Kapitel 8: Wie die Waage an den Sternenhimmel kommt
Die Geschichte Ihres Sternzeichens, liebe Waage, liegt im
geheimnisvollen Dunkel der Mythen. Die alten Römer behaupten, sie
hätten die Waage als zwölftes Tierkreiszeichen an den Himmel
gesetzt. Das mag stimmen, aber natürlich gab es „Ihren“ Stern schon
viel früher: Die Griechen nannten diesen Bereich Chelai (Plural), was soviel wie „Klauen“
bedeutet. Einst bildeten die Sterne der Waage nämlich die Klauen
des Zeichens Skorpion. Der griechische Skorpion bestand nämlich aus
zwei Hälften: aus dem Körper samt giftigem Stachel und aus seinen
Klauen.
Die Waage, wie wir sie heute kennen, taucht im Julianischen Kalender, den bekanntlich Julius Caesar erfunden hat, zum ersten Mal auf. Die Römer hatten einen guten Grund, warum sie das uralte Sternzeichen des Skorpions aufteilten und die Waage erfanden: Der Sage nach wurde die ewige Stadt Rom bekanntlich von Romulus am Ufer des Tiber gegründet. Auch das genaue Datum steht fest: am 21. April des Jahres 753 vor Christi Geburt. Der Mond soll zu diesem Zeitpunkt exakt in den Klauen des Skorpions gestanden haben.
Dass dies den Römern nicht gerade angenehm war, kann man
nachvollziehen – schließlich waren sie als die „Amis“ des
Altertums“ ganz besonders auf ihre eigene Identität bedacht und
beriefen sich nur ungern auf griechische Sternenkundige. Und da
gerade sowieso eine Kalenderreform anstand, lag’s nahe, auch gleich
ein neues Sternzeichen zu erfinden: die Waage eben.
Man muss allerdings zugeben: So neu war diese Erfindung gerade
nicht. Libra – so die lateinische Bezeichnung – ist das einzige
Sternzeichen im Tierkreis, das einen unbelebten Gegenstand
darstellt. Alle übrigen elf Zeichen zeigen ja Menschen oder Tiere.
Libra leitet sich von der Göttin
Libera ab, die in Karthago als Astroarche, „Königin der Sterne“,
verehrt wurde. Selbst die arabischen Sternkundigen kannten die
Waage schon: Sie nannten deren hellsten Stern „Zuben Elgenubi“, was
wiederum die Griechen bestätigt. Dieser Ausdruck aus dem Arabischen
bedeutet nämlich „südliche Klaue“. Womit den alten Griechen
letztendlich doch noch Gerechtigkeit widerfährt.
Die Waage wurde von den Römern übrigens nicht nur vom Skorpion
getrennt, sondern auch noch in eine enge Beziehung mit dem
benachbarten Sternbild der Jungfrau gesetzt: Dike, die Göttin der
Gerechtigkeit, symbolisiert die Jungfrau und so wurde Libra zur
Waage der Gerechtigkeit, die die Göttin in der Hand hält. Noch
heute ist das Symbol der Justiz – der ausgleichenden Gerechtigkeit
– eine Waage.
Mit ihren lediglich drei Sternen ist die Waage ein eher
bescheidenes Sternbild. Der römische Schriftsteller Manilius
behauptet: „Italien gehört zur Waage, unter ihr wurden Rom und
seine Oberherrschaft über die Welt begründet.“ Die Römer stellten
sich die ehemaligen Klauen des Skorpions deshalb als Waage vor,
weil die Sonne im Jahreslauf zu diesem Zeitpunkt an der
Herbst-Tagundnachtgleiche stand. Tag und Nacht halten sich dann die
Waage, sind gleich lang.
Und auch hier kann man unseren römischen Freunden wieder eine
kleinen „Diebstahl“ nachweisen: Schon 2000 Jahre vor Christi
kannten die Sumerer die Waage des Himmels. Das Waagesymbol wurde
mit dem Jüngsten Gericht, dem Aufwiegen der Taten der Verblichenen,
in Verbindung gebracht. Später übernahmen es die Ägypter, die zur
Zeit dieses Sternzeichens die Ernte einbrachten – und wogen. Die
Römer haben dieses Symbol also lediglich wiederbelebt.
Die arabischen Sternkundigen nannten den -Stern Zubenelgenubi (von Al Zuban al Janubiyyah = südliche Zange des Skorpions), was wiederum die Deutung der Griechen bestätigt. Mit dem Fernglas lässt sich dieses Objekt als Doppelstern ausmachen. Den β-Stern nannten die Araber Zubeneschamali (von Al Zuban al Shamaliyyah = nördliche Zange des Skorpions). Noch zu Zeiten des Ptolemäus soll dieser Stern viel heller geleuchtet haben als heute.