon?« Knowles schien überrascht zu sein.
»Wir können schließlich nicht ewig hierbleiben.« Sharpe knöpfte seine Jacke zu und hob seinen Degen auf. »Jetzt werde ich hingehen und Major Kearsey die gute Nachricht überbringen.«
Sharpe schritt forsch die Steigung hinab und winkte Kearsey fröhlich zu. »Morgen, Sir! Und was für ein schöner!«
Kearsey zügelte sein Pferd und starrte aus unfreundlichen Augen Sharpe an. »Was haben Sie getan, Sharpe?«
Sharpe blickte zu dem kleinen Major auf, der in der Sonne nur als Silhouette zu erkennen war. Er hatte mit Zorn gerechnet, aber nicht auf ihn. Er hatte erwartet, dass Kearsey von den Partisanen desillusioniert sein würde. Stattdessen hatte der Major mit seinen einleitenden Worten, aus denen unterdrückte Wut sprach, seinen Ärger über Sharpe kundgetan. Seine Antwort fiel gelassen aus.
»Ich habe das Gold hergebracht, Sir, beinahe alles, wie befohlen.«
Kearsey nickte ungeduldig, als sei das die Antwort, die er erwartet habe. »Sie haben das Mädchen geraubt und unsere Verbündeten eingesperrt. Sie haben meine Befehle missachtet. Sie haben aus Männern, die auf unserer Seite gekämpft haben, Männer gemacht, die nichts anderes im Sinn haben, als Sie zu töten.« Er schwieg und schnappte nach Luft, doch Sharpe unterbrach ihn.
»Und die Männer, die Captain Hardy umgebracht haben?«
Kearsey schien im Sattel zusammenzusinken. Er starrte Sharpe an.
»Was?«
»El Católico hat ihn umgebracht. Hat ihm ein Messer in den Rücken gestoßen. Er ist unter einem Misthaufen im Dorf vergraben.« Teresa hatte ihm während der Nacht alles erzählt. »Er hat El Católico dabei erwischt, als der das Gold umgelagert hat. Wie es scheint, hat er Protest erhoben. Deshalb hat man ihn umgebracht. Wie meinten Sie, Sir?«
Kearsey schüttelte den Kopf. »Woher wissen Sie das?«
Einen Augenblick dachte Sharpe daran, es ihm zu sagen. Dann aber erinnerte er sich, dass niemand außerhalb der Kompanie wusste, dass Teresa nicht länger seine Gefangene war. »Man hat es mir verraten, Sir.«
Kearsey war nicht gewillt, so leicht aufzugeben. Er schüttelte den Kopf, als wolle er einen bösen Traum vertreiben. »Aber Sie haben das Gold gestohlen!«
»Ich habe auf Befehl gehandelt, Sir.«
»Wessen Befehl? Ich bin der ranghöhere Offizier!«
Plötzlich empfand Sharpe Mitleid mit dem Major. Kearsey hatte das Gold entdeckt, hatte Wellington davon erzählt und hatte nie von den Plänen des Generals erfahren. Sharpe tastete in seiner Tasche herum, fand das gefaltete Stück Papier und hoffte, dass der Regen nicht dort eingedrungen war. Er war eingedrungen, aber die Schrift war nach wie vor leserlich. Er überreichte Kearsey das Papier.
»Da, Sir.«
Kearsey las, und sein Ärger wuchs. »Das besagt gar nichts!«
»Es handelt sich um eine Anweisung an alle Offiziere, mich zu unterstützen, Sir. An alle.«
Aber Kearsey hatte nicht zugehört. Er wedelte Sharpe mit dem feuchten Stück Papier vor dem Gesicht herum. »Da steht nichts von dem Gold! Nichts! Sie könnten das hier genauso gut seit Monaten mit sich herumtragen!«
Sharpe lachte. »Das Gold durfte natürlich nicht erwähnt werden, Sir. Ich meine, nehmen wir einmal an, die Spanier bekämen meine Befehle zu Gesicht, nehmen wir an, sie kämen darauf, was der General mit dem Gold vorhat.«
Kearsey sah ihn an. »Sie wissen, was er vorhat?«
Sharpe nickte. »Es wird nicht nach Cádiz gebracht, Sir.« Er sagte das so behutsam wie möglich. Kearseys Reaktion war krass. Einige Sekunden lang saß er reglos da, die Augen fest zugekniffen, dann zerriss er mit zahlreichen heftigen Gesten das Papier in kleine Fetzen.
»Gottverdammt, Sharpe!«
»Was ist?« Sharpe hatte versucht, das Papier zu retten, war jedoch zu spät gekommen.
Kearsey wurde unversehens bewusst, dass er geflucht hatte. Auf seinem Gesicht kämpften Reue und Wut gegeneinander an. Die Wut siegte. »Ich habe mich abgerackert. Gott weiß, wie ich mich abgerackert habe, dafür zu sorgen, dass Spanier und Briten zusammenarbeiten. Und das ist nun der Dank!« Er hielt die Papierfetzen hoch und zerstreute sie dann mit einem plötzlichen Ruck im Wind. »Wir haben also Befehl, das Gold zu stehlen, Sharpe?«
»Jawohl, Sir. Kurz gesagt, Sir.«
»Das können wir doch nicht machen«, flehte Kearsey.
»Auf wessen Seite stehen Sie?«, fragte Sharpe, ohne weiterhin Rücksicht zu nehmen.
Einen Augenblick glaubte er, Kearseys Wut würde erneut aufflammen, würde sich in einem Schlag äußern, der gegen den Schützen gerichtet war, aber Kearsey beherrschte sich, und als er fortfuhr, waren seine Worte leise und maßvoll.
»Wir haben etwas, das sich Ehre nennt, Sharpe. Sie ist unsere geheime Stärke, unsere Ehre. Wir sind Soldaten, Sie und ich. Wir können keine Reichtümer erwarten, keine Würde, keine ständigen Siege. Wir werden vermutlich in der Schlacht sterben oder auf einer Fieberstation, und niemand wird sich unserer erinnern. Daher bleibt uns nichts als unsere Ehre. Verstehen Sie mich?«
Es war seltsam, dort in der zunehmenden Sonnenwärme zu stehen und den Worten zu lauschen, die Kearsey sich aus dem Kern seiner Seele riss. Er hatte wohl, dachte Sharpe, irgendwann in seinem Leben eine Enttäuschung erlitten. Vielleicht war er einsam, ausgestoßen von der Offiziersmesse, oder vielleicht war der kleine Mann einmal von einer Frau abgewiesen worden, die er geliebt hatte, und hatte nun, während er mit seiner Ehre alt wurde, eine Aufgabe gefunden, die er liebte. Kearsey liebte Spanien und die Spanier. Er liebte die Aufgabe, allein hinter der feindlichen Front umherzureiten wie ein Christ, der in einer Welt der Ketzer und Verfolgungen den Glauben aufrechterhielt. Sharpe wandte sich mit sanfter Stimme an ihn.
»Der General hat mit mir gesprochen, Sir. Er braucht das Gold. Sonst ist der Krieg verloren. Wenn das Stehlen heißt, dann sind wir Diebe. Ich darf doch annehmen, dass Sie uns helfen werden?«
Kearsey schien ihn nicht zu hören. Er starrte über Sharpes Kopf hinweg auf den Turm des Castillo und murmelte so leise vor sich hin, dass Sharpe ihn nicht verstehen konnte.
»Verzeihung, Sir?«
Kearseys Augen richteten sich auf den Schützen. »Was nützt es einem Manne, Sharpe, wenn er die ganze Welt erobert und verlöre seine Seele?«
Sharpe seufzte. »Ich möchte bezweifeln, dass wir dabei sind, unsere Seelen zu verlieren, Sir. Und übrigens, glauben Sie wirklich, dass El Católico vorhatte, das Gold nach Cádiz zu schaffen?«
Kearsey sank im Sattel zusammen, so als wisse er, dass Sharpe die Wahrheit gesagt hatte. »Nein«, sagte der Major gedämpft. »Ich denke nicht. Ich denke, er wollte es behalten. Aber er hätte es eingesetzt, um die Franzosen zu bekämpfen, Sharpe!«
»Das werden wir auch tun, Sir.«
»Ja. Aber es handelt sich um spanisches Gold, und wir sind keine Spanier.« Er richtete sich hoch auf, und aus seiner Miene sprach regelrechtes Bedauern, als er die Fetzen der zerrissenen Befehle Sharpes betrachtete. »Wir werden das Gold zu Wellington bringen, Captain. Aber nur unter meinem Befehl. Sie müssen das Mädchen freilassen, verstehen Sie? Ich will mit derartigen Drohgebärden nichts zu tun haben, mit einem derart hinterlistigen Vorgehen.«
»Nein, Sir.«
Kearsey sah ihn an. Er war unsicher, ob Sharpe ihm hatte zustimmen wollen oder nicht. »Verstehen Sie mich, Sharpe?«
»Ich verstehe Sie, Sir.« Sharpe wandte sich ab und blickte erst zum Castillo, dann über den Agueda hinweg zu den fernen Hügeln hinüber, wo nach wie vor die französischen Patrouillen warteten und wo sich die Kanonen für die Belagerung langsam auf die Festungsmauern von Almeida zuschoben.
»Ich nehme an, dem Mädchen ist kein Leid geschehen?«
»Nein, Sir, sie ist unversehrt.« Sharpe war mit seiner Geduld am Ende. Wenn El Católico auch nur eine Sekunde lang der Meinung war, das Mädchen sei außer Gefahr, würde er über die Leichte Kompanie herfallen, und Sharpe würde einem Tod begegnen, der über alle Maßen schmerzhaft war. Er wandte sich an Kearsey. »In zehn Minuten, Major, werde ich ihr ein Ohr abschneiden. Nur halb, sodass es wieder anwachsen kann, aber wenn auch nur einer dieser mörderischen Schweinehunde um El Católico es wagt, uns beim Überqueren des Flusses zu belästigen, wird ihr das ganze Ohr abgeschnitten. Und das andere, und die Augen, und die Zunge, verstehen Sie mich, Sir? Wir ziehen ab, mitsamt dem Gold. Die Frau ist unser Freibrief, und ich werde sie nicht freilassen. Sagen Sie das ihrem Vater, sagen Sie es El Católico: Wenn sie sich das Gold holen wollen, können sie es tun, zusammen mit einem zahnlosen, blinden, tauben, hässlichen und stummen Mädchen. Verstanden?«
Sharpe richtete seine Wut gegen den Major, sodass dieser zwei Schritt den Hang hinab zurückwich. »Ich befehle Ihnen, Sharpe ...«
»Sie befehlen gar nichts, Sir. Sie haben meine Befehle zerrissen! Wir ziehen ab. Sagen Sie ihnen das, Major! Sagen Sie es ihnen! In zehn Minuten hören Sie den ersten Schrei!«
Er wandte sich ab, in seiner Wut taub für Kearseys Worte, und begab sich wieder in den Schutz der Festungsmauern. Seine Männer sahen sein Gesicht und sagten nichts, sondern drehten sich um und blickten dem kleinen Major in der blauen Uniform nach, der nun zu den Partisanen zurückritt.
Kearsey überbrachte zitternd vor Wut die Nachricht und beobachtete dann an Cesar Morenos Seite die hohe, stille Festung. El Católico stand neben ihnen und schwor Sharpe Rache. Der Major zupfte an seinem Ärmel.
»Er wird es nicht tun. Glauben Sie mir. Er wird es nicht tun.«
Kearsey kniff die Augen zusammen und blickte zum Castillo auf, zu den Silhouetten der Wachtposten. Er hatte noch etwas auf dem Herzen, etwas, das er nicht für sich behalten konnte, daher wandte er sich an den hochgewachsenen Spanier. »Captain Hardy.« Er verstummte.
El Católico beruhigte sein Pferd, sah auf Kearsey herab. »Was ist mit ihm?«
Kearsey war verlegen. »Sharpe behauptet, Sie hätten ihn umgebracht.«
El Católico lachte. »Der behauptet alles Mögliche.« Er spuckte auf den Boden. »Sie sind der einzige Offizier, dem wir trauen können, Major. Das gilt nicht für Leute wie Sharpe. Er hat keine Beweise, oder?«, fragte er voller Zuversicht.
Kearsey schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Er will Sie nur gegen uns einnehmen. Nein, Major, Captain Hardy wurde gefangen genommen. Fragen Sie Cesar.«
Er zeigte auf Teresas Vater, der vor lauter Sorge gequält dreinblickte. Der Major schüttelte den Kopf. Er empfand Erleichterung, ein Gefühl, das sich bei dem Laut verflüchtigte, der nun von dem verfallenen Turm des Castillo herüberdrang. Der Schrei schien im Eichenhain nachzuhallen. Er stieg zu unerträglicher Schrille an und verklang zu leiser schluchzender Verzweiflung, die jedermann erschauern ließ. Cesar Moreno stürmte mit einem Dutzend Männer vor, längst vergessene Entschlossenheit im Gesicht, doch ein Wachtposten an der Festungsmauer signalisierte zum Turm hinüber, und wieder erhob sich der Schrei. Diesmal war er noch höher, ähnelte dem der Franzosen, denen sie mit ihren langen Messern Stück für Stück das Fell über die Ohren gezogen hatten.
Teresas Vater straffte die Zügel. Er wusste, dass er geschlagen war, und schwor, dass für jede Klinge, die mit seiner Tochter in Berührung kam, Sharpe einhundert zu spüren bekommen sollte.
El Católico hatte schon viele Franzosen umgebracht. Einige davon hatten drei Monate gebraucht, um zu sterben, und sie hatten jede Sekunde den eigenen Schmerz miterlebt. Sharpe, schwor sich El Católico innerlich, sollte um einen derartigen Tod betteln.
Im Anschluss an das Schluchzen, an das Geräusch von Stiefeln auf steinernem Boden, erklangen laute Befehle, und die Kompanie marschierte mit aufgesetzten Bajonetten an den geschulterten Gewehren hervor, angeführt von dem Captain, der einen Gewehrgurt um den Hals von Teresa Moreno geschlungen hatte.
Die Partisanen murrten, sahen ihren Vater an und El Católico, wagten jedoch nicht, etwas zu unternehmen. Teresa weinte, hielt sich die Hände vors Gesicht, aber jedermann konnte die weiße Bandage sehen, die man vom Saum ihres Kleides abgerissen hatte, und das rote Blut, mit dem sie befleckt war. Sharpe hielt ihr ein funkelndes Bajonett mit gesägter Klinge an den Kopf, und jedes Mal, wenn sie stolperte, zog er die Schlinge um ihren Hals zusammen. Kearsey empfand entsetzliche Scham, als er mit ansehen musste, wie der Offizier der Rifles sich mit dem Körper des Mädchens vor El Católicos Gewehren schützte, und als die Kompanie in gespanntem Schweigen, das jeden Augenblick in schreckliche Gewalt umzuschlagen drohte, an den reglosen Reitern vorbeikam, sah Cesar Moreno die blutgetränkte Bandage, sah er die Blutstropfen auf dem Kleid seiner Tochter und wünschte sich, den Tod dieses englischen Captains persönlich herbeiführen zu können.
Kearsey legte die Hand auf seinen Arm.
»Tut mir leid.«
»Macht nichts. Ich werde sie fangen und umbringen.« Cesar Moreno beobachtete die Gesichter der Kompanie und fand, dass sie erschüttert aussahen, als habe ihr Captain sie in neue Tiefen des Entsetzens gestürzt. »Ich bringe ihn um.«
Kearsey nickte. »Tut mir leid.«
Moreno sah ihn an. »Sie haben nichts damit zu tun, Major.« Er wies mit dem Kopf dorthin, wo die Leichte Kompanie mit der Überquerung des Flusses begonnen hatte, wobei die weniger beladenen Männer eine Menschenkette bildeten, um denen zu helfen, die das Gold schleppten. »Gehet hin in Frieden.«
Sharpe ging mit dem Mädchen als Letzter hinüber. Er spürte, wie sich Schlingpflanzen um seine Beine legten und versuchten, ihn hinabzuzerren. Der Wasserstand war nicht hoch, aber die Strömung nach wie vor stark. Es war unbequem, ständig Teresas Hals umklammern zu müssen, aber sie schafften es und wurden am gegenüberliegenden Ufer von Patrick Harper hochgezogen, der mit einem Nicken auf die andere Flussseite wies.
»Ihr Vater hat mir richtig leidgetan, Sir.«
»Er wird schon noch merken, dass sie heil und gesund ist.«
»Jawohl, das stimmt. Da kommt der Major.«
»Lass ihn.«
Sie machten sich in der morgendlichen Hitze auf, das Grasland zu überqueren. Ihre Stiefel hinterließen zwischen den fahlen Halmen eine breite Spur, und die Partisanen blieben nie weit hinter ihnen zurück. Harper ging neben Sharpe und Teresa her und blickte über den Kopf des Mädchens seinen Captain an.
»Was macht der Arm, Sir?«
»Dem geht’s gut.« Sharpe hatte sich den linken Unterarm aufgeschlitzt, um das Blut zu gewinnen, mit dem Teresas Bandage getränkt war.
Harper wies nach vorn, auf die Kompanie. »Hätten Sie nur den Schützen Batten angezapft. Zu mehr ist er nicht zu gebrauchen.«
Sharpe grinste. Der Gedanke war ihm wohl gekommen, aber er hatte ihn als eine Laune verworfen. »Ich werd’s schon überleben. Sag du jetzt besser den Jungs Bescheid, dass dem Mädchen nichts geschehen ist. In aller Stille.«
»Gemacht.«
Harper ging voraus. Die Männer waren tatsächlich still und erschüttert, weil Sharpe sie in dem Glauben gelassen hatte, dass er die lange Klinge gegen das Mädchen erhoben habe. Hätten sie die Wahrheit gekannt, wären sie mit grinsenden Gesichtern und mühsam unterdrücktem Frohsinn an El Católico vorbeimarschiert, und alles wäre umsonst gewesen. Sharpe hielt Ausschau nach den Partisanen seitlich und hinter ihnen und wandte sich dann an Teresa.
»Du musst weiter so tun, als ob.«
Sie nickte und sah zu ihm auf. »Du hältst dein Versprechen?«
»Mein Ehrenwort. Wir haben eine Abmachung.«
Noch dazu eine gute, entschied er, und bewunderte Teresa wegen der Bedingungen, die daran geknüpft waren. Nun wusste er zumindest, warum sie sich auf seine Seite geschlagen hatte, und empfand nur ein Bedauern: Er hatte erfahren, dass sie nicht lange zusammen sein würden. Die Abmachung verlangte, dass sie sich trennen mussten, aber der Krieg würde noch lange dauern, und wer weiß, vielleicht würde er ihr noch einmal begegnen.
Um die Mittagsstunde erklomm die Kompanie einen abschüssigen Grat, der direkt nach Westen verlief, ihrem Ziel entgegen. Sharpe ging mit einem Gefühl der Erleichterung voraus, die steile, mit rasiermesserscharfen Steinen bedeckte Flanke hinauf. Die Partisanen konnten ihren Pferden nicht zumuten, diesen Hang zu erklimmen, und ihre Gestalten wurden immer kleiner, je weiter sich die Kompanie hinaufarbeitete.
Die Männer, die das Gold trugen, mussten häufig Rast machen und sich keuchend ins pralle Sonnenlicht legen, aber jede Stunde brachte sie dem Coa näher.
Eine Zeit lang wagte Sharpe zu hoffen, dass sie El Católico und seine Männer abgeschüttelt hatten. Die Spitze des Grats war kahl und steinig und übersät mit kleinen Knochen, die Wölfe und Geier hinterlassen hatten.
Sharpe hatte das Gefühl, durch eine Gegend zu wandern, die noch nie ein Mensch betreten hatte, die von wilden Tieren beherrscht wurde. Um sie herum duckten sich die Hügel unter der sengenden, schmerzhaften Sonne, und außer der Kompanie, die auf dem hohen Grat dahinkroch, bewegte sich nichts. Sharpe hatte das Gefühl, das Ende der Welt sei eingetreten und man habe sie vergessen. Vor sich konnte er die verhangenen Hügel erkennen, die zum Fluss führten, in die Sicherheit, und er trieb die Kompanie weiter. Patrick Harper, der sich zwei Tornister voller Gold aufgeladen hatte, wies mit dem Kopf voraus auf das westliche Hügelland.
»Ob dort wohl die Franzosen sind, Sir?«
Sharpe zuckte mit den Schultern. »Das ist anzunehmen.«
Der Sergeant drehte sich um und betrachtete den hohen, sonnengebleichten Pfad, auf dem sie gekommen waren. »Hoffentlich werden wir nicht von ihnen beobachtet.«
»Besser, als unten bei den Partisanen zu sein.« Aber er wusste, dass Harper recht hatte. Falls die Franzosen im Hügelland patrouillierten, und das stand so gut wie fest, war die Kompanie meilenweit zu sehen. Sharpe verrückte seinen eigenen mit Gold gefüllten Tornister, sodass er bequemer auf seinen Schultern saß. »Wir ziehen über Nacht weiter nach Westen.« Er sah seine erschöpften Männer an. »Nur noch diese letzte Anstrengung, Sergeant, nur noch diese.«
Doch es sollte nicht sein. Bei Einbruch der Dämmerung, als die tief im Westen hängende Sonne sie blendete, fiel der Grat ab, und Sharpe sah, dass sie betrogen waren. Der Grat glich einer Insel, getrennt von den übrigen Hügeln durch ein weites gewundenes Tal, und in seinen Schatten konnte er tief drunten die winzigen Punkte erkennen, bei denen es sich um El Católicos Männer handelte. Er brachte die Kompanie zum Halten, ließ sie rasten und starrte hinab.
»Verdammt. Verdammt. Verdammt«, sagte er leise. Die Partisanen hatten einen bequemen Pfad benutzt, wie es sie zu beiden Seiten des Grates gab, während die Kompanie sich sinnlos über die sonnenheißen Felsen, über die spitzen Steine, über den von Skorpionen heimgesuchten Grat gekämpft hatte. Auf der anderen Seite des Tals stiegen erneut die Hügel an, und er besah sich den felsigen Hang, den sie ersteigen mussten. Zugleich war ihm klar, dass sie, ehe sie weiterkonnten, das Tal durchqueren mussten. Das war der perfekte Ort für einen Hinterhalt. Einer zerklüfteten Küste ähnlich, verfügte das Tal über verborgene Einschnitte und tiefe Schatten und im Norden sogar über ein paar niedrige Bäume. Sobald sie die Talsohle erreicht hatten, würden sie entsetzlich verwundbar sein, unfähig zu erkennen, was sich hinter den Bergvorsprüngen verbarg, in den schwer einsehbaren Bodensenken. Sharpe starrte in die schattige Tiefe und wandte sich dann seiner erschöpften Kompanie mit ihren abgenutzten Waffen und schweren Tornistern zu.
»Wir überqueren das Tal im Morgengrauen.«
»Jawohl, Sir.« Harper blickte ebenfalls hinab. »Da kommt der Major, Sir.«
Kearsey hatte sein Pferd zurückgelassen. Seine blaue Uniform verschmolz mit den Schatten, während er den Hang herauf auf die Kompanie zu kletterte. Sharpe grunzte.
»Er kann ein Gebet für uns sprechen.« Er sah sich noch einmal das Tal an. Ein Gebet, dachte er, war vermutlich angebracht.